Das Erkenntnisinteresse der Arbeit besteht in Anschluss an die dargelegten Forschungslücken darin, den besonderen Stellenwert von bezahlten Sexdienstleistungen zwischen Männern zu eruieren, die jenseits des normativen Kausalzusammenhangs zwischen geschlechtlicher Identität, sexuellem Begehren und sexueller Praxis stattfinden. Die Suche nach einem transgressiven Potenzial in Bezug auf heterosexuelle Normativität drückt sich unmittelbar in der zu beantwortenden Fragestellung aus: Inwiefern besitzt das Phänomen Gay for Pay das Potenzial, die gesellschaftlichen Wissensbestände zu mann-männlicher Sexualität zu unterwandern? Als ethischer Maßstab wird an diese Arbeit angelegt, schwulen Aktivismus und die aus ihm entstandenen Errungenschaften nicht zu missbilligen. Gleichwohl sollen blinde Flecken in der Evaluation mann-männlicher Sexualität aufgedeckt werden, um einen Beitrag zu der sexuellen Befreiung weiterer Männer zu leisten, die sich nicht unter eine schwule Identität subsumieren lassen.
Die Qualität eines pornografischen Videos lässt sich aus pragmatischer Hinsicht daran bemessen, wie leicht oder gut die Betrachtenden von diesem sexuell stimuliert werden. Anstatt ein solches Lustpotenzial auszuloten, wird in der vorliegenden Masterarbeit ein Anliegen von geschlechterpolitischer Bedeutsamkeit verfolgt.
Mit dem Terminus Gay for Pay werden pornografische Videos mit sexuellen Darstellungen und gleichermaßen sexuelle Begegnungen zwischen Männern ‚in natura‘ bezeichnet, die jeweils einen heterosexuellen Mann unter Zuhilfenahme einer finanziellen Entlohnung involvieren. In der stereotypisierten Vorstellung, die Sexarbeit als ein exklusiv weibliches Tätigkeitsfeld begreift, drückt sich ein limitierter Horizont hinsichtlich der geschlechtlichen Rollenerwartungen im Rahmen käuflicher Sexualität aus. Angesichts des daraus resultierenden Verzerrungseffektes liegen nur wenige Arbeiten vor, die männliche Sexarbeit aus geschlechtertheoretischer Perspektive analysieren. In diesem Sinne stellt das Thema dieser Forschungsarbeit einen Beitrag zur Sichtbarmachung eines unsichtbaren Randbereichs von sexueller Devianz dar.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Diskurs um queerness
2.1 Begriffsgeschichte und -definition
2.2 Queere Heteronormativitätskritik
2.3 Queerfeindlichkeit in gesellschaftlicher Psyche
3 Gesellschaftliche Rahmung von mann-männlicher Sexualität
3.1 Identifikation des Begehrens als homo- oder heterosexuell
3.2 Einflüsse der schwulen Identitätspolitik auf bezahlten Sex
3.3 Sexuelle Skripte zwischen Männern
3.3.1 Heteronormative Penetrationslogik
3.3.2 Nähe zwischen Homosozialität und Homosexualität
3.3.3 ‚Safer Sex‘ als Indikator für sexuelles Risikobewusstsein
4 Methodische Verortung in der Qualitativen Sozialforschung
4.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse
4.2 Filme als sozialwissenschaftliches Erfahrungsmaterial
4.3 (Selbst-)Positionierung innerhalb der Geschlechterforschung
5 Das Phänomen Gay for Pay
5.1 Definition des Genres und seiner Merkmale
5.2 Reflexion des pornografischen Stellenwerts
5.3 Vorbemerkungen zur Selektion des Materials
5.4 Narrative Struktur von BaitBus
5.5 Analyse in Hinblick auf den queerness -Faktor
5.5.1 Konstruktionsmechanismen von heterosexueller Männlichkeit
5.5.2 Schemata der Bewertung von sexuellen Handlungen
5.5.3 Implikationen der Bezahlung
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
Anhang
Eidesstattliche Erklärung
1 Einleitung
Das Schreiben einer Abschlussarbeit über pornografische Darstellungen zwischen Männern verläuft nicht nur entlang einer thematischen Grenze der Normativität, sondern auch entlang einer strukturellen Grenze des sittlichen Empfindens. Zwar ist die ‚Pornografisierung der Gesellschaft‘1 für den akademischen Diskurs in Deutschland kein neuer, aber ein immer noch ‚pikanter‘ Forschungsgegenstand innerhalb der soziologischen Wissensgemeinschaft. Umso gewichtiger erscheint die Legitimation wissenssoziologischer Betrachtungen von pornografischen Medien und ihren gesellschaftlichen Sprengkräften. Die Qualität eines pornografischen Videos lässt sich aus pragmatischer Hinsicht daran bemessen, wie leicht oder gut die Betrachtenden von diesem sexuell stimuliert werden. Anstatt ein solches Lustpotenzial auszuloten, wird in der vorliegenden Masterarbeit ein Anliegen von geschlechterpolitischer Bedeutsamkeit verfolgt.
Mit dem Terminus Gay for Pay werden pornografische Videos mit sexuellen Darstellungen und gleichermaßen sexuelle Begegnungen zwischen Männern ‚in natura‘ bezeichnet, die jeweils einen heterosexuellen Mann unter Zuhilfenahme einer finanziellen Entlohnung involvieren.2 In der stereotypisierten Vorstellung, die Sexarbeit als ein exklusiv weibliches Tätigkeitsfeld begreift, drückt sich ein limitierter Horizont hinsichtlich der geschlechtlichen Rollenerwartungen im Rahmen käuflicher Sexualität aus. Angesichts des daraus resultierenden Verzerrungseffektes liegen nur wenige Arbeiten vor, die männliche Sexarbeit aus geschlechtertheoretischer Perspektive analysieren.3 In diesem Sinne stellt das Thema dieser Forschungsarbeit einen Beitrag zur Sichtbarmachung eines unsichtbaren Randbereichs von sexueller Devianz dar. Die sich hieraus ergebende Problemstellung fußt auf der konzeptionellen Grundannahme, dass heterosexuelle Männlichkeit aufgrund von selbst praktizierten homoerotischen Handlungen in Legitimationsnot gerät und die an ihnen beteiligten Männer ihre Glaubwürdigkeit bezüglich ihrer geschlechtlichen und sexuellen Alltagsidentität riskieren. Sowohl in der pornografischen Fantasie als auch im Rahmen einer sexuellen Dienstleistung berührt das Phänomen Gay for Pay daher Fragen des sozialen Überlebens.
Das Erkenntnisinteresse der Arbeit besteht in Anschluss an die dargelegten Forschungslücken darin, den besonderen Stellenwert von bezahlten Sexdienstleistungen zwischen Männern zu eruieren, die jenseits des normativen Kausalzusammenhangs zwischen g eschlechtlicher Identität, sexuellem Begehren und sexueller Praxis stattfinden. Die Suche nach einem transgressiven Potenzial in Bezug auf heterosexuelle Normativität drückt sich unmittelbar in der zu beantwortenden Fragestellung aus: Inwiefern besitzt das Phänomen Gay for Pay das Potenzial, die gesellschaftlichen Wissensbestände zu mann-männlicher Sexualität zu unterwandern?
Bislang fehlt es zu diesem Thema an Bearbeitungen von Fragestellungen, die sich nicht bloß an einer angenommenen Realität ‚hinter den Filmen‘ abarbeiten. In dieser Arbeit werden die pornografischen Darstellungen als kompensatorisches Mittel für das eigentliche Forschungsinteresse verwendet, da eine unmittelbare Analyse sexueller Handlungen im sozialen Raum hierfür nicht mit wissenschaftlichen Gütekriterien vereinbar gewesen wäre. Der Fokus der Analyse liegt demnach auf Situationen innerhalb der filmischen Narration und nicht auf der Überprüfung eines etwaigen ‚Wahrheitsgehaltes‘. Die vorliegende Forschungsarbeit betrachtet hierzu eine Filmauswahl des Studios BaitBus als ein charakteristisches Fallbeispiel für genrespezifische Vorgänge. Von den gesellschaftlichen Wissensbeständen zu mann-männlicher Sexualität ausgehend sollen die aufgerufenen Aktualisierungen im filmischen Material die Einflussnahmen und Grenzen des normativen Diskurses beleuchten.
Zunächst wird in Kapitel 2 ein theoretischer Ausgangspunkt für die Bearbeitung der dargelegten Forschungsfrage gesetzt. Der Diskurs der Queer Theory dient hierfür als Einstieg in die akademische Erörterung von sexuellen Handlungsweisen und ihrer Devianz. Auf eine Skizzierung der Begriffsgeschichte und -definition von queerness folgen zum Einen das politische Anliegen der queeren Bewegung sowie zum Anderen Erklärungen für die soziale Invalidierung von queerer Existenz mittels feministischer Lektüre von psychoanalytischer Theorie.
In Kapitel 3 werden die Wissensbestände zu sexuellen Beziehungen zwischen Männern in westlichen Gesellschaften als Vorarbeit für die spätere Analyse zusammengetragen. Hierdurch wird der Zusammenhang von sexuellem Handeln eines Individuums mit der sozialen Strukturierung von Geschlecht und Lust verdeutlicht. Die Analyse von Benennungspraktiken, der politischen Dimension von sexueller Identität sowie der sexuellen Skripte zwischen Männern wird diese Interdependenz im Sinne der Forschungsfrage beleuchten.
Eine methodische Verortung der Masterarbeit in der Qualitativen Sozialforschung erfolgt in Kapitel 4. In der Intention der formulierten Fragestellung liegt es, den bislang noch spärlichen Forschungsstand zu der queerness in Kontexten von bezahlter Sexualität zwischen Männern auszubauen. Hierzu wird die Wissenssoziologische Diskursanalyse als Erkenntnismethode angewendet.
Schließlich werden die bisherigen Betrachtungen und Ergebnisse aus den vorangegangenen Kapiteln in Kapitel 5 gebündelt, um dort aus der erarbeiteten Perspektive heraus eine dezidierte Analyse des Phänomens Gay for Pay vorzunehmen. In direkter Bezugnahme auf die Forschungsfrage zielt diese darauf, das queere Potenzial von finanziell entlohnter Sexualität zwischen Männern zu identifizieren. Als ethischer Maßstab wird an diese Arbeit angelegt, schwulen Aktivismus und die aus ihm entstandenen Errungenschaften nicht zu missbilligen. Gleichwohl sollen blinde Flecken in der Evaluation mann-männlicher Sexualität aufgedeckt werden, um einen Beitrag zu der sexuellen Befreiung weiterer Männer zu leisten, die sich nicht unter eine schwule Identität subsumieren lassen.
2 Diskurs um queerness
Sowohl im akademischen als auch im aktivistischen Kontext wird seitens der entsprechenden Akteur_innen4 bis heute um eine Definition von queerness gerungen. Der sprachliche Gebrauch des Wortes queer wandelte sich entlang seiner Begriffsgeschichte seit den 1980er-Jahren bis heute. Diesen Wandel gilt es zugunsten einer Situierung der Forschungsperspektive zunächst nachzuzeichnen, um die Frage nach der queerness von bezahlter Sexualität zwischen Männern mithilfe des wissenschaftlichen Feldes einzugrenzen.
Auf dieser definitorischen Verortung basierend wird sodann erarbeitet, inwiefern aus der Queer Theory eine in Bezug auf Geschlechtlichkeit sensibilisierte Haltung gegenüber gesellschaftlich geprägten Vorannahmen abzuleiten ist. Die politisch und theoretisch formulierte Kritik an Heteronormativität wird als zentraler Dreh- und Angelpunkt für Strategien der queeren Selbstermächtigung herausgearbeitet.
Unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Theorien zur Subjektkonstitution werden die kulturpsychologischen Prägungen von der in die Gesellschaft eingelassenen Queerfeindlichkeit eruiert, um abschließend die Art und Weise der gesellschaftlichen Negativbewertung von queerness zu ergründen. In diesem Zuge werden die Beharrungstendenzen der heteronormativen Ordnung auf die subjektimmanenten Prozesse der Abjektion und der melancholischen Einverleibung zurückgeführt.
2.1 Begriffsgeschichte und -definition
Historisch gesehen bezeichnete das Adjektiv queer etwas ‚Merkwürdiges‘ und wurde dazu benutzt, um anderen Personen negative Charaktereigenschaften wie beispielsweise Verrücktheit oder Wertlosigkeit zuzuschreiben mit dem Ziel das eigene Selbst zu erhöhen.5 Auch wenn in den meisten Wörterbüchern unter queer kein direkter Bezug hergestellt wird, besteht im allgemeinen Sprachgebrauch ein lexikalischer Gegensatz zu dem Adjektiv straight. Der Begriff straight umfasst eine doppelte Bedeutungsweise im Sinne von ‚heterosexuell‘ und ‚geradlinig‘.6 Die dem Gegensatz immanente Distinktion ist somit als ein versprachlichter Ausdruck eines sogenannten othering 7 -Prozesses bezüglich sexueller Identität zu verstehen.
Mit der aufkommenden politischen Aktivität von lesbischen und schwulen Gruppierungen in den 1980er-Jahren, darunter insbesondere zu nennen ACT-UP8, wurde queer zu einer positiv besetzten Selbstbezeichnung, welche Aktivist_innen dazu nutzten, um auf die von ihnen kritisierten Missstände in der politischen Bewältigung der Aids-Krise als Kollektiv zu reagieren.9 Von dieser Entwicklung ausgehend wurde queer oftmals verkürzt als Sammelbezeichnung für geschlechtliche und sexuelle Identitäten abseits von heterosexueller Normativität benutzt, als „umbrella term for a coalition of culturally marginal sexual self-identifications“10. Dieses Verständnis hat sich jedoch in der wissenschaftlichen Diskussion nicht durchgesetzt. Vielmehr erwecke ein solcher universalisierender Gebrauch des Begriffs einen falschen Eindruck von Inklusivität.11 Ein daraus resultierendes Problem besteht darin, dass innere Differenzen und Spannungen zwischen den unterschiedlichen Identitäten unsichtbar gemacht werden. Daher wird im Rahmen dieser Arbeit nicht auf dieses gruppenbildende Begriffsverständnis zurückgegriffen.
Stattdessen wählt diese Arbeit die aktuellen wissenschaftlichen Debatten der Queer Theory als Ausgangspunkt. Gemäß dieser fokussiert queer die „mismatches between sex, gender and desire“12 und steht demzufolge in der Denktradition dekonstruktivistischer Betrachtungen der Kategorie Geschlecht. Daraus abgeleitet richtet sich queere Kritik gegen gesellschaftliche Strukturen, in denen sich normative Implikationen zwischen Geschlechtsidentität, Begehren und sexueller Praxis eingeschrieben haben. In diesem Zusammenhang lässt sich von der Strukturkategorie Geschlecht sprechen, deren Wirkmächtigkeit in zahlreichen Gesellschaften darin liegt, jedem Individuum ein männliches oder weibliches Geschlecht zuzuweisen und diese Identität mit geschlechtsspezifischen Erwartungen zu verknüpfen. Hierzu verweist die US-amerikanische Philosophin Judith Butler unter Rückgriff auf die Sprechakttheorie des britischen Philosophen John Langshaw Austin auf die Performativität von Geschlecht:
Hinter den Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity). Vielmehr wird diese Identität gerade performativ durch diese „Äußerungen“ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind.13
Angelehnt an die Betrachtungen der britischen Sozialanthropologin Mary Douglas können diese performativen Anrufungen als Rituale bezeichnet werden, die die geschlechtliche Ordnung einer Gesellschaft konstituieren und legitimieren: „Die Rituale sind Darstellungen sozialer Beziehungen, und indem sie diesen Beziehungen einen sichtbaren Ausdruck verleihen, ermöglichen sie es den Menschen, ihre eigene Gesellschaft zu erkennen.“14 Die geschlechtliche Subjektwerdung eines Menschen und seine Entwicklung zu einem sexuell eindeutigen Wesen wird folglich von sozialen Praktiken forciert. Diese zielen auf ein positivistisches Selbstverständnis hinsichtlich der eigenen sexuellen Identität, wobei eine Deckungsgleichheit zwischen Fremd- und Selbstzuschreibungen erstrebt wird.
Dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Lee Edelman zufolge besteht jedoch das Potential von queerness darin, ex negativo eine kritische Reflexion gegenüber der eigenen Identität anzustoßen: „queerness can never define an identity; it can only ever disturb one“15. Demnach beschreibt der Begriff queerness antiessentialistische Perspektiven auf sexuelle Identität. Anstatt hiermit eine konkrete Identität zu bezeichnen oder Identitäten zu bündeln, widersprechen queere Ansätze der gesellschaftlichen Dominanz normativer Ideale und beziehen Menschen ein, die aufgrund ihrer sexuellen Praktiken marginalisiert werden, ungeachtet ihrer sexuellen Selbstdefinition.16 Daher wird in der Debatte um eine adäquate Definition die Möglichkeit diskutiert, (to) queer als ein Verb aufzufassen und demgemäß die Dimension des widerständigen Handelns gegen das Ideal des normentsprechenden Verhaltens zu betonen.17 Um den queeren Wert einer sexuellen Handlung feststellen zu können, gilt es zunächst das politische Anliegen der queeren Bewegung zu konkretisieren sowie die Relation zu der kulturpsychologischen Bewertung von queerness nachzuzeichnen.
2.2 Queere Heteronormativitätskritik
Trotz der definitorischen Unschärfe von queerness gilt die Kritik an Heteronormativität als zentrales Moment der Queer Theory. Gemäß der deutschen Soziologin Nina Degele beschreibt der Begriff der Heteronormativität ein „binäres, zweigeschlechtlich und heterosexuell organisiertes und organisierendes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema“18. Insofern zielt dieser Begriff – im Unterschied zu der Klassifikation von Sexualität zwischen Männern und Frauen als Heterosexualität – auf die Ebene der verfestigten Muster, Strukturen und Institutionen in zahlreichen Gesellschaften, die heterosexuelle Praktiken und die heterosexuelle Lebensweise insgesamt privilegieren.19 Auch wenn sexuelle Identitäten erst vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Normen entstehen können, übt die queere Bewegung in erster Linie Kritik an der Allgegenwärtigkeit von Heteronormativität und deren Einbettung in biologistische Argumentationen.
So verfolgt Butler in ihren Arbeiten einen heteronormativitätskritischen Ansatz und stellt fest, dass die „Annahme eines Geschlechts, L.B. von einem regulierenden Apparat der Heterosexualität erzwungen ist“20. Die akademische queer -Kritik nimmt demnach eine machtkritische Haltung zur heteronormativen Gesellschaft ein und intendiert, „gesellschaftliche Normen, Werte, Strukturen und Konzepte, die sich nur auf den ersten Blick als ‚sexualitätsfreie‘ Vorstellungswelten und Institutionen darstellen“21, zu dekonstruieren. Aus dieser Lesart heraus ergibt sich, dass sexuelle Devianzen erst durch die benannten und unbenannten Normen, die expliziten und impliziten Verhaltensregeln einer Gesellschaft als Störung der gesellschaftlichen Ordnung interpretiert werden können. Eine queere Perspektive versucht sich an einer Umkehrung dieses Normativierungsprozesses:
Queere Ansätze nehmen daher Formen von Sexualität in den Blick, die im öffentlichen Diskurs unsichtbar gemacht werden und als Abweichung der heterosexuellen Norm, als das erklärungsbedürftige sexuell Andere stigmatisiert und gebrandmarkt werden.22
In der historischen Betrachtung wird deutlich, dass sich die in der Kritik stehenden Muster der Heteronormativität spätestens mit Beginn der fortschreitenden Verbürgerlichung und Verwissenschaftlichung des Lebens im Laufe des 18. Jahrhunderts herausbildeten und sich bis in das späte 19. Jahrhundert hinein zu einer gesellschaftlichen Struktur verfestigten:
Nun war man endlich überzeugt, dass Frauen und Männer „normalerweise“ erotisch nur auf das andere Geschlecht reagieren. Jede Erweiterung dieses Spektrums oder gar eine stärkere Neigung zum eigenen Geschlecht war krankhaft, eben „abnorm“. Erotische Vielfalt wurde verdächtig. Sie war eine pathologische Wucherung am gesunden, geradegewachsenen Volkskörper, ein Zeichen der Degeneration, eine Verwirrung und Unordnung, ein gefährlicher Atavismus, ein Rückfall in unzivilisierte Verhältnisse, der die Berechenbarkeit des gesellschaftlichen Fortschritts störte.23
Für die gegenwärtige Diskussion lässt sich mit Blick auf die historische Entwicklung schlussfolgern, dass queere Devianz die Verfestigung der heteronormativen Ordnung bedroht. Hinsichtlich ihrer geschlechtlichen Selbsterfahrung stehen Menschen mit mangelnder Passung somit vor der Herausforderung, sich durch Konfrontationen mit den normativen Limitationen und Restriktionen der binärgeschlechtlich organisierten Gesellschaftsordnung behaupten zu müssen.
2.3 Queerfeindlichkeit in gesellschaftlicher Psyche
Eine heteronormative Gesellschaftsordnung soll den in ihr lebenden Individuen eine Konstante liefern, die im Alltag nicht hinterfragt werden muss. Dadurch bietet sie den Mitgliedern einer Gesellschaft eine Orientierung, um das eigene Selbst entlang dieser Normen zu konstituieren. Laut Douglas sei eine Gesellschaftsordnung deswegen so attraktiv, weil diese aus ihrer Struktur heraus Normkonformität belohne und einen Schutz vor Angriffen und Grenzerfahrungen für die kollektive Identität biete.24
Einem psychoanalytischen Verständnis folgend wird der Prozess der Subjektkonstitution erst durch Verwerfungen und Ausschlüsse ermöglicht. Davon ausgehend beschreibt die französische Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva die Exklusion dessen, was das Subjekt in der Herausbildung einer stabilen und angesichts der symbolischen Ordnung begreifbaren Identität bedroht, als Abjektion: „There looms, within abjection, one of those violent, dark revolts of being, directed against a threat that seems to emanate from an exorbitant outside or inside, ejected beyond the scope of the possible, the tolerable, the thinkable.“25
Das Abjekt besitzt also per definitionem in sich deviante Qualitäten, die im Abgleich mit der symbolischen Ordnung vom Ich abgestoßen werden müssen, um die damit einhergehenden Konflikte zu bewältigen: „It lies there, quite close, but it cannot be assimilated. It beseechs, worries, and fascinates desire, which, nevertheless, does not let itself be seduced.“26 Folglich lässt sich Abjektion als ein subjektkonstituierender Mechanismus beschreiben, der der queeren Subjektivität entgegensteht: „It is thus not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules. The in-between, the ambiguous, the composite.“27
Die Gewalt, die von der heteronormativen Ordnung ausgeht, drückt sich in den Motivationen aus, diese Ambivalenzen in sich selbst und in anderen auszulöschen. Mittels der Abjektion von queeren Anteilen werden somit innerpsychische Konflikte besänftigt, um die eigene Subjektivierung zu stabilisieren. Der Unterschied zur Abgrenzung des Selbst gegenüber Objekten bestehe darin, dass das Subjekt gegenüber Abjekten nicht autonom sei und eine vollständige Abgrenzung nachhaltig nicht möglich sei.28 Vielmehr wird die Stabilität des Subjekts stets von abjekten Existenzen bedroht. Es befindet sich „in perpetual danger“29.
Butler begreift Abjektion als einen soziopolitischen Prozess. Die der heteronormativen Ordnung zugrundeliegende Verwerfung von „‚nicht lebbaren‘ und ‚unbewohnbaren‘ Zonen des sozialen Lebens“30 dient der Aberkennung des Subjektstatus von queeren Identitäten. Der soziale Ausschluss von queeren Menschen ist eine Konsequenz eines „konstitutiven Außens“31, welches von der intrapsychischen in die gesellschaftliche Dimension hinein und vice versa wirkt. Zwischen der heteronormativen Ordnung und der aus ihr hervorgebrachten Subjekte drückt sich also eine symbiotische Wechselbeziehung aus, die durch ihre alltäglichen Aufführungen wirksam wird:Ich kann nicht sein, wer ich bin, ohne aus der Sozialität der Normen zu schöpfen, die mir vorangehen und mich übersteigen. In diesem Sinne bin ich von Anfang an außerhalb meiner selbst, und um zu überleben, um in den Bereich des Möglichen zu gelangen, muss ich es sein.32
Auf diese Weise emergiert das Subjekt unter den heteronormativen Implikationen einer Gesellschaft zu einem sexuell eindeutigen Wesen. Dieser Bezugsrahmen fordert das Subjekt zu einer konsequenten Abspaltung von queeren Anteilen auf. Dieser heterosexuellen Matrix zufolge sollen gegengeschlechtliche Anteile in sich selbst verworfen und stattdessen im Gegenüber begehrt werden.33 Demnach ist bereits die Annahme eines Geschlechts mit heterosexueller Normativität und dem kulturellen Verbot von Homosexualität verknüpft: „Das ‚bin‘ in ‚ich bin ein Mann‘ kodiert das Verbot, ‚ich soll keinen anderen Mann lieben‘, so dass die ontologische Behauptung die Kraft eines Verbots trägt.“34 Daraus resultiert, dass die Geschlechtlichkeit der Begehrensobjekte für die eigene Geschlechtsidentität konstitutiv ist. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit darzustellen sein wird, sind es insbesondere sexuelle Handlungen zwischen Männern, die als obszön und bedrohlich für die heteronormative Ordnung gelten.
In ihrem Konzept der Einverleibung von Geschlechternormen bezieht sich Butler auf die psychoanalytische Theorie der melancholischen Verlusterfahrung nach Sigmund Freud. In seinem Aufsatz Trauer und Melancholie konstatiert Freud, dass das melancholische Subjekt im Gegensatz zu einer trauernden Person kein Bewusstsein über den stattgefundenen Objektverlust entwickelt habe.35 Im Zustand der Melancholie wird die Verlusterfahrung also nicht durch einen aktiven Trauerprozess verarbeitet. Die hieraus folgende melancholische Einverleibung des verlorenen Objekts wertet Butler als „eine Weise der Ableugnung des Verlustes“36. Durch die Verweigerung zur Trauer gelingt es dem melancholischen Subjekt nicht, ohne das verinnerlichte Objekt weiterzuleben. Stattdessen wird es von diesem heimgesucht. Ausgehend von der heterosexuellen Matrix forcierten Verwerfung queerer Anteilen wird das Subjekt stets von einer Wiederkehr des verdrängten Begehrens bedroht.
Indem die Verbotslogik der Heteronormativität auf den Verwerfungen einer binärgeschlechtlichen Ordnung gründet, wirkt sie bis in die psychische Struktur eines jeden Individuums hinein. Dadurch erweist sich der intrapsychische Vorgang der Abjektion als Antwort auf die vermeintliche Bedrohung, durch nicht-heterosexuelles Begehren von einer stabilen Geschlechtsidentität abzuweichen und an der eigenen geschlechtlichen Identifizierung zu scheitern. Sowohl die melancholische Inkorporation von Geschlechternormen als auch die Abspaltung von abjekten Bedrohungen schaffen die kulturpsychologische Grundlage für Queerfeindlichkeit. Die Geringschätzung von queeren Existenzen ist damit ein Resultat der Instabilität von heterosexueller Normativität. Aufgrund dieser Zirkelschlüsse steht die heteronormative Gesellschaftsordnung vor dem Problem, sich nur aus sich selbst heraus legitimieren zu können. Durch eine dekonstruktivistische Lesart werden die impliziten Erwartungen an den Zusammenhang zwischen geschlechtlicher und sexueller Identität sichtbar:
Wenn man ein Gender hat, setzt das nicht voraus, dass man bestimmte sexuelle Praktiken ausübt. Ebenso bedeutet die Ausübung bestimmter sexueller Praktiken, zum Beispiel Analverkehr, nicht automatisch, dass man ein bestimmtes Gender ist.37
Um eine antiessentialistische Perspektive auf deviante Praktiken und Handlungsweisen einzunehmen, sollen die normativen Verknüpfungen zwischen Geschlechtsidentität und sexuellem Verhalten in dieser Arbeit offengelegt und mithilfe der Reflexion von sprachlichen Bezeichnungen aufgebrochen werden.
3 Gesellschaftliche Rahmung von mann-männlicher Sexualität
Der Sphäre der Sexualität wohnt neben der individuellen Komponente stets auch eine soziale Dimension inne. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die gesellschaftliche Rahmung von sexuellen Handlungen zwischen Männern aus verschiedenen Blickwinkeln heraus aufzuzeigen. Zunächst wird dazu der historische Weg für die wissenschaftlichen und in den alltäglichen Sprachgebrauch eingegangenen Bezeichnungen des Begehrens wiedergegeben, um sodann deren Reichweite zur Kategorisierung des sexuellen Empfindens auszuloten.
Im Folgenden wird die sexuelle Identität im sozialen Kontext als ein Politikum elaboriert, das mit der Schwulenbewegung in Verbindung steht. Hierzu wird beleuchtet, inwiefern die Mechanismen der Anerkennung von und des Widerstandes gegen strukturelle Heteronormativität die individuelle Konfrontation mit der Gesellschaft prägen. Dies soll ausloten, worin die Chancen und Grenzen von Labels in Bezug auf sexuelle Handlungsfreiheit bestehen.
Daran anknüpfend werden die von den US-amerikanischen Soziologen John Gagnon und William Simon formulierten sexuellen Skripte zwischen Männern anhand von Theorien aus der Männlichkeitsforschung und den Richtlinien zur HIV-Prävention bestimmt. Dies soll dazu beitragen, die Handlungsspielräume von Männern, die miteinander Sex haben, vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von vergeschlechtlichten Inszenierungen und gesellschaftlichen Erwartungen verstehen zu lernen.
3.1 Identifikation des Begehrens als homo- oder heterosexuell
Die Einordnung von sexuellem Verhalten orientiert sich in westlichen Gesellschaften an den hegemonialen Identitätskategorien von Homo- und Heterosexualität. Dass sich die binäre Polarisierung des Begehrens als fundamentales Narrativ durchsetzen konnte, gründet in der Konstruktion der Figur des Homosexuellen im 19. Jahrhundert. So wurde der Begriff ‚Homosexualität‘ im gesellschaftlichen Diskurs des Westens erst Ende des 19. Jahrhunderts verwendet, um sexuelle Aktivitäten zwischen gleichgeschlechtlichen Personen zu beschreiben.38 Der erste Gebrauch des Gegenbegriffs ‚heterosexuell‘ in den Vereinigten Staaten von Amerika lässt sich auf einen Artikel von Dr. James G. Kiernan in einer medizinischen Fachzeitschrift zurückführen, die 1892 erschienen ist.39 Zu diesem Zeitpunkt bezeichnete der Ausdruck ‚Heterosexualität‘ jedoch im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch nicht das andersgeschlechtliche Begehren:
These heterosexuals were associated with a mental condition, „psychical hermaphroditism.“ This syndrome assumed that feelings had a biological sex. Heterosexuals experienced so-called male erotic attraction to females and so-called female erotic attraction to males. … Feeling desire inappropriate, supposedly, for their sex, these heterosexuals were guilty of what we now think of as gender and erotic deviance.40
Erst im historischen Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Begriff Homosexualität entlang der Verwissenschaftlichung des Lebens zu einer Negativfolie für die Konstitution eines heterosexuellen Selbstverständnisses westlicher Gesellschaften. Auf diese Weise zementierte die binäre Polarisierung von Homo- und Heterosexualität die symbolische Ordnung von Zweigeschlechtlichkeit.41 Hierdurch entwickelte sich das monosexuelle42 Paradigma zu einer „Megaregel unserer sexuellen Ordnung“43, wodurch sexuelle Situationen entweder auf eine hetero- oder homosexuelle Identität zurückgeführt werden. Demzufolge gilt Bisexualität in westlichen Kulturen als eine instabile Kategorie, wie die australische Soziologin Raewyn Connell erklärt:
In unserer Kultur gibt es bislang keine positive Kategorie für Bisexuelle, keine ausgeformte, intermediäre Identität, die Männer übernehmen könnten. Bisexualität wird vielmehr als ein Hin und Her zwischen hetero- und homosexuellen Beziehungen empfunden, oder als ein altbewährtes Arrangement, das die beiden Sexualitäten verbindet, indem die eine der anderen untergeordnet wird.44
Der Hintergrund für die identitätsbestimmende Verknüpfung zwischen sexuellem Handeln und seiner Versprachlichung verdeutlicht sich in der zentralen These des französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault aus Der Wille zum Wissen, dem ersten Teil von Sexualität und Wahrheit. Hier konstatiert er, dass sich die westliche Moderne durch „eine Vermehrung der Diskurse über den Sex … in ausführlicher Erörterung und endloser Detailanhäufung“45 auszeichnet. Erst durch diese diskursive Explosion über Sexualität konnten die unterschiedlichen Ausprägungen sexueller Identität und ihre Abweichungen begrifflich gefasst und für die Beschreibung des eigenen Selbst genutzt werden. Foucault diagnostiziert der modernen Gesellschaft einen auf die Subjekte einwirkenden und sie gleichermaßen hervorbringenden „Imperativ …, der fordert, nicht nur die gesetzwidrigen Handlungen zu beichten, sondern aus seinem Begehren, aus seinem gesamten Begehren einen Diskurs zu machen“46. Das damit einhergehende Interesse an einer Einordnung von sexuellen Empfindungen entlang kultureller Normen definiert Foucault als den Willen zum Wissen. Dieser bildet bei Selbst- und Fremdzuschreibungen von sexueller Normativität oder Devianz das wiederkehrende Erkenntnisinteresse für die „ Einkörperung der Perversionen und … Spezifizierung der Individuen “47.
Mit seinem Begriff der scientia sexualis kennzeichnet Foucault die in die alltäglichen Praktiken der westlichen Gesellschaften eingegangene, verwissenschaftlichte Suche nach einem wahren Kern von sexuellen Empfindungen und Bedürfnissen.48 In diesem Sinne lässt sich auch die Pornografie als eine mediale Praktik begreifen, durch die die Erforschung der individuellen Sexualität ermöglicht wird. Aufgrund ihrer kompensatorischen Komponente ist Pornografie an der gesellschaftlichen Diskursivierung von Sexualität beteiligt:
Der Porno sucht in der Regel das Problem des schlechten Sexes zu lösen, des unterdrückten, unechten, unerfüllten Sexes. … Das Wissen sucht also die Lösung des Problems und als solches konstruiert das Lustwissen den Sex.49
Der dem Willen zum Wissen innewohnende Identifizierungswahn erstreckt sich auf zahlreiche Momente des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auch wenn dieser in primärer Hinsicht eine Erklärungsnot für Devianzen produziert, kann queere Subjektivität erst durch die Wirkmächtigkeit eines heteronormativen Vokabulars emergieren: „Die Machtbeziehungen bilden nicht den Überbau, der nur eine hemmende oder aufrechterhaltende Rolle spielt – wo sie eine Rolle spielen, wirken sie unmittelbar hervorbringend.“50 Aus der für die heterosexuelle Validität notwendigen Abspaltung von queerness lässt sich ableiten, dass Sex zwischen Männern auf unterschiedlichen Ebenen von queerem Begehren heimgesucht wird. Hinsichtlich der Kategorisierung von sexuellem Verhalten als vermeintlicher Ausdruck einer dem Subjekt immanenten Orientierung stellen sich daher nach der deutschen Soziologin Kim Ritter folgende Fragen:
Geht es um die sexuellen Fantasien eines Menschen? Sollte gemessen werden, was jemanden sexuell erregt? Oder ist das sexuelle Handeln der wichtige Aspekt? Inwiefern sollten die romantischen Neigungen mit einbezogen werden, die häufig eng mit dem Sexuellen verbunden sind? Und welche Rolle spielt es, wie sich jemand selbst bezeichnet?51
Die Fragen dekonstruieren die kausale Struktur der heteronormativen Logik, die auf die Deckungsgleichheit von sexuellen Fantasien, deren Umsetzung in sexuelle Praktiken und der Selbstbezeichnung eines Individuums abzielt. Sie ermöglichen ferner, die eigene sexuelle Identität von jeweils unterschiedlichen Betrachtungswinkeln ausgehend zu beschreiben. Insofern kann das scheinbare Paradoxon von heterosexuellen Männern, die sexuelle Handlungen mit anderen Männern vollziehen, durch die Bezeichnung der sexuellen Praktiken als ‚Experiment‘, ‚Männerfreundschaft‘, ‚Scherz‘, ‚Ausrutscher‘, ‚Initiationsritual‘ usw. von einem devianten Phänomen in einen heteronormativen Sinnzusammenhang zurückgebunden werden.52 Diese Normalisierung ist eine narrative Strategie für heterosexuelle Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten, die Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Biografie aufrechtzuerhalten. Die Entdramatisierung von gleichgeschlechtlicher Sexualität zwischen Männern spiegelt sich über den alltäglichen Diskurs hinaus ebenso im Vokabular der psychologischen Forschung wider. In den 1950er-Jahren wurden die Motive von heterosexuellen Männern für gleichgeschlechtlichen Sex je nach Kontext mit einer Vielzahl von Begriffen wie beispielsweise ‚deprivational homosexuality‘, ‚facultative homosexuality‘, ‚situational homosexuality‘ oder ‚opportunistic homosexuality‘ bezeichnet.53 Hierdurch offenbart sich nicht nur die Beharrungstendenz einer monosexuellen Etikettierung als entweder homo- oder heterosexuell, sondern abermals die Unzulänglichkeit sprachlicher Bezeichnungen für sexuelle Ambivalenzen:
Wenn wir von meiner Sexualität oder meiner Geschlechtsidentität sprechen, wie wir es tun (und tun müssen), meinen wir also etwas Kompliziertes. Genau genommen ist weder das eine noch das andere ein Besitz, vielmehr sind beide als Modi der Enteignung zu verstehen, als Formen des Daseins für einen Anderen oder sogar kraft eines Anderen.54
Die Anerkennung der sexuellen Identität eines Mannes, der Sex mit anderen Männern hat, ist damit abhängig von der Interpretation eines imaginierten oder konkreten Gegenübers. Insofern ist auch der gesellschaftliche Stellenwert, der dem Element der Bezahlung eines gleichgeschlechtlichen Sexualkontaktes zugesprochen wird, für die Klassifikation von Männern relevant, die sexuelle Handlungen gegen ein Entgelt vereinbaren.
3.2 Einflüsse der schwulen Identitätspolitik auf bezahlten Sex
Der Diskreditierung von schwuler Sexualität geht vielerorts auf der Welt eine lange Unterdrückungs- und Verfolgungsgeschichte voraus. Als Reaktion zielte die deutsche Schwulenbewegung der 1970er-Jahre auf eine politische Anerkennung von gleichgeschlechtlichem Begehren im öffentlichen Diskurs. Hierunter zählte die positive Besetzung des Wortes ‚schwul‘ als Strategie politischen Handelns. Durch den § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (StGB) wurden sexuelle Handlungen zwischen Männern bis in die 1990er-Jahre hinein als Straftat stigmatisiert. Die psychische Gesundheit von Männern mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten werde durch die repressive Gesetzgebung beeinträchtigt, indem sie von Prozessen der Verdrängung des eigenen Begehrens belastet sei.55 Die Schwulenbewegung übte massive Kritik am § 175 StGB und kämpfte für die Anerkennung der homosexuellen Identität als bürgerliche Existenz. Insofern gilt das Selbstbekenntnis zu einer schwulen Identität in einer heteronormativen Gesellschaft bis heute als Politikum.
Im politischen Kontext der in den 1980er-Jahren grassierenden Immunschwächekrankheit Aids kritisierten Aktivisten die gesellschaftliche Stigmatisierung mann-männlicher Sexualität durch eine auf universalisierende Annahmen verkürzte Bildung von Risikogruppen:
They urged that the circuits of HIV transmission should be rethought, not in terms of minoritized and so-called ‚risk groups‘ – gay men primarily, and other populations such as intravenous drug users and prostitutes – but with respect to universalized ‚risk practices‘ like unsafe sex and the sharing of needles.56
Aus den identitätspolitischen Kämpfen der Schwulenbewegung und dem gesellschaftlichen Diskurs um HIV-Risikogruppen resultierte eine Verflechtung von sexuellen Praktiken zwischen Männern mit einer homosexuellen Identität. Männer, für die die (gelegentliche) Auslebung von gleichgeschlechtlicher Sexualität in keinem Widerspruch zu ihrer (hetero-)sexuellen Identität steht, sehen sich durch diese Weichenstellung mit der Frage nach der sexuellen Klassifikation konfrontiert.57 Hierbei setzte sich das gesellschaftliche Stereotyp fest, das einen Mann, der in Ergänzung zu seinem ‚heterosexuellen Leben‘ heimlich Sex mit anderen Männern hatte, zu einem „Sündenbock für die Ansteckung einer ‚unschuldigen‘ und ahnungslosen Bevölkerung mit Aids“58 und damit zu einer gesundheitlichen Bedrohung für die heteronormative Allgemeinbevölkerung machte. Um mehr Männer, die Sex mit Männern haben, mittels der strukturellen Angebote der HIV-Prävention zu erreichen, etablierte sich um 1990 das Kürzel MSM zur Beschreibung der Zielgruppe von men who have sex with men.59 Obwohl der Begriff abermals nicht konkrete Risikopraktiken und -situationen beschreibt, ermöglicht dieser eine nüchterne Beschreibung von Sexualität zwischen Männern, die die sexuelle Praxis von der Frage nach der Identität entkoppelt. Um der Vielzahl an Kontexten der Sexualität zwischen Männern und insbesondere den unterschiedlichen Identitätsentwürfen dieser Männer gerecht zu werden, wird der Terminus MSM ebenfalls in dieser Arbeit verwendet.
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1 Dies ist eine begriffliche Anspielung auf den Titel Pornografisierung von Gesellschaft. Perspektiven aus Theorie, Empirie und Praxis von Martina Schuegraf und Angela Tillmann.
2 Zu dem Genre Gay for Pay liegen nur vereinzelte Aufsätze vor. Hier ist der Fachaufsatz „Gay for Pay. Das Internet und die Ökonomie des homosexuellen Begehrens“ von John Mercer aus der Zeitschrift montage av als signifikanter Beitrag zur Thematik zu nennen.
3 Aktuell ist ein Beitrag zu mann-männlicher Sexarbeit in einem Sammelband erschienen; vgl. Hurschmann, Manuel; Eickhoff, Benedict: „Mann-männliche Sexarbeit – ein Cocktail aus prekärer Männlichkeit und sexueller Devianz“. In: Künkel, Jenny; Schrader, Kathrin (Hg.): Sexarbeit. Feministische Perspektiven, Münster 2019, S. 77-85.
4 In dieser Masterarbeit wird der Gender Gap in Gestalt des Unterstrichs als Ausdrucksmittel für den Anspruch einer gendergerechteren Schreibung verwendet. Der deutsche Sprachwissenschaftler Steffen Herrmann betrachtet den Unterstrich als Möglichkeit der Sichtbarmachung des Unsichtbaren: „Damit ist der Platz markiert, den unsere Sprache nicht zulässt, ein Raum spielerischer und erotisch-lüsterner Geschlechtlichkeit, den es in unserer Geschlechterordnung nicht geben darf.“ (Herrmann, Steffen alias s_he: „Performing the Gap – Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung“. In: arranca! 28, 2003, S. 22.). Ein besonders bemerkenswertes Anknüpfungspotenzial der Verwendung des Unterstrichs in der vorliegenden Arbeit an den Vorschlag von Herrmann besteht in seiner argumentatorischen Herleitung des Gender Gaps. Hier evaluiert Herrmann das Potenzial einer von geschlechtlichen Zwischenräumen ausgehenden, erotischen Irritation und verknüpft diese mit subversiven Darstellungen in der Pornografie, welche auf die Repräsentation queerer Lüste zielen.
5 Vgl. Sullivan, Nikki: A Critical Introduction to Queer Theory, New York 2003, S. V.
6 Vgl. Stevenson, Angus: „straight“. In: Oxford Dictionary of English, 2015 https://www.oxfordreference.com/view/10.1093/acref/9780199571123.001.0001/m_en_gb0818660?rskey=F3QzHu&result=90601.
7 Der Begriff othering bezeichnet eine mit problematischen Zuschreibungen verbundene Differenzierung von sozialen Gruppen, denen man sich nicht zugehörig fühlt, welche das Ziel verfolgt, den Wert des Selbst bzw. der eigenen Gruppe zu erhöhen. Ein Exkurs zu den Typisierungen von ‚Fremdheit‘ würde an dieser Stelle zu weit führen. Für einen umfassenden Überblick zu dieser Thematik verweise ich auf: Vgl. Reuter, Julia: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld 2002.
8 Akronym für „AIDS Coalition to Unleash Power“.
9 Vgl. Turner, William B.: A Genealogy of Queer Theory, Philadelphia 2000, S. 106.
10 Jagose, Annamarie: Queer Theory. An Introduction, New York 1996, S. 1.
11 Vgl. Halperin, David M.: Saint Foucault. Towards a Gay Hagiography, New York 1997, S. 64.
12 Jagose: Queer Theory, S. 3.
13 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main 2014, S. 49. Herv. im Orig.
14 Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1985, S. 169.
15 Edelman, Lee: No Future. Queer Theory and the Death Drive, Durham/London 2004, S. 17.
16 Vgl. Halperin: Saint Foucault, S. 62.
17 Vgl. Sullivan: A Critical Introduction to Queer Theory, S. 50.
18 Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Eine Einführung, Paderborn 2008, S. 89.
19 Vgl. ebd., S. 88f.
20 Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt am Main 1997, S. 36. Herv. im Orig.
21 Moebius, Stephan: Kultur, Bielefeld 2009, S. 170.
22 Bader, Julia: „Queere Pornografisierungsweisen im Film ‚Itty Bitty Titty Commitee‘“. In: Schuegraf, Martina; Tillmann, Angela (Hg.): Pornografisierung von Gesellschaft. Perspektiven aus Theorie, Empirie und Praxis, Köln 2017, S. 234.
23 Haeberle, Erwin J.: „Bisexualitäten – Geschichte und Dimensionen eines modernen wissenschaftlichen Problems“. In: Ders.; Gindorf, Rolf (Hg.): Bisexualitäten. Ideologie und Praxis des Sexualkontaktes mit beiden Geschlechtern, Stuttgart 1994, S. 2.
24 Vgl. Douglas: Reinheit und Gefährdung, S. 151.
25 Kristeva, Julia: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982, S. 1.
26 Ebd.
27 Ebd., S. 4.
28 Vgl. ebd., S. 1.
29 Kristeva: Powers of Horror, S. 9.
30 Butler: Körper von Gewicht, S. 23.
31 Ebd.
32 Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt am Main 2012, S. 58.
33 Vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 45.
34 Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 320.
35 Vgl. Freud, Sigmund: „Trauer und Melancholie“ (1917). In: Freud, Anna et al. (Hg): Gesammelte Werke. Bd X – Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt am Main 1999, S. 431.
36 Butler, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main 2001, S. 127.
37 Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 93.
38 Vgl. Sedgwick, Eve Kosofsky: Epistemology of the Closet, London 1994, S. 2.
39 Vgl. Katz, Jonathan Ned: The Invention of Heterosexuality, Chicago/London 2007, S. 19.
40 Ebd., S. 20. Herv. im Orig.
41 Vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977, S. 47.
42 Als monosexuell werden Personen bezeichnet, die sexuelle Attraktion ausschließlich gleich- oder gegengeschlechtlich empfinden. Zu einer ausführlichen Darstellung der strukturellen Unsichtbarkeit bisexueller Menschen in einer monosexuellen Gesellschaft verweise ich auf: Vgl. Ritter, Kim: Jenseits der Monosexualität. Selbstetikettierung und Anerkennungskonflikte bisexueller Menschen, Gießen 2020.
43 Schmidt, Gunter: Das neue Der Die Das. Über die Modernisierung des Sexuellen, Gießen 2014, S. 122.
44 Connell, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 2015, S. 215.
45 Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 24.
46 Ebd., S. 26.
47 Ebd., S. 47. Herv. im Orig.
48 Vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 60.
49 Catuz, Patrick: Feminismus fickt! Perspektiven feministischer Pornographie, Wien 2013, S. 8.
50 Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 94.
51 Ritter: Jenseits der Monosexualität, S. 14.
52 Vgl. Ward, Jane: Nicht schwul. Die homosexuelle Zutat zur Erschaffung des ‚normalen‘ Mannes, Hamburg 2018, S. 49.
53 Vgl. ebd., S. 15.
54 Butler: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, S. 38. Herv. im Orig.
55 Vgl. Simon, William; Gagnon, John H.: Sexuelle Außenseiter. Kollektive Formen sexueller Abweichungen, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 36.
56 Jagose: Queer Theory, S. 20.
57 Vgl. Ward: Nicht schwul, S. 78.
58 Garber, Marjorie: Die Vielfalt des Begehrens. Bisexualität von der Antike bis heute, Frankfurt am Main 2000, S. 120.
59 Vgl. Young, Rebecca M.; Meyer, Ilan H.: „The Trouble With ‚MSM‘ and ‚WSW‘: Erasure of the Sexual-Minority Person in Public Health Discourse”. In: American Journal of Public Health 95(7), 2005, S. 1144.
- Quote paper
- Liam Bennhoff (Author), 2020, Gay for Pay - ein Beitrag zur Queerness? Wissenssoziologische Betrachtungen von mann-männlicher Pornografie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1148668
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