Das Ziel dieser Hausarbeit war die Planung einer neuropsychologischen Untersuchung mittels drei ausgewählter Verfahren, WMS-IV (Wechsler Memory Scale), I-S-T 2000 R (Intelligenz-Struktur-Test 2000 R) und SIRS-2 (Structured Interview of Reported Symptoms). Diese sollen feststellen, welches Leistungsvermögen dem 43-Jährigen nach seinem erlittenen Schädel-Hirn-Trauma (SHT) verblieben ist und in welchem Umfang er noch Tätigkeiten geistiger Art durchführen kann. Da sich die Fragestellung auf die kognitive Leistungsfähigkeit des Probanden bezieht, wurden zunächst diejenigen (Teil-)Funktionen herausgearbeitet, die in diesem Bereich nach SHT am häufigsten beeinträchtigt sind.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Relevanz
1.2 Zielsetzung der Arbeit
1.3 Aufbau und Struktur der Arbeit
2 Theoretische Grundlagen
2.1 Arbeitsfähigkeit und Erwerbsfähigkeit
2.2 Kognitive Beeinträchtigungen nach einer Kopfverletzung
2.2.1 Definition und Schweregradeinteilung der Schädel-Hirn-Verletzung
2.2.2 Epidemiologie
2.2.3 Kognitive Leistungsbeeinträchtigungen als Folge des SHT
3 Auswahl von relevanten Merkmalen
4 Untersuchungsplanung
4.1 Grobplanung
4.2 Auswahl diagnostischer Verfahren
4.2.1 WMS-IV – Wechsler Memory Scale – Fourth Edition
4.2.2 I-S-T 2000 R - Intelligenz-Struktur-Test 2000 R.
4.2.3 SIRS-2 - Structured Interview of Reportes Symptom.
4.3 Feinplanung
5 Diskussion
6 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Internetquellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ablauf des diagnostischen Prozesses
Abbildung 2: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF
Abbildung 3: Zuordnung von Verfahren zu verschiedenen Fragestellungen
Abbildung 4: Teststruktur der WMS-IV: Erwachsene I
Abbildung 5: Informationsquellen in der neuropsychologischen Diagnostik
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Abgeleitete Hypothesen und psychologische Fragen
Tabelle 2: Einteilung des Schweregrades eines SHT nach GCS
Tabelle 3: SHT Schweregrade und ihre Kennzeichen
Tabelle 4: Häufig beeinträchtigte kognitive Funktionen nach einem SHT
Tabelle 5: Legende zur Verhaltensgleichung
Tabelle 6: Merkmale für die Begutachtung
Tabelle 7: Beschreibung der Untertets des WMS-IV
Tabelle 8: Module und Aufgabengruppen des I-S-T 2000 R
1 Einleitung
1.1 Relevanz
In der Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nation für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, welche 1948 verkündet wurde, steht unter Artikel 22, dass jedes Mitglied der Gesellschaft, das Recht auf soziale Sicherheit hat.1 In diesem Zusammenhang meint soziale Sicherheit den Schutz von Individuen vor wirtschaftlichen bzw. sozialem Statusverlust. Das Sozialversicherungsrecht enthält dabei die vom Gesetz vorgeschriebenen Kranken-, Pflege-, Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung.2 Den Schutz vor wirtschaftlichem bzw. sozialem Statusverlust gewährleistet die BRD ihren Bürgern durch ein soziales Sicherungssystem, welches auf drei Säulen aufgebaut ist.3 Die aktuelle Gliederung der drei Säulen umfasst die Begriffe Vorsorge, Entschädigung und soziale Hilfe und Förderung.4 Vorsorge steht dabei im Wesentlichen für die Sozialversicherungen. Die soziale Entschädigung beteiligt sich z.B. beim Impfschadensrecht oder das Bundesversorgungsgesetz.5 Bei der sozialen Hilfe und Förderung sollen Leistungsschwächen und Belastungen des Individuums ausgeglichen werden, z.B. durch BAföG oder SGB II und III.6 Wenn eine Person die Inanspruchnahme einer Leistung aus diesem Sicherungssystem beantragt, z.B. Pension oder Entschädigung, so müssen die Entscheidungsträger der entsprechenden Einrichtungen darüber entscheiden, ob ihr diese zustehen oder nicht.7
Aktuell hat ein Arbeitnehmer einen Antrag auf Überprüfung der Dienstfähigkeit gestellt, um von einer vorzeitigen Pensionierung Gebrauch zu machen. Der Fall wird nun vor dem Arbeits- und Sozialgericht verhandelt, daraus schließt sich, dass der Antrag selbst abgelehnt wurde. Als Grund für die Pensionierung aufgrund von Dienstunfähigkeit gibt der Arbeitnehmer kognitive Beeinträchtigungen nach einem Unfall mit Kopfverletzung an. Eine vorzeitige Pensionierung aufgrund von Dienstunfähigkeit ist laut BMI möglich, wenn eine physische oder psychische Erkrankung vorliegt, die sich die Beamtin oder der Beamte während der Ausübung des Dienstes ohne grobes Verschulden zugezogen hat.8
Damit das Gericht die Dienstunfähigkeit des Beamten überprüfen kann, wurde eine Gutachterin bestellt. Diese soll die kognitive Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers mittels geeigneter Untersuchungsverfahren beurteilen. Welche diagnostischen Verfahren dabei konkret in Frage kommen und wie diese sinnvoll eingesetzt werden können, wird in vorliegender Arbeit geklärt.
1.2 Zielsetzung der Arbeit
Ziel der Arbeit ist die Planung einer neuropsychologischen Untersuchung. Diese soll feststellen, welches Leistungsvermögen dem Arbeitnehmer nach seinem Unfall verblieben ist und in welchem Umfang er noch Tätigkeiten geistiger Art durchführen kann. Die bei der Untersuchung festgestellten Ergebnisse sollen die Basis für ein Gutachten bilden, das dem Auftraggeber als Entscheidungshilfe über eine Gewährung der beantragten Erwerbsminderungsrente dient.
1.3 Aufbau und Struktur der Arbeit
Die Arbeit umfasst insgesamt sechs Kapitel. Nach der Einleitung werden im zweiten Kapitel zunächst die theoretischen Grundlagen für diese Hausarbeit vermittelt. Dabei werden die Begrifflichkeiten Arbeitsfähigkeit und kognitive Beeinträchtigungen nach einer Kopfverletzung näher erläutert. Darauf aufbauend werden im dritten Kapitel relevante Merkmale festgestellt, die der Auswahl von Variablen dienen. Im vierten Kapitel wird die Untersuchungsplanung dargelegt. Hierbei wird zunächst die Grobplanung beschrieben. Anschließend werden drei spezifische diagnostische Verfahren vorgestellt. Darauf aufbauend erfolgt die Feinplanung. In der Diskussion werden die Vor- und Nachteile der gewählten Verfahren abgeschätzt und mögliche Hindernisse bei der Durchführung besprochen. Im abschließenden Fazit wird betrachtet, wie die erhaltenen Ergebnisse genutzt werden könnten.
2 Theoretische Grundlagen
Wie bereits in der Einleitung dargestellt, kommen die Anforderungen für neuropsychologische Gutachten vorrangig von den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland. Allerdings aus unterschiedlichen Rechtsgebieten, diese könnten die Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsminderung, Invalidität oder Haftungsschäden betreffen. Durch die unterschiedlichen Rechtsgebiete bestehen immense Unterschiede in den Beurteilungskriterien. Daher ist es unabdingbar sich einen Überblick über das Rechtsgebiet zu verschaffen, für die Bewertung der Schädigungsfolgen nach einem Schädel-Hirn-Trauma (SHT). Auf diesem wird das Sachverständigengutachten beantragt. Ebenso muss geklärt werden, welche Gutachterfragen in diesem Zusammenhang zu beantworten sind.9
Der diagnostische Prozess ist eine Abfolge von Schritten zur Generierung von diagnostisch relevanten Daten, die später aufgearbeitet werden, um eine gegebene Fragestellung zu beantworten. Im Anschluss wird dann auch eine Handlung daraus abgeleitet.10 Das psychologische Diagnostizieren besteht demnach aus mehreren Teilschritten, die in der Abbildung 1 sehr vereinfacht dargestellt wurden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Ablauf des diagnostischen Prozesses
(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rentzsch & Schütz, 2009, S. 36)
Nun werden aus der Fragestellung Hypothesen abgeleitet. Um im Anschluss relevante Erhebungsverfahren eingrenzen zu können, müssen die in den Hypothesen genannten Konstrukte zunächst operationalisiert werden.11
Die Fragestellung im Rahmen dieser Hausarbeit lautet: „Kann dem Antrag des Arbeitnehmers auf vorzeitige Pensionierung stattgegeben werden?“. Das Arbeitsgericht hat als weitere Informationen mitangegeben, dass der Arbeitnehmer 43 Jahre alt ist und in Folge eines Unfalls mit Kopfverletzung kognitive Beeinträchtigung hat. Aus diesen Angaben ergeben sich die in Tabelle 1 dargestellten Hypothesen und psychologischen Fragen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Abgeleitete Hypothesen und psychologische Fragen
(Quelle: Eigene Darstellung)
Aus dieser Tabelle geht hervor, dass die Konstrukte „Arbeitsfähigkeit“ und „kognitive Beeinträchtigungen“ zunächst operationalisiert werden müssen. In den zwei nachfolgenden Unterkapiteln werden diese Konstrukte anhand wissenschaftlicher Literatur erörtert. Abschließend erfolgt eine Betrachtung der relevanten Merkmale, die aus der Operationalisierung hervorgehen.
2.1 Arbeitsfähigkeit und Erwerbsfähigkeit
Der Finne Ilmarinen hat das Konzept der Arbeitsfähigkeit ursprünglich entworfen. Mittlerweile ist das Konzept nicht mehr nur in der Arbeitsmedizin vertreten, sondern ebenso in der Organisationspsychologie. Für das Konstrukt Arbeitsfähigkeit ergeben sich viele verschiedene Definitionen.12 Nach Ilmarinen und Tempel ist unter dem Konstrukt Arbeitsfähigkeit das „Potenzial eines Menschen […] eine gegebene Aufgabe zu einem gegebenen Zeitpunkt zu bewältigen“ zu verstehen.13 Somit kann Arbeitsfähigkeit nicht einfach als das Gegenteil von Arbeitsunfähigkeit betrachtet werden.14 Ilmarinen und Tempel geben weiterhin an, dass sich die funktionellen Kapazitäten eines Individuums im Lauf der Zeit verändern. Ebenso wie die Anforderungen der Arbeit selbst. Deswegen muss in regelmäßigen Abständen ein Abgleich der vorhandenen Ressourcen eines Arbeitnehmers mit den Ansprüchen an die aktuelle Tätigkeit erfolgen.15
Nach Stecker und Kionke wurden die beiden Konstrukte Arbeitsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit ursprünglich synonym verwendet. Das kommt daher, dass in der deutschen Übersetzung des Wortes „Work Ability“ häufig von Arbeits(bewältigungs)fähigkeit gesprochen wird. Die Arbeitsfähigkeit befasst sich nach den Beiden jedoch mit der Person und ihren Fähigkeiten. Die Beschäftigungsfähigkeit wiederum beschäftigt sich ausschließlich mit dem Arbeitsmarkt und den Anforderungen dessen.16 Nach Ihnen werden die oben genannten zwei Komponenten der Arbeitsfähigkeit wie folgt definiert: „Arbeitsfähigkeit ist gegeben, wenn eine Balance zwischen den Arbeitsanforderungen (kognitiv, physisch, affektiv) und den Arbeitsressourcen (Gesundheit, Kompetenz, Werte sowie – in unserer Auslegung – auch Arbeit) besteht“.17
Treier unterscheidet außerdem noch die Leistungsfähigkeit von der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit. Treier gibt an, dass die Leistungsfähigkeit losgelöst von der Arbeit zu betrachten ist. Andererseits wird die Leistungsfähigkeit aber gleichermaßen als Grundvoraussetzung für die Arbeitsfähigkeit angesehen. Für Treier ist die Arbeitsfähigkeit deswegen auch die relative Leistungsfähigkeit. Die Leistungsfähigkeit nach Treier ist ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal wie die Intelligenz.18
Da es in der Aufgabenstellung um die vorzeitige Pensionierung geht, ist davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer ein Beamter ist. Aus diesem Grund wird nun noch näher auf den Begriff der Erwerbsfähigkeit eingegangen. Die Arbeitsfähigkeit fokussiert den derzeitigen Gesundheitszustand, die Erwerbsfähigkeit kümmert sich aber auch um die voraussichtliche Entwicklung von Krankheit und/oder Behinderung innerhalb von sechs Monaten nach der Rehabilitation.19 In der gesetzlichen Rentenversicherung wird die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit als Erwerbsminderung definiert. Generell kann zwischen einer teilweisen und einer vollen Erwerbsminderung unterschieden werden. Kann man z.B. aus gesundheitlichen Gründen auf nicht absehbarer Zeit zwar drei Stunden, aber nicht mehr als sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein, wird in diesem Fall eine teilweise (Halbe) Erwerbs- minderungsrente gezahlt.20
Die Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben umfasst einen quantitativen und einen qualitativen Anteil. Das qualitative Leistungsvermögen bezieht sich auf die noch vorhandenen Ressourcen hinsichtlich der zumutbaren Arbeitsschwere, Arbeitshaltung und Arbeitsorganisation sowie die Ressourcen, welche krankheits- oder behinderungsbedingt nicht mehr bestehen.21 Das quantitative Leistungsvermögen wiederum meint den zeitlichen Umfang, in dem eine Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung des qualitativen Leistungsvermögens arbeitstäglich verrichtet werden kann. Dies ist vor allem das wichtigere Entscheidungskriterium für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung.22 Ob jemand erwerbsgemindert ist oder nicht, entscheidet das Gericht und nicht der Gutachter. Der Gutachter beurteilt die Leistungsfähigkeit.23 Jedoch gibt es dafür keine eindeutigen Kriterien.24 Eine nützliche Unterstützung kann aber die ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) sein.25 Dies ist ein Ordnungssystem, welches die WHO im Jahre 2001 in Ergänzung zur ICD-10 entwickelt hat.26 Der Unterschied ist allerdings, dass die ICF keine Krankheiten oder Gesundheitsprobleme beurteilt. Hier geht es um die Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit eines Menschen in allen Lebensbereichen. Die WHO hat für die ICF drei Betrachtungsebenen definiert (siehe dazu Abbildung 2):27
- Ebene der Körperfunktionen und Körperstrukturen (Körperebene): Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen. Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. Defizite dieser Komponenten werden als Schädigungen bezeichnet.
- Ebene der Aktivitäten (Personale Ebene): Hier geht es um die Durchführung einer Aufgabe bzw. Handlung einer Person
- Ebene der Teilhabe (Soziale Ebene): meint das Einbezogensein eines Menschen in eine bestimmte Lebenssituation, z. B. in das Erwerbs- oder Familienleben.
Die Defizite dieser beiden Komponenten (Aktivitäten/Teilhabe) werden als Beeinträchtigungen der Aktivitäten bzw. Teilhabe bezeichnet.28 Hinzu kommen noch die Kontextfaktoren. Diese stellen die gesamten Lebensumstände einer Person dar. Diese können einen positiven oder negativen Einfluss auf die Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand haben:29
- Umweltfaktoren: bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten
- personenbezogene Faktoren: sind Merkmale einer Person, die nicht Teil ihres Gesundheitsproblems oder Gesundheitszustandes sind, z.B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Erziehung, Bewältigungsstile, sozialer Hintergrund, etc.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Das bio-psycho-soziale Modell der ICF
(Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Fries (2020), S. 111 & MDS (2005) S. 10)
Die Funktionsfähigkeit eines Menschen bezüglich bestimmter Komponenten der Gesundheit ist als eine Wechselwirkung zwischen Gesundheitsproblemen und Kontextfaktoren zu verstehen. Dies gibt das nicht lineare Modell der ICF wieder.30 Die einzelnen Komponenten der funktionalen Gesundheit müssen also nicht linear in Beziehung zueinanderstehen. Das bedeutet, dass ein bestimmtes Ausmaß einer Körperfunktionsstörung nicht automatisch zu einer Beeinträchtigung einer oder mehrerer Aktivitäten führt. Dies führt nicht zwangsweise zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe. Es gibt also keinen kausalen Zusammenhang zwischen Auswirkungen der Gesundheitsstörung in den einzelnen Kategorien. Das Ausmaß, in dem Körperfunktionen, Aktivitäten und Teilhabe betroffen sind, wird von der Funktionsstörungsart, den Kompensationsmöglichkeiten der betroffenen Person und den Kontextfaktoren bestimmt.31 Durch eigenständiges Training oder personenbezogene Faktoren oder Umweltfaktoren können kognitive Funktionsein-schränkungen ausgeglichen werden, weshalb es sein kann, dass keine wesentlichen Einschränkungen des quantitativen Leistungsvermögens bestehen.32 Um eine Entscheidungsgrundlage zur Erwerbsfähigkeit zu schaffen, betrachtet die ICF die Leistungsfähigkeit einer Person umfassend. Daher genügt es nicht, die kognitiven Leistungsstörungen eines Klienten zu kennen und Folgen antizipieren zu können. Die Aufgabe eines Gutachters ist es, sich ausführlich mit dem Betroffenen, seinen bisherigen Entwicklungen, seiner Individualität sowie seinem Umfeld im Sinne eines individuellen Anforderungsprofils auseinanderzusetzen.33
Unter Einbeziehung all dieser Informationen kann schließlich entschieden werden, ob die Leistungsfähigkeit des Klienten zur generellen und langfristigen Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausreicht bzw. durch entsprechende Kompensation oder rehabilitative Maßnahmen wiederhergestellt werden kann.
2.2 Kognitive Beeinträchtigungen nach einer Kopfverletzung
In der Psychologie versteht man unter Kognition alles, was unter die Bereiche Wissen und Denken fällt. Die Intelligenz, die Sprache, das Denken und Problemlösen, das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit gehören ebenso dazu, wie die Wahrnehmung. Daraus ergibt sich, dass es sich bei Kognition um Inhalte und Prozesse handelt.34 Durch ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT) können diese Bereiche alle beeinträchtigt werden.35
Nachfolgend wird zunächst eine allgemeine Definition und Einteilung des SHT sowie ein Überblick über die Epidemiologie gegeben. Im Anschluss daran werden die Schädigungsfolgen eines SHT auf kognitiver Ebene beschrieben
2.2.1 Definition und Schweregradeinteilung der Schädel-Hirn-Verletzung
Unter einem SHT wird eine Verwundung am Kopf verstanden, die durch eine äußere Gewalteinwirkung auf die Schädeldecke entsteht. Dies führt zu einer Funktionsstörung und/oder einer Verletzung des Gehirns.36 Oftmals stützen sich neuropsychologische Gutachten auf den initial (= unmittelbar nach dem Unfall) festgestellten Schweregrad der Verletzung nach der Glasgow Coma Scale (GCS). Die GCS hat sich über Jahre als prognostisch zuverlässig erwiesen und ist daher insbesondere für die weitere Verlaufsbeurteilung von Nutzen. Zur Einschätzung des Bewusstseinszustandes werden den klinischen Funktionen „Augen öffnen“, „verbale Kommunikation“ und „motorische Reaktion“ Punkte zwischen 1 und 6 vergeben. Die Punktwertsummen definieren dann den Schweregrad des SHT, siehe Tabelle 2: Einteilung des Schweregrades eines SHT nach GCS.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Einteilung des Schweregrades eines SHT nach GCS
(Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Fries (2020), S. 5)
Für die Einteilung der Schwere eines SHT gibt es verschiedene Skalen. Tönnis und Loew (1953) führten eine Beurteilung ein, die die Dauer der vollständigen Rückbildung aller neurologischen Störungen betrachtet.37 Firsching und Kollegen (2003) sowie Rüsseler (2009) beschreiben, dass es nach diesem System drei Schweregrade gibt.38
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: SHT Schweregrade und ihre Kennzeichen
(Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung Vgl. Firsching, et al. (2003) S. A 1868)
2.2.2 Epidemiologie
2016 gab es in der BRD insgesamt 419 507 Patienten, die aufgrund eines SHT jedweden Schweregrades vollstationär behandelt wurden. In der Altersgruppe der 29- bis 45-Jährigen zählt das SHT zu den Hauptursachen für Tod oder lebenslange Behinderung.39 Unfallchirurgen müssen jedoch auch immer mehr ältere Menschen behandeln, die bei einem Sturz ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten haben, ergab eine Studie der Neurologischen Kliniken der Ruhr-Universität Bochum. Die Studie ergab auch, dass der Schweregrad der Verletzung bei den älteren Leuten deutlich höher liegt.40 Ungefähr 90 % aller SHT’s in der BRD fallen in die Kategorie des I. Grades, also einer Gehirnerschütterung.41 Kristman und Kollegen fanden in ihrer Studie heraus, dass 5 % der Patienten mit einem leichten SHT nach zwei Jahren immer noch nicht am Berufsleben teilnehmen können. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass diese 5 % aus Untersuchungen aus dem Jahren 1997/1998 zurückgehen, inzwischen ist die Medizin schon weiter vorangeschritten.42
2.2.3 Kognitive Leistungsbeeinträchtigungen als Folge des SHT
Häufige Folgen eines SHTs sind kognitive Defizite, affektive Störungen, Verhaltensstörungen, Gleichgewichtsstörungen, Minderbelastbarkeit und Kopfschmerzen.43 Oft leiden selbst Patienten, bei denen ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma diagnostiziert wurde, unter kognitiven Einschränkungen. Bei 65 % der Patienten mit mittelschwerem bis schwerem SHT liegen kognitive Leistungsbeeinträchtigungen vor, bei Patienten mit leichten SHT sind es nur etwa 15%.44 Kognitive Defizite nach einem SHT können u.a. Störungen der Aufmerksamkeitsleistungen und Gedächtnisfunktionen sein, aber auch Störungen der kognitiven Belastbarkeit und des Lernens. Die Informationsverarbeitung ist generell verlangsamt. Ebenso können das Urteilsvermögen, die Organisations- und Planungsfähigkeit, die Sprache und Kommunikation, aber auch das rechnerische Denken stark eingeschränkt sein.45 Da Art und Schweregrad der Schädigung stark differieren und die Untersuchungen zur Erfassung kognitiver Leistungsbeeinträchtigungen sehr variabel sind, stehen allerdings keine validen Daten zur Häufigkeitsverteilung dieser Störungen zur Verfügung. Klar ist jedoch, dass die kognitiven Funktionsstörungen Einschränkungen und Behinderungen sowohl in der Bewältigung alltäglicher Anforderungen als auch in den Aktivitäten des täglichen Lebens und im Beruf hervorrufen.46
[...]
1 Vgl. Auswärtiges Amt (1948)
2 Vgl. Papmehl & Teichmanis (2019) S.309
3 Vgl. Wilhelm & Roschmann (2007) S. 19
4 Vgl. Uni Würzburg (o.J.)
5 Vgl. Knoppenfels-Spies (2018) S.12
6 Vgl. Uni Würzburg (o.J.) & Vgl. Wassmann (2019) S.19
7 Vgl. Wilhelm & Roschmann (2007) S. 19
8 Vgl. BMI (2020) S.28
9 Vgl. Fries (2020) S. 99 – 100
10 Vgl. Schmidt-Atzert & Amelang (2012) S. 386
11 Vgl. Jäger (2003) S. 350
12 Vgl. Brady et al. (2020) S. 656
13 Vgl. Ilmarinen & Tempel (2003) S.88
14 Vgl. Treier (2016) S. 3
15 Vgl. Ilmarinen & Tempel (2003) S.88
16 Vgl. Stecker & Kionke (2020) S. 70
17 Stecker & Kionke (2020) S. 71
18 Vgl. Treier (2016) S. 4 -5
19 Vgl. Derra (2016) S. 72
20 Vgl. Fries (2020) S. 102 & Vgl. Ågren & Falk (2021) S. 33
21 Vgl. Cibis (2011) S. 81 & Vgl. Fries (2020) S. 102
22 Vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund (2013) S. 61 & Vgl. Fries (2020) S. 102 - 103
23 Vgl. Ludolph (2013) S. 323
24 Vgl. Wilhelm & Roschmann (2007) S. 31
25 Vgl. Derra (2016) S. 76 & Vgl. Fries (2020) S. 99
26 Vgl. Fries (2020) S. 110
27 Vgl. Hollenweger Haskell (2014) S. 32 & Vgl. Fries (2020) S. 110 – 111 & Vgl. MDS (2005) S. 12
28 Vgl. MDS (2005) S. 12
29 Vgl. MDS (2005) S. 11
30 Vgl. MDS (2005) S. 12
31 Vgl. Fries (2020) S. 111
32 Vgl. Cibis (2011) S. 82
33 Vgl. Unverhau (2020) S. 15
34 Vgl. Gerrig (2016) S. 286
35 Vgl. Oder & Wurzer (2011) S. 315
36 Vgl. Firsching & Ferber (2009) S. 5 & Vgl. Oder & Wurzer (2011) S. 309
37 Vgl. Firsching, Woischneck, Reissberg, Döhring & Peters (2003) S. A 1868
38 Vgl. Firsching, et al. (2003) S. A 1868
39 Vgl. Fries (2020) S. 7 & Vgl. Ärzteblatt.de (2021a)
40 Vgl. Ärzteblatt.de (2021b)
41 Vgl. Strowitzki (2018) S. 53
42 Vgl. Oder & Wurzer (2011) S. 309
43 Vgl. Fries (2020) S. 88
44 Vgl. Rabinowitz & Levin (2014) S. 1
45 Vgl. Rüsseler (2009) S. 19
46 Vgl. Fries (2020) S. 60
- Quote paper
- Anonymous,, 2021, Planung einer diagnostischen Untersuchung für ein Gutachten zur Arbeitsfähigkeit nach einem Schädel-Hirn-Trauma, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1144038
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