Organisationsentwicklungen und ihre virtuellen mündlichen internen Kommunikationen. Die Bedeutung der Stimm- und Körperpräsenz


Master's Thesis, 2021

61 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Exkurs: Change Management versus Organisationsentwicklung

3. Physiologische Aspekte der Kommunikation
3.1 Bindungsbedürfnis in der virtuellen Kommunikation
3.2 Polyvagaltheorie nach Stephen W. Porges
3.3 Nonverbale oder körperliche Kommunikation
3.4 Emotionen in der Kommunikation
3.4.1 Emotionen durch Worte bilden
3.4.2 Stimme und deren Einfluss auf die Emotionen
3.5 Mimikresonanz in der Kommunikation

4 Psychologische und soziale Aspekte in der Kommunikation
4.1 Sender und Empfänger in der Kommunikation
4.2 Kommunikation aus Sicht der Systemik nach Luhmann

5 Strategischer Aspekt in der Kommunikation
5.1 Narrative Kommunikation
5.2. Authentizität in der Narration
5.3. Narration durch integrative Kommunikation
5.3.1 Exkurs: Empowerment
5.4. Aufbau einer Narration und wichtige Elemente

6 Erfolgsfaktoren für virtuelle Organisationsentwicklungen
6.2. Arten des Zuhörens nach Scharmer
6.2 Schweigen

7. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einführung

In Folge der Covid-19-Pandemie verlagert sich die interne Kommunikation vermehrt auf virtuelle Formate. Persönliche Meetings sind auf das Notwendigste reduziert, um der Ausbreitung der Pandemie entgegenzuwirken. Gespräche von Angesicht zu Angesicht sind in Organisationen nur in Ausnahmefällen möglich. Asynchrone virtuelle Kommunikationsformate wie Newsletter, E-Mails und Intranet-Artikel, die in den meisten Organisationen schon vor der Covid-19-Pandemie erfolgreich eingesetzt worden waren, werden nun verstärkt genutzt. Synchrone Möglichkeiten des Austausches, wie virtuelle Konferenzen, Mitarbeitergespräche oder informelle Kommunikationen, kamen vor der Pandemie eher rudimentär zum Einsatz. Diese erfreuen sich nun zunehmend größerer Beliebtheit. Eine Umfrage von Statistica belegte diesen Trend anhand einer Befragung von 800 deutschen Personalern (vgl. Statista zitiert nach de.statista.com 2020). Dementsprechend nahmen im zweiten Quartal 2020 in Deutschland virtuelle Konferenzen um 64 %, Homeoffice um 47 % und Führung aus Distanz um 36 % zu. Vorort-Meetings fanden hingegen um 59 % weniger statt und Dienstreisen wurden ebenfalls um 61 % weniger durchgeführt.

Dies betraf alltägliche Kommunikationen sowie Kommunikationen, um geplante Veränderungen der Organisationen zu verkünden beziehungsweise gemeinsam mit den Mitarbeiten zu erarbeiten. Denn auch solche Arbeitstreffen oder Konferenzen unterliegen dem Veranstaltungsverbot, das im Zuge der Covid-19-Pandemie ausgesprochen worden ist. Die Art der beteiligenden, interaktiven Kommunikation mit Mitarbeitern ist vor allem bei Organisationsentwicklungen ein entscheidender Faktor.

Ein konstruktives Arbeiten in Gruppen scheint für virtuelle Kommunikationen schwerer möglich zu sein. Das liegt unter anderen daran, dass die beteiligten Personen nur zweidimensional wahrnehmbar sind und die Körpersprache viel eingeschränkter erkennbar ist, denn sie beschränkt sich nur auf die Mimik und auf die Gestik des Oberkörpers. Bei Gruppen ist je nach Videokonferenz System bzw. der individuellen Einstellungen im System nur die sprechenden Personen oder eine bestimmte Anzahl an Beteiligten zu erkennen. Zudem ist die Ausstrahlung einer Person, auf Grund des Ausschnittes der Person, nicht vollständig erfassbar. Dazu kommt die räumliche Distanz, die eine Gruppendynamik oder eine gemeinsame Atmosphäre schwer entstehen lässt. Weswegen gerade in einer virtuellen mündlichen Kommunikation die Stimm- und Körperpräsenz während Gesprächen eine besondere Bedeutung hat, wie in dieser Arbeit erläutert wird.

Darauf basiert die in dieser Arbeit nachgegangene Hypothese, die besagt, dass die Stimmpräsenz und Körperpräsenz in virtuellen mündlichen Kommunikationen in Organisationsentwicklungen besonderer Bedeutung beigemessen werden sollte. Denn durch die ´einschränkende´ Wahrnehmung fehlen wichtige Signale des Körpers, die zum Verständnis der Nachricht notwendig sind. Interdisziplinäre Kenntnisse sind hilfreich, um die virtuelle mündliche Kommunikation zu optimieren, dazu wird in dieser Arbeit physiologische Aspekte mit geisteswissenschaftlichen Aspekten verbunden und mit strategischen Vorgehensweisen sowie Grundlagen um etwas ,Neuses´ zu schaffen verbunden.

Die Arbeit ist dementsprechend wie folgend aufgebaut. Im ersten Kapitel werden die physiologischen Aspekte beleuchtet. Dazu gehören die Wirkung vom Bindungshormon Oxytocin und inwiefern es zur Co-Regulation des autonomen Nervensystems beiträgt, dies wird anhand der Polyvagal Theorie erläutert und ergänzt. In den darauffolgenden Kapitel wird genauer betrachtet wie das autonome Nervensystem über die Sprache, nonverbale und paraverbale Signale des Gegenübers reguliert wird und wie dadurch Emotionen entstehen dessen Wirkung auf das autonome Nervensystem reziprok ist. Wobei die Stimme und die Mimik in separaten Kapiteln besonders hervorgehoben werden, da in den virtuellen, mündlichen Kommunikationen diese vorwiegend sichtbar sind.

Nach der Erläuterung der autonomen und unbewussten Vorgänge beschäftigt sich die Arbeit mit der bewussten, beeinflussbaren Kommunikation. Dabei werden die geisteswissenschaftlichen Ansätze Sender- Empfänger in der Kommunikation und der Kommunikation aus Sicht der Systemik näher erläutert. Gerade die Kommunikation aus Sicht der Systemik ist hilfreich, um die Wirkung der Kommunikation auch auf die unbewussten Vorgänge zu verstehen.

Daraufhin wird der Frage nachgegangen, welche strategischen Mittel in der Kommunikation für den Erfolg dieser auf der bewusst wahrnehmbaren Ebene unterstützen. Der Fokus liegt auf der narrativen Kommunikation, da sie auch in der virtuellen Kommunikation Emotionen auslöst und dementsprechend wiederrum auf das unbewusste, autonome Nervensystem wirkt.

Um ,Neues´ zu entwickeln, was für Organisationsentwicklungen entscheidend ist, wird die Theory U eingeführt. Der in den Kapiteln vermittelte Inhalt über die Arten des Zuhörens und die Wichtigkeit des Schweigens auch im virtuellen Raum, soll verdeutlichen, dass diese Elemente zwar herausfordernder in der virtuellen mündlichen Kommunikation zu berücksichtigen sind, aber gerade zur Entwicklung der Organisation unerlässlich sind.

Organisationsentwicklungen benötigen den Austausch der Mitarbeiter einer Organisation stärker als beim Change Management. Der folgende Exkurs grenzt die Begriffe Change Management und Organisationsentwicklung ab. Dadurch wird verdeutlicht, dass die Art und Weise der gemeinsamen Kommunikation von dem Ansatz der Weiterentwicklung der Organisation abhängt.

2. Exkurs: Change Management versus Organisationsentwicklung

Diese beteiligende, interaktive Kommunikationsform ist eines das Hauptdifferenzierungsmerkmale zwischen Organisationsentwicklung und Change Management. Change Management ist das gezielte Steuern eines umfassenden organisationalen Wandels und gehört damit zum strategischen Management. Beim Change Management werden betroffene Mitglieder der Organisation weder in die Konzeptionierung noch in die Umsetzung einbezogen. Die Change-Konzepte werden in den meisten Fällen von externen Beratern erstellt und an die Organisationen verkauft. Eine partizipative Entwicklung gemeinsam mit den eigenen Mitarbeitern entfällt im Change Management. Die Organisationsentwickelung hingegen ist eine Veränderungsstrategie, deren Basis das gesamte System der Organisation ist. Sie entsteht durch das Mitwirken der betroffenen Mitglieder der Organisation. Daher arbeitet die Organisationsentwicklung mit Gruppendynamik, soziotechnischer Systemtheorie, Datenerhebungs- und Rückkopplungsmethoden. Mitglieder der Organisation werden in die Entwicklung einbezogen, sodass deren Expertise mitgenutzt wird. Organisationsentwicklung hat zum Ziel, bestehende Abläufe in Organisationen zu optimieren. Diese Optimierung betrifft die Einführung und Konzeptionierung von Arbeitsformen, interne Kooperation und Führung. Das Ergebnis ist eine Stärkung von Lernfähigkeit, Innovationskraft und Flexibilität in der Organisation (vgl. von Rosenstiel / Nerdinger 2011, S. 437 f.).

Nach Nerdinger (2019, S.178) charakterisieren folgende Merkmale Organisationsentwicklungen:

- Organisationsentwicklungen sind geplant
- Organisationsentwicklungen sind langfristig angelegt
- Organisationsentwicklungen betreffen die gesamte Organisation und nicht nur einzelne Bereiche oder Gruppen
- In einer Organisationsentwicklung sind alle Betroffenen beteiligt
- Lernprozesse und Problemlösungsprozesse begleiten die Organisationsentwicklung

Die positive Beeinflussung der Lebensqualität und Problemlösemöglichkeit steht im Mittelpunkt einer Organisationsentwicklung und nicht nur die reine Produktivitätsverbesserung.

- Organisationsentwicklung lässt Betroffene zu Beteiligten werden, wie Brodbeck im Interview mit Dagmar Hess in einem Interview mit Dagmar Hess hervorhebt. Wird das Veränderungsziel von allen Beteiligten verstanden, ein proaktives Mitwirken der Veränderung aller ermöglicht und werden diverse Meinungen zugelassen, entsteht eine nachhaltige und andauernde Veränderung. Denn eine solche Entwicklung wird von den Mitarbeitern mitgetragen (vgl. Hess 2012).

Erfolgsentscheidend ist die Art der Kommunikation. Eine synchrone positive Kommunikation ist für den Austausch von Meinungen für Organisationsentwicklungsvorhaben notwendig und unterstützt die Zusammenarbeit. Die Möglichkeit der Mitgestaltung beeinflusst die Arbeitsmotivation und -moral in positiver Weise, da sie dem Bedürfnis nach persönlicher Entfaltung entgegenkommt. In einer Organisationsentwicklung werden alle fünf Merkmale für einen positiven Erlebniszustand unterstützt: Anforderungsvielfalt, Ganzheitlichkeit, Bedeutsamkeit, Autonomie und Rückmeldung (vgl. Nerdinger 2019, S. 469).

Eberhard Ulich prägte die soziotechnische Systemtheorie. Sie besagt, dass eine Organisationsentwicklung nur möglich ist, wenn Mensch, Technik und Organisation sich gemeinschaftlich entwickeln. Diese bedingen sich gegenseitig und sind voneinander abhängig dabei kommt dem Arbeitsaufgabe eine zentrale Rolle zu. Die Bewältigung bzw. Lösung dieser Aufgabe ist abhängig von Menschen, Technik und Organisation, die wiederum gemeinschaftlich vom Markt abhängig sind, in dem die Organisation sich befindet. Der Markt wird seinerseits durch die natürliche und soziale Umwelt beeinflusst (vgl. Ulich / Wülser 2018, S. 185 f.).

Die Arbeitsmoral ist daher nicht nur von einem Faktor abhängig ist, sondern von der Technik, dem sozialen System und den Mitarbeitern. Die Leistungsfähigkeit von Organisationen ist bedingt durch die sozialen Strukturen. In der Organisationsentwicklung werden Änderungen durch Technik partizipativ mit den Mitarbeitern gestaltet. Soziale Systeme und Technik sind am effektivsten, wenn sie zusammen optimiert werden, um so die Produktivität zu steigern. Das soziotechnische System ist eine Verknüpfung von technischen Sachsystemen und menschlichen Handlungssystemen (vgl. Karafyllis 2019, S. 301 f.).

In der Abbildung 1 sind Change Management und Organisationsentwicklung schematisch dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Schematische Darstellung von Change Management und Organisationsentwicklung (eigene Darstellung)

Damit die interne Kommunikation innerhalb von Organisationsentwicklungen trotz körperlicher Distanz dennoch erfolgreich verläuft, sind zum einen technische Systeme wichtig, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit jedoch nicht betrachtet werden. Zum anderen geht es um die Art und Weise, wie die Technik in gemeinschaftlich virtueller Kommunikation genutzt wird. Menschliche Handlungssysteme und Bedürfnisse nach Nähe und Kontakt sind hierbei zu berücksichtigen. Diese Grundsätze, um eine Beziehung zum Gegenüber aufbauen zu können, sind auch im Virtuellen zu berücksichtigen.

Im ersten Teil werden die physiologischen Aspekte der Kommunikation erläutert. Dies sind die Grundlage für die Wirkung der Kommunikation auf die Reaktion und die Handlung der Beteiligten und haben demnach Einfluss auf die Interaktion untereinander.

3. Physiologische Aspekte der Kommunikation

Im ersten Teil werden die unbewussten autonomen kaum kontrollierbaren Abläufe betrachtet wie die Wirkung des Hormons Oxytocin, der Einfluss des autonomen Nervensystems, um dann im zweiten Teil die leichter beinflussbaren körperlichen Reaktionen und Regungen zu betrachten. Diese sind nonverbale und paraverbale Signale wie z.B. Mimik, Gestik und Stimme.

3.1 Bindungsbedürfnis in der virtuellen Kommunikation

Nach Epstein sind die neurobiologischen Grundbedürfnisse des Menschen Bedürfnisse nach Orientierung, Kontrolle und Kohärenz, Lust und Freude, Bindung und Selbsterhöhung (vgl. Epstein 2003). Das Bedürfnis nach Bindung ist darunter das am besten belegte.

In virtueller Kommunikation besteht dieses Bedürfnis ebenfalls und möchte genauso gestillt werden wie in Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Durch eine Bindung zur Organisation und zu deren Mitgliedern entstehen erst Vertrauen und Offenheit und danach ein Gefühl der Sicherheit, auf das im Verlauf dieser Arbeit näher eingegangen wird. Denn gerade eine vertrauensvolle, sichere Umgebung wird in Organisationsentwicklungen benötigt.

Neurobiologische Untersuchungen konnten zeigen, dass bei Tieren Stressreaktionen entstehen, wenn sie fremden Umgebungen ausgesetzt werden oder von Bezugspersonen getrennt sind. Diese Reaktion auf eine Trennung von Bezugspersonen wird sogar in einer gewohnten Umgebung beobachtet. Dafür sind bestimmte Regionen im Gehirn verantwortlich, wie der Thalamus sowie Stellen der Amygdala und des Kortex, wo Stresshormone ausgeschüttet werden. Um die Stressreaktion zu beruhigen, wird Oxytocin, ein Botenstoff, der für die Bindung verantwortlich gemacht wird, ausgesendet. Oxytocin wird verstärkt in der Schwangerschaft und beim Stillen von der Mutter produziert. Dieses Hormon ist in der Muttermilch nachweisbar. Oxytocin wird zugeschrieben, die erste Bindungserfahrung beim Säugling zu erzeugen. Auch im Erwachsenalter ist es mit Bindungsgefühlen verknüpft. Es steigert die soziale Interaktion und das Vertrauen in andere Menschen. Bei wiederholtem vertrauensvollem Verhalten wird das Hormon vermehrt ausgeschüttet. Oxytocin hat weitere Wirkungen auf:

- Großzügigkeit
- Zusammenhalt
- Harmonie in Gruppen
- Vertrauen
- Ruhe
- defensives Aggressionsverhalten gegenüber äußeren Angriffen (vgl. Peters / Ghadiri 2013, S. 56ff).

Daraus lässt sich schließen, dass für Organisationsmitglieder Bezugspersonen wichtig sind, um eine entsprechende Bindung auszubilden. Um dies in der virtuellen Kommunikation ebenfalls zu gewährleisten, ist ein Umdenken notwendig, da im virtuellen Gespräch der Körperkontakt fehlt, der für die Freisetzung von Oxytocin notwendig ist.

Oxytocin wird durch sensorische Stimulation freigesetzt. Die Freisetzung erfolgt unter anderem durch Aktivierung von sensorischen Nerven als Antwort auf Berührungen, leichten Druck, massageartiges Streicheln oder warme Temperaturen. Ebenso kann Oxytocin durch sensorische Nerven in der Mundschleimhaut oder im Magen freigesetzt werden, z. B. nach einem gemeinsamen Essen. Selbst eine Stimulation mit geringer Intensität führte in Tierversuchen zu einem erhöhten sozialen Verhalten (vgl. Uvnäs-Moberg et al. 2015, S. 4 f.).

In einer virtuellen Kommunikation sind die Bedingungen für eine stimulierende Oxytocinfreigabe schwer möglich. Um eine Bindung und damit eine soziale Verbundenheit sowie Engagement zu fördern, bedarf es anderer Möglichkeiten. Um diese dennoch zu ermöglichen ist es denkbar z.B. gemeinsame virtuelle Mittagspausen oder Abendessen zu organisieren, um Oxytocin in der Mundschleimhaut zu mobilisieren. Allerdings ersetzt es nicht den regelmäßigen Kontakt, wie dies in einer physischen Kommunikation möglich wäre.

Die Ausschüttung von Oxytocin wird teils durch das autonome Nervensystem reguliert. Im folgenden Abschnitt wird dies anhand der Polyvagal-Theorie diese Regulation des Hormons näher erläutert..

3.2 Polyvagaltheorie nach Stephen W. Porges

Die Polyvagaltheorie bezieht sich auf das autonome Nervensystem, das auch als vegetatives Nervensystem bezeichnet wird. Es besteht aus zwei Unterabteilungen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus wirkt energiemobilisierend und aktivierend. Der Parasympathikus reduziert unsere Körperaktivität und sorgt für ein energiereduziertes Verhalten. Der Unterschied liegt nicht nur in der Wirkung, sondern auch im Aufbau. Die Nervenfasern des Sympathikus werden direkt nach dem Austritt aus dem Rückenmark im ,sympathischen‘ Grenzstrang neu verknüpft. Beim Parasympathikus erfolgt die Umschaltung in den Zielorganen in kleinen Nervengrüppchen, den Ganglien. Beide regulieren die Aktivität bzw. Passivität der inneren Organe. Sympathikus und Parasympathikus werden stets gemeinsam aktiviert, auch wenn sie gegensätzlich agieren. Je nach Situation ist der eine stärker involviert als der andere, es besteht aber stets ein Gleichgewicht. Die Ganglien bilden am Organ ein Nervengeflecht, den Plexus, der sich über das Organ zieht. Es ist das Steuerungssystem. Parasympathikus und Sympathikus steuern den Plexus (vgl. Beck et al. 2016, S. 4f.). Über einen Hauptnervenstrang, den Nervus vagus, erreicht der Parasympathikus seine Zielorgane, wodurch die inneren Organe reguliert werden. Im Gegensatz zu den anderen Hirnnerven endet der Nervus vagus nicht im Kopf oder Halsbereich, sondern läuft bis zu den inneren Organen des Körpers. Damit bildet er eine Ausnahme unter den Hirnnerven, die das Gehirn verlassen (vgl. ebd., S. 14f.).

Der Nervus vagus beeinflusst also das Gleichgewicht zwischen Parasympathikus und Sympathikus, indem er mit dem Parasympathikus zusammenwirkt. Diesen Einfluss hat Porges in sieben Hauptwirkungen zusammengefasst:

1. Das Vagussystem ist nicht einheitlich. Der Nervus vagus beeinflusst sowohl viszerale efferente Fasern der glatten und kardialen Muskulatur als auch spezielle efferente Fasern, die somatischen Muskeln wie die der Speiseröhre, der Rachenhöhle und der Kehlkopfmuskeln. Diese Muskeln sind entscheidend für Vokalisation, Schlucken und Saugen und bilden eine Brücke zwischen der Atmung und den somatischen Muskeln. Das Vagussystem reguliert den Gesichtsausdruck, den Kauvorgang und die Bewegung des Kopfes.
2. Porges entdeckte zwei motorische Vagussysteme. Eines davon ist der vegetative Vagus. Dieser steuert die viszeralen Funktionen durch reflexhafte Regulation. Die zweite Funktion ist der Smart Vagus, der für den aktiven Prozess der Aufmerksamkeit, Emotion, Bewegung und Kommunikation verantwortlich ist. Beide Vagussysteme sind unterschiedlichen Ursprunges und nutzen andere adaptive Strategien.
3. Die Behauptung, dass der Vagusnerv ein zusammenfassendes System bei Säugetieren bildet, ist fraglich. Ein starker Tonus, der durch intensivere Herzfrequenz, Atmung, Blutdruck, Verdauung entsteht, kann ausgehend vom vegetativen Vagus tödlich sein. Geht dieser starke Tonus vom Smart Vagus aus, ist die Wirkung positiv und unterstützt das soziale Engagement.
4. Der Smart Vagus kann einen kardio-respiratorischen Rhythmus erzeugen. Dagegen hat der vegetative Vagus keinen Einfluss auf den respiratorischen Rhythmus.
5. Der vegetative Vagus kann Herzrhythmen verändern und z. B. eine Verlangsamung im Zusammenhang mit einer verbesserten Orientierungsreaktionen bewirken. Diese werden als neurogene Brachykardien bezeichnet. Fehlt eine Beeinflussung des Smart Vagus auf den Sinusknoten des Herzens, kann es zu einer unzureichenden Sauerstoffversorgung (Hypoxie) führen.
6. Die Atemfunktion und Herzfunktion wird durch den Nervus vagus beeinflusst.
7. Primäre Emotionen sind mit den autonomen Funktionen, die Vitalfunktionen wie z.B. Stoffwechsel, Atmung, gekoppelt. Sie sind für das Überleben notwendig und deshalb in die Regulation von Herz und Atmung integriert. Außerdem kontrollieren sie die viszeralen Funktionen, Reaktionen der inneren Organe und Drüsen wie z.B. Schwitzen, Veränderung des Blutdruckes oder des Hormonspiegels (vgl. Porges 2010, S. 78 f.).

Aufgrund dieser sieben grundlegenden Wirkungen auf den Organismus ergeben sich aus Sicht der Polyvagaltheorie drei Verhaltensstrategien als Reaktionen auf das autonome Nervensystem:

1. Immobilisation: Dies ist die Verhaltensstarre oder das Totstellen. Diese Reaktion wird durch den vegetativen Nervus vagus verursacht.
2. Mobilisation: Dies ist Kampf- bzw. Fluchtverhalten. Die Reaktion basiert auf dem sympathischen Nervensystem und wird durch eine gesteigerte Energieproduktion sowie höhere Leistungsfähigkeit und Herzensfrequenz begleitet und ermöglicht so die Flucht oder den Kampf.
3. Soziale Kommunikation / soziales Engagement: Durch einen freundlichen und zugewandten Gesichtsausdruck wird der Smart Vagus aktiviert und die Fähigkeit zuzuhören gesteigert. Ruhige Verhaltenszustände, die auf den Einfluss des Sympathikus auf das Herz zurückzuführen ist, entstehen (vgl. ebd., S. 37).

Durch nachfolgende Schritte kann das soziale Engagement mit positiver Bindungsbeziehung in Zusammenhang gebracht werden:

1. Die drei Schaltkreise Immobilisation, Mobilisation und soziale Kommunikation / soziales Engagement bewirken das Verhalten.
2. Vom Gehirn interpretierte Umweltbedingungen wie ,ungefährlich‘ oder ,sicher‘, ,gefährlich‘ oder ,lebensbedrohlich‘ haben eine Adaptation des Verhaltens zur Folge. Diese nennt Porges Neurozeption. Die Umgebungseindrücke bildet das Gehirn sowohl bewusst als auch unbewusst. Neurozeption ist also die Wahrnehmung der Umwelt und die „Interpretation“ dieser durch das autonome Nervensystem. Wird die Umwelt als sicher wahrgenommen, dämpft der Nervus vagus die sympathische Aktivierung und schützt den Kortex vor der dorsalen vagalen Reaktion.
3. Prosoziale Verhalten können nur dann gebildet werden, wenn die Neurozeption von Sicherheit entstanden ist. Dies hat positive Auswirkung auf physiologische Zustände, deren Ursprung in der sozialen Unterstützung liegt.
4. Ohne die Fähigkeit der Immobilisation der Furcht können soziale Verhaltensweisen nicht entstehen.
5. Oxytocin spielt bei der Entstehung sozialer Bezüge eine Rolle und unterstützt die Immobilisierung der Furcht durch die Unterbindung der defensiven Erstarrungsreaktion (vgl. Porges 2010, S. 37 f.). Oxytocin ist demzufolge an der Neurozeption beteiligt ist. Oxytocin reguliert peripher den autonomen Zustand und unterstützt die vagalen efferenten Aktivitäten des autonomen Nervensystems dadurch wird die Basis für positive soziale Erfahrungen geschaffen (vgl. Porges 2007, S. 134).

Gesicht und Stimme sind für das Gehirn nach der Polyvagaltheorie wichtige Umweltfaktoren, durch die Menschen sich gegenseitig Sicherheit signalisieren. Für die Beziehung sind das Gesicht eines anderen Menschen und dessen Stimme ausschlaggebend. Zuhören ist nur in sicheren Beziehungen möglich, bei denen die Gesprächspartner Präsenz im Dialog signalisieren. Das Gesicht und die Stimme beeinflussen die Regulation körperlicher Zustände, da sich diese neuronal auf das Herz auswirken. Das Gefühl der Sicherheit der Organisationsmitglieder kann in einem Organisationsentwicklungsprozess durch die Präsenz beim Zuhören, einen warmen Gesichtsausdruck, eine Offenheit signalisierende Körperhaltung und ein ,offenes Herz‘ verstärkt werden. Dies beeinflusst die Körperreaktionen, und soziales Engagement entsteht. Ständige Präsenz im Gespräch bewirkt bei den Gesprächspartnern ein Gefühl der Sicherheit bei sozialen Interaktionen. Dies erfordert von den Führungskräften Selbstregulation und Offenheit auch bei Kritik (vgl. Porges 2019, S. 204).

Porges (2020) erläutert, dass gerade in virtuellen Interaktionen die Mimik und Tonlage entscheidend ist, da sich die Nervensysteme der Gesprächspartner gegenseitig beeinflussen. Das autonome beeinflusst das zentrale Nervensystem. Signale werden vom Gehirn zu den Organen gesendet und umgekehrt. Bedrohungsreaktionen haben daher vorhersehbare Auswirkungen auf unsere körperliche und geistige Gesundheit. Demnach bestimmen Wechselwirkungen und -beziehungen von verschiedenen Kontrollebenen die Reaktion des Organismus. Diese Sichtweise eines „Ein-Nervensystems“ erleichtert das Verständnis der neuronalen Regulation und deren Dynamik.

Die von Porges (2020) beschriebene Verbundenheit, die aufgrund des Sicherheitsgefühls über den Smart Vagus zur Neurozeption gebildet wird, macht aus Sicht der Evolutionsbiologie den Erfolg der Säugetiere aus. Der evolutionäre Vorteil des Menschen ist nicht in der körperlichen Stärke begründet, da die meisten damals existierenden Tiere um einiges stärker, aggressiver und physisch größer waren. Er konnte nur überleben, wenn die Individuen sich gegenseitig unterstützten und zusammenarbeiteten (vgl. Dobzhansky 1962, S. 150ff). Diese Verbundenheit, das sogenannte Social-Engagement-System, wird durch den Nervus vagus, der seinen Ursprung im Hirnstamm hat, über die quergestreifte Muskulatur des Kopfes und Gesichtes und der Organe reguliert und dadurch koordiniert. Der physiologische Zustand kann durch eine Wechselbeziehung mit einem anderen Menschen, der Sicherheit und Vertrauen ausstrahlt, gesteuert werden. Diese Hinweise werden übermittelt durch die Tonlage der Stimme, einen herzlichen und einladenden Gesichtsausdruck sowie offene und zugängliche Gesten. Die Stimmgebung und die Mimik werden durch die neuronalen Regulationen bestimmt, da die autonomen Nerven auf die quergestreifte Muskulatur z.B. des Kopfes und die Muskulatur der inneren Organe einwirken, wodurch diese einen Hinweis auf Gefahr oder Sicherheit liefern. Diese Signale bilden die Grundlage der sozialen Kommunikation und Kooperation und entscheiden über die Verbundenheit. Der Zustand des autonomen Nervensystems weist Informationen zum physiologischen und emotionalen Zustand auf und entscheidet, wie die Reaktion beim Gegenüber ausfällt, je nachdem, ob es als Bedrohung oder positiv gedeutet wird. Damit virtuelle Kommunikation vom Nervensystem richtig erfasst werden kann, ist nicht nur das Hören der Tonlage entscheidend, sondern auch Augenkontakt, Mimik und Kopfhaltung. Ohne diese zusätzlichen Informationen können vermeintliche Bedrohungen, die vom autonomen Nervensystem erfasst werden, nicht abgeschwächt werden. Dieser Vorgang wird als Co-Regulation bezeichnet. Zur Co-Regulation wird immer ein positives, beschwichtigendes Gegenüber benötigt. Ohne Co-Regulation kann sogar die Reaktion des autonomen Nervensystems bis zu einer Dysfunktion der inneren Organe und zur Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit führen. Der autonome Zustand der Bedrohung lässt sich durch den Kontakt mit anderen über das Social-Engagement-System beruhigen. Die vagale Nervenbahn kann durch die Intonation der Stimme und den Gesichtsausdruck des Gegenüber die Abwehr- und Verteidigungszustände regulieren und damit abschwächen (vgl. Porges 2020, S.137).

Bleibt die bildliche Übertragung des Gesprächspartners aus, kann das Social-Engagement-System nicht aktiviert werden. Die Mobilisierung von Kampf- und Fluchtverhalten ist dann nicht mehr regulierbar und eine gelernte Co-Regulation nicht möglich. Dies mündet in chronischer Angst und Reizbarkeit. Kann der Mitarbeiter virtuelle Kommunikationen, z. B. Organisationsentwicklungsthemen, durch Tonlage, Mimik und Kopfbewegungen eines vertrauten, beruhigenden Gegenübers in einen sicheren Kontext stellen, wird die Person sich sicher und geborgen fühlen. Dann werden Immobilitätszustände vermieden. Gelingt es dem Organisationsmitglied nicht, Sicherheitssignale beim Gegenüber wahrzunehmen, z. B. durch eine ausgeschaltete Kamera, wird er/sie auf längere Sicht Immobilitätsanzeichen aufweisen. Diese bestehen beispielsweise in Isolation, Verzweiflung, einem Gefühl der Sinnlosigkeit, Dissoziation bis hin zur Depression. Ist der Sympathikus und/oder der dorsale Vagus stärker aktiv, schützt sich das Individuum durch Abwehr- und Verteidigungsstrategien. Dies beeinträchtigten wiederum negativ zwischenmenschliche Interaktionen und die Möglichkeit, sich gegenseitig zu regulieren. Offenheit, Zugänglichkeit, Vertrauen und das Gefühl der Sicherheit in Gegenwart anderer wird herunterreguliert. Genau diese Eigenschaften werden jedoch in Kommunikationen während der Organisationsentwicklung benötigt. Die vom Individuum erfasste Bedrohung, sei sie real oder fiktiv, kann durch das Erkennen sozialer Zugewandtheit und sozialer Interaktionen, z. B. durch Mimik, Tonlage der Stimme, Augenkontakt und Nähe, co-reguliert werden. Auf diese Weise wird ein Gefühl von Sicherheit erzeugt (vgl. Porges 2020, S. 137)

In der virtuellen synchronen Kommunikation ist diese Nähe, die das Gefühl der Bedrohung herunterregulieren könnte, nicht gegeben. Bisher war die Zuwendung zu anderen Personen in der menschlichen Evolution eine Strategie, um Zustände physiologischen Abwehr und Angst abzumildern. Um trotz körperlicher Distanz das Nervensystem auf Sicherheit zu ,programmieren‘, ist es notwendig, die heute verfügbare Technik zu nutzen. Das bedeutet, eine Videokamera sowohl anzuschalten und damit tatsächlich in Konversationen präsent zu sein als auch sich dabei nicht abzulenken und die Gesichter der anderen zu betrachten. Spontane Gesichtsausdrücke, Intonation der Stimme und Augenkontakt führen gegenseitig zur Co-Regulation und lassen Gefühle der Sicherheit und Verbundenheit entstehen. Entscheidend ist hier, nicht nur Worte, sondern auch Gefühle mitzuteilen.

Durch unseren bisherigen Umgang mit Videotechnologie für Unterhaltungs-, Bildungs- oder Geschäftszwecke habt der Mensch gelernt, die Technik distanziert zu betrachten. Es wurde gelernt, dass ihre Verwendungen asynchron verlaufen und nicht persönlich unser Erleben beeinflussen. Das autonome Nervensystem reagiert weniger sensibel auf die zweidimensionalen Übertragungen. Damit Stimmintonation, Kopfgestik und Mimik in Videokonferenzen vom autonomen Nervensystem besser wahrgenommen werden können, muss das menschliche Gehirn erst lernen, bewusst Hinweisen auf Bedrohung bzw. Sicherheit wahrzunehmen und auf zweidimensionale Bilder anzuwenden damit Neurozeption stattfinden kann. In Gesprächen von Angesicht zu Angesicht erfolgt die Neurozeption schnell und intuitiv, in der virtuellen Kommunikation hingegen sind diese Signale entkörperlicht. Das Gehirn hat gelernt, nebenbei etwas anderes zu tun, während des konsumieren von ,bewegten Bilder‘. Diese Entkörperlichung wird auf virtuelle Meetings und Kommunikationen übertragen. Das Nervensystem kann daher keine Rückkopplung herstellen, um eine Co-Regulation hin zu Verbundenheit und Sicherheitsempfinden zu ermöglichen. Solange das Nervensystem genügend Möglichkeiten für andere sichere und vertrauensvolle physische zwischenmenschliche Interaktionen hat, z. B. durch Freunde, Familie, Bekannte und Eltern, kann diese wechselseitige Regulierung aus anderen Bereichen geschehen. (vgl. Porges 2020, S. 138).

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Details

Title
Organisationsentwicklungen und ihre virtuellen mündlichen internen Kommunikationen. Die Bedeutung der Stimm- und Körperpräsenz
College
University of Kaiserslautern  (Organisationsentwicklung)
Grade
1,7
Author
Year
2021
Pages
61
Catalog Number
V1158431
ISBN (eBook)
9783346559784
ISBN (Book)
9783346559791
Language
German
Keywords
Polyvagal Theorie, Theory U, Sendelmeier, Mimik Resonanz, Kommunikation, Embodied Kommunikation, Emopwerment, Narrative Kommunikation, Schweigen, Zuhören, virtuelle Konversationen, Stimmpräsenz, Körperpräsenz, Arbeitsgespräch, Systemik, Organisationsentwicklungen
Quote paper
Stephanie Voss (Author), 2021, Organisationsentwicklungen und ihre virtuellen mündlichen internen Kommunikationen. Die Bedeutung der Stimm- und Körperpräsenz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1158431

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