Bevor man sich - mehr oder weniger - objektiv und wertfrei mit der Qualität von
Schule und Unterricht beschäftigen kann, muss zunächst einmal geklärt werden, von
welchem Qualitätsbegriff man eigentlich ausgeht. Dies ist deshalb nötig, da natürlich
jegliche Aussage zur Schulqualität durch die ihr zugrunde liegende Definition von
schulischer Qualität bestimmt wird. Mit anderen Worten: Bei Aussagen über
(schulische) „Qualität“ ist es nicht nur wichtig, persönliche Beobachtungen und
Schlussfolgerungen anzusprechen, sondern geradezu unentbehrlich, die hierbei
wirksam gewordenen Kriterien zur Bestimmung dieser spezifischen Sicht von
Qualität zu hinterfragen. Vernachlässigt man dies, spricht man nicht von objektiven
Erkenntnissen, sondern tätigt Aussagen, die sich ausschließlich auf persönliche und
somit subjektive Kriterien von Qualität beziehen.
Würde ein Arzt die Laborwerte eines Patienten ohne verlässliche Referenzwerte
interpretieren und lediglich mit eigenen Erfahrungswerten, gewissermaßen aus dem
Bauch heraus, eine Diagnose stellen? Würde er seinem Patienten ein Rezept mit
einer ungefähren Dosierungsanleitung für ein ihm nur vom Hörensagen bekannten
Medikament aushändigen? Alle diese Fragen kann man mit einem klaren „Nein“
beantworten, da zumindest in der Schulmedizin weitgehend Konsens darüber
herrscht, was eine verantwortungsvolle und qualitativ hochwertige medizinische
Versorgung (z. B. im Bereich der Hygienevorschriften) darstellt. Ärzte, in deren Beruf
es jeden Tag um Leben und Tod geht, können sich nicht immer wieder eine
grundlegende Interpretation ihres Qualitätsverständnisses erlauben.
Ein solcher Konsens herrscht im Bildungssektor meist nicht, weil die Sachlage hier
weit weniger eindeutig ist. Den meisten Schulen fehlt somit eine „ungetrübte“
Vorstellung von schulischer Qualität. Und liegt eine solche dann doch einmal vor, so
wird sie bisweilen dogmenhaft und mit dem Habitus grenzenloser Kompetenz
heruntergebetet. Dies ist erstaunlich, da ein solches Beharren auf einem bestimmten
Bild schulischer Qualität oft nicht reflektiert, sondern bestenfalls tradiert ist.
Inhalt
1. Einige Gedanken zur Schulqualität und dem zugrundeliegenden Qualitätsverständnis
2. Über die Gefahr, ausländische Qualitätsleitbilder kritiklos in Luxemburg zu übernehmen
3. Zur Systematik des Qualitätsbegriffes
4. Welches Qualitätsverständnis sollte für Luxemburg das leitende sein?
5. Vom reflektierten Qualitätsbegriff zu den Prämissen einer „guten Schule“ und eines „guten Unterrichts“
6. Die 30 Prämissen einer „guten Schule“ und eines „guten Unterrichts“
6.1 15 Prämissen für eine „gute Schule“
6.2 15 Prämissen für einen „guten Unterricht“
Schlusswort
Bibliographie
1. Einige Gedanken zur Schulqualität und dem zugrundeliegenden Qualitätsverständnis
Bevor man sich - mehr oder weniger - objektiv und wertfrei mit der Qualität von Schule und Unterricht beschäftigen kann, muss zunächst einmal geklärt werden, von welchem Qualitätsbegriff man eigentlich ausgeht. Dies ist deshalb nötig, da natürlich jegliche Aussage zur Schulqualität durch die ihr zugrundeliegende Definition von schulischer Qualität bestimmt wird. Mit anderen Worten: Bei Aussagen über (schulische) „Qualität“ ist es nicht nur wichtig, persönliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen anzusprechen, sondern geradezu unentbehrlich, die hierbei wirksam gewordenen Kriterien zur Bestimmung dieser spezifischen Sicht von Qualität zu hinterfragen. Vernachlässigt man dies, spricht man nicht von objektiven Erkenntnissen, sondern tätigt Aussagen, die sich ausschließlich auf persönliche und somit subjektive Kriterien von Qualität beziehen.
Würde ein Arzt die Laborwerte eines Patienten ohne verlässliche Referenzwerte interpretieren und lediglich mit eigenen Erfahrungswerten, gewissermaßen aus dem Bauch heraus, eine Diagnose stellen? Würde er seinem Patienten ein Rezept mit einer ungefähren Dosierungsanleitung für ein ihm nur vom Hörensagen bekannten Medikament aushändigen? Alle diese Fragen kann man mit einem klaren „Nein“ beantworten, da zumindest in der Schulmedizin weitgehend Konsens darüber herrscht, was eine verantwortungsvolle und qualitativ hochwertige medizinische Versorgung (z. B. im Bereich der Hygienevorschriften) darstellt. Ärzte, in deren Beruf es jeden Tag um Leben und Tod geht, können sich nicht immer wieder eine grundlegende Interpretation ihres Qualitätsverständnisses erlauben.
Ein solcher Konsens herrscht im Bildungssektor meist nicht, weil die Sachlage hier weit weniger eindeutig ist. Den meisten Schulen fehlt somit eine „ungetrübte“ Vorstellung von schulischer Qualität. Und liegt eine solche dann doch einmal vor, so wird sie bisweilen dogmenhaft und mit dem Habitus grenzenloser Kompetenz heruntergebetet. Dies ist erstaunlich, da ein solches Beharren auf einem bestimmten Bild schulischer Qualität oft nicht reflektiert, sondern bestenfalls tradiert ist. In dem Kontext sei kurz angemerkt, dass Eindeutigkeit und feste Werte nur dann fruchtbar sind, wenn ihre Wurzeln bewusst gemacht werden und ein reeller Bezug zur Realität (der Schüler) besteht.
Aber auch innerhalb moderner und sogar recht ehrgeiziger Schulentwicklungsprojekte muss oft bemängelt werden, dass im Vorfeld der Überlegungen zur Schul- und Unterrichtsqualität keine ausgiebige Diskussion zur Interpretation des Qualitätsbegriffes an sich stattfindet. Durch dieses Versäumnis werden die anschließenden Diskussionen durch vielfältige, subjektive Einzelpositionen, nicht aber durch ein der Gruppe gemeinsames Qualitätsverständnis geprägt.
So sollte man z. B. nicht vergessen, dass es durchaus fächerspezifische Unterschiede in der Auffassung von Qualität in Schule und Unterricht gibt. Der Grund hierfür liegt womöglich in den unterschiedlichen Bildungstraditionen der Länder, in denen luxemburgische Lehrer studieren. Es ist davon auszugehen, dass sich über das Studium beim einzelnen Lehrer unbewusst ganz spezifische Sichtweisen von Qualität im Bildungswesen entwickeln. Daneben sollte man auch nicht den Einfluss der bisherigen Schulen der Lehrer unterschätzen. Jede Einzelschule verfügt nämlich über ein insgeheim mitschwingendes Bild schulischer Qualität, das ihre Lehrer und Schüler unbewusst verinnerlichen.
Die mangelnde Reflexion über ein gemeinsames Qualitätsverständnis wirkt sich später oft negativ auf die Akzeptanz eines ausgearbeiteten pädagogischen Projektes aus und verhindert eine konsequente Schulentwicklung. Was passiert, wenn Lehrer ein anderes Qualitätsverständnis als ihre Schule haben, lässt sich leicht anhand von zwei Beispielen aus Luxemburg aufzeigen.
Eine ernste Gefahr für die Schulentwicklung in Luxemburg stellt z. B. die Art und Weise, wie Lehrer den Schulen zugeteilt werden, dar. Die Praxis, neu nominierte Lehrer von ministerieller Ebene aus zentral auf die Schulen Luxemburgs zu verteilen, mutet befremdlich an. Es liegt nämlich auf der Hand, dass eine solche Vorgehensweise zwangsläufig Lehrer hervorbringt, die nicht ihre optimale Leistung erbringen, weil sie gegen ihren Willen und ihre Überzeugung an einer spezifischen Schule unterrichten müssen. Schlimmstenfalls entwickeln sich solche Lehrer zu Quertreibern, die das Sozialklima und die Schulqualität negativ beeinflussen.
Viele dieser Lehrer erbeten, sobald sich die Möglichkeit bietet, eine Versetzung an eine Schule, die ihnen geografisch, sozial oder fachlich mehr zusagt. Das wichtigste Kriterium für eine vom Ministerium genehmigte Versetzung ist dabei die Verweildauer des Lehrers im Staatsdienst und nicht etwa dessen Interesse an einem spezifischen pädagogischen Projekt. Die beschriebene Personalpolitik des Ministeriums führt auf diese Weise zu beträchtlichen Fluktuationen im Lehrkörper, vor allem an sogenannten „Problemschulen“ mit schwierigen Rahmenbedingungen. Die logische Folge ist, dass technischen Lyzeen in „Problembezirken“ die etablierten Lehrer regelmäßig „davonlaufen“, während manche klassische Gymnasien zu „Sammelbecken“ für Lehrer über 50 werden. Es versteht sich, dass unter solchen Bedingungen eine kohärente Schulentwicklung, vor allem in den technischen Lyzeen Luxemburgs, kaum möglich ist. In Anbetracht der charakteristischen Probleme der überwiegend ausländischen Schülerschaft in diesen Schulen ist dieser Sachverhalt mehr als bedauerlich.
Die vorangegangenen Beispiele werden durch Luxemburgs Vorliebe für große Schulen weiter angeheizt, da es an solchen Schulen ganz einfach schwieriger ist, alle Lehrer auf ein gemeinsames Qualitätsverständnis einzustimmen.
Es wäre allerdings unredlich zu verschweigen, dass kleinere Schulen mit weniger Schülern und Lehrern, abgesehen von anderen Überlegungen, vor allem den momentan bereits überbordenden Bedarf an teuren Schulstrukturen in Luxemburg noch weiter verschärfen würden. Auch die freie Lehrerauswahl wäre nicht ganz unproblematisch, da es einerseits in manchen Fächern viel zu wenig verfügbare Lehrer gibt und andererseits manche Schulen in Anbetracht ihrer schwierigen Rahmenbedingungen womöglich überhaupt keine Lehrer mehr finden würden.
Aufgrund des Vorangegangenen ist es dennoch unerlässlich, Wege zu finden, alle Lehrer einer Schule (oder zumindest die Mehrzahl) auf ein gemeinsames Qualitätsverständnis einzuschwören, das freilich argumentativ belegt werden muss.
Dies bedeutet zwangsläufig, dass kein Lehrer daran vorbeikommt, sein ganz persönliches Qualitätsverständnis im Bildungsbereich zu hinterfragen.
2. Über die Gefahr, ausländische Qualitätsleitbilder kritiklos in Luxemburg zu übernehmen
Es wurde bereits angedeutet, dass im Bildungsbereich ein eindeutiger „Qualitäts- Konsens“ fehlt. Die Folge ist eine gewisse Orientierungslosigkeit, die in einem kleinen Land wie Luxemburg schnell den Blick ins Ausland wandern lässt. Die Verlockung, dieses „Orientierungs-Vakuum“ - vor allem nach dem „PISA-Desaster“ - voreilig mit bildungspolitischen Vorstellungen und Konzepten aus anderen Ländern zu füllen, ist groß. Die bloße Reproduktion von aussichtsreichen Konzepten sollte aber tunlichst vermieden werden. Eine solche scheitert nämlich fast immer, weil die Begleitumstände, in denen sich Schulen bewegen, nur in Ausnahmefällen vergleichbar sind.
Diese pauschale Behauptung lässt sich anhand der beiden recht unterschiedlichen
„PISA-Musterknaben“ Finnland und Japan anschaulich darstellen. Während Finnland seit PISA hauptsächlich für seinen liberalen, schüler- und handlungsorientierten Unterricht bekannt ist, wird das doch eher konservative, hierarchische und lehrerzentrierte Erfolgskonzept Japans in der „Post-Pisa-Diskussion“ kaum beachtet. Die interessante Tatsache, dass diese zwei sich widersprechenden Bildungssysteme ähnlich erfolgreich sind, erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass beide historisch gewachsenen Bildungstraditionen entspringen, die nationale Denkweisen und Überzeugungen sowie weitere charakteristische Eigenheiten des Landes (Bevölkerungsstruktur, Infrastrukturen …) berücksichtigen. Mit anderen Worten: Ein Bildungssystem passt dann zu einem Land, wenn es mit ihm gemeinsam, quasi organisch, gewachsen ist und angemessen auf die Stärken und Schwächen aller Auszubildenden reagiert, um sie so bestmöglich zu qualifizieren.
Die obigen Behauptungen bedeuten zunächst ganz allgemein, dass es nicht den „einen“, allgemeingültigen Weg für eine erfolgreiche Schule gibt. So darf man davon ausgehen, dass eine finnische Bildungsreform mit großer Wahrscheinlichkeit in Japan scheitern würde. Ebenso riskieren ausländische Impulse in Luxemburg wirkungslos zu verpuffen, wenn sich der luxemburgische Schulkontext gegenüber dem Herkunftsland (z. B. Finnland) zu stark unterscheidet bzw. die Ideen nicht ausreichend an die hiesigen Gegebenheiten angepasst werden.
Ein Begriff, der diesbezüglich in Luxemburg - trotz seiner womöglich großen Bedeutung für nachhaltige Schulqualität - bislang kaum Beachtung findet, ist derjenige der „Situationsspezifik“. Hiermit ist die Gesamtheit aller Einflussfaktoren gemeint, welche eine Einzelschule oder ein Bildungssystem charakterisieren und mitunter bestimmen. Die „Situationsspezifik“ ergibt sich aus einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Standortfaktoren.
Die außerordentliche Wirkkraft der „Situationsspezifik“ wird vor allem am Beispiel der Schülerschaft einer Schule deutlich. So wird es niemanden verwundern, dass das elitäre „Schlossinternat Salem“ am Bodensee, das die Töchter und Söhne der deutschen Oberschicht ausbildet, andere pädagogische Schwerpunkte setzen kann als eine Hauptschule in Berlin/Neukölln, die hauptsächlich von Migrantenkindern aus schwierigen Familienverhältnissen besucht wird.
Gleichermaßen dürfte eine reformpädagogisch orientierte Waldorf- oder Montessorischule in Luxemburg-Stadt auf größeres Interesse stoßen als in einer ländlichen Region Luxemburgs. Der Grund hierfür liegt darin, dass sich in der kosmopolitisch gefärbten Hauptstadt, mit Tausenden von Einwohnern aller Sozial- und Bildungsschichten, eher die für ein solches Projekt nötige „kritische Masse“ an Schülern mobilisieren lässt als in einem ländlichen Raum mit einer weitaus geringeren Bevölkerungsdichte und einer homogeneren Bevölkerungsstruktur.
Die zugegebenermaßen provokativen Gegenüberstellungen von Finnland und Japan, Salem und Berlin/Neukölln sowie Hauptstadt und Provinz sollen verdeutlichen, dass ein erfolgreiches Schulkonzept immer auch in Abhängigkeit zu seiner „Situationsspezifik“ zu sehen ist und sich nicht wahllos auf andere Einzelschulen übertragen lässt.
Aus diesem Grund muss letztlich jede Schule ihre ganz spezifischen Eigenheiten, Probleme, aber auch ihre „Gewinnaussichten“ selbst ergründen. Nur so kann es ihr gelingen, ein pädagogisches Konzept zu entwickeln, das ihr gerecht wird, weil es bewusst versucht, Standortnachteile auszugleichen und Standortvorteile zu nutzen.
Dabei gilt es zu betonen, dass es an sich keine Rahmenbedingungen gibt, welche die Schulqualität in jedem Falle gefährden. Es kommt eher auf den gezielten Umgang mit „gefährlichen“ Faktoren an. Um aber adäquat auf Qualität gefährdende Faktoren einwirken zu können, müssen diese zunächst einmal erkannt sein. Dies wiederum verdeutlicht die Notwendigkeit einer ausführlichen Analyse der „Situationsspezifik“ einer Schule.
Hierbei sollte klar sein, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Situationsspezifik einer Schule, ihrem spezifischen Qualitätsverständnis von Bildung und einem etwaigen Schulentwicklungsprojekt bestehen muss.
- Arbeit zitieren
- Manuel Bissen (Autor:in), 2008, Auf der Suche nach der guten Schule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114994
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