Im Zuge der Corona-Krise haben soziale Berufe, wie der Gesundheits- und Pflegesektor, aber auch die Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere im Bereich der Erziehung und Sozialarbeit, eine zunehmende Aufmerksamkeit erfahren und wurden umfassend als systemrelevant anerkannt. Durch steigendende Belastungen für Kinder, Jugendliche und ihre Familien kam demzufolge dem Kindesschutz eine besondere Relevanz zu. Gleichzeitig sehen sich die Jugendämter und Allgemeinen Sozialen Dienste pandemiebedingten Herausforderungen und Einschränkungen gegenüber, welche ihre Aufgabenwahrnehmung erschweren.
Allerdings sind die Jugendämter nicht erst durch die Corona-Krise zunehmend belastenden Arbeitsanforderungen ausgesetzt. Vielmehr verdeutlichen bereits seit längerer Zeit zahlreiche Überlastungsanzeigen der Fachkräfte die andauernden Belastungssituationen in den Jugendämtern, welche sich einerseits, aufgrund von fortwährenden gesellschaftlichen Entwicklungen, immer komplexeren Fällen und Aufgaben gegenübersehen und andererseits mit einer hohen Fluktuation und stetigem Fachkräftemangel konfrontiert sind.
Demgemäß befasst sich der Policy Brief mit der Problematik der Überlastungssituationen in den Jugendämtern und verdeutlicht das oftmals vorherrschende Ungleichgewicht von Arbeitsbelastungen und -ressourcen. Dabei adressiert er die Politik als zentrale Akteurin, welche strukturelle Rahmenbedingungen schaffen und
notwendige Ressourcen mobilisieren muss, um langfristig die Qualität in den Jugendämtern aufrechtzuerhalten.
Systemrelevanz sozialer Berufe
Im Zuge der Corona-Krise haben soziale Berufe, wie der Gesundheits- und Pflegesektor, aber auch die Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere im Bereich der Erziehung und Sozialarbeit, eine zunehmende Aufmerksamkeit erfahren und wurden umfassend als systemrelevant anerkannt1 2.
Kinderschutz in Zeiten von Corona
Die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen stellten in den letzten Monaten besondere Belastungen und Herausforderungenfür Kinder, Jugendliche und ihre Familien dar. Insbesondere Kinder und Eltern, die auf Unterstützung und Schutz angewiesen sind, sind von den Einschränkungen durch die Corona- Pandemie in hohem Maße betroffen. Durch Schulschließungen, den Wegfall von Hilfesystemen und Bildungs- und Betreuungsangeboten sowie beengten Wohnverhältnissen oder ausbleibendenaußerfamiliären stärkenden und schützenden Beziehungen ergeben sich steigende Belastungen für Familien, welche unweigerlich mit einem erhöhten Risiko von gefährdenden Situationenfür Kinder und Jugendliche bis hin zu häuslicher Gewalt einhergehen3.
Hohe Anforderungen an die Jugendämter in der Corona-Krise
Demzufolge sind die Kinder- und Jugendhilfe sowie im Besonderen die Jugendämter und sozialen Dienste mit hohen Anforderungen konfrontiert, ihrem Schutzauftrag weiterhin nachzukommen, um Kinder und Jugendliche bestmöglich zu schützen und gleichzeitig den steigenden Risikofaktoren und Un- terstützungsbedarfen gerecht zu wer- den4. Dabei sehen sich die Jugendämter pandemiebedingten Restriktionen und eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten gegenüber, welche ihre Aufgabenwahrnehmung erschweren.
Gleichwohl ist aktuell noch nicht absehbar, welche Hilfe- und Unterstützungs- bedarfe sich auch nach der Pandemie herauskristallisieren und, ob diese nachhaltig zu einer Verschärfung von Belastungssituationen und zusätzlichen Kindeswohlgefährdungen führen wird5.
Aktuelle Zahlen zu den Entwicklungen von Kinderschutzfällen und Unterstüt- zungsbedarfen von Kindern, Jugendlichen und Familien im Zuge der Corona- Pandemie liegen bislang nur bedingt vor und müssen, unter Berücksichtigungzukünftiger Entwicklungen, analysiert werden6.
Abb. 1: Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen im Jahr 2019 und 20207
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Vergleich zu 2019 verzeichnen die Jugendämter im Corona-Jahr 2020 einenRückgang von Inobhutnahmen von etwa acht Prozent. Allerdings gibt diese Entwicklung bis dato keinen Aufschluss darüber, ob diese einen tatsächlichen Rückgang der Kindeswohlgefährdungen widerspiegelt oder inwieweit die rückläufigen Zahlen durch die Maßnahmen der Corona-Pandemie bedingt sind. So vermuten die Jugendämter ein größeres Dunkelfeld und befürchten, dass viele Gefährdungen durch Kontaktbeschränkungen zunächst unentdeckt bleiben und es zukünftig einen erneuten Anstieg von Gefährdungsmeldungen geben könne8. Insbesondere durch eingeschränkte Kontakte sowie den Wegfall von wichtigen „Institutionen des Alltags, wie Kindertageseinrichtungen und Schule oder andere Dienste und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die als Hinweisgeber auf problematische Entwicklungen in Familien fehlen9 “, stehen die Jugendämter vor der Herausforderung Hilfe- und Unterstützungsbedarfe zu erkennen und äußern „Unsicherheit über die Lage und Bedarfe von jungen Menschen und Familien10 “.
Abb. 2: Durchschnittliche Einschätzung der Jugendämter von ausgewählten Herausforderungen im Zuge der Corona-Pan- demie11
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Neben diesen pandemiebedingten Einschränkungen sehen sich die Jugendämter - vor allem bedingt durch den einschränkten persönlichen Kontakt zu den Adressat*innen und relevanten Schnittstellen - gleichzeitig einer Ausweitung ihrer Aufgaben gegenüber: So müssen die Fachkräfte Arbeitsprozesse umgestalten, Aufgaben priorisieren und alternative Kommunikationswegeerschließen. Überdies bemühen sich viele Jugendämter auf bestehende Beratungs- und Krisenangebote hinzuweisen sowie zusätzliche Kapazitäten für digitale Beratungen zu realisieren. Auch Konflikte im Kontext von Besuchskontakten und des Umgangsrechts, welche pandemiebedingt nur beschränkt umgesetzt werden können, stellen zusätzliche Herausforderungen für die Fachkräfte dar12.
Insgesamt sind die Jugendämter folglich mit der Herausforderung konfrontiert sowohl ihren tätigkeitsimmanenten Anforderungen gerecht zu werden , weiterhin den Kinderschutz zu gewährleisten, und gleichzeitig den Infektionsschutz der Fachkräfte und Adressat*innen sicherzustellen13.
Fortwährende Überlastungssituationen
Allerdings sehen sich die Jugendämter nicht erst durch die Corona-Krise zunehmend belastenden Arbeitsanforderungen gegenüber. Vielmehr verdeutlichen bereits seit längerer Zeit zahlreiche Überlastungsanzeigen der Fachkräfte die andauernden Belastungssituationen in den Jugendämtern, welche sich einerseits, aufgrund von fortwährenden gesellschaftlichen Entwicklungen, immer komplexeren Fällen und Aufgabengegenübersehen14 und andererseits mit einer hohen Fluktuation und stetigem Fachkräftemangel konfrontiert sind15.
Dabei spiegeln sich die gesellschaftlichen Entwicklungen auch in der zunehmenden Inanspruchnahme von Erziehungshilfen wider:
Abb. 3: Inanspruchnahme von Erzieherischen Hilfen von 2009 bis 2019,16
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Hilfen zur Erziehung sind Sozialleistungen (Hilfe- und Unterstützungsleistungen), die Eltern bzw. Personensorgeberechtigte beantragen können, wenn „sie die Versorgung und Erziehung ihrer Kinder ohne ausreichende Unterstützung und Hilfe nicht mehr angemessen gewährleisten können“. Schrapper (2018: 1032)
Seit 2009 bis 2019 verzeichnen die Erzieherischen Hilfen einen Zuwachs von 22 %. Wurden 2009 noch etwa 835.000 Hilfen in Anspruch genommen, so waren es 2018 erstmalig über eine Million. Im Jahr 2019 stieg die Inanspruchnahme von Erzieherischen Hilfen wiederum um 13.500 Fälle (+1,3 %)17.
Auch bei den gemeldeten Kindeswohlgefährdungen lässt sich eine deutlicheZunahme über die Jahre verzeichnen. So stellten die Jugendämter 2019 bei etwa 55.500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung fest. Dies sind ganze zehn Prozent mehr als im Jahr 2018 und eine Zunahme von fast 45 % seit 201218.
Abb. 4: Entwicklung der festgestellten Kindeswohlgefährdungen von 2012 bis 201919
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es zeigt sich also sowohl ein signifikanter Anstieg von Erzieherischen Hilfen als auch von festgestellten Kindeswohlgefährdungen.
Personalsituation in den Jugendämtern
Dieser Zuwachs des Arbeitsvolumens geht mit der Erwartung einher, dass die personellen Ressourcen dementsprechend ausgeweitet werden müssen. Mit Blick auf die Entwicklung der Personalsituation in den Jugendämtern und im Besonderen in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendäm-ter lässt sich hier grundsätzlich einepo- sitiveAusweitungverzeichnen:
Abb. 5: Personalentwicklung in den Jugendämtern und im ASD20
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
So arbeiteten im Jahr 2006 etwa 9.500 Beschäftigte im ASD (ca. 33.500 in den Jugendämtern insgesamt), während es im Jahr 2018 bereits 17.183 und somit fast doppelt so viele sind (ca. 55.000 insgesamt)21.
Da die sozialen Dienste der Jugendämter überdies als personenbezogene Dienstleistung organisiert sindund die Qualität der Arbeit somit vor allem durch die Fachkräfte und dessen Eignung und Qualifikation selbst geprägt wird, müssen neben den grundsätzlichen personellen Ressourcen allerdings besonders die Beschäftigungsbedingungen als auch die Personalstruktur berücksichtigt werden22.
Um die steigenden Arbeitsanforderungen in den Jugendämtern folglich ganzheitlich deuten zu können, müssen diese auch vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen sowie tätigkeitsimmanenten Aufgaben und Leistungen der Jugendämter betrachtet werden:
Was genau macht das Jugendamt? Organisationale Rahmenbedingungen und Aufgaben des Jugendamtes
Das Jugendamt ist das kommunale Amt, welches die Gesamtverantwortungüber die Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe gemäß des achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII) bzw. des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) trägt. Dabei ist es, gemäß § 70 SGB VIII, als zweigliedrige Behörde organisiert und besteht einerseits aus der Verwaltung, also den Fachkräften, welche die konkreten Aufgaben der Jugendhilfe wahrnehmen, und andererseits aus dem Jugendhilfeausschuss, welcher die zugrundeliegenden Leitlinien der kommunalen Jugendhilfebeschließt23.
Abb. 6: Das Jugendamt als zweigliedrige Behörde
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(eigene Darstellung)
Grundsätzlich zeichnet sich die Arbeit in den Verwaltungen bzw. den Allgemeinen Sozialen Diensten der Jugendämter durch breitgefächerte Aufgaben und Leistungen aus und geht, insbesondere mit Blick auf die Wahrnehmung ihres Schutz- und Kontrollauftrages gemäß § 8a SGB VIII, mit einer großen Verantwortung einher24.
In diesem Sinne übernimmt das Jugendamt die Funktion des sog. staatlichenWächteramtes , welche sie ermächtigt, bei einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen (z. B. bei psychischer oder physischer Misshandlung oder Vernachlässigung) in das elterliche Recht einzugreifen und Kinder, im Rahmen einer kurzfristigen Krisenintervention, in Obhut zu nehmen (§ 42 SGB VIII) und ggf. Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) einzuleiten25.
[...]
1 Bildquelle: AWO Regionalverband Mitte-West-Thüringen e.V. (o. J.): https://www.awo-mittewest-thueringen.de/team-kiwi-beratungzum-kinderschutz.html [Abruf: 18.08.2021]
2 vgl. BIB (2020: 1 ff.)
3 vgl. Fegert u.a. (2020: 703); LVR (2020: 1)
4 vgl. ebd.
5 vgl. Destatis (2021), eigene Darstellung
6 vgl. ebd.; DJI (2020: 62)
7 ebd. (2020: 62)
8 vgl. DJI (2020: 6/ 32/ 41f.)
9 vgl. ebd. (70)
10 DJI (2020: 5)
11 vgl. ebd. (2020: 56), eigene Darstellung
12 vgl. Seckinger (2008:41 f.); Zipperle (2008:11 f.)
13 vgl. AKJstat (2021:52ff.),eigene Darstellung
14 vgl. ebd.
15 vgl. Fuchs-Rechlin/Rauschenbach (2018: 580)
16 vgl. Aner/Hammerschmidt (2018: 99 ff.)
17 vgl. Rudow (2010: 10 ff.); Matzner (2016: 10)
18 vgl. ebd. (19 ff.); BMFSFJ (2020: 49)
19 ebd.
20 vgl. AKJstat (2021: 52 ff.), eigene Darstellung
21 vgl. ebd.
22 vgl. Fuchs-Rechlin/Rauschenbach (2018:580)
23 vgl. Aner/Hammerschmidt (2018: 99 ff.)
24 vgl. Rudow (2010: 10 ff.); Matzner (2016: 10)
25 vgl. ebd. (19 ff.); BMFSFJ (2020: 49)
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