Die vorliegende Arbeit thematisiert das Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom (AD(H)S) im Grundschulalter. Hierfür wird auf Pathogenese, Epidemiologie, Klinik, Klassifikationen, Diagnosen, Behandlungsmöglichkeiten sowie psychosoziale Belastungen eingegangen. Das Forschungsinteresse richtet den Blick auf die Bewältigung des Schulalltags direkt Betroffener. Dies wird mittels sechs Interviews mit Lehrkräften als auch ADHS-erkrankten jungen Männern überprüft. Konkret werden vorliegende Rahmenbedingungen und Unterstützungsmöglichkeiten untersucht, die sowohl für ADHS-betroffene Kinder als auch Lehrkräfte hilfreich sind, um den Schulerfolg, die soziale Integration sowie die physische und psychische Gesundheit dieser Kinder zu gewährleisten.
ADHS ist weltweit die häufigste auftretende kinder- und jugendpsychiatrische Störung mit einer Prävalenz von circa 5,3%. Meistens wird dieses Syndrom im Grundschulalter erkannt [Imhof 2010, S. 4]. Schulisch bedingte Überforderungen äußern sich in verstärkter Symptomatik und Defiziten der Verhaltensregulierung. Bei anhaltenden ungünstigen Umwelteinflüssen können sich diese manifestieren. Dies stellt alle Beteiligten im schulischen Umfeld vor große Herausforderungen in Bezug auf die aktuelle Situation, die Verantwortung in der Persönlichkeitsentwicklung als auch hinsichtlich eines persistenten und chronischen Verlaufs des Syndroms.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom
2.1. Ein Kurzüberblick
2.2. Gesellschaft und ADHS im geschichtlichen Verlauf
2.3. Epidemiologie / Prävalenz
2.4. Ätiologie und Pathogenese
2.4.1. Entwicklungsgeschichte
2.4.2. Neuroanatomische, neurophysiologische und neurochemische Faktoren
2.4.3. Neuropsychologische Faktoren
2.4.4. Genetische und Umwelt Faktoren / Gen-Umwelt- Interaktion
2.5. Klinischer Verlauf
2.5.1. Kernsymptome
2.5.2. Verlauf und Risikofaktoren
2.5.3. Komorbide Störungen und Begleitsymptome
2.5.4. Ressourcen
2.6. Klassifikation, Terminologie und Diagnose
2.7. Therapieverfahren
2.7.1. Psychoedukation
2.7.2. Pharmakologische Therapie
2.7.2.1. Diskurs
2.7.2.2. Aktuelle Medikation
2.7.2.3. Wirkungen
2.7.2.4. Nebenwirkungen
2.7.3. Psychosoziale Therapien
2.7.3.1. Verhaltenstherapie
2.7.3.2. Behandlungsprogramme
2.7.4. Alternative Behandlungsansätze
3. ADHS im schulischen Kontext
3.1. Auffälligkeiten im schulischen Kontext
3.2. Grundprinzipien im Umgang mit ADHS
3.3. Konkrete Methoden und Gestaltung der Lernumgebung
3.4. Schulrechtliche Rahmenbedingungen
3.4.1. Nachteilsausgleich
3.4.2. Verbraucherrichtlinien
3.5. Unterstützung für Lehrkräfte
3.6. Überleitung
4. Qualitative Forschungsmethode
4.1. Das qualitative, leitfadengestützte Interview
4.1.1. Experteninterview
4.1.2. Das Leitfadeninterview als flexibles Gerüst
4.2. Konzeption des Interviewleitfadens: Forschungsdesign
4.2.1. Forschungsfrage und zentrale Prinzipien
4.2.2. Besonderheiten der Personengruppen
4.2.3. Interviewablauf
4.3. Qualitative Inhaltsanalyse
4.3.1. Qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsmethode
4.3.2. Konzeptionelles Vorgehen der Auswertung
4.3.3. Kategorienbildung
5. Ergebnisse
5.1. Zusammenfassung der einzelnen Probandeninterviews
5.1.1. Probandin 1 (Lehrkraft Frau S.)
5.1.2. Probandin 2 (Rektorin Frau H.)
5.1.3. Proband 3 (ADHS-Betroffener Peter)
5.1.4. Proband 4 (ADHS-Betroffener Carsten)
5.1.5. Probandin 5 (Rektorin Frau O.)
5.1.6. Probandin 6 (Lehrkraft Frau B.)
5.2 Ergebnisdarstellung mithilfe der inhaltlichen Strukturierung der transkribierten Texte
5.2.1 Lehrer-Schüler-Beziehung
5.2.2 Symptomatik und belastende Situationen
5.2.3 Wissen über ADHS
5.2.4 Behandlungsverfahren
5.2.5 Interdisziplinäre Zusammenarbeit / Vernetzung
5.2.6 (Schul-)politische Unterstützung
5.2.7 Maßnahmen
5.2.8 Soziale Einbindung
5.2.9 Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf ADHS-betroffene Schüler
5.2.10 Auswirkungen aktueller Situationen auf die Schulen
5.2.11 Weitere angesprochene Themen in den Interviews
6. Diskussion
6.1 Limitation
6.2. Inhaltliche Diskussion
7. Fazit und Ausblick
8. Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Prävalenz einer ADHS-Diagnose bei 3–17-jährigen nach sozioökologischem Status (n = 6.671 Mädchen, n = 6.599 Jungen) [RKI 2018]
Abbildung 2: Neuropsychologische Auffälligkeiten bei ADHS [Barkley 1997, zit. nach Döpfner et al. 2013, S. 15]
Abbildung 3: Dual-Pathway-Modell [Sonuga-Barke 2003, zit. n. Drechsler 2020, S. 107]
Abbildung 4: Darstellungen der hypothetischen Beziehung zwischen Genotyp und Phänotyp [Wallis, Russell und Muenke 2008, zit. n. Banaschewski 2020, S. 129]
Abbildung 5: Bio-psycho-soziales Modell zur Entstehung von ADHS [Döpfner et al. 2019, S. 54]
Abbildung 6: Symptome, Komorbiditäten und Funktionseinschränkungen bei ADHS [Steinhausen et. Al. 2020, S. 177]
Abbildung 7: Kriterien für die Diagnose einer hyperkinetischen Störung nach ICD-10 und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach DSM-IV [Döpfner et al. 2019, S. 41]
Abbildung 8: Differentialtherapeutischer Entscheidungsbaum für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS [Banaschewski et al 2018, zit. n. Döpfner, Holtmann 2020, S. 345]
Abbildung 9: Das KAP-Konzept der Psychoedukation [Schürmann, Döpfner 2020, S. 319]
Abbildung 10: Übungen zur Selbstregulation und Selbstkontrolle [Imhof 2010, S. 10ff.]
Abbildung 11: Beispiel von Verhaltensweisen für den Punkte-Plan [Döpfner et al. 2019, S. 440]
Abbildung 12: Unterrichtbezogene Hilfen bei Kindern mit ADHS [Frölich et al. 2002, zit. n. Döpfner, Schürmann 2020, S. 330].
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Weltweite Prävalenzraten der ADHS – Ein Ausschnitt [Gawrilow 2012, S. 47]
Tabelle 2: Prävalenzen einer ADHS-Diagnose nach Geschlecht und Alter für KiGGS-Basiserhebung (n = 6.736 Mädchen, n = 6.751 Jungen) und KiGGS Welle 2 (n = 6.671 Mädchen, n = 6.599 Jungen) [RKI 2018]
Tabelle 3: Kernsymptome und Definition [Gerber 2021]
Tabelle 4: Problemverhalten in verschiedenen Unterrichtszusammenhängen [Lauth, Naumann 2009, S. 31]
Tabelle 5: Übersichtstabelle der Interviews [Gerber 2021]
Tabelle 6: Deduktive Hauptkategorien und deren Relevanz für die Untersuchung im Hinblick auf die Forschungsfrage [Gerber 2021]
Tabelle 7: Zusammenfassung der induktiven Kategorie „Weitere Themen der Interviews“ [Gerber 2021]
1. Einleitung
„Ich würde sagen, dass ist ein bisschen extrem, gerade was das mit dem ADHS angeht. Da ist man schon hippelig oder hat das Bedürfnis aufzustehen und kann nicht so richtig gut sitzen bleiben. Oder muss vielleicht auch sitzen bleiben, weil ein strenger Lehrer das nicht so gut versteht, wie das so ist oder auch nicht verstehen will. () Und dann hat man so das Gefühl, man muss das in der Pause kompensieren. Und dann gibt es irgendwie Stress, also so Rangeleien oder so etwas. “ [ P41, Z. 39 – 45]
„Du bist hippelig und zappelst die ganze Zeit herum und da kannst du dich auch nicht konzentrieren, weil du bist auch die ganze Zeit am Zappeln oder irgendwas anderes am Machen () Guckst dann im Raum rum und hörst den anderen gar nicht mehr zu.“ [P3, Z. 74 – 77]
Diese zwei Zitate entstammen aus den Interviews zweier von Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom2 betroffenen, jungen erwachsenen Männern, die sich retroperspektivisch an Erlebnisse ihrer Grundschulzeit erinnern. Es drückt komprimiert aus, welche Auswirkungen die Symptome auf das schulische Alltagsleben haben. Es sind nicht nur die Symptome an sich, die es Betroffenen schwer machen, den Anforderungen der Schule gerecht zu werden, vielmehr haben Handlungsweisen anderer Einfluss auf die Intensität der Symptomatik und dem Ge- oder Misslingen erfolgreicher sozialer Integration
ADHS zählt mit einer Prävalenz von zurzeit 5,3% weltweit zu der häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankung [DGKJP et al. 2017, S. 12]. Die Intensität der Symptomausprägung ist neben genetischen und neurologischen Dysbalancen zudem von Umweltfaktoren und Behandlungsqualitäten abhängig [ebd. 2017, S. 13]. Die Häufigkeit dieses Syndroms garantiert, dass sich in jedem Klassenraum durchschnittlich 1 – 2 Schüler3 mit ADHS befinden [Imhof 2010, RKI 2018]. Um die Symptomstärke zu reduzieren und dadurch einen schulischen Erfolg, soziale Teilhabe und ein positives Selbstbild zu ermöglichen, ist es von großer Relevanz, dass Lehrkräfte kompetent auf symptombedingte Verhaltensweisen reagieren. Dies können sie nur leisten, wenn die Rahmenbedingungen es zulassen, sie Unterstützung von außen erhalten und sie Wissen über dieses Krankheitsbild haben
Im Forschungsinteresse dieser Arbeit steht deshalb die Frage nach Rahmenbedingungen und Unterstützungsmöglichkeiten von sowohl ADHS-betroffenen Schülern als auch deren Lehrern. Um dies zu eruieren und die Perspektiven beider Personengruppen zu durchleuchten, werden vier Interviews mit Grundschullehrerinnen und zwei von ADHS-betroffenen jungen Männern4 durchgeführt. Die Interviews sowie deren inhaltsanalytische Auswertung stellen den praktischen Forschungsteil dieser Arbeit dar. Die verschiedenen Aspekte der Unterstützungsmöglichkeiten und Rahmenbedingungen werden durch Fragen des Interviewleitfadens5, die sowohl bildungs-, gesundheitspolitische, psychosoziale als auch schulinterne Bereiche betreffen, erfragt. Vorher wird ein geschichtlicher Abriss sowie aktuelle Erkenntnisse über das Krankheitsbild in Bezug auf gesellschaftliche Akzeptanz, Prävalenz, Ätiologie, klinischen Verlauf, Klassifikation, Terminologie, Diagnose sowie aktuell anerkannter und empfohlener Therapieverfahren auf wissenschaftlich basierter Grundlage dargestellt. Von einem Anspruch auf Vollständigkeit wird durch die Limitierung des Umfangs dieser Arbeit abgesehen. Da sich die Forschungsarbeit auf Belange der Grundschule bezieht, werden Aspekte von ADHS im Jugend- und Erwachsenenalter im vorliegendem Theorieteil nur ansatzweise dargestellt.
Der Übergang von Theorie- zum Praxisteil wird durch Erfahrungsbeispiele von ADHS im Schulalltag generiert. Typische Auffälligkeiten, Grundprinzipien im Umgang mit ADHS-betroffenen Kindern, sowie von Pädagogen, Therapeuten und Psychologen empfohlene Methoden und Gestaltung der schulischen Lernumgebung und schulrechtliche Rahmenbedingungen werden hier vorgestellt.
Im Hinblick auf die Forschungsfrage sind die Aussagen der Probanden sowohl einzeln als auch in den herausgearbeiteten Kategorien im Ergebnisteil zusammengefasst. Die induktive Kategorie „Auswirkung der Corona-Pandemie auf ADHS in der Schule“, die die Probanden thematisieren, wird durch die Intensität der Aussagen einer Probandin integriert, findet jedoch in der theoretischen Darlegung keine Berücksichtigung6. Im Diskussionsteil werden die Interviewergebnisse gegenübergestellt, miteinander verglichen und mit den wissenschaftlich basierten Theorien bezüglich ADHS in Bezug gesetzt.
Das Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, welche von Fachkräften und in den ADHS-Leitlinien7 empfohlenen und als effizient erwiesenen Unterstützungen für Lehrer und ADHS-betroffene Schüler in der schulischen Alltagsrealität und unter den gegebenen Rahmenbedingungen Einzug finden, wie erfolgreich diese sind und wo und warum Schwachstellen vorliegen.8
2. Das Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom
2.1. Ein Kurzüberblick
Die Aufmerksamkeitsdefizit- (Hyperaktivitäts-) Störung (AD(H)S) bezeichnet eine neurologisch-bedingte, lebenslange Entwicklungsstörung, die zu den weltweit häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen mit frühem Beginn im Kindesalter gehört [Neuhaus 2016, S. 32; RKI9 2008; Steinhausen et al. 2020, S. 13] und nach neuesten Erkenntnissen bis ins Erwachsenenalter mit Veränderung der Symptome anhält [DGKJP et al. 2017, S. 13]. Das Störungsbild ist von vielen Beeinträchtigungen der psychosozialen und kognitiven Funktionsfähigkeiten gekennzeichnet [RKI 2018]. Die weltweit gültige und von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) genutzte Bezeichnung ADHD leitet sich aus dem englischen Begriff „Attention Deficit Hyperactivity Disorder“ ab [Schröder 2006, S. 15].
Hinter dem Akronym verbirgt sich ein Syndrom mit drei Kernsymptomen: Störung der Aufmerksamkeitsleistung, Hyperaktivität und Impulsivität [DGKJP et al. 2017, S. 11; Kolberg, Winter 2007, S. 11]. Voraussetzung zur Diagnosestellung beinhaltet, dass diese Symptome in einem abnormen Ausmaß und über einen Zeitraum von sechs Monaten vorliegen, situationsübergreifend sind und bei den Betroffenen einen deutlichen Leidensdruck hervorrufen. Die Folgen der Symptome beschränken die Betroffenen an einer gesellschaftlichen Teilhabe. Sie wirken sich auf soziale, schulische und berufliche Integration aus [DGKJP et al. 2017, S.11]. Der amerikanische Professor für klinische Medizin, Kinderarzt und Neurologe Richard Saul stellt eine Differenz zu anderen Krankheitsbildern fest. ADHS wird anhand der Symptome definiert und basiert nicht, wie bei anderen Erkrankungen, auf fundierten Ursachen [Saul 2015, S. 20].
Trotz jahrelanger Forschung mit einer Vielzahl empirischer Befunde liegen zur Klärung über Entstehung und Ursache des ADHS-Syndroms ungenügend aufklärende Daten vor [Steinhausen et al. 2020, S. 53]. Die Pathogenese wird nach wie vor intensiv erforscht und kontrovers diskutiert. Laut Kolberg und Winter werden der Störung „im Sinne einer multifaktoriellen Genese […] mehrere Ursachen zugeschrieben“ [Kolberg, Winter 2007, S. 8]. Die DGKJP et al. benennen in den ADHS-Leitlinien multiple miteinander agierende Faktoren, die Einfluss auf die strukturelle und funktionelle Hirnentwicklung nehmen und auf die Ursachen und Folgen des ADHS einwirken [DGKJP et al. 2017, S. 13; Steinhausen et al. 2020, S. 53]. Eine Integration der vielfältigen Forschungsergebnisse ist nach Steinhausen et al. jedoch schwierig und bedarf einer multidisziplinären Zusammenarbeit [Steinhausen et al. 2020, S. 53].
Die meisten wissenschaftlichen Übereinstimmungen liegen in der befundeten Vermutung einer Neurotransmitterstoffwechselstörung10 [Hüther 2002 in: Kolberg, Winter 2007, S. 9; Roessner, Rothenberger 2020, S. 88; Steinhausen et al. 2000 in: Winter 2007, S. 9]. Des Weiteren sind genetische Ursachen, Schädigungen des Zentralnervensystems, Vulnerabilitätsfaktoren, Reaktionen auf Traumata sowie Wechselwirkungen zwischen neurobiologischen Stoffwechselstörungen und psychosozialen Aspekten als Ursache nicht auszuschließen. Psychosoziale Bedingungen beeinflussen, abgesehen von der Entstehungsursache, den Schweregrad und Verlauf des ADHS-Syndroms und stellen somit einen wichtigen Faktor im Ursache-Entstehungsgefüge dar [Kolberg, Winter 2007, S. 8—9].
Die zwei Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV legen unterschiedliche Schwerpunkte und beschreiben somit verschiedene Subtypen. Diese konkretisieren sich je nach Ausprägungsgrad der einzelnen Kernsymptome. Die Aufmerksamkeitsstörung ist bei beiden Systemen ein konstant auftretendes Merkmal, wogegen Impulsivität und Hyperaktivität nicht bindend vorliegen [BifAM 2021; RKI 2008]. Ein häufiger Subtyp ist das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom (ADS), welches eine Aufmerksamkeitsstörung ohne motorische Unruhe bezeichnet [Heinemann, Hopf 2006, S. 9]. Bei zwei Drittel aller ADHS-Kinder bestehen neben den unterschiedlich ausgeprägten Kernsymptomen zusätzliche komorbide Störungen sowohl in Form verschiedener psychiatrischer Erscheinungsbilder als auch in Entwicklungsstörungen und -verzögerungen. Diese Erscheinungsbilder unterschiedlichster Art erschweren nicht nur die Diagnosefindung, die zusammen mit der Behandlungsform in den Leitlinien der DGKJP et al. genaustens festgelegt sind, sondern stellen bei ausbleibender oder falscher Behandlung ein Risiko für die Kindesentwicklung dar [DGKJP et al. 2017; Kolberg, Winter 2007, S.7, 10]. Eine Diagnosestellung ist zudem abhängig von den Kriterien der Klassifikationssysteme, den Messinstrumenten sowie den herangezogenen Informationsquellen, was Validität und Reliabilität erschweren [DGKJP et al. 2017, S. 12; Kolberg, Winter 2007, S. 4].
2.2. Gesellschaft und ADHS im geschichtlichen Verlauf
In der Geschichte stoßen die Verhaltensweisen von Kindern mit ADHS auf gesellschaftliches Unverständnis. Die Prügelstrafe gilt als Versuch, Verhaltensweisen zu rekultivieren [Müller 2021, S. 11]. Die größten Schäden und gesellschaftlichen Missbilligungen werden den ADHS-betroffenen Kindern im dritten Reich zugefügt: Aufgrund ihres Verhaltens und ihrer geringen Arbeitsbelastung gelten sie als unbrauchbar, minderwertig und Bedrohung für die arische Rasse. In untergebrachten Konzentrationslagern werden sie zu Zwangsarbeit verpflichtet. Viele von ihnen fallen den Nationalsozialisten zum Opfer [ebd., S. 14–16]. Weiterhin zeigt die DDR in der Nachkriegszeit ihr Unverständnis gegenüber diesen Kindern. Sie gelten als verwahrlost, die Schuldzuweisung liegt auf den Schultern der betroffenen Kinder und Eltern. Eine Unterbringung in Erziehungsschulen hat Disziplinierung und Resozialisierung zum Ziel. Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten der Kinder bleiben unberücksichtigt [ebd., S. 16–19].
Spürbar verständnisvoll reagiert die Gesellschaft erst in den 70ern auf ADHS: Es werden spezielle Förderschulen für Betroffene errichtet, die den Schwerpunkt auf eine emotional-soziale Förderung und Erziehungshilfe legen. Zudem entwickeln sich Therapien auf kognitiv-verhaltenstherapeutischer Basis [Müller 2021, S. 20; Rothenberger, Steinhausen 2020, S. 21]. Die Gesellschaft schaltet sich vermehrt in die Thematik ein. Mit der sich verbreitenden Meinung, ADHS ist Ausdruck einer allergischen Reaktion oder einer Nahrungsmittelunverträglichkeit, fordert die Öffentlichkeit einen gesünderen Lebensstil und lehnt sich gegen die Verabreichung von Medikationen auf [Rothenberger, Steinhausen 2020, S. 19–20].
Seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 werden ADHS-betroffene Kinder in den Regelunterricht integriert. Damit steigt die Anzahl der förderbedürftigen Schüler von 2001 bis 2018 auf das Doppelte mit weiterhin steigender Tendenz an [Müller 2021, S. 25].
2.3. Epidemiologie / Prävalenz
Sowohl das RKI als auch die DGKJP bezeichnen ADHS in den Leitlinien als die weltweit häufigste auftretende kinder- und jugendpsychiatrische Störung [DGKJP et al. 2017, S. 11; RKI 2008, S. 58]. Bei 60 bis 70% der Betroffenen ist ein lebenslang anhaltender, chronischer Verlauf mit persistierenden Symptomen zu verzeichnen [RKI 2018].
Steinhausen und Schubert kritisieren die Abhängigkeit der Prävalenzraten von den vielfältigen Unterschieden weltweiter Messinstrumente sowie die unterschiedlichen Diagnosekriterien [2020, S. 40; Gawrilow 2012, S. 49]. Die Vielfalt von Untersuchungsverfahren und Fragebögen, die Unterscheidung der diagnoserelevanten Interviews in Struktur und Technik, Unterschiede im Zeitraum der Diagnoseerhebung sowie der Merkmalsbeschreibungen von Fragebögen erschweren eine sichere Validität und führen zu heterogenen Prävalenzen [Steinhausen, Schubert 2020, S. 39—40]. Diese werden zudem durch Kriterien-Unterschiede der zwei Kategorisierungssysteme von ICD-10 und DSM-V verstärkt [RKI 2018].
Die internationalen Prävalenzwerte im Kindes- und Jugendalter bewegen sich in einem durchschnittlichen Bereich von 5,3% [DGKJP et al. 2017, S. 12; Steinhausen, Schubert 2020, S. 40]. Die internationalen Abweichungen sind – wie aus der Tabelle zu entnehmen – hierbei geringfügig [DGKJP et al. 2017, S. 12].
Tabelle 1 : Weltweite Prävalenzraten der ADHS – Ein Ausschnitt [Gawrilow 2012, S. 47] .
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die BELLA-Studie zeigt für die deutschlandweite Prävalenz im Kinder- und Jugendalter nach Auswertung auf Grundlage der DSM-IV-Kriterien einen ähnlichen Wert von 5%, wogegen die Ergebnisse mit den strengeren ICD-10-Kriterien bei 1% liegen [DGKJP et al. 2017, S. 12; Steinhausen, Schubert 2020, S. 40]. Aus der systematischen Analyse von 135 internationalen Studien lässt sich die Erkenntnis ziehen, dass Variationen in der Prävalenz nicht von geographischen Lagen abhängig sind und ADHS somit kein Resultat von Umwelteinflüssen oder speziellen Gesellschaftsbedingungen ist [Steinhausen, Schubert 2020, S. 40; Gawrilow 2012, S. 51]. Steinhausen und Schubert nennen weitere beeinflussende Faktoren für die Bestimmung von Prävalenzen. Dazu gehören Aspekte wie Alter, Geschlecht, Sozialschicht, Subtypen und Komorbiditäten [Steinhausen, Schubert 2020, S. 38].
Die Altersabhängigkeit der Prävalenzen ist aus der Vergleichs-Tabelle der KiGGS-Studie11 des RKI zu entnehmen:
Tabelle 2 : Prävalenzen einer ADHS-Diagnose nach Geschlecht und Alter für KiGGS-Basiserhebung (n = 6.736 Mädchen, n = 6.751 Jungen) und KiGGS Welle 2 (n = 6.671 Mädchen, n = 6.599 Jungen) [RKI 2018] .
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Prävalenzwerte der 3–17-jährigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland liegt nach diesen Ergebnissen durch die zweite Welle der KiGGS-Studie durchschnittlich bei 4,4% und ist somit seit der Basiserhebung gesunken [RKI 2018]. Wie aus Tabelle 2 zu entnehmen ist, bezieht sich der Rückgang der Diagnosevergabe nur auf die jüngere Altersgruppe. Dies betrifft ausschließlich Jungen im Alter von 3–8 Jahren. Das RKI vermutet hierbei einen Zusammenhang der Änderung der Leitlinien 2017, die sich auf die Vergabe der ADHS-Diagnose auswirkt [RKI 2018]. In beiden Studien ist deutlich erkennbar, dass eine höhere Prävalenz bei den 6–8jährigen im Vergleich zu den Vorschulkindern vorliegt [Steinhausen, Schubert 2020, S. 41]. Die Erkenntnisse aus den Vergleichsanalysen der zwei KiGGS-Studien widerlegen zudem das öffentliche Meinungsbild, das Syndrom habe mit den Jahren zugenommen [Kolberg, Winter 2007, S. 3]. Gawrilow und Winter weisen mit diesen Ergebnissen darauf hin, dass Lehrkräfte circa 1—3 ADHS-betroffene Kinder pro Klasse vorfinden werden und sie deshalb gut über das Krankheitsbild informiert sein sollen [Gawrilow 2012, S. 47; Kolberg, Winter 2007, S. 3].
Internationale Daten über Prävalenzen im Erwachsenenalter liegen erst seit jüngster Zeit und sehr begrenzt vor [Steinhausen, Schubert 2020, S. 38]. Laut der DGKJP ergibt eine Metaanalyse aus sechs Studien Prävalenzwerte von 2,5% bei ADHS-betroffenen Erwachsenen [DGKJP et al. 2017, S. 12—13].
[...]
1 Im Folgenden werden die Probanden mit P und ihrer Nummerierung abgekürzt.
2 Im Folgenden wird dieses Syndrom mit ADHS abgekürzt.
3 Zur Erleichterung des Leseflusses wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet. Dieses wird geschlechtsunabhängig verstanden.
4 Retroperspektivisch erinnern sie sich an ihre Grundschulzeit.
5 Alle Interviews befinden sich in transkribierter Form im Anhang dieser Arbeit.
6 Dieses Thema ist umfangreich und bedarf einer detaillierten Untersuchung, was diese Arbeit in ihrer Limitierung nicht leisten kann.
7 Die deutschen Leitlinien für ADHS werden in Zusammenarbeit mit folgenden, federführenden Fachgesellschaften erarbeitet: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. Im Folgenden werden ausschließlich die Akronyme der Fachgesellschaften verwendet.
8 Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität wird im folgenden Verlauf mit „ADHS“, das ohne Hyperaktivität mit „ADS“ abgekürzt.
9 RKI: Robert-Koch-Institut, dies wird im Folgendem mit RKI abgekürzt.
10 Die heutigen Untersuchungsmethoden lassen noch immer keine absoluten Einblicke in neurochemische Prozesse zu. Über das Zusammentragen von Studien der Genetik, medikamentösen Behandlungen und Neuroanatomie können ausschließlich indirekte Schlussfolgerungen vorgenommen werden [Roessner, Rothenberger 2020, S. 88].
11 Die umfassenden KiGGS-Studien des RKI erforschen den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Zu zwei Zeitpunkten (Basiserhebung 2003 – 2006, 2. Welle 2014 – 2017) werden aussagekräftige Daten zum physischen und psychischen Gesundheitszustand zusammengetragen. In dem Rahmen werden ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche und deren Eltern nach einer vorliegenden ADHS-Diagnose durch befähigte Fachpersonen befragt. In der Basiserhebung nehmen 13487, in der zweiten Welle 13270 Heranwachsende teil. Die Prävalenzdarstellung richtet sich nach Geschlecht, Alter und sozioökonomischen Status [Gawrilow 2012, S. 46; RKI 2018].
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