Die Ausmaße, welche die Pandemie hat und haben wird, sind weiterhin eher spekulativ. Die globale Krise durchdringt mittlerweile alles, bis hinein in die individuellen, alltäglichen Lebensbereiche der privilegierten Individuen des globalen Nordens. Die Krise trifft diese in allen gesellschaftlichen Bereichen, doch in unterschiedlichen Ausprägungen und Formen, sie nimmt Einfluss auf die Alltagsgestaltung der Individuen im Erleben von Einschränkungen, wie sie von der gegenwärtigen Generation noch nicht erlebt wurden. In welcher Art und Weise die alltägliche Lebensführung in Zeiten von Corona gestaltet wird, ist bereits Ende 2020 in das Interesse sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt.
Die vorliegende Forschungsarbeit möchte versuchen daran anzuschließen und einen eigenen Beitrag zu leisten. Der Fokus hierbei liegt auf Praktiker*innen der Sozialen Arbeit/ Sozialpädagogik in Südbaden und setzt theoretische Bezüge zum gesellschaftlichen Kontext.
Neben dem Kern der Situation – der Gestalt der Krise – stehen im Fokus der Arbeit die florierenden Phänomene der Entschleunigung oder (neoliberalen) Selbstoptimierung und die Privilegien einer Mittelklasse sowie die Wertigkeit und Bedeutung sozialer Kontakte einer Berufsgruppe, die sich privat stark isolieren musste und zugleich aufgrund ihrer Arbeit mit Menschen nicht isolieren konnte
Dieser Forschungsbericht entstand anhand von Methoden der rekonstruktiven Forschung durch authoethnographische, teils bereits Anfang 2020, verfasste Tagebucheinträge der Autor*innen und narrative Interviews mit Praktiker*innen, analysiert angelehnt an die Grounded Theory, ausschließlich erarbeitet und verfasst im digitalen Raum.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. THEORETISCHE BEZÜGE DER FORSCHUNG
2.1 Alltägliche Lebensführung
2.2 Gesellschaftlicher Kontext in westlichen Industriegesellschaften
2.2.1 Die Relevanz von Klasse und Klassismus
2.2.2 Zwei Sphären der Produktivität: Arbeit/Beruf vs. Freizeit/Privatleben
2.3 Entschleunigung
2.4 Selbstoptimierung
2.5 Soziale Kontakte
2.6 (Corona-) Krise
2.7 Hinführung zum Forschungsprojekt
3. METHODOLOGISCHE GRUNDLAGEN UND METHODISCHES VORGEHEN
3.1 Grundlagen
3.1.1 Rekonstruktives Forschungskonzept
3.1.2 Vorgehensweise und Forschungsfrage
3.1.3 Sample
3.2 Datenerhebung
3.2.1 Autoethnographie
3.2.2 Narrative Interviews
3.3 Datenaufbereitung und Auswertung
4. DARSTELLUNG DER ERGEBNISSE
4.1 Be- und Entschleunigung
4.2 Bedeutung von Struktur im Alltag
4.3 Transformation sozialer Kontakte
5. Diskussion der Ergebnisse
6. Reflexion des Forschungsprozesses
7. Fazit und Ausblick
8. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Krise ist ein produktiver Zustand.
Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
(Max Frisch zit. n. Nicole Willnow 2015)
Als die Gesellschaft für deutsche Sprache (GsdS) am 30. November 2020 das Wort „Corona-Pandemie“ zum „Wort des Jahres“ kürte, dürfte dies wohl kaum eine Person innerhalb, aber auch außerhalb Deutschlands überrascht haben (GsdS 2020). Zu dieser Zeit hatte die Corona-Krise längst den Alltag der Menschen weltweit durchdrungen. Corona war das vorherrschende Thema in diesem Jahr, und zwar global. Die Ausmaße, welche die Pandemie hatte und weiterhin noch haben wird sind aktuell eher spekulativ. Dennoch kann sicher gesagt werden, dass die Corona-Pandemie längst nicht mehr nur, wie es das Wort des Jahres 2020 suggeriert, eine Pandemie im medizinischen Sinne, also eine weltweite Epidemie ist, sondern zu einer Krise globalen Ausmaßes mutiert ist, die in alle unsere individuellen und gemeinsamen Lebensbereiche eindringt.
Schließung der Gastronomie, Schließung sämtlicher kultureller Einrichtungen wie Theater, Kinos, Museen oder Zoos; Schließung aller sportlichen Vereine, Schließung der Frisörgeschäfte, Schließung des Einzelhandels, Schließung der Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen, Schließung der Flughäfen. Diese Auflistung kann nahezu endlos weitergeführt werden.
Was diese Auflistung zeigt ist, dass die Krise uns alle gesellschaftlichen Bereiche gleich, doch in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen betrifft. Weiterhin kann bereits jetzt festgestellt werden, dass die Pandemie, durch die damit verbundenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus, großen Einfluss auf die Alltagsgestaltung sämtlicher Menschen hat und auch weiterhin haben wird - noch nie dagewesene gesetzliche verordnete Kontaktbeschränkungen, Aufenthaltsbeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen.
In welcher Art und Weise die alltägliche Lebensführung in Zeiten von Corona gestaltet wird, ist bereits in das Interesse sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt (vgl. Ohlbrecht et al. 2020; Blom et al. 2020; Keitel et al. 2020 uvm.). Die vorliegende Forschungsarbeit, welche im Rahmen des Seminars Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit im Masterstudiengang Erziehungswissenschaft entstanden ist, will versuchen hieran anzuschließen und einen eigenen Beitrag dazu zu leisten.
Der Fokus der Arbeit liegt hierbei auf der alltäglichen Lebensführung von Praktiker*innen der Sozialen Arbeit / Sozialpädagogik. Die Arbeit folgt folgendem Aufbau:
Kapitel 2 setzt sich mit der theoretischen Rahmung des Projektes auseinander. Begonnen wird hierbei mit dem Konzept der alltäglichen Lebensführung.
Daran anschließend sollen Bezüge zum gesellschaftlichen Kontext, insbesondere zu Klasse und Klassismus erfolgen. Weiterhin werden die Phänomene Entschleunigung und Selbstoptimierung explizit dargestellt. Anschließend soll der Begriff der Krise in den Blick genommen und definitorisch umrahmt werden. Der Theorieteil schließt mit einem Kapitel zum aktuellen Forschungsstand in Bezug auf die Fragestellung. Kapitel 3 erläutert methodologische Grundlagen der Forschung, gibt einen Einblick in die verwendete Methodik und die Art der Datenaufbereitung und Auswertung. In Kapitel 4 sollen dann zentrale Erkenntnisse der Forschung dargestellt und anschließend in Kapitel 5 interpretiert und zunehmend theoretisiert werden. Die Reflexion des Forschungsprozesses erfolgt in Kapitel 6. Abschließend soll in Kapitel 7 ein Fazit erfolgen, die Reichweite der Forschung diskutiert und ein Ausblick auf weitere Fragestellungen sowie die Zukunft der Sozialen Arbeit als Arbeitsfeld der untersuchten Gruppe in diesem Zusammenhang gewagt werden.
2. Theoretische Bezüge der Forschung
In diesem Kapitel sollen zentrale Theorien, die für die Forschungsfrage und die Interpretation der Ergebnisse relevant sind, dargestellt werden. Zu Beginn soll der Begriff des Alltags und insbesondere das Konzept der alltäglichen Lebensführung betrachtet werden. Daran anschließend erfolgt die Berücksichtigung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für die alltägliche Lebensführung. Hier sollen der Einfluss der Klassenzugehörigkeit erläutert, auf kapitalistische Entwicklungen zur Trennung der Sphären Arbeit und Freizeit eingegangen werden; an den Kapitalismus anschließend stellt sich die Frage nach der zunehmenden Individualisierung und wie sich diese im Alltag äußert und auswirkt. Im darauffolgenden Teil wird auf die Organisation sozialer Kontakte und deren Bedeutung im Alltag unter Corona eingegangen. Schlussendlich wird dann die Corona-Krise mit ihren Spezifika für die vorausgegangen Theorien beschrieben. Abschließend werden aktuelle Forschungsergebnisse zum Forschungsthema aufgeführt, sowie eine Zwischenbilanzierung erfolgen.
2.1 Alltägliche Lebensführung
Die vorliegende Forschung befasst sich mit der Frage inwiefern sich die alltägliche Lebensführung von Praktiker*innen der Sozialen Arbeit / Sozialpädagogik durch die Pandemie verändert hat. Bevor die Ergebnisse der Forschung interpretiert werden können, ist es unerlässlich zu definieren was als Alltag verstanden wird und wodurch die alltägliche Lebensführung gekennzeichnet ist.
Es kann davon ausgegangen werden, dass jede Person eine gewisse Vorstellung davon hat, was unter Alltag verstanden werden kann. Somit handelt es sich bei dem Wort Alltag nicht um einen exklusiv definierten Fachbegriff. Ein Blick in ein soziologisches Wörterbuch zeigt weiterhin, dass es fraglich ist, ob Alltag überhaupt als solcher einen „soziologischen Terminus“ darstellt (Häußling 2018: 7). In diesem Wörterbuch findet sich folgende Definition:
Als Alltag bezeichnet man den Handlungsbereich, der Menschen fraglos als ihr gewohntes Umfeld gegeben erscheint. Der Alltag ist maßgeblich für die Ausbildung von sozialen Orientierungen bei Individuen. Die meisten Handlungen sind wiederkehrender Art, so dass sie sich zu einer individuell habitualisierten und kollektiv jedermann verständlich erscheinenden, organisierten Lebenswelt zusammensetzen. Dieser sowohl intersubjektive als auch unmittelbar vertraute Charakter des Alltags und seine Stellung als vornehmliche Wirklichkeit jedes Menschen lassen den Alltag zu dem unmittelbaren Anpassungs-, Handlungs-, Planungs- und Erlebnisraum des Menschen werden (ebd.: 7).
An dieser Definition ist gut erkennbar, wie umfassend Alltag als Begriff ist und wie sehr dieser zwischen individueller, intersubjektiver und gesellschaftlicher Ebene rangiert.
Um dieser Komplexität des Alltags gerecht werden zu können, diese gleichzeitig aber auch auf ein Maß zu reduzieren, dass eine forschungstaugliche Betrachtungsweise ermöglicht, soll ein soziologisches Konzept herangezogen werden.
Für die vorliegende Forschungsarbeit wurde das Konzept der „Alltäglichen Lebensführung“ herangezogen (Kudera/Dietmaier-Jebara 1995). Dieses wurde von der Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“, welche im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 333 „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ an der Universität München angesiedelt ist, entwickelt (Voß 1991: V).
Vorab sei angemerkt, dass das Konzept nicht mit einer begrifflichen Definition von Alltag arbeitet, sondern mit dem Begriff der alltäglichen Lebensführung. Demnach ist auch im Folgenden fortan nicht mehr die Rede vom Alltag, sondern von der alltäglichen Lebensführung. Weiterhin liefert das Konzept der alltäglichen Lebensführung neben einer umfassenden theoretischen Rahmung der alltäglichen Lebensführung, zugleich auch eine „fruchtbare Analyseperspektive auf den Gesamtzusammenhang von Alltagstätigkeiten.“ (Niemand 2020: 42f). Diese Analyseperspektive wird im Kapitel 5 aufgegriffen und für das Forschungsvorhaben fruchtbar gemacht.
Voß fasst die bedeutendsten Grundannahmen des Theoriekonzeptes anhand sechs Thesen zusammen (Voß 1995). Entlang dieser Thesen soll im Folgenden das Konzept dargestellt werden.
In der ersten These wird Lebensführung als „die Gesamtheit aller Tätigkeiten im Alltag von Personen [...], die das Leben eines Menschen ausmachen“ definiert (ebd.: 30). Weiterhin wird eine Abgrenzung der alltäglichen Lebensführung von anderen Konzeptionen (wie etwa Lebenswelt, Lebensstil oder Alltag) vorgenommen und betont, dass Lebensführung „primär als Praxis“ verstanden wird (ebd.: 30; Herv. i. O.). Es fasst folglich zunächst einmal das aktive und pragmatische Tun der Menschen in den Blick, während „sinnhaften Deutungen und ideologischen Überhöhungen des praktischen Alltags“ eine nachrangige Rolle zugeordnet wird (ebd.: 31). Eine weitere Besonderheit ist, dass die alltägliche Lebensführung einen perspektivischen Schnitt auf das Leben vornimmt. Das Konzept der alltäglichen Lebensführung grenzt sich insofern von anderen soziologischen Konzepten zur Biografie oder dem Lebensverlauf ab, als dass es nicht das gesamte Leben in seiner vollen Länge betrachtet, sondern vielmehr die Breite des Lebens fokussiert (ebd.). Gleichzeitig wird aber durchaus anerkannt, dass alltägliche Lebensführung und Lebensverlauf bzw. Biografie eng miteinander in Verbindung stehen und sich gegenseitig voraussetzen und ergänzen (ebd.).
Die zweite These stellt klar, dass die Lebensführung aber nicht bloß die Summe aller Alltagstätigkeiten meint, sondern vielmehr sich für die Art und Weise wie diese Tätigkeiten miteinander in Verbindung stehen, interessiert (ebd.).
Die Tätigkeiten existieren nicht für sich betrachtet, sondern sind eingebettet in sogenannte Lebensbereiche. Mit Lebensbereichen sind jene „soziale Bereiche“ gemeint, in denen Menschen wiederkehrend aktiv sind und welche so für die Person an Relevanz gewinnen (ebd.: 32). Lebensbereiche können beispielsweise Arbeitsplatz, die Familie, Paarbeziehungen aber auch weiter gefasst Politik, Konsum usw. sein (ebd.). Innerhalb dieser Lebensbereiche verrichtet die Person ihre Tätigkeiten.
Die alltägliche Lebensführung erfasst nun wie Menschen sich innerhalb dieser Lebensbereiche bewegen, Anforderungen begegnen, Chancen ergreifen und alles miteinander arrangieren. Lebensführung beschreibt „wie diese sozialen Einzelarrangements individuell zu einem funktionierenden Gesamtarrangement verbunden werden“ (Voß 1995: 32; Herv. i. O.). Das schlussendlich meint die Form der Alltagstätigkeiten.
Die Form der Alltagstätigkeiten kann mittels sieben Dimensionen detaillierter erfasst und analysiert werden. Bei diesen handelt es sich um „zeitliche, räumliche, sachliche, soziale, sinnhafte und gegebenenfalls auch mediale und emotionale Aspekte der Aufteilung und Gestaltung der Tätigkeiten im Alltag” (ebd.: 32).
Um dies ausführlicher und anschaulicher zu formulieren:
Die Form der Lebensführung einer Person besteht darin, zu welchem Zeitpunkt, an welchen Orten, in welcher inhaltlichen Form, in welchen sozialen Zusammenhängen und orientiert an welchen sozialen Normen, mit welchen sinnhaften Deutungen sowie mit welchen Hilfsmitteln oder Ressourcen und schließlich mit welchen emotionalen Befindlichkeiten eine Person im Verlauf ihres Alltags typischerweise tätig ist (ebd.: 32; Herv. i. O.).
Die dritte These benennt nun schließlich die, in den vorangegangenen Thesen beschriebene Fülle an Alltagstätigkeiten und deren Zusammenhang zu Lebensbereichen und auch zueinander, als Handlungssystem einer Person (ebd.). Damit soll betont werden, dass die Verbindung zwischen Menschen und ihrer „Umwelt nicht über isolierte Einzeltätigkeiten, sondern über Tätigkeiten im Rahmen eines funktional differenzierten und integrierten alltäglichen Handlungssystems, des Systems Lebensführung” erfolgen (ebd.: 33). Ein Effekt dieses Handlungssystems ist die Potenzierung der Wirksamkeit einzelner Tätigkeiten, wodurch wiederum die Person mehr (Entscheidungs-)Freiheit gegenüber den an sie herangetragenen Anforderungen erhält (ebd.). In diesem Sinne muss betont werden, dass es sich bei Lebensführung als Handlungssystem nicht um ein “soziales System”, das von mehreren Personen aktiv betrieben wird handelt, sondern, dass es aus den Handlungen der individuellen Person hervorgeht, auch wenn die Einzelperson durchaus dem Einfluss anderer Menschen unterliegt (ebd.: 33).
Hieran anschließend betont die vierte These den aktiven Part, den das Individuum im Rahmen seiner Lebensführung einnimmt. Die alltägliche Lebensführung ist nicht etwa angeboren und erfolgt auch nicht als reflexartige Reaktion auf äußere Gegebenheiten, sondern wird von allen Menschen in Auseinandersetzung mit ihren Lebensbedingungen und in bezug auf ihre spezifische soziale Situation konstruiert, alltäglich praktiziert und erhalten sowie gegebenenfalls an sich ändernde Bedingungen angepaßt (ebd.: 34).
These fünf beschreibt die Verselbstständigung der Lebensführung als System. Lebensführung ist zwar ein Produkt des Individuums, welches von diesem tagtäglich hervorgebracht wird, gleichzeitig aber durch eine Etablierung und Wiederholung im Alltag irgendwann zu einem eigenständigen System wird, aus welchem wiederum das Individuum nicht ohne weiteres austreten kann (Voß 1995: 35). In anderen Worten: Menschen rahmen ihre alltäglichen Handlungen. Diese Rahmung wiederum entwickelt sich weiter und folgt schlussendlich einer Eigenlogik, welche wiederum auf den Menschen zurückfällt und weitere Handlungen rahmt.
Hieran anschließend lautet die sechste These, dass Lebensführung neben der entwickelten Eigenlogik, ebenso durch gesellschaftliche Bedingungen geprägt wird, wobei sie die Rahmenbedingungen die Lebensführung jedoch nicht determinieren (ebd.).
2.2 Gesellschaftlicher Kontext in westlichen industriegesellschaften
In diesem Kapitel sollen gesellschaftliche Rahmenbedingungen der alltäglichen Lebensführung in westlichen Industriegesellschaften1 beschrieben werden.
2.2.1 Die Relevanz von Klasse und Klassismus
Im Verlauf des Forschungsprozesses stellte sich heraus, dass die wahrscheinliche Klassenzugehörigkeit der Teilnehmer*innen einen maßgeblichen Einfluss auf deren Gestaltungsmöglichkeiten des Alltags während der Pandemie hatte. In unseren Ergebnissen finden wir Hinweise auf die Option der Transformation alltäglicher Handlungen und Routinen, welche den Teilnehmer*innen z.T. nur aufgrund ihrer Klasse möglich waren. Daher soll an dieser Stelle auch auf die Thematik der Diskriminierungsform Klassismus sowie auf die Relevanz von Klasse(nzugehörigkeit) während der Pandemie eingegangen werden. Auf die wahrscheinliche Zugehörigkeit der Teilnehmer*innen wird in Kapitel 3 genauer eingegangen. In ihrer Einführung zu Klassismus schreiben Kemper und Weinbach (2016), dass ihnen in der Diskussion um die Verortung der Begrifflichkeit häufig zunächst die Frage nach der Bestimmung des Klassenbegriffs begegnet sei. Ginge es dabei um „einen Klassenbegriff, der sich auf Marx bezieht oder auf Bourdieu oder auf Max Weber oder .?“ (Kemper/Wein- bach 2016: 12). Ferner wurde diskutiert, ob die Verwendung der Begriffe Milieu oder Schicht nicht moderner wären (ebd.).
Im Weiteren legen Kemper und Weinbach folgende Unterteilung der Klassen vor:
- Ruling Class: herrschende politische Klasse
- Owning Class/Rich: besitzende Klasse, die andere für sich arbeiten lassen kann, ohne selbst unbedingt arbeiten zu müssen
- Middle Class: hohe Einkommen, hoher Bildungsgrad, hohe Sicherheitsfaktoren
- Upper-Middle-Class : höhere Einkommen, gut qualifizierte Jobsituation
- Lower-Middle-Class: geringere und weniger stabile Einkommenssituation, weniger qualifizierte, instabile Jobs
- Working Class: ArbeiterInnenklasse. Haushalte deren Einkommen auf einer nach Stunden entlohnten Arbeit basiert
- Lower Class/Poor People: Haushalte, deren Einkommen es schwierig macht, die materiellen Grundbedürfnisse des Lebens abzudecken.
(Adams 1997: 238 zit. n. Kemper/Weinbach 2016: 14)2 Durch die „Debatte um Klassismus“ (ebd.: 13) habe sich ein eigenständiger Begriff entwickelt. Klassismus beschreibt „die Strukturelle Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres sozialen und ökonomischen Status“ (Czollek et al 2019: 126). Die Besonderheit dieses Klassenbegriffs sei, dass er auch „Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene“ umfasst (Kemper/Weinbach 2016: 13). Die Diskriminierungskategorie Klassismus als eigenständiger Begriff „ermöglicht Kritik sozialer Schieflagen“ (Abou 2017 zit. n. Niggemann 2021: 48), kann zudem als Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft oder Klassenherkunft und -zugehörigkeit erklärt werden und beschreibt die Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen, die Menschen machen (About 2017 zit. n. ebd.; Seeck 2021; Czollek et al 2019). Diese richten sich bspw. „gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, zum Beispiel gegen einkommensarme, erwerbslose und wohnungslose Menschen oder Arbeiter*innenkinder“ (Seeck 2021: 17).
Klassismus kann nicht nur durch ökonomisches, kulturelles oder soziales Kapital markiert sein, da „auch der Name, der Wohnort, die Sprache und der Geschmack“ markierend gelesen werden können (ebd.: 18). Klassismus, sei „immer dann am Werke, wenn Menschen aus Machtarmutsklassen eine »Rechtfertigung dafür brauchen, dass sie existieren, wie sie existieren«“ (Bourdieu 2014a: 252 zit. n. Schäfer 2021: 214f.).
Im Kern geht es also um zugesprochene Legitimierung und Delegitimierung und die Hierar- chisierung sei hierbei entscheidend, denn sie markiert und bewertet die Lebensweisen der Menschen (ebd.). Klassenzugehörigkeit/-herkunft entscheiden über Karrieren und Zukunft, „über das Leben und die Lebensweise“ (Kemper/Weinbach 2016: 31). Die Folgen von Klas- sismus können weitergedacht bspw. ein begrenzter „Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Netzwerken, Teilhabe, Anerkennung und Geld“ sein (Seeck 2021: 17). Seeck schreibt weiter, dass es ebenfalls auf verinnerlichten Klassis- mus zurückzuführen sei, „dass es kein Aufbegehren gibt“ (ebd.: 18). Vielleicht ist hierauf ebenso zurückzuführen, dass Klassismus als Form von Diskriminierung längst nicht so im Fokus eines öffentlichen Diskurses steht, wie andere Formen der Diskriminierung, bspw. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus oder auch Antiromaismus und Antisintiismus (vgl. Czollek et al 2019). Gleichwohl bleibt es abschließend wichtig auf die Intersektionalität dieser Diskriminierungsformen hinzuweisen, wie es bereits bell hooks in “Where We Stand: Class Matters” getan hat (2000; dt. „Die Bedeutung von Klasse“ 2019)3.
Aktuell sind es vor allem zunehmend Beispiele aus der Care Arbeit, welche darauf hindeuten, dass eine Intersektionalität von bspw. Geschlecht i.V.m. Klassismus oder Rassismus in der (Dominanz-)Gesellschaft längst nicht ausreichend politisch thematisiert, diskutiert oder reflektiert wird (vgl. Hahmann/Hunner-Kreisel 2020; vgl. Czollek 2020).
»das Virus diskriminiert nicht« (Butler 2020 zit. n. Manemann 2020: 350)
Was Judith Butler sagen möchte ist, dass Menschen aufgrund von Diskriminierung und Privilegien „nicht gleich verwundbar“ sind (Manemann 2020: 350). Die Pandemie verschärft global gesellschaftliche Verwerfungen und vergrößert Ungleichheiten (Feldmann/Rieger- Ladich 2020). Den Menschen, die vor der Pandemie über privilegierte Ressourcen verfügten, wird es auch während und nach der Krise einfacher gelingen mit Veränderungen und Neuerungen zu leben (Engelbracht 2020). So kommt auch Engelbracht zu dem Schluss, dass sich „die ohnehin bestehende soziale Spaltung“ verstärken wird (ebd.) Eine Analyse der Krankenkasse AOK und der Universitätsklinik Düsseldorf zeige, dass „sozio-ökonomisch benachteiligte Menschen ein deutlich höheres Risiko, wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert zu werden“ haben (Seeck/Theißl 2021: 9). Auch die Opferzahlen sind „unter sozial Schwachen und Minderheiten“ um ein Vielfaches höher (Biess 2020: 38). Ferner stellte die Mannheimer Corona-Studie fest, dass Menschen mit einem niedrigeren Bildungsabschluss viel seltener im Home Office arbeiten können, wahrscheinlicher in Kurzarbeit geraten und fast doppelt so häufig vom Verlust der Arbeit bedroht sind (Blom 2020; Ohlbrecht et al: 2020).
Einzig bezüglich der Veränderungen des Alltags gäbe es Gemeinsamkeiten, da die Krise den Alltag und die Erfahrungswelt aller Menschen transformiert, jedoch sicher nicht demokratisiert (Biess 2020). So galten und gelten bspw. #stayhome oder #freiburghältzusammen nicht für jede*n gleich, können doch auch die Einschränkungen für eine Vielzahl von Menschen nicht nur herausfordernd, sondern auch existenzbedrohend werden (Springer 2020). Carolin Emcke mahnte bereits im April 2020, die Tragfähigkeit eines neuen Wir-Gefühls solle hinterfragt werden (Sein und Streit 2020 zit. n. Springer 2020: 167). Für Biess (2020) ist es fast eine Selbstverständlichkeit, die zu erwarten war, dass die Pandemie-Krise bereits bestehende (soziale) Unterschiede zuspitzt. Sturzenhecker (2020) stellt fest, wie dramatisch und zugleich skandalös die Ungleichheit noch immer ist. Insbesondere für Kinder und durch die Verringerung gleichwertiger Bildungschance oder im Allgemeinen der Sichtbarmachung ihrer Rechte und Meinungen sowie für weiblich* gelesene oder sich definierende Menschen durch bspw. einen Backlash von Care Arbeit oder die Zunahme häuslicher Gewalt (vgl. Faludi 1991; Sturzenhecker 2020).
Die Mittelklasse (auch Middle Class/ Upper-Middle-Class n. Kemper/Weinbach 2016) habe sich „in das Eigenheim oder die geräumige Altbauwohnung“ zurückgezogen, klappte die Laptops auf und arbeitete im Home Office via Zoom (Feldmann/Rieger-Ladich 2020).
Den privilegierten Klassen - die sich nicht mit schlechten Wohnverhältnissen, Kurzarbeit oder dem Verlust der Arbeit und daraus resultierenden finanziellen Nöten oder der Betreuung der Kinder in der Enge des zu Hauses beschäftigen musste - war es möglich, den Stillstand oder Lockdown des gesellschaftlichen/ öffentlichen Lebens und der Routinen „zum großen Moment des Innehaltens“ (Feldmann/Rieger-Ladich, 2020) zu verklären und „zur existentiellen Besinnung“ aufzurufen (ebd. 2020; vgl. Kapitel 2.3)
Parallel dazu habe sich der Begriff Solidarität entleert bis entwertet, so Lessenich (2020). Sei er doch plötzlich überall fast schon inflationär präsent gewesen und in seiner Verwendung auf vielfältige Weise überdehnt verwendet worden (ebd.). Auch Czollek (2020) bemerkt die häufigere Verwendung allein des Begriffs der Solidarität und entdeckt in der plötzlichen Systemrelevanz von bspw. Lebensmittelverkäufer*innen eine „ungleiche Anerkennung in einer Klassengesellschaft“ (Czollek 2020: 106). So bleibt es für Czollek fraglich, ob wir uns nicht zu „Kompliz*innen einer Gegenwart beschränkter Solidarität“ machten (ebd. 2020: 106). Niemand habe sich im vergangenen Jahr unsolidarisch verhalten oder vielmehr zumindest öffentlich zeigen wollen und so wurde fast alles irgendwie zur solidarischen Praxis deklariert (Lessenich 2020; vgl. Q | Agentur für Forschung 2020). Die Menschen standen - insofern sie einen hatten - auf ihren Balkonen und applaudieren für andere Menschen, die in (neuerdings) systemrelevanten Jobs tätigen waren oder befestigten Spendenbeutel an Gabenzäune für arme oder obdachlose Menschen, blieben zumindest solange solidarisch, bis ihnen jemand die „Trockenhefe wegkaufte“ (Czollek 2020: 106).
Lessenich (2020) führt seine Gedanken ebenfalls weiter: er erkennt auf dem Neoliberalismus basierend, dass sich das Neosoziale entwickelt habe und macht dies am Beispiel des - ebenfalls in Teilen inflationär verwendeten - Anglizismus take care (etwa: Bleib gesund!) deutlich. So stünde die neue Alltagsfloskel bezeichnend für eine „doppelte Verhaltensaufforderung, im Modus des Selbstbezugs (vor-)sorgend tätig zu werden und im Modus der Gemeinschaftlichkeit sich wechselseitig zu unterstützen“ (ebd.: 181 f.). Man kümmere sich als besonders um sich selbst, aber auch unbedingt - und sei es nur durch die neue Alltagsfloskel - ebenso um die Anderen. Das heißt sodann auch und im Sinne der Gemeinschaft, zu Hause und auf Abstand zu bleiben sowie Kontakte zu minimieren, Hygieneregeln einzuhalten und einen Mundschutz zu tragen (ebd.). Doch auch hier erkennen wir spätestens einhergehend mit der Absage an selbstgenähten Mundschutz, dass Menschen die bspw. im Bezug von ALG-II sind, finanziell und daraus resultierend auch sozial und psychisch an ihre Grenzen kommen können.
Auch der Anglizismus self care als self care routine oder der #selfcare (etwa: Selbstfürsorge) war viral wie im realen Leben nun präsenter denn zuvor. Doch in welcher Klasse und durch welche Privilegien werden solche Verhaltensweisen/-änderungen überhaupt möglich?
Im Hinblick auf unsere Forschungsergebnisse sei an dieser Stelle das Phänomen der Ent- schleunigung (vgl. Kapitel 2.3.) zu nennen. Diesbezüglich kann davon ausgegangen werden, dass ein solcher Diskurs und die damit einhergehenden kulturellen Faktoren nicht von allen Menschen gleich wahrgenommen oder bearbeitet werden. Diskurse und die Teilnahme an diesen sind unterschiedlich bezüglich der Zielgruppen oder Klassen, die sie erreichen oder erreichen wollen (Beckmann 2020).
Eine alleinerziehende Frau* mit internationaler Geschichte, die einem Teilzeitjob in der Sorgearbeit nachgeht und mindestens ein Kind, dessen Schulunterricht aktuell nicht oder nur z.T. stattfinden kann, versorgen muss, wird sich - so die These - eventuell weniger mit dem Diskurs zu Entschleunigung durch eine Yoga Challenge oder die Vielzahl an neuen Medi- tations-Apps und YouTube oder Tik Tok Videos zu Skin Care beschäftigen können (vgl. Ohlbrecht et al 2020).
Jedenfalls muss man zeigen, welche Gewalt die legitime Kultur gegenüber all den Kulturen ausübt, die nicht legitim sind.
(Eribon 2017: 201)
2.2.2 zwei sphären der Produktivität: Arbeit/Beruf vs. Freizeit/Privatleben
Da es im Folgenden um Zeit und im weiteren Sinne Arbeitszeit und Freizeit gehen soll, wird in diesem Kapitel zunächst auf eine Konstruktion von Zeit, in zwei Sphären der Arbeitszeit und der Freizeit, eingegangen, denn auch im erhobenen Datenmaterial wird die Thematik der Freizeitgestaltung noch an Bedeutung gewinnen.
Eine dichotome Einteilung des Alltags in Arbeit und Freizeit ist nach Voß (vgl. Kapitel 2.1) zu grob gedacht und in einer Erfassung des Alltags nicht ausreichend (vgl. Voß 1995). Jedoch, der Faktor Zeit und seine Gliederung in Arbeitszeit und Freizeit, wie auch deren Bedeutungszuschreibungen finden ihren Ursprung in den frühen Formen des industriellen Kapitalismus, wo eine klare Trennung vorgenommen und produziert wurde. Im Folgenden wollen wir auf jene (kapitalistisch gedachte) Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit näher eingehen. In der Darstellung dieser beziehen wir uns auf die Ausführungen von James Fulcher (2008).
Kapitalismus meint zunächst ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Phänomen europäischen Ursprungs und beschreibt die Investition mit Profitabsicht, beziehungsweise die Umwandlung von Gütern in Kapital.
„Die kapitalistische Produktion beruht auf Lohnarbeit“ (Fulcher 2008: 26). Jener Lohn beschreibt den Preis, der für die Leistung von Arbeit von Arbeitgeber*innen bezahlt wird. Ar- beitnehmer*innen verkaufen in diesem Sinne den Arbeitgeber*innen ihre Arbeitskraft. Arbeit beschreibt in dieser Hinsicht eine gemeinsame kapitalistische Handlung: Arbeitge- ber*innen investieren Geld in eine Aktivität, die ihnen mehr Geld bringen soll. Arbeitneh- mer*innen finden Beschäftigung in einer Aktivität, für die Geld bezahlt wird.
Man könnte meinen, dass Erwerbsarbeit eine freie Entscheidung bieten würde, diese Freiheit beschreibt jedoch aufgrund ungleich verteilter Ressourcen in unserer Gesellschaft eine Illusion, denn in Bezug auf unsere Ausführungen in Kapitel 2.2.1 gilt es darauf zu verweisen, dass die soziale und ökonomische Herkunft der Individuen erheblichen Einfluss auf Bildungsabschlüsse, Karrierechancen und Zukunftsplanungen der Individuen hat. Gleichermaßen beschreibt Fulcher, dass es in einer kapitalistischen Welt äußerst schwer möglich sei, ein Leben ohne Erwerbsarbeit führen zu können. Da Lohnarbeiter*innen ihre Verbrauchsgüter in der Regel nicht selbst herstellen können und durch die Tatsache, dass Dinge käuflich erworben werden müssen, kapitalistische Unternehmungen reproduziert werden.
Der Begriff und die Bedeutung von Freizeit stellt ein kapitalistisch organisiertes Konstrukt dar, welches seinen Ursprung im frühen Industriekapitalismus des späten 18. Jahrhunderts mit der Ausbeutung der Arbeiter*innen und deren Arbeitskraft hat. Fulcher (2008) zufolge beschränkte sich die Ausbeutung der Arbeitskräfte nicht lediglich darauf, zu einer Maximierung der Gewinne, die Löhne niedrig zu halten, sondern auch die Arbeiter*innen zu disziplinieren, um durch regelmäßige und unausgesetzte Arbeit ebenfalls Kosten niedrig zu halten.
„Man musste unterbinden, dass Arbeiter nichts taten oder betrunken waren, ja selbst, dass sie umhergingen oder sich unterhielten“ (Fulcher 2008: 14f). Bei Kindern wurde auf Züchtigung, bei Erwachsenen auf Drohung mit Entlassung oder Geldbußen gesetzt oder auch Methoden, die die Moral der Arbeiter*innen ansprechen sollten. Dabei wurde sowohl das Verhalten während der Arbeitszeit wie auch außerhalb der Arbeitszeit in den Siedlungen überwacht, wie beispielsweise Sauberkeit in den Straßen, Maßregelung von Trunkenheit oder die Einführung von Sperrstunden. Zeit wurde zu einem relevanten Kostenfaktor, der Regelungen wie Schichtbeginn, Pausen und Schichtende genau reglementierte. Manche Unternehmer*innen versuchten durch Vor-, beziehungsweise Zurückstellen der Uhren und dem Verbot des Besitzes von Uhren, weiter auszubeuten, was dazu führte, dass mit der industriellen Revolution der Besitz von Uhren in der Bevölkerung zunahm.
Dadurch, dass Unternehmen während der Arbeitszeit den Beschäftigten auch eine kontinuierliche Arbeit abverlangten und jegliche Aktivität darüber hinaus unterbanden, schuf der Kapitalismus eine neue Normalität, nämlich das, was wir im modernen Sinne Freizeit nennen und konstruierte das Alltagsleben der Menschen zu einer scharfen Trennung zwischen Arbeit und Freizeit: „Die Freizeit als spezifische Nicht-Arbeitszeit, sei es in Form von Ferien, Wochenende oder Feierabend, war das Ergebnis der disziplinierten, zeitlich genau umgrenzten Arbeit, die die kapitalistische Produktionsweise erzeugt hatte“ (ebd.: 16f). In späteren Auseinandersetzungen erkämpften sich die Arbeiter*innen gemeinsam mit den Gewerkschaften ein Recht auf Freizeit in Form gesetzlicher Regelungen, welches Ausmaß Arbeitszeit haben darf.
Diese Freizeit wurde wiederum durch den Kapitalismus kommerzialisiert und Arbeiter*innen begannen, für Aktivitäten in der Freizeit zu bezahlen. Somit mündete auch die vom Kapitalismus geschaffene Freizeit wiederum in Beschäftigung und Profit und weitete die kapitalistische Produktion aus.
Gleichwohl in einigen Diskursen angenommen wird, wir leben hierzulande in einer kapitalistischen Gesellschaft, stimmt dies nicht zu einhundert Prozent (Scherr 2008). Ausgehend der theoretischen Ausführungen von Niklas Luhman ließe sich Scherr zufolge sagen, dass sich unsere Gesellschaft nicht zur Gänze als durchkapitalisiert betrachten lasse, jedoch die Dynamiken der Ökonomie als kapitalistisch dominiert anzusehen seien (ebd.).
Dies ist aber in solchen Gesellschaften, die individuelle Grundrechte rechtlich kodifizieren, über deren Gewährleistung juristisch entschieden wird und in denen wohlfahrstaatliche Regulierungen greifen, nicht der Fall. Denn der Zugang zu schulischer Erziehung, medizinischer Versorgung, politischer Repräsentation und zu rechtlichen Konfliktlösungen ist hier nicht generell an die Fähigkeit gebunden, jeweilige Leistungen selbst zu bezahlen oder an den Nachweis, dass man Lohnarbeiter, Unternehmer oder Manager ist (Scherr 2008: 94).
Würden wir gemeinhin in einer gänzlich kapitalistischen Gesellschaft leben, so würde sich das gesamte System auf die Lohnarbeit der Menschen stützen und somit extreme Marginalisierung, wie auch absolute Exklusion hervorrufen. (ebd.)
An den Ausführungen von Fulcher (2008), wie auch im Folgenden Kapitel zur Entschleuni- gung, wird deutlich, dass jene Prozesse, die im industriellen Kapitalismus entstanden sind, bis heute unsere Alltagsstrukturen beeinflussen (vgl. Kapitel 2.2.3 Entschleunigung) und weiterhin von einer kapitalistisch dominierten Ökonomie aufrechterhalten werden. Die vermeintlichen Gegenpole Arbeits- und Freizeitleben lassen sich nicht als voneinander losgelöste Phänomene betrachten, vielmehr bilden sie einen wirklichkeitsgenerierenden GrundDualismus (ohne Arbeitszeit gibt es streng genommen keine Freizeit), welcher unseren Alltag konstituiert. Freizeit als Gegenpol zur Arbeitszeit kann als Bedeutung ausschließlich mit einem Verständnis von Arbeitszeit verstanden werden.
Diese Unterteilung impliziert ebenso ein Normalitätsideal, nämlich Freizeit ist der Arbeitszeit nachrangig unterzuordnen, da sie nach und außerhalb der Arbeit stattfindet. Gleichzeitig handelt es sich hierbei um konstruierte Begriffe, welche Bedeutungen und Strukturen sozialer Interaktion hervorbringen. Handlungen in der Arbeitszeit sind in ihrer Bedeutung den Interessen der Arbeitgeber*innen anzupassen, während Freizeit den Interessen der Individuen folgt, beziehungsweise Individuen in ihrer Handlung ihren eigenen Interessen verfolgen. Beide Begriffe folgen dabei einer kapitalistischen Tradition: die Investition in Dinge mit dem Ziel des Ertrags.
2.3 Entschleunigung
„Entschleunigung in Zeiten der Krise: Der Corona-Effekt Die einen haben zu viel davon, die anderen zu wenig: Die Zeit ist aus den Fugen. Markiert Corona eine Zeitenwende?” titelte die Taz in ihrer Printausgabe vom 18./19. April 2020. Weitere Schlagzeilen und Artikel zum Thema Entschleunigung erschienen zu Beginn der Corona-Pandemie im März und April 2020 vermehrt in unterschiedlichen Medien. Auch im erhobenen Datenmaterial wurde der Begriff der Entschleunigung mehrfach verwendet, sodass wir uns näher damit beschäftigt haben. Auffallend war hierbei, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl einer Entschleunigung sowie der zur Verfügung stehenden Zeit und dem Umgang mit dieser zu geben scheint. Deshalb werden wir uns in diesem Kapitel mit der Zeitnutzung, Zeitgestaltung und der zugrunde liegenden Orientierung von Zeit in (post-)modernen Gesellschaften beschäftigen, um darauf aufbauend im weiteren Verlauf des Forschungsberichts das Phänomen der Be- und Entschleunigung in Zeiten von Corona näher zu betrachten.
Laut Beckmann liegt „dem Umgang mit Zeit und einem Zeitbewusstsein, welches durch Disziplinierung bestimmt wird, [liegt] ein bestimmtes Verständnis von Zeit zugrunde" (Beckmann 2020: 153). Der Umgang mit Zeit und das Kredo Zeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, Langeweile zu vermeiden, mehr Dinge in weniger Zeit zu erledigen sowie die Beschleunigung des Lebens- und Handlungstempos sind typische Handlungsparameter, die die Zeitnormen der Gegenwart kennzeichnen.
Bereits Max Weber verwies Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in seinen Schriften zur protestantischen Berufs- und (Zeit-)ethik auf einen Zusammenhang zwischen der Entstehung einer profit- und effizienzorientierten kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und einer religiös-kulturellen Umdeutung von Arbeit, Fleiß, Disziplin und Zeitverschwendung. Berücksichtigt man weiterhin neuere Studien zur Zeitverwendung, kann festgestellt werden, dass Elemente aus der protestantischen Berufsethik - bspw., dass Zeitverschwendung negativ bewertet wird - noch immer fest in der kulturellen und alltäglichen Praxis westlicher Industriegesellschaften verwurzelt sind (Beckmann 2020). Burzan bezeichnet dies als „Zeitnutzungsimperativ“ (Burzan 2002 zit. n. Beckmann 2020: 155). Eine der neueren Studien zum Umgang mit Zeit ist Hartmut Rosas Beschleunigungstheorie. Er bezieht hierbei in seinen Analysen zu Beschleunigungstendenzen nicht nur die technischen Beschleunigungen, sondern auch soziale Beschleunigungen mit ein. Die sozialen Beschleunigungen umfassen die hohen sozialen Veränderungsraten (etwa das Tempo, in dem sich Modewellen, Lebensabschnittspartner oder Regierungen ablösen) [...] oder [richten] sich auf das Gefühl der knappen Zeit [...], das dadurch entsteht, dass man mehr Dinge in weniger Zeit tun möchte oder muss und daher das je eigene Lebens- oder Handlungstempo erhöht (Rosa 2013, S. 190, Herv. i.O. zit. nach Beckmann 2020: 156).
Laut Beckmann (2020) ist der Umgang mit Zeit in (post-)modernen Gesellschaften stark mit Selbstoptimierungstendenzen verknüpft. Die Frage nach der ständigen Verbesserung des Ichs und die effektive Nutzung der Zeit hierfür stehen also in einem starken Zusammenhang. Langeweile und Nichtstun, werden somit laut Beckmann vermieden und vom Großteil der Gesellschaft negativ bewertet (ebd.).
Vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnen Beschleunigungstendenzen unsere Gegenwart und gipfeln in einer Erhöhung von Handlungseinheiten auch jenseits der Erwerbstätigkeit (Beckmann 2020: 158).
Seit einigen Jahren, kann jedoch eine Veränderung des „Zeitnutzungsimperativ“ festgestellt werden. Es ist in gewissen gesellschaftlichen Kreisen zunehmend anerkannt sich auch mal Zeit zu nehmen und Dinge langsamer zu tun und somit der bisherigen Vorstellung (,Zeit ist Geld‘) entgegen zu handeln.
Allein soziokulturelle Veränderungen im Kontext von Individualisierung (Beck 1986) und dem Aufkommen gegenhegemonialer und alternativer Lebensvorstellungen zum bürgerlichen erwerbs- und karrierezentrierten Lebensentwurf dürften Zeitnutzungsimperative verändert haben (Beckmann 2020: 158).
Hierbei dürfte die Annahme, dass nicht alle Diskurse in allen gesellschaftlichen Kreisen gleich geführt werden und sich nicht alle Menschen gleich angesprochen fühlen, eine Rolle spielen. (s.Kapitel 2.2.1 Schicht-Klassenzugehörigkeit). Auch der Zugang zu (finanziellen) Ressourcen ist entscheidend für den Umgang mit zur Verfügung stehender Zeit.
Und so wurde auch der ‘Lockdown' auf sehr unterschiedliche Weise erlebt: Während die einen unter schlechten Wohnverhältnissen und/oder Kurzarbeit litten, finanzielle Sorgen hatten und nicht wussten, wie sie die Betreuung ihrer Kinder gewährleisten sollten, verklärten die anderen die Unterbrechung des öffentlichen Lebens und der beruflichen Routinen zum großen Moment des Innehaltens und riefen zur existentiellen Besinnung auf (Feldmann/Rieger-Ladich 2020).
Beckmann widmet sich in den Analysen der Zeitverwendung, Zeitnutzung und dem Imperativ, keine Zeit zu vergeuden. Weiterhin untersucht Beckmann, wie sich dies in den Alltagspraxen der Interviewten zeigt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass alle Interviewten das Nichtstun negativ bewerten, was sich in Narrativen wie ,faulenzen‘ ,rumhängen‘ etc. zeigt.
Zeit nicht zu vergeuden erwecke im Umkehrschluss den Eindruck, das Leben im Griff zu haben und Handlungsmacht über das eigene Leben zu erlangen.
Die von mir untersuchten Interviews lassen erkennen, dass Muße keinen guten Ruf genießt. Viele Befragte fürchten Langeweile oder werten Zeiten ab, in denen nicht zielgerichtet einer Tätigkeit nachgegangen wird, sie bezeichnen das als ,Rumhängen‘ oder ,Abhängen‘. In den Narrativen fällt auf, dass es unterschiedliche Formen gibt, in denen Müßiggang explizit abgelehnt und vermieden wird, weil eine solche Zeit der nicht zielgerichteten Handlung als Faulheit verstanden wird. Viele verbinden hiermit den ersten Schritt zum Versagen, dass einem das Leben aus der Hand gleitet und man die Kontrolle über sein Leben verliert. Ein ausgefüllter Tag vermittelt das Gefühl, produktiv, effizient und selbstoptimiert zu sein“ (Beckmann 2020: 203).
Hierzu zählen für Beckmann auch Prozesse der Selbstfindung und Selbstoptimierung, dies ist für die Interviewten nur durch gefüllte Tage und einer sinnvollen Nutzung der Zeit möglich.
Unterschiede konnte sie, trotz gemeinsamer Orientierung am Zeitnutzungsimperativ in der Ausgestaltung verschiedener Handlungen und Strategien erkennen. Hierbei spielten die soziale Positionierung, die zugewiesene Klasse sowie der Beruf der Befragten eine entscheidende Rolle (Beckmann 2020: 202ff.)
Entschleunigung bedeutet unter den Gesichtspunkten der Zeitnutzung, -gestaltung und dem Zeitnutzungsimperativ also das bewusste Nichtstun, die gezielte Verlangsamung von Aktivitäten im Alltag, das absichtsvolle Entgegensteuern der beruflichen und privaten Beschleunigung, wie Hartmut Rosa sie in seiner Beschleunigungstheorie beschreibt. Im Rahmen der Ergebnisdarstellung und Ergebnisinterpretation wollen wir uns der Frage widmen, wie und unter welchen Umständen sich Momente der Be- und Entschleunigung im Alltag der Teilnehmer*innen auswirken. Hierbei gilt es auch die Corona-Pandemie mit einzubeziehen, durch welche die Welt von heute auf morgen radikal (zwangs-)entschleunigt wurde. Die Menschen haben sich nicht bewusst für eine Pause entschieden, vielmehr wurde diese durch die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Pandemie verordnet. Hartmut Rosa formuliert in einem Interview auf Deutschlandfunk vom 01.04.2020:
Das habe ich auch in meinen Analysen immer wieder festgestellt. Zwangsentschleunigung ist ganz etwas anderes als ein entschleunigtes Leben, von dem viele Menschen träumen. Wenn Sie in einen riesigen Verkehrsstau geraten, dann haben Sie auch eine Form von Zwangsent- schleunigung, Sie können gerade nichts mehr machen, und das fühlt sich nur im seltensten Fall gut an. Und solange wir in einem System leben, in einer gesellschaftlichen Struktur leben, die sich nur durch Steigerung erhalten kann, ist diese Art von Anhalten natürlich höchst problematisch, das sehen wir in ökonomischen, aber auch in anderen Zusammenhängen (Deutschlandfunk Kultur 2020).
[...]
1 Wir beziehen uns in dieser Ausarbeitung lediglich auf Deutschland.
2 An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass wir die Unterteilung auch kritisch sehen, da die Klassifizierung in Klassenzugehörigkeiten „eine stark hierarchisierende und diskriminierende Zuschreibung“ ist (Czollek et al 2019: 126). Czollek et al führen zudem an, dass sich Klasse als „(zugewiesene) soziale Gruppe“ und als „eine relative Kategorie, sowohl subjektiv als auch bezüglich der Ressourcen“ beschreiben lässt (Kemper/Weinbach 2009 zit. n. Czollek et al 2019: 127). Ein Vorschlag um diese Problematik der Zuschreibung einer Klasse zur Ermöglichung klassistischer Kritik aufzulösen kommt von Nigge- mann (2021): Klassismus liese sich auch ohne die Erwähnung einer Klasse erklären und als Diskriminierungsform kritisieren. Niggemann spricht in diesem Fall von „>Klassismus ohne Klasse<" (Niggemann 2021: 49).
3 An dieser Stelle soll keine Hierarchisierung der gleichwertig unangenehmen, verletzenden oder gefährlichen Folgen aller Formen der Diskriminierung erfolgen, da jede Form von Diskriminierung für die davon diskriminierten Menschen gleichzuwertende negativ Folgen haben kann.
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