Lebenslinien. Eine heilpädagogische Syndromanalyse mit Fingerspitzengefühl


Pre-University Paper, 2020

28 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Vorwort

Wie können wir Teilhabe für Menschen mit komplexer Behinderung ermöglichen? Was bedeutet Teilhabe in diesem Kontext? Für Menschen mit komplexer Behinderung und für uns als Heilerzieher? Wie fühlt sich Teilhabe an? Welche Rolle spielt das Verständnis in der täglichen Begegnung, die innere Haltung? Ob es sie nun gibt oder nicht, in meiner Facharbeit begebe ich mich auf die Suche nach Antworten. Mit dem Ziel Fragen überhaupt zu stellen. Ich möchte mich trauen Fragen zu stellen, denn ich halte diese für essentiell im heilpädagogischen Arbeitsfeld, in der Begleitung von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen.

Lebhaftwurden diese Fragen in meinem Praktikum Pli im zweiten Ausbildungsjahr, in der Tagesförderstätte „Universum"[*]. Dort konnte erste pflegerische Kompetenzen entwickeln und einige Herausforderungen im Kontakt zur Zielgruppe der Tagesförderung meistern. Zu meinen Aufgaben gehörten unter anderem das selbständige Begleiten von Toilettengängen, das Anreichen von Essen, die Unterstützung beim Rollstuhltransfer und natürlich die Seelsorge bei den Klienten der Einrichtung.

Ich habe viele verschiedene Angebote und Formen der Tagesgestaltung kennen gelernt. Beim Kochen, Musizieren und kleineren handwerklichen Tätigkeiten, wie beispielsweise das Herstellen von Seife oder Ansteck-Buttons, musste ich mein eigenes Geschick unter Beweis stellen und habe viel von den Klienten gelernt. Bei gemeinsamen Spaziergängen, Ausflügen und in unserem Büchertausch- und Marktkistenangebot haben wir den Sozialraum erkundet, was mir besonders viel Freude gemacht hat.

Ich konnte auch bereits ein paar eigene Ideen entwickeln und mit einbringen. Durch die Dienstbesprechungen bekam ich einen Einblick in die Personalstruktur und Organisation der Institution. Auch den Physio- und Ergotherapeuten durfte ich bei ihrer Arbeit mit den Klienten über die Schulter schauen und konnte meine Fragen stellen. Eine ganz besondere Erfahrung war für mich die unterstützte Kommunikation - individuelle Zugänge zu den Klienten zu finden, ist eine spannende Aufgabe, die mich sehr begeistert hat.

Doch auch herausfordernde Situationen definieren den heilpädagogischen Alltag in der Tagesförderung, auch das habe ich gelernt.

Denn in meiner Praktikumszeit habe ich eine Beschäftigte mit komplexer Behinderung besonders ins Herz geschlossen.

Ihr Name ist Ayla[†] *. Ich habe es mir in dieser Arbeit zur Aufgabe gemacht, Ayla's Verhaltensweisen in herausfordernden Situationen zu entschlüsseln. Ich stelle die Frage, ob und wie es zu einer Ausgrenzung kommen kann und welche Möglichkeiten es gibt, Ayla, auch in Belastungssituationen, angemessen und feinfühlig zu begleiten.

Mir istwichtig dabei die Einzigartigkeit eines jeden Menschen zu berücksichtigen, zu betonen und zu wahren. Aus diesem Grund habe ich den Realisierungsweg einer heilpädagogischen Syndromanalyse eingeschlagen. Die Methode geht zurück auf den russischen Neuropsychologen Alexander R. Lurija (geb. 1902). Das Wahrnehmen, Verstehen, Erklären und darauf abgestimmte Handeln dieses diagnostischen Verfahrens (vgl. Schablon, 1996) erscheint mir in diesem Kontext der richtige Weg zu sein. So werde ich meine systemische Untersuchung gewisser Praxissituationen mit Ayla, in fünf Teilschritte gliedern: den Außenbeobachterstandpunkt (I.), die Innenbeobachterstandpunkte 1 und 2 (II.), den Superbeobachterstandpunkt (III.), die Selbstreflexivität (IV.) und die daraus resultierenden heilpädagogischen Ideen auf der Handlungsebene (V.).

I. Außenbeobachterstandpunkt

Die Tagesförderstätte "Universum" befindet sich im zentralen Hamburg. Sie ist strukturiert in einem Gruppensystem (fünf Gruppen) und einer Auswahl an diversen Angeboten für die Beschäftigten in der Zeit von 9 bis 15 Uhr von Montag bis Freitag. So auch Ayla Zontangelou, geboren 1990 in Griechenland, 29 Jahre alt. Sie lebt in einer Wohngruppe im Randgebiet Hamburgs und wird fünf Tage die Woche mit dem Bus zur Tagesförderung in die Innenstadt gefahren und nachmittags wieder abgeholt. Ayla ist nun bereits seit zehn Jahren im "Universum" beschäftigt. Doch aktuell kommt es zu großen Veränderungen in der Einrichtung. Aufgrund des unzureichenden Brandschutzes wird das "Universum" unerwartet im kommenden Herbst für immer geschlossen. Es kam also in den letzten Wochen zu plötzlichen Umstrukturierungen, die Hälfte der Beschäftigten wurden bereits in anderen Einrichtungen untergebracht und auch das Team hat sich verkleinert.

Die Gruppe 1 der Tagesförderung, in der auch Ayla beschäftigt war, wurde ganz aufgelöst. Die Beschäftigten wurden auf die anderen Gruppen verteilt, Ayla kam zunächst in Gruppe 2. Die Angebotsauswahl gestaltet sich nun provisorisch und musste stark reduziert werden aufgrund der neuen personellen Gegebenheiten. Viele Angebote wurden also aufgelöst, darunter auch einige, die seit Jahren zu Ayla's Alltag im "Universum" gehörten.

Laut Akte der Tagesförderung bestehe kein Kontakt zu Ayla's Familie, es gäbe jedoch eine gesetzliche Vertreterin. Zu ihrer Vergangenheit in der Zeit vor der Tagesförderung lassen sich keine weiteren Daten entnehmen. In den medizinischen Gutachten, Diagnosen und Förderberichten zu ihrer Person erfährt man unter Anderem, dass sie aufgrund von eineinfantilen Zerebralparese und starkerWirbelsäulenskoliose im Rollstuhl sitzt. In diesem kann sich nicht selbständig fortbewegen und muss zusätzlich mit Gurten fixiert werden. Zudem wurde bei ihr eine schwere Intelligenzminderung und Epilepsie diagnostiziert. Epileptische Anfälle seien jedoch seltener geworden seit Ayla vor etwa einem Jahr medikamentös neu eingestellt wurde. Allerdings würde ihre Persönlichkeit von den Mitarbeitern seither als „gedämpfter“ wahrgenommen.

Laut heilpädagogischem Bericht lache sie nicht mehr so viel wie früher und es sei schwieriger, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Ihre pflegerische Assistenz gestalte sich außerdem an „schlechten Tagen“ sehr problematisch und zeitintensiv.

Ayla äußert sich nicht lautsprachlich, verfügt jedoch über verschiedene nonverbale Zeichen und Mimik. Sie summt, lacht, lautiert, schnalzt mit der Zunge, schreit und knirscht mit den Zähnen. Ihr Gesamttonus ist eher niedrig. Oft verfällt sie in stereotype Bewegungsmuster, wie etwa einem rhythmischen Schaukeln mit dem Oberkörper vor und zurück und dem nach vorne Werfen ihres Kopfes. Ihre Arme sind dabei auf die Ellenbogen gestützt und die Hände kreisen abwechselnd. Meist tendiert sie jedoch auffällig nach links, vermutlich aufgrund ihrer Wirbelsäulenskoliose. Ihr Blickfixiertdabei ihre linke Handfläche. Diese Haltung sei von Anfang an bei ihr zu beobachten, in letzter Zeit jedoch vermehrt, laut Mitarbeiter, vor allem in Erregungszuständen.

Als ich Ayla kennen lernte, fiel mir auf, dass an ihrem Rollstuhl stets ein paar Ohrenschützer hängen, was mich zunächst verwunderte. Sie wurde mir vorgestellt mit den Worten sie lebe „komplett in ihrer Welt“. Kontaktaufnahme sei nur schwer bis überhaupt nicht möglich, hieß es.

Es war dennoch vom ersten Tag an meine Aufgabe, Ayla Essen anzureichen und pflegerische Maßnahmen, wie das Wechseln ihrer Inkontinenzhosen, durchzuführen. Später erfuhr ich, dass dies Aufgaben sind, „die gerne die neuen Praktikanten abbekommen“ (so wörtlich), da es mit Ayla oft nicht einfach sei. Schnell erfuhr ich auch, warum.

Ayla hat einen hohen Assistensbedarf. Sie benötigt Unterstützung und viel Zuwendung um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Das Anreichen von Essen und Trinken und die täglichen Toilettengänge gestalten sich in letzter Zeit zunehmend problematisch, denn in diesen Situationen kommt es bei Ayla zu starker Übererregung. Sie klammertsich dann bei Körperkontakt an den Mitarbeitern fest, die sich aus ihrem Griff nur schwer lösen können. Dabei schreit sie immer wieder extrem laut, bis zur äußersten Erschöpfung. Deshalb die Ohrschützer an ihrem Rollstuhl, sie sind in diesem Fall für das assistierende Personal. Ein Morgen in meinem Praktikum, an dem ein Klient im Trubel das Licht ausschaltete, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Denn die kurze Dunkelheit löste plötzlich massive Stressreaktionenen bei Ayla aus und es dauerte lange bis sie aufhörte zu schreien und sich beruhigte. Ich fühlte mich in diesem Moment sehr hilflos und unfähig sie aufzufangen. Als ich herausfinden wollte, wie es dazu kam und mich an die Fachkräfte wandte, hieß es Ayla habe sich nur erschrocken und wahrscheinlich schlecht geschlafen. Doch diese Antwort stellte mich nicht zufrieden, ich nahm dieses Erlebnis an diesem Tag mit nach Hause. Die Angst in ihrem Gesicht und ihre große Not, die ich fühlte in diesem Moment ließen mich nicht los.

Im fortschreitenden Praktikum beobachtete ich, dass genau diese Belastung in Stresssituationen für beide Seiten dazu führt, dass die Mitarbeiter im Team ungern Ayla's Assistenz übernehmen und sie immer wieder den neuen Praktikanten überlassen wird.

Doch die Fragen nach dem Grund für Ayla's „Problemverhalten“ blieben offen. Dem möchte ich mich hier widmen, denn, wie sich im Laufe meiner Facharbeit zeigen wird, ist es von großer Bedeutung dies zu hinterfragen.

Wie kommt es also in den dargestellten Situationen bei Ayla zur Übererregung? Was ist der Grund für ihr Verhalten? Und wie kann Aylaangemessen und feinfühlig begleitet werden?

II. Innenbeobachterstandpunkt 1

Um Ayla's Verhalten zu ergründen, wende ich zunächst die

Methodik einer introspektiven Beobachtung an. Unterteilt in

Vormittag und Nachmittag, schildere ich im Folgenden einen Tag

in der Tagesförderstätte aus Ayla's Sicht.

Es ist ein Mittwoch-Vormittag im "Universum". Es geht hektisch zu, denn viele Mitarbeiter sind krank und Aushilfskräfte müssen eingesetzt werden.

„Ayla. Das höre ich oft, so sprechen mich die Menschen an. So heiße ich. Die Menschen sagen Ayla, dann schaue ich, dann lächeln sie. So heiße ich. Fast jeden Tag fahre ich in einem großen Ding, dem Bus, in die Tafö, so sagen sie. Zur Arbeit. Ich werde gegurtet, manchmal zu fest, das ist unangenehm. Aber heut fährt mein Freund das große Ding, der macht das gut mit den Gurten, nicht so fest. Er hat dunkle Haut und lacht ganz viel.

Sonnenscheinchen, nennt er mich. Während der Fahrt erzählt er etwas. Ich höre ihn gern, seine Stimme. Der Bus hält, mein Freund gurtet mich ab und setzt mich in den Rolli. Eine Frau wartet draußen und nimmt mich mit rein in die Tafö. Und dann kommt der Fahrstuhl, der ist eng, der macht mir immer Angst. Deshalb schreie ich. Das fühlt sich nicht gut an. Aber dann im Gruppenraum gehts mir besser. Die Menschen sagen meinen Namen und lächeln wenn sie mich zu sehen. Es istwarm. Ich werde an einen Tisch gefahren. Frühstück. Vor Freude und weil es so schön warm ist, summe ich. Ich schaue auf meine Hand.

Meine Hand. Sie ist immer bei mir. Sie ist immer da. Sie ist hell und voller Linien. Ich fühle sie. Ich sehe sie. Sie ist immer da. Ich habe Durst und schmatze, damit mir jemand etwas zu trinken gibt. Doch die Menschen laufen hin und her, machen Geräusche. Jacken rascheln und Teller klappern. Endlich kommtjemand zu mir und holt etwas aus meinem Rucksack. Ich habe Durst. Doch nun hältjemand mir ein trockenes Brot hin. Die Betreuerin habe ich schon einmal gesehen, aber ich kenne sie nicht gut. Sie steht seitlich von mir und redet mit jemand anderem. Ihre Hände riechen nach Rauch. Sie hält mir das Brot hin und ich drehe meinen Kopf weg. Sie sagt ich solle etwas essen, wir frühstücken jetzt. Das Brot riecht nach Käse. Ich öffne meinen Mund und beisse ab, dann drehe ich mich wiederweg. Der Bissen bleibt lange im Mund, denn er ist so trocken. Irgendwann läuft mir Speichel aus meinem Mundwinkel, endlich ist es nicht mehr so trocken. Doch dann kommt gleich schon wieder die Hand mit dem Brot und der nächste trockene Bisschen steckt im Mund. Die Betreuerin redet mit den Anderen am Tisch. In der anderen Hand hält sie auch ein Brot und isst. Ich schaukel mit meinem Rollstuhl und vollem Mund. Ich habe Durst. Mir fällt der Bissen aus dem Mund, das ist unangenehm. Die Betreuerin sagt ich solle nicht so rumhampeln, sonstverschlucke ich mich noch. Erst als ich das ganze Brot aufgegessen habe, hält sie mir einen Trinkbecher hin. Hastig trinke ich, doch es ist Wasser mit Kohlensäure. Das tut mir weh im Mund und in der Nase! Ich muss husten. Ayla ist heute nicht gut drauf, sagt die Betreuerin. Sie streichelt mir kurz über den Kopf. Das ist schön. Ich schaue auf meine Hand. Sie ist immer da. Langsam stehen die Menschen auf, klappern wieder mit den Tellern. Ich werde in die Eingangshalle geschoben, langsam kommen mehr Menschen vorbei. Es geht auf die Toilette. Ich fühle mich unwohl, ich weiß was kommt, ich knirsche mit den Zähnen. Ich möchte nicht auf die Toilette. Jemand kommt von hinten, ich weiß nicht, wer es ist, es gibt einen Ruck-jemand schiebt mich zur Toilette. Ich schreie, ich möchte das nicht. Doch schon bin ich drin. Die Tür wird geschlossen. Ich werde abgegurtet und falle nach vorn. Die weißen Fliesen sehen kühl aus und glänzen, ich weiß was kommt. Ich schreie. Doch meine Betreuerin hat etwas auf dem Kopf, sie hört mich nicht. Ich schreie. Jemand kommt rein und sagt etwas zu der Betreuerin, draußen streiten zwei Menschen, plötzlich geht das Licht aus! Es ist dunkel und eng ich will das nicht! Alles istweg! Ich habe Angst. Ich schreie. Das Licht geht wieder an mit einem Blinken. Draußen höre ich auf einmal Uwe, er schimpft mit den beiden streitenden Menschen, die Tür wird geknallt. Die Betreuerin schüttelt den Kopf und dreht sich wieder zu mir. Ich schreie. Sie hört mich nicht und sieht mich nicht an. Dann hebt sie mich ganz hoch, auf die Liege. Das Licht blendet mich, mir ist kalt. Die Hände der Betreuerin sind kalt und schnell reißen sie an meiner Kleidung. Ich sehe nicht, was sie tut.

Ganz nackt liege ich da und schaue zur Decke, ich schreie. Sie hört mich nicht. Ich habe Angst, dass es gleich wieder dunkel wird. Ich hasse die Toilette. Die Betreuerin lässt von mir ab. Ist sie noch im Raum? Ich höre es rascheln. Ja, ist sie. Sie kommt zu mir, zieht mich wieder an, hebt mich in den Rollstuhl. Ihre Bewegungen sind schnell. Sie gurtet mich fest und schiebt mich raus. Sie sagt super Ayla, das ging doch zack zack. Ich schreie immer noch aber leiser, mein Hals tut mir weh. Ich bin jetzt müde und erschöpft. Ich werde in die Küche geschoben. Um mich herum ist es laut, es wird geklappert und geredet, mir wird etwas in die Hand gegeben. Doch ich bin erschöpft und lasse es fallen. Ich schaue auf meine Hand, sie ist noch da. Meine Hand, bis meine Augenlider zu fallen.“

Innenbeobachterstandpunkt 2

Der gleiche Mittwoch in der Tagesförderstätte "Universum". Gegen Mittag kommt Ayla‘s Bezugsbetreuerin Kerstin. Sie hat heute Spätschicht.

„Mich weckt eine vertraute Stimme. Ich weiß wer es ist noch bevor ich die Augen aufmache. Es ist meine Betreuerin Kerstin! Ich kenne sie und sie kennt mich. Sie krault mir durchs Haar und lächelt als ich sie anschaue. Das Kraulen mag ich, das weiß sie.

Sie fragt ob das Kochangebot schön war, ich bemerke ich bin immer noch in der Küche, es wird geklappert. Um mich herum wird aufgeräumt. Kerstin sagt, es ist Zeit für das Mittagessen. Ich werde in den Gruppenraum geschoben. Dort riecht es gut, ich schmatze, denn ich bekomme Hunger. Und Durst habe ich auch. Kerstin schiebt mich an den Tisch und setzt sich mir gegenüber, an die Ecke. Ich kann sie gut sehen. Ich schmatze. Sie fragt ob ich schon einmal etwas trinken möchte. Sie hält mir einen Becher hin, Wasser ohne Kohlensäure, sie weiß dass ich das besser trinken kann. Mit der anderen Hand hält sie beim Trinken mein Kinn fest, so findet es Halt. Die Flüssigkeit, die aus meinen Mundwinkeln läuft wischt sie mit einem Tuch ab. Ich verschlucke mich, Kerstin lässt mich kurz durchatmen. Als ich wieder schmatze, reich sie mir nochmal den Becher und ich trinke. Das Essen wird gebracht.

Kerstin sagt es gibt Kartoffelbrei mit Fisch. Ich weiß nicht, was das bedeutet, ich schaue auf meine Hand. Die kenne ich. Einen Moment bleibe ich bei meiner Hand, folge ihren Linien. Dann nehme ich einen vertrauten Geruch wahr, Kerstin hält mir den Teller mit Essen hin. Es kenne den Geruch, es riecht gut. Ich schmatze und öffne den Mund. Kerstin reicht mir einen Löffel mit Kartoffelbrei und Gurkensalat, erst einmal einen Kleinen zum Probieren, sagt sie. Sie beobachtet mich. Es schmeckt gut, ich schmatze und sie reicht mir noch einen Löffel. Wenn ich Essen im Mund habe drehe ich mich weg, manchmal lasse das Essen im Mund, fühle und bewege es im Mund. Aber Kerstin lässt mir Zeit. Wenn ich schmatze und mich ihr zuwende, finde ich ihren Blick, dann reicht sie mir den nächsten Löffel. Manchmal geht es mir zu langsam oder ich habe Durst, dann trampel ich mit den Füßen.

Aber Kerstin beobachtet mich und bemerkt das meistens. Sie testet dann, was ich möchte. Der Fisch ist heiß, ich möchte keinen Fisch und drehe den Kopf. Der Kartoffelbrei schmeckt mir und fühlt sich gut an im Mund. Kerstin sagt heute gibt es noch einen Nachtisch. Sie hält mir etwas hin, es ist ein Stück Schokolade. Ich öffne meinen Mund, ich liebe Schokolade! Deshalb lässt mir Kerstin noch Zeit, obwohl ein paar Menschen schon vom Tisch aufstehen und um uns herum Geräusche machen. Ich schließe die Augen und lasse die Schokolade lange im Mund. Sie ist süß und schmilzt im Mund. Sie schmeckt und fühlt sich gut an. Noch ein Stück, diesmal gibt sie mir auch ein Stück in die Hand. Kerstin sagt Mmmh, ich summe. Ich muss lachen, Kerstin lacht auch. Ich fühle mich wohl. Dann macht Kerstin meine Hände und meinen Mund mit einem feuchten Tuch sauber. Das tut nicht so weh wie mit einem Papiertuch. Wir sind jetzt allein im Gruppenraum, doch die Anderen höre ich durch die Tür, sie sind draußen in der Halle. Viele Stimmen reden gleichzeitig, reden durcheinander. Dann werde auch ich langsam unruhig, denn es geht wieder zur Toilette.

[...]


[*] Namen und Persönlichkeitsangaben wurden aus Datenschutz-Gründen geändert.

[†] Namen und Persönlichkeitsangaben wurden aus Datenschutz-Gründen geändert.

Excerpt out of 28 pages

Details

Title
Lebenslinien. Eine heilpädagogische Syndromanalyse mit Fingerspitzengefühl
Grade
1,0
Author
Year
2020
Pages
28
Catalog Number
V1151046
ISBN (eBook)
9783346537577
Language
German
Keywords
Syndromanalyse Subjektlogik Begleitung, Haltung, subjektzentriert, Fragen, Teilhabe
Quote paper
Lina Herzog (Author), 2020, Lebenslinien. Eine heilpädagogische Syndromanalyse mit Fingerspitzengefühl, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1151046

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