Ob wir von der Begegnung mit einer Person erzählen, ob wir im Hier-und-Jetzt mit Menschen interagieren oder ob wir nach einer Rechtfertigung für unser eigenes (Nicht-)Handeln suchen – oftmals greifen wir, ohne es zu merken, in den unterschiedlichsten Situationen des Alltags ganz selbstverständlich auf die geschlechtliche Kategorie zurück. Auf offener Straße mögen wir den Namen und weitere möglicherweise identitätsstiftende Merkmale einer unbekannten Person nicht kennen, über das Geschlecht erlauben wir uns hingegen durchaus ein Urteil zu fällen und stellen diese Erkenntnis in einen logischen Zusammenhang mit den Erwartungen, die wir an andere und vor allem an uns selbst stellen.
Es scheint also für viele Menschen für eine gelingende Kommunikation bedeutsam zu sein, das Gegenüber als "Frau" oder "Mann" klassifizieren zu können und sich selbst geschlechtlich zu verorten. Doch wieso ist die Frage nach dem Geschlecht eigentlich – mal durchaus explizit, mal eher implizit – so omnipräsent und was bedeutet das für unsere Autonomie?
. . . „Ich bin gestern einem sehr gutaussehendem Mann begegnet.“ „Wir haben uns verlaufen. Lass uns mal die Frau dort nach dem Weg fragen.“ „Frag da lieber mal einen kompetenten jungen Mann, der das weiß.“ . . .
Ob wir von der Begegnung mit einer Person erzählen, ob wir im Hier-und-Jetzt mit Menschen interagieren oder ob wir nach einer Rechtfertigung für unser eigenes (Nicht-)Handeln suchen – oftmals greifen wir, ohne es zu merken, in den unterschiedlichsten Situationen des Alltags ganz selbstverständlich auf die geschlechtliche Kategorie zurück. Auf offener Straße mögen wir den Namen und weitere möglicherweise identitätsstiftende Merkmale einer unbekannten Person nicht kennen, über das Geschlecht erlauben wir uns hingegen durchaus ein Urteil zu fällen und stellen diese Erkenntnis in einen logischen Zusammenhang mit den Erwartungen, die wir an andere und vor allem an uns selbst stellen.
Es scheint also für viele Menschen für eine gelingende Kommunikation bedeutsam zu sein, das Gegenüber als ‚Frau’ oder ‚Mann’ klassifizieren zu können und sich selbst geschlechtlich zu verorten. Doch wieso ist die Frage nach dem Geschlecht eigentlich – mal durchaus explizit, mal eher implizit – so omnipräsent und was bedeutet das für unsere Autonomie?
Bereits bevor ein Baby überhaupt das Licht der Welt erblickt, wird es anhand von medizinischen Kriterien gemäß wissenschaftlicher Standards zu einem Geschlecht zugewiesen. Sobald diese Praxis aus feministischer Perspektive als eine soziale Konstruktion – Stichwort: assigned at birth – benannt wird, ertönt der große Aufschrei derer, denen die Dekonstruktion fremd oder hinsichtlich ihres eigenen privilegierten Status schlichtweg unbequem ist. Die politischen Forderungen von intersexuellen und transidenten Menschen nach Anerkennung ihres Anspruchs auf geschlechtliche Selbstdefinitionen sind für die selbsternannten Experten [!] in der Geschlechterfrage doch nur gefürchtete Quälgeister, die sie nicht gerufen haben und denen sie daher nicht zuhören wollen. Selbstverständlich sind auch Frauen (Expertinnen) fleißig daran beteiligt, aber ein gewisser Zynismus verbietet mir eine gendergerechte Sprache in diesem Satz. Selbst mit einem Geschlecht ‚ausgestattet’, zieht der gemeine Mensch sodann im alltagsweltlichen Umgang allerdings eher weniger wissenschaftlich begründete Kennzeichen heran, um auf das Geschlecht einer anderen Person zu schließen. Klarer Fall von Selbstbetrug!
Die beiden Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann beschäftigen sich in ihrem Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit mit ebendiesen Konstruktionen der Alltagswelt. Sie meinen damit eine Wirklichkeit ‚par excellence’, dessen vorwissenschaftliche Grundstrukturen auch der Soziologe Alfred Schütz, auf den die beiden zurückgreifen, für ein wesentliches Charakteristikum erachtet.
„Mit meinen Worten schaff’ ich Fesseln, härter als Metall.“ (aus: ASP – Denn ich bin der Meister)
Die Begriffe ‚Frau’ und ‚Mann’ lassen sich als sprachliche Objektivationen des Alltags auffassen, aus denen nach Berger/Luckmann die intersubjektive Alltagswelt entsteht. Hinter dem Begriff der Objektivation verbirgt sich der zumeist über Sprache verlaufende Prozess, der subjektive Empfindungen auch über die entsprechende Situation hinaus objektiv beschreib- und (mit)teilbar werden lässt. Sprache ist dem obigen Zitat folgend ein machtvolles Instrument. Angelehnt an den biblischen Ausspruch „Im Anfang war das Wort“ lässt sich zudem die Tragweite der Ausführungen des Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure hinsichtlich sprachlicher Benennungen begreifen: Sprache ist ein Zeichensystem, in welchem die Signifikanten und Signifikate grundsätzlich arbiträr miteinander verknüpft sind und erst durch den sukzessiv konventionellen Gebrauch miteinander zu einer Bedeutung verschmolzen werden. Es wird deutlich, dass wir ‚Frauen’ und ‚Männer’ überhaupt nur deswegen zu erkennen glauben, weil wir mit Begriffen aus binärgeschlechtlichen Strukturen denken und diese benutzen. Doch welche konventionellen Normen werden eigentlich durch die binäre Geschlechterordnung in der Alltagswelt stabilisiert und institutionalisiert?
„Bis du heiratest, ist alles wieder gut.“
Dieser Satz, den Eltern zu ihren traurigen oder verletzten Kindern zu sagen pflegen, ist höchst voraussetzungsvoll und gerade kraft des unbedachten Aussprechens wirksam. Immer noch gilt die Ehe, die hierbei als eine erstrebenswerte und heilsversprechende Zukunftsperspektive proklamiert wird, als eine heteronormative Institution. Der populäre Diskurs um die Homo-Ehe statt um eine Öffnung der Ehe für homosexuelle Menschen illustriert die alltägliche Unausweichlichkeit von heteronormativen Gesellschaftsstrukturen, die von der ‚gut gemeinten’ Aufmunterung im zitierten Satz perpetuiert werden.
In diesem Abschnitt soll es nicht darum gehen, Heterosexualität per se zu diskreditieren, sondern Kritik zu üben an den über die Sexualpraxis hinausgehenden institutionalisierten Strukturen der Wahrnehmung, des Handelns und des Denkens. Die Soziologin Nina Degele führt aus, dass diese nicht nur heteronormative Vorstellungen des ‚guten Lebens’ produzieren. Hinter dem Postulat, dass ‚Männer’ und ‚Frauen’ in ihrem sexuellen Begehren aufeinander bezogen sein sollen, verbirgt sich zugleich die Annahme, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Diese dürfen und sollen im Ehebett zusammenkommen, müssen aber beispielsweise in öffentlichen Toiletten strikt voneinander getrennt werden. Das gesellschaftliche Leben ist durch und durch von der Regulierung heterosexueller Triebe bestimmt. Homosexuelles Begehren findet in aus heteronormativer Perspektive als asexuell verstandenen Räumen – um bei dem Beispiel zu bleiben: in Damen- und Herrentoiletten – grundsätzlich keinen Platz und wird bereits durch die binäre Einordnung der Menschen in eine der beiden Toilettentüren ausgeblendet. Das soll natürlich nicht heißen, dass sich nicht tatsächlich zwei ‚Männer’ oder zwei ‚Frauen’ in einer ganz konventionellen Toilette begehren und sich einander lustvoll hingeben, aber diese Möglichkeit wird eben nicht in der binärgeschlechtlichen Struktur mitgedacht. Die soziale Konstruktion von Geschlecht findet vor dem Hintergrund von Ausschlussmechanismen statt, die die queerfeministische Philosophin Judith Butler in ihrem Buch Körper von Gewicht unter dem Begriff der heterosexuellen Matrix zusammenfasst.
Unsere Gesellschaftsordnung (und damit auch Geschlechterordnung) ist, wie Berger/Luckmann sagen, nicht auf biologische Gegebenheiten, sondern auf menschliche Handlungen in der Auseinandersetzung mit der Außenwelt zurückzuführen. Die Gesellschaft (wie auch das Geschlecht) als objektive Wirklichkeit wird durch den Menschen produziert. Der Ansatz des Doing Gender besagt in gleicher Weise, dass Geschlecht in gesellschaftlichen Interaktionen hervorgebracht wird. Handlungen und Äußerungen von Einzelpersonen werden auf die ihnen von anderen zugeschriebene Geschlechtszugehörigkeit und damit leider zumeist auf vermeintlich biologische Gegebenheiten zurückgeführt. Die sogenannte ‚Natur’ musste historisch und muss bis heute für die hanebüchensten Argumentationen geschlechtlicher Unterschiede herhalten. Schütz steht ebenfalls auf dem Standpunkt, dass Natur – der Bereich der Außerweltdinge – grundsätzlich intersubjektiv hergestellt und damit sozial konstruiert wird.
Die Performativität von Geschlecht, dass Geschlecht also durch Tun hervorgebracht wird, ist ein zentraler und stark umstrittener Ausgangspunkt im Denken von Butler. Allerdings haben diejenigen, die ihre Kritik formulieren, vermutlich nicht verstanden, dass diese These nicht bedeutet, dass ich jeden Tag nach Lust und Laune in mein Geschlecht wie in meine Kleidung hineinschlüpfen und es wechseln kann. Vielmehr wird auch eine zeitliche Kontinuität, von der Berger/Luckmann im Kontext von typisierten Handlungen sprechen, von der Gesellschaft eingefordert. Die sprachlichen Bezeichnungen ‚Mann’ und Frau’ vermitteln also eine identitätsstiftende Bedeutung, die jedoch in Zusammenhang mit vorausgegangenen Benennungen zu denken ist. Ich stelle mich deshalb eindeutig gegen die einmalig aufgestellte Behauptung von Berger/Luckmann, dass Geschlecht ein präsozialer Unterschied sei. Eltern sollten hingegen etwas besonnener mit ihren Formulierungen umgehen und zum Trösten eventuell auf Sätze zugreifen, die weniger Macht auf die geschlechtliche bzw. sexuelle Entwicklung ihres Kindes ausüben.
„Wann ist ein Mann ein Mann?“ (aus: Herbert Grönemeyer – Männer)
Der Druck, den normativen Anforderungen an ein Geschlecht zu entsprechen, ist groß. Wenn ein Mann seine Männlichkeit unter Beweis stellen soll, ist damit nicht nur ein Beweis seiner Geschlechtsidentität, sondern in der Regel auch seines heterosexuellen Begehrens gemeint. Beides steht jedoch in einem mehr oder weniger direkten Zusammenhang: Ein heterosexueller Mann soll ja nicht die Züge einer Frau aufweisen, die er selbst begehren würde – eine tautologische Doktrin, die die Menschen spaltet und sich auf perfide Weise aus sich selbst heraus stabilisiert.
Daran anknüpfend bezieht sich Butler in Psyche der Macht auf den Begriff der Melancholie, wie ihn Sigmund Freud geprägt hat. Im psychoanalytischen Sinne wird mit der Melancholie der Zustand nach einer Inkorporation eines nicht-betrauerten Verlustes erfasst. Dass heterosexuelle cis-Männer mit allen Mitteln versuchen, nicht als homosexuell betrachtet zu werden, zeigt also wie stark dieser mögliche Lebensentwurf verdrängt werden muss, um die männliche Identität zu schützen. Verkürzt wiedergegeben kommt Männlichkeit nach Butler dadurch zustande, dass ein Mann zu genau dem Mann wird, den er nicht begehren darf. Dabei reicht das Image eines heterosexuellen Mannes als Vorbild bis in die Szene der homosexuellen Männer hinein: Unter dem Gütesiegel ‚heterolike’ wird auf schwulen Online-Dating-Plattformen seit einiger Zeit der Wunsch verhandelt, homosexuelle Anteile in sich und in anderen nicht an die Oberfläche des Wahrnehmbaren dringen zu lassen. Wo schwul drin ist, soll nicht noch schwul draufstehen.
Auf die Frage von Grönemeyer lässt sich antworten, dass ein Mann in den Logiken einer binärgeschlechtlichen, heteronormativen Ordnung dann ein Mann ist, wenn er verleugnet, jemals Gefühle der Liebe für einen anderen Mann empfunden zu haben. In Kombination mit schwulenfeindlichen Sprüchen und anderen Demonstrationen seiner Macht kann dieser Mann zu einem echten Macho avancieren, um die ständige Bedrohung von einer Grenzüberschreitung zu weiblichem Verhalten abzuwenden.
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- Quote paper
- Liam Bennhoff (Author), 2016, Die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und dessen Implikationen für die menschliche Freiheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1148660
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