Ein filmanalytischer Ansatz zur Erfassung möglicher Entstehungsbedingungen von Systemsprenger:innen am Beispiel des Spielfilms "Systemsprenger"


Bachelorarbeit, 2021

123 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Abstract

1. Einleitung

2. Theoretischer Kontext
2.1. Der systemische Ansatz
2.2. Biografiearbeit
2.3. Lebensweltorientierung
2.4. Lebensbewältigung

3. Das System: Hilfen zur Erziehung
3.1. Das Herausfallen aus dem System
3.2. Der Versuch einer Definition: Systemsprenger:in

4. Hilfesysteme für Familien
4.1. Jugendamt
4.2. Ambulante und (teil-)stationäre Hilfen zur Erziehung
4.2.1. Heimerziehung
4.2.2. Geschlossene Unterbringung
4.2.3. Vollzeitpflege
4.2.4. Eingliederungshilfe
4.2.5. Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung
4.3. Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
4.4. (Scheiternde) Kooperationen

5. Mögliche Entstehungsfaktoren von Systemsprenger:innen
5.1. Vulnerabilitäts-Stress-Modell
5.2. Psychosoziale Risikofaktoren
5.2.1. Ständige Wechsel und Abbrüche von Hilfsmaßnahmen
5.2.2. Kinder psychisch kranker Eltern
5.2.3. Kindeswohlgefährdung
5.2.4. Alleinerziehende Eltern
5.2.5. Kinderarmut
5.3. Psychische Störungen
5.3.1. (Frühkindliches) Trauma
5.3.2. Bindungsstörung (mit Enthemmung)
5.3.3. ADHS
5.3.4. Störung des Sozialverhaltens
5.4. Statistische Zusammenhänge

6. Forschungsdesign
6.1. Erhebungsinstrument: Soziologische Film- und Fernsehanalyse
6.2. Auswertungsinstrument: Grounded Theory

7. Inhaltliche Analyse des Spielfilms „Systemsprenger“
7.1. Inhaltsangabe des Spielfilms „Systemsprenger“
7.2. Datenauswertung
7.2.1. Schnelle Wechsel und Abbrüche zwischen Einrichtungen oder Maßnahmen
7.2.2. Dissoziales Verhalten
7.2.3. Bindungsverhalten
7.2.4. Wiedererleben des Traumas
7.2.5. Familiäre Umstände
7.3. Diskussion

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

10. Abbildungsverzeichnis

11. Tabellenverzeichnis

12. Anhang

I Abstract

Diese Bachelorarbeit behandelt das Thema: „Wenn Hilfesysteme nicht greifen: Systemspren- ger:in. Ein filmanalytischer Ansatz zur Erfassung möglicher Entstehungsbedingungen von sog. Systemsprenger:innen am Beispiel des Spielfilms ,Systemsprenger‘“.

Die Bezeichnung „Systemsprenger:in“ meint v.a. Kinder und Jugendliche mit komplexen Hil­feverläufen und das dadurch resultierende antisoziale Verhalten, welches für das System Kinder- und Jugendhilfe eine große Herausforderung darstellt. Kennzeichnend für die „sprengende“ Attri­bution sind rasche Wechsel zwischen Erziehungsmaßnahmen oder die Beendigung dieser.

Im Zuge dieser Arbeit werden nun verschiedenste psychosoziale und psychologische Risiko­faktoren vorgestellt und untersucht, welche die Entstehung des Systrmsprenger:innenphäno- mens begünstigen könnten. Dies geschieht mittels einer qualitativen/ interpretativen Analyse des Spielfilms „Systemsprenger“ aus dem Jahr 2019 von Nora Fingscheidt.

Die Quintessenz dieser Arbeit ist, dass es sich nicht um einzelne Faktoren handelt, die einem Menschen zum/r Systemsprenger:in machen, sondern es sich um ein Zusammenspiel verschie­denster Bedingungen handelt, welche individuell auf Adressat:innen einwirken.

1. Einleitung

Im Rahmen der Bachelorarbeit wird sich mit möglichen Entstehungsbedingungen von sog. Systemsprenger:innen befasst. Diese werden anhand des Spielfilms „Systemsprenger“ aus dem Jahr 2019 von Nora Fingscheidt analysiert, welche sowohl das Drehbuch schrieb als auch Regie führte. Der Begriff Systemsprenger:in bezieht sich auf Kinder und Jugendliche, die in regelmäßigen Abständen Erziehungsmaßnahmen von verschiedenen Systemen beenden oder bei denen der Hilfeprozess durch die Fachkräfte beendet wird (vgl. Schwabe 2014, S. 53 ff, Baumann 2010, S. 13). Die Betroffenen gelten somit als „schwer erziehbar“ aufgrund ihres normabweichenden Verhaltens. Der Begriff des Systemsprengers bezeichnet damit nach Baumann (2020) jedoch keine Diagnose, sondern bezieht sich hierbei auf die „Brüchigkeit der Helfersysteme“ (S. 16). Baumann sagt in einem Interview, dass es sich somit um ein Prozess­geschehen eines jungen Menschen mit einer belastenden Familiengeschichte, welche im Kon­text der Hilfen zur Erziehung zum Tragen kommt, handle, und nicht das einzelne Kind oder den Jugendlichen an sich in den Fokus genommen werden soll (vgl. Grampes 2019, S. 3). Trotzdem wird der Begriff des Systemsprengers in dieser Arbeit gegendert. Um nicht den An­schein zu erwecken, dass nur männliche Adressaten von dieser Problematik betroffen sein können.

Wie äußert sich dieses Verhalten der Systemsprenger:innen denn nun? Häufig sind es Per­sonen, welche gewalttätig gegenüber Betreuer:innen/ Mitarbeiter:innen sind, die den Schulbe­such verweigern, Alkohol und sonstige Drogen konsumieren, die von Zuhause oder den Frem­dunterbringungen weglaufen bzw. an unbekannten Orten übernachten und Formen von selbst­oder fremdgefährdeten Verhalten (bspw. Selbstverletzungen, Prostitution, riskante Freizeitak­tivitäten etc.) praktizieren. Systemsprenger:innen werden aufgrund ihres für problematisch er­klärten Verhaltens häufig zwischen einzelnen Erziehungsmaßnahmen, bis hin zur Kinder- und Jugendpsychiatrie hin- und hergeschoben. Aufgrund ihrer Verhaltensweisen werden bei ihnen häufig psychische Störungen diagnostiziert (vgl. Schwabe 2014, S 53 ff, Baumann 2010, S. 14, Esser 2014, S. 79). Das Thema der Systemsprenger:innen ist somit von hoher Bedeut­samkeit. Die Anzahl dieser ist zwar gering (vgl. Schwabe 2014, S. 53), jedoch stellen die Ein­zelnen komplexe Fälle im Hinblick auf ihre biografische Erfahrungswelt dar, weswegen es sich schwierig gestalten kann, ein passendes Hilfsangebot für die Betroffenen zu finden.

Der Spielfilm „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt machte im Jahr 2019 auf dieses Prob­lem aufmerksam. Menno Baumann begleitet dabei das Filmteam. Denn im Rahmen seines Forschungsprojektes „Kinder, die Systeme sprengen“, wobei er die Adressatinnen unter­suchte, konnte er somit Vorschläge für die Praxis des Films ableiten (vgl. Baumann 2020, S. 15 ff).

Es wird ein Mädchen namens Benni porträtiert, welches 9 Jahre alt ist. Aufgrund ihres aggressiven Verhaltens muss sie jedoch vermehrt die Wohngruppe wechseln. Außerdem wird sie zwischen den verschiedensten Maßnahmen und Aufenthalten in einer psychiatrischen Kli­nik hin und her geschoben. Benni wünscht sich jedoch wieder bei ihrer Mutter zu wohnen, die Bennis gewalttätiges Verhalten jedoch nur schwierig handhaben kann. Nicht nur ihre Mutter bringt Benni an ihre Grenzen, sondern auch das System Hilfen zur Erziehung.

Das Ziel dieser Bachelorarbeit besteht somit darin folgende Fragestellung beantworten zu können: „Welche multifaktoriellen Bedingungen können an der Entstehung von Systemspren- ger:innen beteiligt sein am Beispiel des Spielfilms „Systemsprenger“?“ Zu Beginn dieser Arbeit wird sich mit dem theoretischen Kontext auseinandergesetzt, um die Problematik der Sys- temsprenger:innen in Gänze nachvollziehen zu können. Darauffolgenden wird das System Hilfen zur Erziehung vorgestellt. Dieses wird in seiner Allgemeinheit dargestellt, woraufhin ein Bezug zur Situation und Begrifflichkeit der Systemsprenger:innen genommen wird. Des Wei­teren erfolgt ein Abriss des deutschen Hilfesystems für Familien. Hier werden einzelne Maß­nahmen, welche von der Adressat:innengruppe vermehrt beansprucht werden, vorgestellt. Au­ßerdem wird die Kooperation innerhalb des Systems Hilfen zur Erziehung sowie zwischen den Hilfen zur Erziehung und der der Kinder- und Jugendpsychiatrie dargestellt. Im weiteren Ver­lauf werden mögliche Entstehungsbedingungen veranschaulicht. Hier wird zwischen psycho­sozialen Risikofaktoren und psychischen Störungen im Kindesalter differenziert. Anschließend werden diese in den Kontext des Systemsprenger:innenphänomens zueinander betrachtet. Nach der Vorstellung des Forschungsdesigns, wobei es sich hier um eine inhaltliche Film- und Fernsehanalyse handelt, die mittels der Grounded Theory ausgewertet wird, folgt die inhaltli­che Analyse des Spielfilms „Systemsprenger“.

2. Theoretischer Kontext

Im theoretische Kontext wird sich mit relevanten Grundlagen befasst, welche dazu dienen, dass man einen ganzheitlichen Blick über die Adressat:innen, welche systemsprengerische Verhaltensweisen äußern, gewinnt. Dieses Vorgehen zielt somit darauf ab, eine verstehende Haltung bezüglich normabweichendem Verhalten und der Entstehung dessen zu generieren. In Abschnitt 2.1. wird der systemische Ansatz erläutert, um ein Verständnis des Systembegriffs in seiner Gesamtheit nachvollziehen zu können. Anknüpfend daran wird die Biografiearbeit beleuchtet. Diese dient dazu, den gemachten Erfahrungsweg von Systemsprenger:innen und dessen Auswirkungen auf ihr „sprengendes“ Verhalten verinnerlichen zu können. Abschnitt

2.3. behandelt den Ansatz der Lebensweltorientierung nach Thiersch.

Dadurch soll die Not­wendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung der Lebenswelt von Systemsprenger:innen ver­deutlicht werden. Die damit verbundenen Bewältigungsstrategien der Klientel werden im da­rauffolgenden Abschnitt erörtert. Die Lebensbewältigung nach Böhnisch soll somit einen Einblick in das normabweichende Verhalten von Systemsprenger:innen geben, welche Be­troffene zur Bewältigung von alltäglichen Krisensituationen gebrauchen.

2.1. Der systemische Ansatz

Der systemische Ansatz lässt sich aus dem Begriff des „Systems“ ableiten. Er bezieht sich auf die Systemtheorie, die inzwischen in wissenschaftlichen Diskursen vermehrt thematisiert wird. In der Pädagogik können unterschiedlichste Gegenstände als System benannt werden. Da­runterfallen: Gesellschaften, Peergroups, Familien, Institutionen wie Schule/ Universität, Ein­richtungen der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) und Individuen wie Kinder, Jugendliche, Eltern und Pädagogen. Aufgrund der flexiblen Verwendung des Systembegriffs ergeben sich Mög­lichkeiten den gleichen Fall anhand unterschiedlichster Systeme zu strukturieren und analy­sieren (vgl. Mosell 2016, S. 15). Beispielsweise kann das Kind oder der/die Jugendliche selbst als System fungieren und gleichzeitig Teil des Systems Familie sein. Wobei das System Fa­milie hier als übergeordnetes System funktioniert. Die Eltern und/ oder Geschwister sind eben­falls als eigenständiges System zu betrachten, die mit dem System des Kindes oder des Ju­gendlichen gekoppelt sind (vgl. ebd.).

Mosell unterscheidet im systemischen Ansatz zwischen trivialen und nicht-trivialen Syste­men (vgl. ebd.). Erstere sind einfach strukturiert und leicht steuerbar, die zweiten sind komple­xer und eigendynamisch beschaffen. Menschen zählen zu den komplexen Systemen, denn ihr Verhalten kann nicht durch Kausalitäten (Ursache- Wirkungszusammenhänge) erklärt werden:

„Die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, und die grundsätzliche Komplexität innerer Verar­beitungsstrukturen führen zu nicht vorhersagbaren Reaktionen und Entwicklungen [...] Men­schen sind noch komplexer und unberechenbarer in ihren Reaktionen und in ihrer inneren Verarbeitung, beim Lernen. Die reale Nicht-Steuerbarkeit junger Menschen ist Alltag der Pä­dagogik, bei den Auftraggebern aber noch nicht angekommen. Und so orientiert sich die vor­geordnete Verwaltung oft an einer Steuerbarkeits- und Kontrollillusion, welche die Pädagogen, die sich am einzelnen Kind orientieren, in Dilemmata stürzen kann“ (ebd., S.15 f.).

Fernerhin sind nicht-triviale Systeme laut Mosell nicht nur Individuen, sondern auch dessen Zusammenschlüsse. So können komplexe Systeme, wie bei dem bereits erwähnten Beispiel der Familie, sog. „Subsysteme“ besitzen. Systeme bestehen aus interdependenten auch hie- rarchisierten Teilen, die in wechselseitigen Beziehungen zueinanderstehen (vgl. ebd., S. 16).

Im Kontext der Hilfen zur Erziehung, auf welchen später in dieser Arbeit Bezug genommen wird, wird es als wichtig erachtet die Familie als System zu betrachten, um die Eltern dahinge­hend zu befähigen ihren Kindern den Weg in ein selbständiges Leben zu ermöglichen. Dafür ist die Stabilisierung des Familiensystems von hoher Bedeutung. Auch laut Rothe ist der lineare Ansatz zu irreführend formuliert, denn eine isolierte Betrachtung des Menschen ohne die Bezugnahme seines sozialen Umfeldes sei aus systemischer Sicht zu eng (vgl. Rothe 2017, S. 28). Das bedeutet, dass der Mittelpunkt des Geschehens also nicht das Kind an sich ist, sondern alle Menschen und Ereignisse des Systems (Familie) werden in ihrem Kontext der Interaktion betrachtet. Das Problem wird somit nicht im Individuum gesucht, sondern zwischen verschiedenen Individuen. Außerdem bezieht sich das Interaktionsgeschehen der Familie nicht nur auf einzelne Verhaltensweisen innerhalb der Familie. Es ist ebenso von Bedeutung auch das soziale Umfeld wie Schule, Peers etc. miteinzubeziehen (vgl. ebd., S. 28 f.).

2.2. Biografiearbeit

Das Wort Biografie setzt sich aus den griechischen Begriffen „bios“ (Leben) und „graphein“ (schreiben, darstellen) zusammen. Biografie bedeutet demnach „Lebensbeschreibung“. Au­ßerdem ist Biografie nicht zu verwechseln mit dem Lebenslauf, welcher objektive Daten ent­hält, wohingegen sich die Biografie auf die subjektive Interpretation bzw. (Re-) Konstruktion des (eigenen) Lebensverlaufes stützt. Es geht also darum, wie der Mensch verschiedene Le­bensereignisse wahrnimmt, sie bewertet und in sein Leben einordnet (vgl. Lattschar 2012, S. 194/ Franz et al. 2017, S 11). Miethe beschreibt Biografie als gelebte Vergangenheit, welche im Prozess des Erinnerns und wiederholten Erzählens auch in der Gegenwart fortgeführt wird (vgl. Miethe 2020, S. 83). Außerdem ist Biografie nicht nur auf individueller Ebene zu verste­hen. Biografie ist ebenfalls in einem historischen, gesellschaftlichen Kontext verankert, weil das Individuum Teil dieses Kontextes ist und sich in jenem entwickelt (vgl. Franz et al. 2017. S. 11.).

In diesem Zusammenhang wird die Biografiearbeit in Arbeitsfeldern wie der Kinder- und Jugendhilfe, in Altenheimen/Pflege, in der Erwachsenenbildung etc. angewandt. Biografiear- beit wird vor allem durch Miethe geprägt. Sie definiert es wie folgt:

Ausgehend von einem ganzheitlichen Menschenbild ist Biografiearbeit eine strukturierte Form der Selbstreflexion in einem professionellen Setting, in dem an und mit der Biografie gearbeitet wird. Die angeleitete Reflexion der Vergangenheit dient dazu, Gegenwart zu verstehen und Zu­kunft zu gestalten. Durch eine Einbettung der individuellen Lebensgeschichte in den gesellschaft­lichen und historischen Zusammenhang sollen neue Perspektiven eröffnet und Handlungspoten­ziale erweitert werden.“ (Miethe 2011, 24).

Wenn Menschen demnach an Biografiearbeit teilnehmen, tun sie dies, um von der gewonne­nen Erkenntnis über das eigene Leben für den zukünftigen Lebensweg Gebrauch zu machen. Biografiearbeit wird also in diesem Sinne als die gegenwärtige Veränderung des eigenen Lebens verstanden. Diese Veränderung geschieht, indem man seine Vergangenheit reflek­tiert, mit dem Ziel die Zukunft zu gestalten (vgl. Miehte 2020, S. 84).

Im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe bietet sich Biografiearbeit vor allem in stationären Unterbringungen wie Heimen, Wohngruppen und Pflegefamilien an. Einige der untergebrach­ten Kinder und Jugendlichen besitzen wenig Informationen über die eigene Lebensgeschichte und andere haben negative Lebensereignisse erfahren, die es zu bewältigen gibt. Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen fragen sich jedoch, wieso sie in einer Einrichtung unterge­bracht worden sind. Biografiearbeit soll helfen diese Fragen aufzuarbeiten und das Selbstwert­gefühl der Betroffenen zu stärken. Biografiearbeit kann als Einzel- und Gruppenarbeit ange­boten werden, dabei richtet sie sich nach den individuellen Bedürfnissen des/ der Adressat:in. Wichtig ist außerdem zu erwähnen, dass Biografiearbeit keine Psychotherapie ersetzt, jedoch in diesem Kontext auch Anwendung finden kann (vgl. Lattschar 2012, S. 195).

Den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe können auch einige Herausforderungen in der Biografiearbeit begegnen. Zum einen soll der Rahmen, in dem mit einer/m Betroffenen gearbeitet wird, ein geschützter sein. Zum anderen müssen unter gewissen Umständen (bspw. bei Kindeswohlgefährdung) Informationen an dritte weitergegeben werden, um das Kind zu schützen. Des Weiteren kann der Umgang mit belasteten Wahrheiten für den Klienten heraus­fordernd sein. Damit sind Inhalte aus der Biografie des Kindes gemeint, die schwierig zu er­klären sind, wie bspw. Missbrauch, Suchterkrankungen und psychische Erkrankungen der El­tern, Gefängnisaufenthalte etc. (vgl. ebd. S. 200 f.).

Findet Hilfeplanung (wird im Verlauf des Abschnittes 4.1. Jugendamt erörtert) im Rahmen der Hilfen zur Erziehung statt, kann Biografiearbeit unterstützend hinzugezogen werden. Die Teilnahme des/der Betroffenen an der Hilfeplanung ist gesetzlich vorgeschrieben und kann dazu beitragen, die Wünsche, Erwartungen und Fragen der Kinder zu bearbeiten bzw. sich bewusst zu machen. (vgl. ebd., S. 202).

Abschließend lässt sich für die Professionellen daraus ableiten, dass Fachkräfte aber auch Kinder und Jugendliche selbst versuchen müssen „die eigene Lebensgeschichte zu verstehen und sich von belastenden Erfahrungen zu lösen, um neue, eigene Lebensperspektiven zu ent­wickeln.“ (ebd., S. 203).

2.3. Lebensweltorientierung

Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sich dem Konzept der Lebensweltorientierung gewidmet, welches vor allem durch Thiersch geprägt worden ist. Dieses Konzept bezieht sich auf die allgemeinen Ziele der Hilfen zur Erziehung und betont dabei vor allem die soziale Integration der Klient:innen. Ein lebensweltorientierter Ansatz fokussiert sich auf die Adressat:innen der Sozialen Arbeit (hier der Kinder- und Jugendhilfe), an ihren Lebensverhältnissen und ihren Lebensschwierigkeiten, welche es mittels ihrer Ressourcen zu bewältigen gilt. Außerdem be­fasst sich dieser Ansatz mit subjektbezogenen bzw. gesellschaftlichen Strukturen (vgl. Füs- senhäuser 2006, S. 127).:

„Anders formuliert, die Lebensweltorientierung bearbeitet Schwierigkeiten und Probleme in der Komplexität des Alltags. Gleichzeitig agiert sie aber auch provozierend und verfremdend, um Menschen aus den Verstrickungen des Alltags herauszubegleiten. Lebensweltlich zu arbeiten heißt insofern, auf die in der Lebenswelt vorfindlichen Probleme von Menschen einzugehen und gemeinsam mit ihnen eine ,Vision‘ gelingenderen Lebens zu entwickeln und zu unterstützen.“ (ebd., S. 127).

Um die Kernaussage der Lebensweltorientierung in ihrer Ganzheitlichkeit zu verstehen, ist eine Klärung der zentralen Begrifflichkeiten wie „Lebenswelt“ und „Alltag“ unabdingbar.

Alltag bezieht sich auf das pragmatische Handeln im Unmittelbaren. Das schließt die un­mittelbaren räumlichen, zeitlichen und sozialen Erfahrungen mit ein. Damit sind nicht neue oder zufällige Erfahrungen gemeint, sondern vertraute, als sicher wahrgenommene Erleb­nisse. Krisenerfahrungen, mit denen das Handlungsfeld der Sozialen Arbeit konfrontiert wird, beziehen sich eben auf diese unvorhersehbaren, neuen bzw. fremden Erfahrungen, die ein Zusammenbrechen alltäglicher Handlungsmuster und Sicherheiten mit sich bringen können (vgl. ebd., S. 131). Alltag wird nach Thiersch (2015) außerdem als „spezifische Form des Welt­verhältnisses“ (S. 336) bezeichnet, in dieser dem Menschen die Wirklichkeit zugänglich ge­macht wird. Das bedeutet, dass es sich um die allgemeine Form des Lebens handelt, in dieser sich der Mensch befindet, welche ihn bestimmt und mit der er sich auseinandersetzen muss (vgl. ebd.).

Für das Konzept der Lebensbewältigung ist des Weiteren der Begriff „Alltäglichkeit“ von Bedeutung. Alltäglichkeit meint einen spezifischen Modus des Handelns und Verstehens so­wie ein Rahmenkonzept. Alltäglichkeit besteht aus subjektiven Deutungs- und Handlungsmus­tern, diese sind wiederum geprägt von objektiven Bedingungen. Das bedeutet, dass Alltäglich­keit von historisch wandelbaren, ökonomischen und politischen Strukturen abhängig ist (vgl. Füssenhäuser 2006, S. 131). Außerdem ist Alltäglichkeit eine ganzheitliche Wirklichkeit, in der die unterschiedlichen Erfahrungen und Bewältigungsmuster ineinandergreifen (vgl. Thiersch 2015, S. 337).

Fernerhin differenzieren Thiersch und Füssenhäuser zwischen den Begriffen der „Alltags­welt“ und der „Lebenswelt“: „Der Begriff der Alltagswelten (bzw. des Alltagslebens) bezeichnet die unterschiedlichen Lebenslagen und Lebensfelder (z.B. Armut, Jugend, Generation, Ge­schlecht), in denen alltäglich gehandelt wird. [...] Der Begriff der Lebenswelten umfasst die verschiedenen institutionellen Arrangements (z.B. Familie, Schule, Beruf), in denen alltäglich gehandelt wird“ (Füssenhäuser 2006, S. 131, vgl. Thiersch 2015, S. 337).

Die Aufgaben der Lebensweltorientierung beziehen sich auf zwei Ebenen. Einerseits geht es um die Unterstützung sozialer Problemlagen und marginalisierten Lebenslagen, anderer­seits geht es um die Unterstützung und Begleitung des Bewältigungsverhaltens der Klient:in- nen, die aufgrund der immer komplexer werdenden Lebensverhältnissen und gesellschaftli­chen Veränderungen notwendig werden. Das Konzept der Lebensbewältigung als eine zent­rale Aufgabe der Sozialen bzw. Kinder- und Jugendarbeit wird deshalb im nächsten Schritt der Arbeit erörtert. Es geht hier also um die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, dessen Ziel sich auf die Gestaltung des Sozialen bzw. die Gestaltung sozialräumlicher Verhältnisse bezieht (vgl. Füssenhäuser 2006, S. 133).

Des Weiteren wurden im achten Jugendbericht 1990 Strukturmaxime im Sinne einer le­bensweltorientierten Jugendhilfe entworfen, um die Betroffenen in ihrer Lebenswelt zu errei­chen. Diese inkludieren die Maximen: Prävention, Regionalisierung, Alltagsnähe, Integration und Partizipation, welche den Rahmen für eine praxisorientierte Arbeit in der Kinder- und Ju­gendarbeit bestimmen (vgl. Bundesministerium für Frauen und Jugend 1990, S. 85). Die Ma­xime der Prävention zielt „als primäre Prävention verstanden — auf lebenswerte, stabile Ver­hältnisse, auf Verhältnisse also, die es nicht zu Konflikten und Krisen kommen lassen, und — als sekundäre Prävention verstanden — auf vorbeugende Hilfen in Situationen, die erfah­rungsgemäß belastend sind und sich zu Krisen auswachsen können“ (ebd., S. 85). Das be­deutet, dass Prävention die Herstellung allgemeiner Kompetenzen zur Lebensbewältigung bzw. gerechte Lebensverhältnisse miteinbezieht. Außerdem richtet sich Soziale Arbeit in die­sem Sinne an alle und vor allem an belastende Jugendliche (vgl. Bundesministerium für Frauen und Jugend 1990, S. 85 f./ Füssenhäusser 2006, S. 133). Dezentralisierung bezieht sich auf das Vorherrschen der Hilfen vor Ort. Somit soll eine bessere Erreichbarkeit der Insti­tutionen und Angebote gewährleistet werden, weswegen der Begriff der Regionalisierung in diesem Kontext als wichtig zu erachten scheint. (vgl. Füssenhäuser 2006, S. 133). Die Alltags­nähe meint die Präsenz der Hilfen in der Lebenswelt der Betroffenen. Das impliziert die Stei­gerung der Erreichbarkeit und vor allem den erleichterten, niedrigschwelligen Zugang, durch den Abbau von Barrieren. Außerdem wird eine ganzheitliche Ausrichtung der professionellen Hilfsangebote betont, welche an die komplexen Lebensverhältnisse der Adressatinnen aus­gerichtet sein sollen. Die Adressatinnen werden zudem in ihrem System betrachtet mit ihren individuellen und kollektiven Mustern (vgl. ebd., S. 133). Die Maxime der Integration „meint einerseits die Anerkennung von bzw. den Respekt vor Unterschieden auf der Basis elementa­rer Gleichheit. Zu verbinden ist diese andererseits mit der Sicherung der Ressourcen und Rechte, aus denen sich eine solche Gleichheit erst konstituiert“ (ebd., S. 133). An dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig es ist, dass Soziale Arbeit bzw. Kinder- und Jugendhilfe in der Politik miteingebunden ist. Außerdem ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass vor allem im Rahmen der offenen Kinder- und Jugendarbeit marginalisierte Gruppierungen von Ausgren­zung betroffen sein könnten. Denn z.B. könnten diese aufgrund von Regelverstößen ein Haus­verbot zugeteilt bekommen, wohingegen sie der Straße überlassen werden. Deswegen ist es von hoher Bedeutsamkeit, Hilfsangebote zu schaffen, die diese Gruppe (mit komplexen bio­grafischen Lebens- und Hilfsverläufen) integriert (vgl. Bundesministerium für Frauen und Ju­gend 1990, S. 88). Die letzte Maxime Partizipation betont das Beteiligungs- und Mitbestim­mungsrecht von Kindern- und Jugendlichen. Dies lässt sich jedoch nur verwirklichen, wenn eine totale Gleichheit hergestellt werden kann, weshalb diese als unverzichtbar zu konnotieren ist. Mitbestimmung kann außerdem nur gewährleistet werden, wenn Rechtspositionen von Kli- ent:innen und Einspruchs- und Beschwerderechte von den Institutionen der Kinder- und Ju­gendhilfe anerkannt werden, um zu verhindern, dass Akteure der Sozialen Arbeit ihre Macht missbrauchen (vgl. Füssenhäuser 2006., S. 131).

Es kann festgehalten werden, dass „zentraler Kern der Sozialen Arbeit nunmehr weniger ihre Institutionen und organisationellen Möglichkeiten [ist], sondern die lebensweltlichen Verhältnisse der AdressatInnen in ihrer Biographizität.“ (ebd., S. 135). Denn das Ziel ist es, vor allem mit der Fokussierung auf Kinder und Jugendliche, dessen Potenziale zu stärken und ihnen ein gerechtes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

2.4. Lebensbewältigung

Dieses Kapitel befasst sich mit dem Konzept der Lebensbewältigung, welches vor allem Böhnisch geprägt hat. Dieses Konzept befasst sich mit normabweichendem bzw. unerwünsch­tem Verhalten. Im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit sollten nicht die Frage „Warum tut der/die Betroffene das?“ gestellt werden, sondern „Warum braucht dieser Mensch das Verhal­ten? Welche Botschaften werden dadurch vermittelt?“ Dieses dissoziale Verhalten äußert sich häufig als aggressives Verhalten. Laut Böhnisch sind es vermehrt die männlichen Betroffenen, die die Gewalt nach außen tragen, wohingegen weibliche Personen häufiger psychische Ge­walt und autoaggressives Verhalten zeigen, was bedeutet, dass diese Gewalt gegen sich selbst gerichtet ist. Dies zeigt sich z.B. häufig in Schnittverletzungen des eignen Körpers (vgl. Böhnisch 2019, S. 14 ff.):

„Immer dort, wo Menschen die soziale Orientierung verloren haben, sich wertlos fühlen und keine soziale Anerkennung bekommen, wo sie wenig Möglichkeiten haben, etwas zu bewirken, auf sich aufmerksam zu machen und - vor allem - ihre innere Hilflosigkeit nicht aussprechen können, setzt ein somatisch angetriebener psychosozialer Bewältigungsmechanismus der Abspaltung ein, der antisoziale oder selbstdestruktive Züge annehmen kann und die Betroffenen zur Klientel werden lässt“ (ebd., S. 18).

Außerdem beschreibt dieses Konzept nicht nur die Individuelle (psychodynamische) und so­zial-interaktive Sphäre des Bewältigungsverhalten, sondern konzentriert sich auch auf die ge­sellschaftliche Ebene. Böhnisch beschreibt dieses Konstrukt als ein „Zwei-Kreise-Modell“, wo­bei ersteres als der innere Kreis angesehen wird und letzteres als der äußere Kreis. (vgl. Böh­nisch 2012, S. 7). Mit dem Hintergrund der gesellschaftlichen Einbettung in das Konzept, ist es aus systemischer Sichtweise von großer Bedeutung, dass auch hier der Gesamtkontext des Individuums miteinbezogen, und eben nicht isoliert betrachtet wird (hinterfragen psycho­sozialer Verhaltensweisen) (vgl. Abschnitt 2.1.).

Um diese Bewältigungsmechanismen und ihre Hintergründe besser einordnen zu können, ist es an dieser Stelle sinnvoll das Konzept der Lebensbewältigung zu definieren. Böhnisch erläutert dieses Konzept so: „Unter ( Lebens-)Bewältigung verstehe ich das Streben nach psy­chosozialer Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenskonstellationen“ (Böhnisch 2019. S. 20). Lebenssituationen und -konstellationen werden somit als kritisch wahrgenommen, wenn die eigenen Ressourcen für die Problemlösung unzureichend vorhanden sind. Das hat zur Folge, dass die psychosoziale Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird. Aber was bedeutet psychoso­ziale Handlungsfähigkeit eigentlich? Nach Böhnisch ist es ein Konstrukt in Bezug auf den Selbstwert (eigene, individuelle Bewertung des Selbst, was sich einerseits in Anerkennung, aber auch in Missbilligung des Selbst äußern kann (vgl. Jünemann 2016, S.188)). Das bedeu­tet, dass ein Mensch handlungsfähig sei, wenn er sich sozial anerkannt, (selbst-)wirksam und in seinem Selbstwert gestärkt fühlt. Das Streben nach Handlungsfähigkeit kommt dementspre­chend in sozialkritischen Lebenssituation besonders zum Tragen. Der Drang nach Anerken­nung, Selbstwirksamkeit und Stärkung des Selbstwertes kann so stark ausgeprägt sein, dass man diese Bestätigung, wenn man sie nicht mit sozial konformen Verhaltensweisen erreicht, mit abweichendem/dissozialem Verhalten verwirklicht (vgl. Böhnisch 2019, S. 20). Das bedeu­tet, dass antisoziales bzw. destruktives Verhalten als Bewältigungsverhalten angesehen wer­den kann. Hinter diesem Verhalten stecken Hinweise einer Hilflosigkeit. Genauer: Das Miss­lingen sich mit seinem „gestörtem“ Selbst auseinander zu setzen. Damit steht das bedrohte Selbst im Zentrum seiner Hilflosigkeit. Der Begriff des Selbst bezieht sich auf die innere, per­sonale Identität (vgl. ebd., S. 21).: „Das Selbst bewegt sich im Magnetfeld von Selbstwert, sozialer Anerkennung und - damit verbunden - Selbstwirksamkeit (als der eigenen Erwartung, soziale Situationen im Griff zu haben und entsprechende soziale Resonanz dafür bekommen zu können). Mangelnde Anerkennung verbunden mit geringer bis fehlender Selbstwirksamkeit führt zu dieser Hilflosigkeit des Selbst.“ (ebd. S. 21).

Ein wichtiger Bestandteil einer „normalen“ Bewältigung dieser inneren Hilflosigkeit ist die Thematisierung dieses Problems. Es existieren jedoch genug Menschen, die aufgrund ihrer biografischen Erfahrung nie gelernt haben über ihre inneren Konflikte zu kommunizieren. Die Thematisierung bzw. das soziale Interagieren mit anderen Menschen über seine Hilflosigkeit sieht Böhnisch jedoch als essenziell für einen stabilen Bewältigungsprozess. Denn die be­troffenen Menschen fühlen sich durch die Thematisierung sozial anerkannt und wirksam. Dies wird beschrieben als ein Zustand des sozialen Wohlbefindens (vgl. ebd., S. 32). Diese Men­schen stehen jedoch unter einem somatischen Druck, wenn sie keine Bezugsperson haben, mit dieser sie nicht verbal kommunizieren können, was sich dann z.T. in antisozialen Kompen­sationen löst. Eine häufige Form (vor allem in der Kinder- und Jugendhilfe) der Kompensation bzw. Bewältigungsstrategie ist „die der Projektion der eigenen Hilflosigkeit auf andere“ (vgl. ebd., S. 22). Das kann in körperlicher, sowie psychischer Gewalt praktiziert werden.

Es ergibt sich damit ein Prozess der von innerer Hilflosigkeit, Unfähigkeit zur Thematisie­rung und Abspaltung durch Projektion/Kompensation getrieben wird. Man unterscheidet im Prozess der Abspaltung die innere vs. die äußere Abspaltung. Kurz gesagt bezieht sich die innere Abspaltung auf die Hilflosigkeit des Betroffenen, die nach innen (also selbstverletzend) gerichtet ist, wohingegen die äußere Abspaltung sich auf andere Personen bezieht (z.B. Ge­waltakte gegen andere) (vgl. ebd. S. 21 ff.).

Wichtig zu erwähnen ist, dass dieser Prozess somatisch und nicht bewusst geschieht. So­mit kann der Betroffene sein Verhalten während der Abspaltung bzw. Projektion nicht kontrol­lieren. Dieses Phänomen wird in der Psychoanalyse mit dem Begriff der „Abstraktion“ be­schrieben. Dieser Begriff meint hier die Abwesenheit des „realen“ Verhaltens. Der Betroffene erlebt damit einen „Blackout“ (vgl. ebd., S. 22). Das Verhalten der Handlungsunfähigkeit ist somit nicht kognitiv/ rational, sondern emotional/ triebdynamisch verankert. Somit zeigt das Lebensbewältigunskonzept Parallelen zum Coping- Konzept (vgl. Brüderl, 1988), das aus der Stressforschung stammt: „Die Coping-Theorie geht von dem Befund aus, dass die Bewälti­gung von Stresszuständen bei Problembelastungen und kritischen Lebensereignissen so strukturiert ist, dass der Mensch aus somatisch aktivierten Antrieben heraus nach der Wieder­erlangung eines Gleichgewichtszustandes um jeden Preis strebt“ (Böhnisch 2012, S.1).

Abspaltung innerer Hilflosigkeit und die damit zusammenhängende Projektion auf Schwä­chere, kann auch in einem gruppendynamischen Verhältnis entstehen. Hier liegt auch wieder die Anerkennung bzw. Aufmerksamkeit anderer im Vordergrund, welche aber innerhalb der Gruppe als positiv konnotiert wird. Man handelt also antisozial (gesellschaftlich gesehen) im Sinne der Gruppen(regeln) in einem emotional erlebenden „Wir- Gefühl“. Das bedeutet, dass „kritische Lebenskonstellationen, Erfahrungen sozialen Ausschlusses [...] nicht nur zur sozia­len Isolation führen [können], sondern die Betroffenen auch zusammenbringen, ja zusammen­treiben“ (Böhnisch 2019, S. 28). Diese Art der Abspaltung nennt Böhnisch Delegation (vgl. ebd., S. 27).

Wenn man antisoziales Verhalten als inneren Hilferufbegreif, bedeutet das für die Soziale Arbeit „ein Paradoxon des hoffnungsvollen Auf-sich-aufmerksam-Machens als Grundantrieb antisozialen Verhaltens“ (ebd., S. 31). Denn das Kind hat in seiner Biografie durch sein apathisches soziales Umfeld gelernt, dass es mit diesem Verhalten dessen Aufmerksamkeit erlangt. Begegnet dieses Kind nun Pädagog:innen, welche es so annehmen wie es ist, wird es anfangs noch auf seine gewohnten Mitteilungsversuche zurückgreifen, wenn Professionelle dieses Verhalten jedoch deuten können, könnten diese die negative Übergangsphase aushal­ten (vgl. ebd., S. 31).

Es kann zusammengefasst werden, dass antisoziales bzw. (norm-) abweichendes Verhal­ten (auch) als eine Art von Bewältigung angesehen werden sollte. Das passiert, wenn das Individuum in seiner inneren Hilflosigkeit bzw. durch die triebgesteuerte Handlungsunfähigkeit nicht auf normkonformes Bewältigungsverhalten zurückgreifen kann, da es durch biografische Erfahrungen seine Hilflosigkeit nicht zu „thematisieren“ vermag. Dabei erwirbt die betroffene Person einen Zustand der Entspannung und dessen Handlung wird trotz negativer Bewertung durch die Gesellschaft, als positiv wahrgenommen.

3. Das System: Hilfen zur Erziehung

Die Hilfen zur Erziehung (kurz: HzE) sind Teil der Kinder- und Jugendhilfe und im Sozialge­setzbuch (kurz: SGB) VIII §§ 27- 35a niedergeschrieben. Das SGB VIII wurde in 1990/1991 eingeführt mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche nicht länger zu objektivieren, um ihren Stel­lenwert in der Gesellschaft zu stärken und ihnen einen partizipativen Zugang zu gewährleisten. Somit löste es das bis dahin geltende Jugendwohlfahrtgesetz ab (vgl. Rieger 2019, S. 114). Nun wird sich zunächst den Zielen der Kinder- und Jugendhilfe gewidmet. Im Allgemeinen besteht die Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe darin „die Entwicklung junger Menschen und ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern“ (Wiesner 2014, S. 46). Nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind es die Eltern, die die primäre Erziehungsverantwortung gegenüber ihren Kindern tragen. Die Kinder- und Jugendhilfe muss dem gegenüber diese Verantwortung stärken und unterstützen. Zum anderen trägt der Staat auch die Verantwortung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG die elterliche Erziehungsverantwortung zu kontrollieren und Kinder und Jugendliche vor Gefahren zu schützen und im Interesse des Wohles dieser zu handeln. Dabei ist zu beachten, dass die Kinder- und Jugendhilfe keinen staatlichen Eingriff in die elterliche Sorge darstellen darf und somit die Rechte der Eltern Vor­rang haben (vgl. §1. Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Demnach darf der Staat nur eingreifen, wenn das Kind einer zu hohen Gefahr seitens des Elternhauses ausgesetzt ist (vgl. § 8a SGB VIII). Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich demnach den individuellen Gegebenheiten der Fami­lien anpassen. Das bezieht sich auf die Erziehungsfähigkeit und die Ressourcen der Eltern sowie der Lebenssituation des Kindes oder des Jugendlichen (vgl. Wiesner 2014., S.46). Kin­der- und Jugendhilfe fördert zudem die Entwicklung des Kindes, bzw. versucht es vor Gefah­ren zu schützen, indem die Eltern Hilfeleistungen erhalten, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung ansonsten nicht gewährleistet werden kann (vgl. § 27 SGB VIII). Somit wird nicht nur dem betroffenen Kind bzw. dem/der betroffenen Jugendlichen Hilfe ge­währleistet, sondern dem gesamten System Familie.

Das System Hilfe zur Erziehung richtet sich an Familien, welche Unterstützungsangebote hinsichtlich Erziehungsfragen benötigen: „Ein Personensorgeberechtigter [Eltern, Vormund etc.] hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Des Weiteren bezeichnet dieses System eine Art Hilfe, was sich auf individuelle, pädagogische und therapeutische Maßnahmen bezieht. Diese bestehen aus: Er­ziehungsberatung, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaft bzw. Betreuungshilfe, Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehung in einer Tagesgruppe, Pflegefamilie, Heimerzie­hung, intensiv sozialpädagogische Einzelbetreuung und die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (vgl. §§ 27-35a SGB VIII).

Der Bedarf der Hilfe setzt jedoch keine Kindeswohlgefährdung voraus, sondern sollte am bes­ten durch die genannten Maßnahmen präventiv vermieden werden (vgl. Wiesner 2014, S. 52). Die Adressatinnen der Hilfen zur Erziehung sind Kinder und Jugendliche zwischen dem Zeit­punkt der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Über das 18. Lebensjahr hinaus können weiterhin Hilfen gewährt werden. Im Normalfall geschieht das bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres. In bestimmten Einzelfällen, und zwar wenn die Hilfen für die Persönlich­keitsentwicklung und einer eigenverantwortlichen Lebensführung unabdingbar für den/die Volljährig(e) sind, können die Hilfen zur Erziehung bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gewährleistet werden. (vgl. §41 SGB VIII).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diagramm 1: Entwicklung der Fallzahlen sowie der Inanspruchnahme von Leistungen der Hilfen zur Erziehung (Deutschland; 1995-2010; andauernde und beendete Hilfen, Angaben absolut und pro 10.000 der unter 21-Jährigen) (Deutscher Bundestag 2013, Kapitel 10.7)

Des Weiteren ist eine deutlicher Anstieg der Inanspruchnahme der Hilfen zu Erziehung fest­zustellen, wie man dem Diagramm 1 entnehmen kann. Seit dem Jahr 1995 bis zu dem Jahr 2010 haben sich die Fallzahlen beinahe verdoppelt (von 476.076 auf 779.378.). Im Jahr 2019 sind es laut dem statistischen Bundesamt über 1 Mio. (1.017 Mio.) junger Menschen (unter 27 Jahren), die durch das Leistungsangebot der Hilfen zur Erziehung unterstützt werden (vgl. Statistisches Bundesamt 2020a). Die Zunahme der Inanspruchnahme der HzE wird vor allem in der ambulanten Unterstützung (vor allem Erziehungsberatung), 2019 am häufigsten in An­spruch genommen (47%) (vgl. ebd.) am deutlichsten, wenngleich auch Leistungen der statio­nären Unterbringung zugenommen haben (vgl. Pothmann/ Rauschenbach 2014, S. 36): „Ge­radezu explosionsartig haben sich die Fallzahlen im Bereich der Sozialpädagogischen Famili- enhilfe/SPFH (§ 31 SGB VIII) entwickelt: Sie sind im Zeitraum von 1995 bis 2010 von ca. 18.000 auf über 100.000 gestiegen und haben sich damit mehr als verfünffacht“ (Wabnitz 2014 S. 40).

Gründe für den erhöhten Bedarf könnten u.a. die „schwieriger gewordenen sozioökonomi­schen Lebenslagen von Familien und den brüchiger gewordenen Familienkonstellationen“ (ebd., S. 41) sein. Das bedeutet, dass ökonomisch prekäre Lebenslagen von Familien, Schei­dungen oder Trennungen, Wohnraumprobleme, Arbeitslosigkeit und auch alleinerziehende El­ternteile Auswirkung auf die Erziehung des Kindes sowie einen Einfluss auf negative Folgen auf das Aufwachsen des Kindes haben können (vgl. Rauschenbach/ Züchner 2011, S. 13 ff.).

Abschließend kann man festhalten, dass das System Hilfen zur Erziehung versucht mittels vielfältiger Maßnahmen den jungen Menschen und dessen Familien in gewissen Erziehungs­und Lebenslagen zu erreichen und zu unterstützen. Trotzdem gibt es Kinder und Jugendliche, für die es keine passende Hilfsmaßnahme gibt, bzw. in dem System der Erziehungshilfe über­fordert sind. Diesem Phänomen wird sich in den folgenden Abschnitten 3.1. das Herausfallen aus dem System sowie in Abschnitt 3.1. der Versuch einer Definition: Systemsprenger:in ge­widmet. Zunächst wird ein Überblick über gescheiterte Hilfsmaßahmen erfolgen. Im Weiteren wird die Adressat:innengruppe eingegrenzt, um einen Überblick über das Thema dieser Arbeit zu erlangen. Es wird in der folgenden Arbeit der Begriff „Systemsprenger:in“ verwendet. Diese Gruppierung von Kindern und Jugendlichen wird daraufhin versucht zu definieren.

3.1. Das Herausfallen aus dem System

Dieses Kapitel dient dazu einen Überblick über den bestimmten Personenkreis, welcher aus der HzE fällt, zu beschaffen. Das System der HzE, welches zur Unterstützung individueller Lebenslagen angewandt werden soll, wird seinem Anspruch der Integration nicht immer ge­recht. Zwischen 10-15% der Kinder und Jugendlichen fallen durch dieses System (vgl. Schwabe 2014, S. 53.). Baumann hat in seiner Studie „Kinder, die Systeme sprengen“ einen Durchschnittswert von 13,93% ermittelt: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein vollstationärer Wohngruppenplatz innerhalb von zwei Jahren mit einem jungen Menschen belegt wird, der sich als nicht haltbar zeigt, liegt bei 13,93%“ (Baumann 2010, S. 27). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die JULE-Studie. Diese ermittelte, dass 13,4% der in (teil-)stationären Einrichtungen betreuten Jugendliche drei oder mehr Einrichtungs- und/oder Maßnahmen­wechsel durchlaufen haben (vgl. Bauer et al 1998, S. 26 ff.). Aufgrund des schwierigen bzw. krisenhaften Verhaltens müssen Hilfen verfrüht abgebrochen werden, was die Vermittlung in neue Maßnahmen erheblich erschwert. Diese Hilfen müssen häufig ebenfalls abgebrochen werden, was diese Menschen zu „Wiederholungstätern“ deklariert (vgl. Schwabe 2014, S. 53 ff.).

Welches Verhalten liegt den gescheiterten Hilfeleistungen denn nun zugrunde? Häufig sind es Personen, welche gewalttätig gegenüber Betreuer:innen/ Mitarbeiter:innen sind, die den Schulbesuch verweigern, Alkohol und sonstige Drogen konsumieren, die von Zuhause oder den Fremdunterbringungen weglaufen bzw. an unbekannten Orten übernachten und Formen von Selbst oder fremdgefährdeten Verhalten (bspw. Selbstverletzungen, Prostitution, riskante Hobbys etc.) praktizieren (vgl. ebd.). Diese Kinder und Jugendlichen werden unter den ver­schiedensten Begrifflichkeiten festgehalten: „schwierige und schwierigste Jugendliche“, „Hoch-Risiko-Klientel“, „entkoppelte Jugendliche“, „Schwererziehbar“, „Erziehungsresistent“, „Problemjugendlicher“ und „Systemsprenger:innen“ (vgl. Esser 2014, Baumann 2020, Mögling et al. 2015, Witte/ Sander 2006, Baumann 2010).

Diese Gruppe wird unter Witte und Sander als „die besonders Schwierigen, [.] die den Rahmen jeder Institution sprengen [bezeichnet]. Die Jugendlichen pendeln rastlos über viele Jahre zwischen Familie, Jugendhilfe, Straße, Psychiatrie und schließlich auch Gefängnis“ (Witte/ Sander 2006, S. 7). Dieses Zitat verdeutlicht nun mehr die Hilflosigkeit der (professio­nellen) Hilfesysteme gegenüber den Grenzgänger;innen. Die Gründe für die Unerreichbarkeit solcher Klientinnen werden durch gewisse Verhaltensweisen verständlicher. Solche Kinder und Jugendlichen zeigen häufig aufgrund einer nicht vorhandenen Frustrationstoleranz Ten­denzen zu aggressivem Verhalten (vgl. ebd.). Wie schon im Kapitel der Lebensbewältigung veranschaulicht wurde (vgl. Abschnitt 2.4.), seien es Frauen/ Mädchen, die dieses Verhalten gegen sich selbst richten und vermehrt männliche Adressaten, die ihre Wut nach außen tra­gen. Außerdem neigt diese Gruppe zu kriminellen Handlungen, welche sich in leichten Straf­delikten manifestieren. Empathie in Bezug auf dessen kriminellen Akte sei nur bedingt ausge­prägt (vgl. Witte/ Sander 2006, S. 7 f.). Des Weiteren sei das Beziehungsverhalten des Perso­nenkreises durch Bindungsunfähigkeit gemünzt, was zur Folge hat, dass diese Menschen Schwierigkeiten haben Beziehungen mit ihrem sozialen Umfeld einzugehen. In diesem Zu­sammenhang kann gesagt werden, dass die betroffenen Personen dem Leistungsanspruch in Schule und Arbeitswelt nicht gerecht werden, was sich in Abbrüchen erkenntlich macht (trotz kognitiven/ intellektuellen Fähigkeiten). Diese Personen schließen aus diesem Grund jegliche Perspektiven aus, womit sich Interessenlosigkeit und Apathie erklären lassen könnten. Es zeigt sich ein Verhalten des „Aufgebens“ ihrer Selbst, bei dem sie davon ausgehen, dass ihre hoffnungslose Zukunft bereits determiniert sei (vgl. ebd.).

In aktuellen Diskursen wird erörtert, dass die genannten Begrifflichkeiten im Bezug des Herausfallens aus dem System differenzierter zu betrachten sind, was sich als schwierig ge­stalten lässt. Vor allem Baumann ist Vorreiter des Begriffs „Systemsprenger“. Beispielsweise seien für ihn die Begriffe „Problemjugendlicher“ und „Schwererziehbarer“ Zuschreibungen, die sich immer nur auf eine Person beziehen. Außerdem findet Baumann, dass die Begriffe „Er­ziehungsresistenz“ und „Unerziehbarkeit“ in diesem Kontext falsch sein, da diese eine Per- spektivlosigkeit und unveränderbare Festschreibung repräsentieren (vgl. Baumann 2010, S. 13 ff.). Der Begriff des/der Systemsprenger:in unterscheidet sich von den eben genannten Begriffen, da dieser sich nicht nur auf das einzelne Überschreiten von Grenzen der Jugendli­chen fokussiert, sondern auch die Grenzüberschreitung des Jugendlichen innerhalb des Sys­tems in Betracht zieht. Durch diese Verschiebung verändert sich der Fokus vom Individuum auf die Gesamtheit des Systems und der dazugehörigen Lebenswelt des Jugendlichen (vgl. ebd.).

Im Folgenden wird sich näher mit der Zuschreibung des/der Systemsprenger:in befasst, bei dem der Versuch einer Definition vorgenommen wird.

3.2. Der Versuch einer Definition: Systemsprenger:in

Wie bereits erwähnt, prägt vor allem Baumann den Begriff des/der Systemsprenger:in, der in seiner Studie „Kinder, die Systeme sprengen“ zum Tragen kam: „Systemsprenger soll hier auf Kinder und Jugendliche angewandt werden, bei denen die Erziehungshilfemaßnahme von Sei­ten der betreuenden Einrichtungen abgebrochen wurde, da das Kind/der Jugendliche auf Grund schwieriger Verhaltensstörungen nicht zu betreuen erschien und somit den Rahmen der Erziehungshilfe gesprengt hat“ (Baumann 2010, S. 13). Wie schon erwähnt bezieht sich die Zuschreibung des/der Systemsprenger:in nicht nur auf das normabweichende Verhalten des Einzelnen, sondern auf das gesamte System der Erziehungshilfen, in denen das Grenz­verhalten (das durch das System konnotiert wird) entfaltet wird.

Paradoxerweise kritisiert Baumann diesen Begriff aufs schärfste, da dieser einerseits stig­matisierend wirkt und andererseits als eine Fremdzuschreibung (durch andere) angesehen werden kann (vgl. Baumann 2020, S. 16 ff.). Vor allem ist der Terminus des Systemsprengers keine Diagnose oder Persönlichkeitseigenschaft, denn der/die Systemsprenger:in wird nur in­nerhalb des Systems zu dieser/diesem gemacht, da er/sie mit den Regeln des Systems nicht konform geht. Das betont nochmal die hohe Kontextualisierung der Person, in welcher sie sich befindet (vgl. Schwabe 2014, S. 54). Denn: „ohne System kein_e Systemsprenger_in - und es hängt wesentlich, wenn nicht sogar entscheidend, vom System ab, wer es sprengt und wer nicht.“ (Baumann 2020, S. 16). Aus diesem Grund kritisiert er nicht das Verhalten der betroffe­nen Person, sondern „die Brüchigkeit der Helfersysteme“ (ebd.).

Im Zuge der Recherche wurde recht häufig der Terminus der „Etikette“ verwendet (vgl. Schwabe 2014, S. 53 ff./ Baumann 2020 S. 17/ Baumann 2021, S. 84). Diese Etikette bzw. Fremdzuschreibung wird vom System und den Betroffenen als negativ wahrgenommen. Ne­gativ ist der Begriff des/der Systemsprenger:in jedoch nur, wenn man das System für „gut“ befindet. Viel zu oft werden bestimmte Ressourcen der Klientinnen vom System nicht wahr­genommen oder wertgeschätzt, ja sogar abtrainiert, da diese nicht mit den Systemregeln kon­form gehen. Als Beispiel führt Baumann Homosexualität auf, welche in den 1990ern noch als Straftat galt, Vergewaltigung in der Ehe jedoch nicht. Heißt also, was für das System als banal oder „sprengend“ gesehen wird, kann in anderen Kontexten positiv wahrgenommen werden (vgl. Baumann 2020, S. 16 ff.). Zudem wird die Logik des Konstrukts des/ der Systemspren- ger:in deutlich, da das als sprengende empfundene Verhalten nur im Kontext der gebrochenen Systemregeln anzusehen ist. Diese Meinung wird ebenfalls durch Rätz untermauert, da be­hauptet wird, dass der/die Systemsprenger:in als solche/r nicht existiert:

„Es gibt nicht den Systemsprenger bzw. die Systemsprengerin oder ein schwieriges Kind bzw. schwierige Jugendliche, sondern diese Zuschreibung ist das Ergebnis einer Dynamik in einem Prozess, an dem mehrere Akteure beteiligt sind und der über eine längere Zeit verläuft. [...] Aus einer biografietheoretischen Perspektive gibt es keine schwierigen Kinder und Jugendlichen, wohl aber sehr schwierige und herausfordernde sozialpädagogische Alltagssituationen.“ (Rätz 2016, S. 45 f.).

Solche herausfordernden Alltagssituationen werden von beiden Parteien (Betroffene(r) und Fachkraft) als schwierig empfunden. Hierbei gilt es diese Herausforderungen ernst zu nehmen (vgl. ebd., S. 46).

Götsch und Bliemetsrieder stehen der Fremdbezeichnung des/ der Systemsprenger:in sehr kritisch gegenüber. Es wird behauptet, dass diese sich aus der Logik der kolonialen und ras­sistischen Struktur herausgebildet hat, indem Personen zu „Anderen“ gemacht werden (Ent­gegensetzung von „Wir“ und den „Anderen“):

„Entsprechend ist die Jugendhilfe nicht frei von rassifizierenden Verhältnissen und ebenso an postkolonialen Subjektivierungsweisen beteiligt: so gibt es einerseits die normalisierten Adres- sat*innen der Kinder- und Jugendhilfe, die Kinder und Jugendlichen sowie andererseits die ,umFs‘. Insbesondere zeigt sich diese koloniale Logik jedoch bezüglich der sogenannten ,Sys- temsprenger*innen‘.“ (Götsch/ Bliemetsrieder 2021, S. 28 f.).

Deswegen ist es in Bezug auf die Systemsprenger:innen wichtig, deren subjektive Lebenswelt zu verstehen, damit die Jugendliche erreicht werden können und eine Beziehung zu diesen aufgebaut werden kann. So muss eine geeignete Hilfsmaßnahme zur Bewältigung individuel­ler Lebenslagen gefunden werden, um sie in die Gesellschaft integrieren zu können, damit der Prozess der Fremdzuschreibung und Exklusion beendet werden kann. Das bedeutet, dass das System HzE sich an die individuellen Lebensverhältnisse des/der Adressat:in anpassen muss, und nicht andersrum. Aus dieser Forderung ergibt sich der Anspruch der sozialen In­tegration, welcher im achten Jugendbericht 1990 formuliert worden ist. (vgl. Bundesministe­rium für Frauen und Jugend, 1990, S. 88/ Kapitel 2.3.).

4. Hilfesysteme für Familien

Anhand der Hilfesysteme für Familien soll dargestellt werden, wie diese aufgestellt und recht­lich definiert sind. Es geht also um eine funktionsgerichtete Betrachtungsweise einzelner Insti­tutionen und Erziehungsmaßnahmen, in diesen Kindern und Jugendliche bzw. Systemspren- ger:innen untergebracht werden. In Abschnitt 4.1. wird das Jugendamt als öffentlicher Träger dargestellt, welches u.a. die Entscheidungsgewalt über die Erziehungsmaßnahmen für Be­troffene besitzt. Daran anschließend werden exemplarische Erziehungsmaßnahmen themati­siert. Diese werden zunächst in ambulante und (teil-) stationäre Hilfen unterteilt. Im Hinblick auf die Systemsprenger:innen werden darauf Erziehungsmaßnahmen vorgestellt, welche sie am häufigsten beanspruchen. Nach der Erläuterung der Kinder- und Jugendpsychiatrie und - psychotherapie, in diesen die Betroffenen ebenfalls häufig aufzufinden sind, werden verein­zelte Kooperationen der Akteure unternommen, die in der Unterbringung und Versorgung der „schwierigen“ Kinder und Jugendlichen beteiligt sind.

4.1. Jugendamt

Das Jugendamt ist eine Organisation, welche innerhalb von Kommunen zum Tragen kommt. Es ist somit Teil des öffentlichen Trägers und wird im SGB VIII rechtlich definiert. Über diesen stehen jedoch die Landesjugendämter eines jeden Bundeslandes. Das Jugendamt ist außer­dem nach §§ 70 71 SGB VIII zweigliedrig aufgestellt. Das bedeutet, dass es aus einer behörd­lichen Verwaltung sowie einem gewählten, politischen Gremium, dem Kinder- und Jugendhil­feausschuss besteht. Das Jugendamt agiert somit sozialpädagogisch, als auch sozialpolitisch (vgl. Rätz et al. 2014, S. 192 ff.).

Der Aufgabenbereich von Jugendämtern fokussiert sich auf die Förderung bzw. Hilfen für Kinder, Jugendliche und deren Familien. Sie sind laut §85 Abs. 1 sowie §69 Abs. 1 und Abs. 3 SGB VIII für alle örtlichen und regionalen Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Aus diesem Grund wird sich im weiteren Verlauf der Arbeit mit dem Aufgabenfeld von Jugend­ämtern auseinandergesetzt mit Blick auf die Schwerpunktsetzung (Systemsprrenger:innen in Erziehungshilfen) der Arbeit wird sich nicht dem gesamten Spektrum des Aufgabenfeldes des Jugendamtes gewidmet bzw. werden bestimmte Aufgabenbereiche nur verkürzt dargestellt.

Jugendämter müssen bedarfsgerechte Angebote zur Jugend(sozial)arbeit, zur außerschu­lischen Jugendarbeit und zur Kinder- und Jugenderholung schaffen. Sie müssen außerdem Angebote zum erzieherischen Kinder- und Jugend(medien)schutz regulieren. Des Weiteren unterstützen sie auch in Erziehungsfragen Familien mit einem Hilfebedarf. Hierunter fallen: Beratungsangebote bei Trennung und Scheidung, in kindeswohlgefährdeten Situationen, Klä­rungen bei Fragen zum Umgangsrecht oder zu Unterhaltsbeistandsschaften. Außerdem kann bei Bedarf die Unterstützung für Mütter in Mütter-Kind-Einrichtungen gefordert werden sowie Unterstützungsangebote für Schwangere. Mit Blick auf den Themenschwerpunkt dieser Arbeit müssen Jugendämter mit zunehmender öffentlicher Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe in folgenden Bereichen tätig sein: in Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern in Tages­einrichtungen und in Kindertagespflege. Hier sind die Jugendämter verpflichtet, für ein qualifi­ziertes Angebot an Betreuungsplätzen zu sorgen. Letztendlich muss das Jugendamt eine ge­eignete Hilfe zur Erziehung leisten, wenn der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung bei Minder­jährigen besteht, wenn ein Kind laut §35a SGB VIII aufgrund einer seelischen Beeinträchtigung in ihrer Teilhabe oder ein junger Volljähriger (bis 21, in einzelnen Fällen bis 21 (vgl. §41 SGB VIII)) in seiner Persönlichkeitsentwicklung eingeschränkt ist (vgl. Trede 2014 S. 218 f.).

Des Weiteren bezieht sich das Aufgabenfeld des Jugendamts auch auf die Inobhutnahme von Minderjährigen, welche in §8a und §42 SGB VIII festgehalten worden ist. Das Jugendamt verfügt eigentlich über keinen eigenständigen Erziehungsauftrag, sondern kann nur im Kon­sens mit den (personensorgeberechtigten) Eltern tätig werden. Diese Regelung wird jedoch außer Kraft gesetzt, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist. Grundsätzlich ist es Aufgabe des Familiengerichts in die elterliche Verantwortung einzugreifen, wenn diese zur Vermeidung von Gefahren für die minderjährige Person unvermeidlich ist. In akuten Notsituationen kann ein dringender Handlungsbedarf bestehen, weshalb das Jugendamt in diesen Situationen Min­derjährige vorrübergehend auch ohne Entscheidung des Familiengerichts in Obhut nehmen kann (vgl. Falterbaum 2020 188 f.).

Es gibt drei Varianten, in denen das Jugendamt gesetzlich verpflichtet ist Kinder und Ju­gendliche in Obhut zu nehmen. Die erste Variante beschreibt den Vorgang des Selbstmelders. Das bedeutet, dass der/die Minderjährige das Jugendamt selbst bittet sich in Gewahrsam neh­men zu lassen (an dieser Stelle wird noch einmal der partizipative Anspruch zur Mitbestim­mung des Kindes oder des Jugendlichen nach dem achten Jugendbericht deutlich). Die zweite Variante beschreibt die womögliche Gefahr, in dieser sich der/die Adressat:in befindet (Kin­deswohlgefährdung), welche eine Inobhutnahme zwingend notwendig macht. Die dritte Variante bezieht sich auf ausländische Minderjährige, die unbegleitet nach Deutschland kom­men (vgl. ebd., S. 189). Kurz gesagt, kann die Inobhutnahme als Teil des Aufgabenfeldes des Jugendamtes so zusammengefasst werden:

„Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, den Minderjährigen ggf. von einer Person wegzuneh­men und bei einer geeigneten Person oder Einrichtung unterzubringen. Das Jugendamt hat wäh­rend der Inobhutnahme für das Wohl des Minderjährigen zu sorgen und ist befugt, alle erforder­lichen Entscheidungen zu treffen. Dem Minderjährigen ist unverzüglich Gelegenheit zu geben, eine Person seines Vertrauens zu benachrichtigen, und das Jugendamt hat unverzüglich die Per­sonensorgeberechtigten zu informieren und sie bei dem weiteren Vorgehen einzubeziehen“ (ebd., S. 189).

Da die Inobhutnahme mit Zwang verbunden ist, das Jugendamt somit entweder gegen den Willen des Kindes oder der Eltern handelt, muss unverzüglich eine richterliche Genehmigung erworben werden. Wenn diese sich gegen die Inobhutnahme entscheiden, muss das Jugend­amt den oder die Minderjährige(n) nach spätestens einem Tag nach dessen Entscheidung die Inobhutnahme beenden (vgl. ebd., S. 189).

Nun stellt sich die Frage, wo diese Kinder und Jugendlichen im Falle einer Inobhutnahme untergebracht werden. Das ist zum einen die stationäre Jugendhilfe (bspw. im Rahmen der Heimerziehung oder einer Jugendschutzstelle) oder eine geeignete (Bereitschafts-) Pflegefa­milie. Diese beiden Hilfsmaßnahmen werden jedoch im weiteren Verlauf der Arbeit einzeln thematisiert. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass das Jugendamt im Interesse der minder­jährigen Person zwischen Herkunftsfamilie und Pflegestelle bzw. Heimerziehern vermittelt, um eine Zusammenarbeit aller am Erziehungsprozess beteiligen Person zu gewährleisten (vgl. § 37 SGB VIII/ Wiesner 2014 S. 55).

Wenden die Erziehungsberechtigten sich eigenständig an das Jugendamt, muss die Fest­stellung des Bedarfs und die Entscheidung über geeignete Hilfsmaßnahmen mit dem Jugend­amt und den Eltern gemeinsam getroffen werden. Wenn Hilfen einen längeren Zeitraum in Anspruch genommen werden, sind die Entscheidungsgrundlagen, die einzelnen Leistungen und die formulierten Hilfeziele in einem Hilfeplan festzuhalten, welcher außerdem regelmäßig überprüft und evtl. verändert werden muss (vgl. § 36 SGB VIII/ Wiesner 2014, S. 52). Ein Hilfeplanverfahren wird laut § 36 Abs. 2 SGB VIII in die Wege geleitet, wenn Hilfsmaßnahmen mindestens sechs Monate in Anspruch genommen werden. Die Entscheidung der Hilfeart wird im Team (meist von freien Trägern, welche im Anschluss thematisier werden) gemeinsam be­schlossen. Das Hilfeplanverfahren wird von Jugendämtern i.d.R. unterschiedlich umgesetzt, damit sich diese individuell an die Lebenswelt und die Biografie des/der Minderjährigen an­passen können (vgl. Falterbaum 2020, S. 182).

Im Einzelnen müssen folgende Punkte im Hilfeplan definiert werden: Feststellung des er­zieherischen oder unterstützenden Bedarfs, Art und Ziel der Hilfe, nötige Leistungen durch das Jugendamt und andere Träger, wo und wie die Hilfe durchgeführt wird, Begründung warum eine andere oder naheliegende Hilfe nicht in Frage kommt, voraussichtliche Dauer der Hilfe, Maßnahmen zur Veränderung der Situation in der Herkunftsfamilie bzw. Gründe, warum sol­che Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg haben, Begründung, ob eine Rückkehr in die Her­kunftsfamilie aussichtsreich ist oder nicht, Festlegung von Besuchskontakten, freien Kontakten und/oder probeweisem Leben in der Herkunftsfamilie, Benennung der Sorgeberechtigten und des Verantwortlichen beim Jugendamt (vgl. beta Institut 2020).

Munsch und Matzner (2014) haben 7 Maxime herausgearbeitet, an denen sich Hilfeplan­verfahren orientieren. Diese lauten: Partizipation, Fallverstehen/Diagnose, Ressourcenorien­tierung, Zielorientierung, Technisierung und Strukturierung, Managerialismus und Herausfor­derung. Das Verfahren der Hilfeplanung sollte sich an die Adressat:innen richten, deswegen ist es von hoher Bedeutung diese und ihre Familien etc. an dem Prozess des Hilfeverfahrens teilhaben zu lassen. Bspw. können diese den Ort des Hilfeplangesprächs bestimmen. Des Weiteren müssen pädagogische Fachkräfte, wie schon mehrfach erwähnt wurde, über Metho­den verfügen, um die Lebenswelten/ Situationen ihrer Klient:innen nachvollziehen und um so­zialpädagogische Deutungen über Hilfebedarfe entwickeln zu können. Hier kommt das biogra­fisch- rekonstruierende Verfahren der sozialpädagogischen Diagnose zum Einsatz, welches von Mollenhauer und Uhlendorff (vgl. Rätz et al. 2014, S. 246) entwickelt wurde, wobei Be­troffene in offenen Interviews die Möglichkeit haben ihre Situation zu erläutern. Die Ressour­cenorientierung bezieht sich, wie der Name schon sagt, auf die Fokussierung der Stärken von Klient:innen, welche in die zu entworfene Hilfe miteinbezogen werden sollte. Ein weiterer Punkt ist die Zielvereinbarung zwischen Fachkräften und Adressat:in. So soll eine gemeinsame Ar­beit an Zielen Transparenz schaffen und Beteiligung bzw. Zukunftsorientierung ermöglichen. Zudem sollen Ziele mit spezifischen Instrumenten erarbeitet werden zum weiteren Fallverste­hen. Hier werden bspw., wie schon erwähnt, biografische Interviews geführt und hermeneu­tisch ausgewertet. Im Managerialismus werden die Ziele der Effektivität, Effizienz und Kosten­senkung formuliert, welche im Zuge der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit entstanden sind. Die letzte Ebene beschreibt die Herausforderung für die Weiterentwicklung des Hilfeplanver­fahrens. Hier wird sich die Frage gestellt, wie sich die Konzepte der Adressat:innenorientierung im Zuge von Partizipation und Ressourcenorientierung behaupten können, ohne sich mana- gerialistischen Logiken zu unterwerfen (vgl. Matzner, Munsch 2014, S. 211 ff.).

4.2. Ambulante und (teil-)stationäre Hilfen zur Erziehung

Wie anfangs erwähnt, sind die Hilfen zur Erziehung im §§ 27- 35a SGB VIII sowie im Kinder-
und Jugendhilfegesetz gesetzlich verankert. Die HzE- Maßnahmen sind in ambulante-, teilsta­tionäre- und stationäre Hilfen gegliedert. Ambulante Hilfen charakterisieren sich durch die di­rekte Hilfe im Lebensumfeld von Familien. Sozialpädagogische Fachkräfte sind aufsuchend tätig, d.h. sie betreuen die Klient:innen und deren Familie vor Ort zuhause. Es gibt jedoch auch die Möglichkeit, dass den Hilfesuchenden die Unterstützung und Betreuung an einem anderen Ort (für eine gewisse Zeit am Tag) gewährleistet wird. Aufgrund dessen wird in der ambulanten Hilfe von einer „Komm- und Gehstruktur“ ausgegangen (vgl. Rätz et al. 2014, S. 142).

In teilstationäre Hilfen werden Kinder und Jugendliche täglich (meist Mo. bis Fr.) betreut. Nach der Betreuung gehen diese nachhause. Die Betreuungszeit richtet sich dabei an den individu­ellen Gegebenheiten der Adressat:innen, i.d.R. werden Betroffene jedoch nach der Schule betreut. Wichtig ist, dass man hier zwischen teilstationären Hilfen und bspw. einer OGS (Of­fene Ganztagsschule) unterscheidet, da es in Tagesgruppen „nicht primär um die Betreuung und Mittagsversorgung der Schulkinder geht, sondern um die explizite intensive Betreuung und Förderung einzelner Kinder und Jugendlicher in einem Gruppensetting“ (ebd., S. 148). Stationäre Hilfen zur Erziehung sind dadurch gekennzeichnet, dass Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in einer jeweiligen Einrichtung leben (vgl. ebd., S. 142).

Die folgende Abbildung (vgl. Abbildung 2) soll eine Übersicht der einzelnen Hilfsmaßnahmen in ihrer praktischen Umsetzung geben, um somit einen besseren Überblick der Hilfen zu ge­währleisten:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Differenzierung in den Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII/ KJHG) (Rätz et al. 2014, S.143)

Generell gilt, dass alle HzE im Inland stattfinden und nur in äußersten Ausnahmen außer­halb von Deutschland durchgeführt werden dürfen (vgl. § 38 SGB VIII). Die Hilfen sind nach Kaletzki nicht gegeneinander abzugrenzen, sondern individuell einsetzbar. Denn im § 27 SBG VIII ist aufgeführt, dass notwendige Hilfen für den Einzelnen angepasst werden sollen. In die­sem Sinne kommt dem Hilfeplan, welcher in Abschnitt 4.1. erläutert wurde, eine entscheidende Bedeutung zu (vgl. Kaletzki 1995). Auch gerade bei Systemsprenger:innen, mit komplexen Biografien, gibt es kombinierte Hilfsmaßnahmen aus ambulanter und stationärer HzE. Bei­spielsweise sind viele Jugendliche in einer Wohngruppe untergebracht und besitzen außer­dem eine(n) Einzelbetreuer:in (vgl. § 35 SGB VIII/ Schwabe et al. 2021). Auf der anderen Seite muss erwähnt werden, dass die meisten Systemsprenger:innen einer Inobhutnahme unterzo­gen wurden. Laut dem Berliner Projekt NAIS (=Niedrigschwellige Alternativen für sog. Sys­temsprenger) sind es 72% der Projektteilnehmer:innen welche mindestens einmal in Obhut genommen wurden. Auch wenn verzeichnet wurde, dass die Inanspruchnahme von ambulan­ten Hilfen in Deutschland erheblich zugenommen hat, sind es häufig Systemsprenger:innen, die sich stationäre Hilfsmaßnahmen unterziehen müssen (vgl. Rätz et al. 2014, S. 157/ 3). Aus diesem Grund werden nun die stationären Hilfen in den Fokus genommen. Die Eingliederungs­hilfe nach § 35a SGB VIII und die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) nach §35 SGB VIII werden jedoch im Verlauf der Arbeit ebenfalls thematisiert, da, wie oben genannt, die Adressat:innen diese Art der Hilfsleistung auch in Anspruch nehmen (können) (vgl. Schwabe 2021, S. 91 ff.). Denn nach der EVAS-Studie seien mehr als 50% der Systemspren- ger:innen in den Maßnahmen der Geschlossenen Unterbringung vertreten und beanspruchen intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (vgl. Macsenaere/ Knab 2011, S. 26).

Die stationären Hilfen zur Erziehung sollen ausgerichtet an den biografischen Konfliktsitu­ationen und Belastungen sein sowie unterschiedliche und unterstützende Wohn- und Alltags­orte für Kinder und Jugendliche bieten. Es existiert ein ausdifferenziertes Angebot von Wohn- und Betreuungsformen, in denen Kinder und Jugendliche ihren Alltag partizipativ selbst mitge­stalten können (vgl. Rätz et al. 2014, s. 163 ff.). Weiteres zu stationären Hilfsmaßnahmen folgt im nächsten Abschnitt: Heimerziehung.

4.2.1. Heimerziehung

Die Heimerziehung, welche wohl die bekannteste und meistgenutzte Form der stationären Unterbringung ist, wird im § 34 SGB VIII definiert. Diese Art der Unterbringung findet über 24 Stunden, also Tag und Nacht, statt. Das Kind bzw. der/die Jugendliche verbringen dort ihre Zeit ohne die Herkunftsfamilie in Heimen bzw. in betreuten Wohngruppen. Deshalb wird häufig auch der Begriff der „Fremdunterbringung“ verwendet, welche auch innerhalb eines Pflegever­hältnisses zum Tragen kommt. Die Vollzeitpflege wird jedoch an anderer Stelle dieser Arbeit erörtert. Neben der Vollzeitunterbringung gibt es weitere stationäre Hilfen z.B. akute Krisenhil­fen für obdachlose Jugendliche oder Clearingstellen für Geflüchtete unter 16 Jahren, welche jedoch nicht weiter thematisiert werden (vgl. ebd., S. 168 f.). Insgesamt gibt es vielfältige stationäre Hilfsformen dazu zählen z.B. heilpädagogisch orientierte Kleinstheime, größere Heimgruppenverbünde, psychotherapeutische Heime, Einrichtungen für ausgewählte Ziel­gruppen, wie bspw. Wohngruppen für minderjährige Mütter und ihre Kinder, Kinderdörfer und heilpädagogisch betreute Wohngruppen (vgl. Rätz et al. 2014, S. 170 f.).

Außerdem ermittelte Die Jes- Studie (Jugendhilfe-Effekt-Studie), welche von 1995- 1999 Da­ten zu den Effekten der Erziehungshilfen erhoben hat, dass das Alter bei Beginn der Heimer­ziehung durchschnittlich 10,1 Jahre sei (vgl. Schmidt et al. 2002, S. 15, 449). Die Evaluations­studie erzieherischer Hilfen (EVAS) ermittelte ein durchschnittliches Aufnahmealter von 12,2 Jahren (Esser 2014, S. 78).

Das Jungen-Mädchen-Verhältnis (hier wird die Gruppe Divers nicht berücksichtigt) sei domi­niert von den männlichen Adressaten mit 3:1. Dieser Befund sei in anderen HzE wie bspw. der Tagesgruppe ähnlich (vgl. Schmidt et al. 2002, S. 15, 449).

Eine Erziehung von Jugendlichen und Kindern außerhalb der Familie, wird nur dann ge­währleistet, wenn ambulante und teilstationäre Maßnahmen nicht greifen (vgl. Falterbaum 2020, S. 185). Demnach könnten Gründe für eine Heimerziehung vorübergehende oder dau­erhafte Abwesenheit der Eltern sein (z.B. längerfristige Unterbringung eines Elternteils im Krankenhaus oder einer psychiatrischen Klinik, Antritt einer Haftstrafe, Verschwinden, Tod, Flucht der Kinder aus ihrem Herkunftsland) , Ablehnung oder Überforderung mit dem Kind/der Elternschaft (dazu zählen alle Formen des Kindesmissbrauchs: sexueller Missbrauch, Verge- waltigung/sexuelle Nötigung, Kinderpornografie, körperliche Misshandlung, psychische Miss­handlung, Vernachlässigung, Scheitern von Pflege- oder Adoptionsverhältnissen), massive Entwicklungsprobleme oder -gefährdungen (Beziehungs- und Ablösungskonflikte Schulver­weigerung, Ausreißen) und seelische Behinderungen (Psychosen, Neurosen, Sucht und Suchtgefährdung, massive Affekt- oder Persönlichkeitsstörungen etc.) (vgl. Rätz et al. 2014 S. 172).

Das Aufgabenfeld der Heimerziehung bezieht sich auf eine sozialpädagogische Betreuung von Kindern und Jugendlichen, mit dem Ziel diesen einen kindergerechten Lebensort zu bie­ten, in denen sie entwicklungsfördernde Erfahrungen machen können. Die Fachkräfte versu­chen dabei die Eltern in die sozialpädagogische Arbeit miteinzubeziehen. Denn das oberste Ziel ist eine Rückführung der Kinder und Jugendlichen in ihre Herkunftsfamilie zu gewährleis­ten (vgl. § 34 Abs. 1 SGB VIII), solange die betroffene Person in dieser Konstellation keiner potenziellen Gefahr ausgesetzt ist: „Diese rechtliche Argumentation wird auch durch wissen­schaftliche Untersuchungen einhellig gestützt, wonach eine längere Trennung von der Familie immer für die weitere Entwicklung des Kindes mit erheblichen Belastungen verbunden ist. Un­ter psychologischen Gesichtspunkten hat die Beziehung zu den Eltern, selbst wenn dies nur unter erheblich erschwerten Bedingungen möglich ist, grundlegende Bedeutung“ (Falterbaum 2020, S. 185).

Wenn aber eine Rückführung unmöglich wird, muss das zuständige Heim etc. den/die Ad- ressat:in auf Dauer betreuen. Eine wichtige Priorität kommt dem Anspruch auf Verselbständi­gung bzw. Autonomie zugeschrieben. So werden Kinder/Jugendliche, auf ein womögliches selbstbestimmtes (Berufs-)Leben vorbereitet. Methodisch sind Heime und andere Wohnfor­men gruppenpädagogisch aufgebaut. Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche in Wohn­gruppen untergebracht werden, welche zudem meist nach Geschlecht oder Alter getrennt wer­den. Da diese Betreuungsform als künstlicher Lebensort wahrgenommen werden kann, ver­sucht die Heimerziehung an dieser Stelle den Alltag so „normal“ wie möglich zu gestalten. Dies zeigt sich in der Organisation und Strukturierung des Alltags, indem gemeinsam gekocht wird, aufgeräumt wird, geputzt wird und Freizeitaktivitäten geplant und durchgeführt werden. Hier bedarf es an gewissen Regeln und Vereinbarungen, um das Zusammenleben harmonisch zu gestalten (vgl. ebd., S. 185). An dieser Stelle wird deutlich, dass man versucht demokratische Teilhabe zu ermöglichen nach der UN-Kinderrechtskonvention (UN- KRK), welche 1989 durch eine Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Kinder müssen dem­nach keine Rechte mehr erwerben, sondern sie bekommen sie ab der Geburt zugeschrieben. Aber „die Rechte der Kinder werde nur insoweit Wirklichkeit, wie wir Erwachsenen sie unter­stützen, fördern und manchmal fordern. [...] Damit fordert die UN- KRK auch die in sozialen Einrichtungen tätigen Fachkräfte dazu auf, diese Rechte zu achten und ihnen zur Geltung zu verhelfen“ (Pesch 2019, S.108 f.).

Außerdem ist es sehr wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen sich in ihrem neuen Zu­hause wohlfühlen. Dies wird versucht zu gewährleisten, indem diese bspw. ihr eigenes Zimmer gestalten dürfen. Eine weitere Voraussetzung, um möglichst viel Normalität zu gewährleisten, ist die wohnortnahe Unterbringung zu den Familien, solang keine Kindeswohlgefährdung be­steht. Weiter heißt es, um einer Stigmatisierung von „Heimkindern“ in der Nachbarschaft zu gewährleisten, wird versucht diese in regionalen (Sport)Vereinen unterzubringen (vgl. Rätz et al. 2014, S. 174).

4.2.2. Geschlossene Unterbringung

Die Geschlossene Unterbringung (GU) wird, wie schon erwähnt, laut der EVAS- Studie von mehr als 50% der Systemsprenger:innen genutzt (vgl. Macsenaere/ Knab 2011, S. 26). In dieser intensiven Betreuungsform werden laut Rätz et al. 2014 ca. 260 Klient:innen in Deutsch­land betreut. Geschlossen bedeutet in diesem Kontext, dass die Betroffenen aus den Heimen nicht herausdürfen. Gründe für diese Art von Unterbringung sind bspw. Selbst- oder Fremd­gefährdung, welche bei Jugendlichen diagnostiziert werden müssen. Die gesetzliche Grund­lage der GU wird im § 1631 b BGB beschrieben. Außerdem müssen erhebliche Auflagen erfüllt sein, um diese Maßnahme durchführen zu können. Des Weiteren wird die GU stark in wissen­schaftlichen Diskursen diskutiert. Dieser wird u.a. vorgeworfen, dass diese freiheitsentziehende Maßnahme in diesem Kontext verfassungswidrig sei, da es sich hier um einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte dieser Menschen handle (vgl. Häbel 2004, S. 29 ff. / Rätz et al. 2014, S. 170).

[...]

Ende der Leseprobe aus 123 Seiten

Details

Titel
Ein filmanalytischer Ansatz zur Erfassung möglicher Entstehungsbedingungen von Systemsprenger:innen am Beispiel des Spielfilms "Systemsprenger"
Hochschule
Technische Universität Dortmund
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
123
Katalognummer
V1153697
ISBN (eBook)
9783346547408
ISBN (Buch)
9783346547415
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Systemsprenger, Jugendhilfe, Filmanalyse, Risikofaktoren, psychologische und psychosoziale Risikofaktoren, Nora Fingscheidt, SGB VIII, Lebenswelt, Biografiearbeit, Schulbegleiter, Heimerziehung, systemische Arbeit, Lebensbewältigung, psychische Störungen, ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Bindungsstörung mit Enthemmung, PTBS, Traumafolgestörung, niedriger sozioökonomischer Status, Spielfilm, Qualitative Forschungsarbeit, Qualitative Filmanalyse
Arbeit zitieren
Alina Brode (Autor:in), 2021, Ein filmanalytischer Ansatz zur Erfassung möglicher Entstehungsbedingungen von Systemsprenger:innen am Beispiel des Spielfilms "Systemsprenger", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1153697

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