Diese Arbeit setzt sich mit finanzieller Repression als auch fiskalischer Dominanz in Europa auseinander. Konkret werden Maßnahmen identifiziert, wie die Politik in der Vergangenheit und Gegenwart verschiedene Maßnahmen angewandt hat, um positive Effekte auf die Staatsverschuldung herbeizuführen. Für die Bewertung der aktuellen Situation in Europa (Stand Februar 2021) wurden unter anderem 33 relevante Studien im Zeitraum von 2010 bis 2020 identifiziert, analysiert und tabellarisch zusammengefasst. Darüber hinaus wurden weitere Indikatoren anhand von Reden, Interviews, Marktanalysen und Marktreaktionen identifiziert und in die Gesamtbewertung miteinbezogen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Staatsverschuldung und Schuldenquote
2.2 Indikator
2.3 Inflation
2.4 Finanzielle Repression
2.5 Abgrenzung fiskalische Dominanz und finanzielle Repression
3 Historischer Rückblick
3.1 Finanzielle Repression in Italien
3.2 Fazit
4 Wissenschaftliche Untersuchung
4.1 Fragestellung
4.2 Vorgehensweise und Suchstrategie
4.3 Zusammenfassung der untersuchten Empirie
4.4 Indikatoren
4.4.1 Banken
4.4.2 Geldpolitik
4.4.2.1 Allgemeine Geldpolitik
4.4.2.2 Inflationsbetrachtung der EZB
4.4.2.3 Marktbewertung der EZB-Politik: Aktuelles Beispiel
4.4.3 Regulatorik
4.4.4 Sonstige Indikatoren
4.5 Vergleich zwischen finanzieller Repression in der Vergangenheit und dem Status Quo in Europa
5 Schlussfolgerungen
5.1 Diskussion der Ergebnisse
5.2 Szenarien für einen Ausstieg aus dem Status Quo
5.3 Ansätze für künftige Forschung
6 Grenzen der Thesis
7 Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Konsolidierte Schuldenquote Eurozone (2008-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: EZB Statistical Data Warehouse
Abbildung 2: Entwicklung der Schuldenquoten im Euroraum (1991-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: Reuters Terminal, Funktion: Maastricht Debt GDP
Abbildung 3: HVPI Eurozone (2002-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: EZB Statistical Data Warehouse.
Abbildung 4: Real-Verzinsung 10-Jahres-Anleihen (1990-2019), Quelle Zsolt 2019, Figure 3.
Abbildung 5: Zinssätze im Euroraum (2008-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: DBB (https://www.bundesbank.de/de/statistiken/geld-und- kapitalmaerkte/zinssaetze-und-renditen/ezb-zinssaetze-607806)
Abbildung 6: EZB-Bestand des Anleihekaufprogramms APP (10/2015-01/2021), eigene Darstellung, Datenherkunft: EZB (https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/app/html/index.en.html).
Abbildung 7: PEPP-Ankaufsprogramm der EZB (03/2020-01/2021), eigene Darstellung, Datenherkunft: EZB (https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html).
Abbildung 8: HVPI Eurozone (2014-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: EZB Statistical Data Warehouse.
Abbildung 9: Kursentwicklung 10Y italienischer Staatsanleihen am 12.03.2020, Quelle: Bloomberg 2020
Abbildung 10: Renditeenwicklung 10-jähriger Staatsanleihen in 2020, eigene Darstellung, Datenherkunft: Reuters Terminal, Funktion: 10 Year Benchmark
Abbildung 11: Entwicklung 3-Monats-Zinssätze führender Zentralbanken (19952020) in Prozent, Quelle: EZB 2021b, S. 42.
Abbildung 12: BIP-Wachstum in EU und Eurozone (2010-2019), eigene Darstellung, Datenherkunft: Statista ( https://de.statista.com/statistik/daten/studie/156282/umfrage/entwicklung-des- bruttoinlandsprodukts-bip-in-der-eu-und-der-eurozone )
Abbildung 13: BIP-Wachstum weltweit in Prozent (1962-2019), eigene Darstellung, Datenherkunft: Weltbank ( https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.KD.ZG )
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Summary-of-Findings-Tabelle, Quelle: eigene Erhebung
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Die Schuldenquoten der europäischen Länder haben in Folge der globalen Finanzkrise 2007/2008, der Eurokrise 2012/2013 und mit der Corona-Krise seit 2020 Rekordstände erreicht. Hintergrund für diese Entwicklung waren Bankenrettungen durch die Staaten, erhöhte Staatsausgaben und vielfältige Stützungsmaßnahmen für die Wirtschaft. Eine Kombination aus einbrechender Wirtschaft, erhöhten Staatsausgaben und geringeren Steuereinnahmen führte zu Schuldenhöchstständen in Europa. Im Zuge der Euro-Krise 2012/2013 sprang der Fokus der Marktteilnehmer auf die sehr hohen Schuldenquoten einiger Länder und die reine, jährliche Belastung durch das Zahlen der Zinsen. Eine hohe Verschuldung in Kombination mit hohen Zinszahlungen stellte für viele Eurostaaten eine erhebliche Herausforderung für eine nachhaltige Finanzierung dar.
Als Lösungsmöglichkeiten, insbesondere für die Schuldenkrise in Griechenland, wurden häufig ein Schuldenschnitt, eine Konsolidierung der Staatsausgaben und ggf. ein Austritt aus der Gemeinschaftswährung, dem Euro, genannt. All diese Szenarien sind mit politischen Diskussionen verbunden und treffen direkt und transparent Bürger, Unternehmen und deren Geschäftspartner. Weiterhin implizieren solche Maßnahmen unmittelbare Auswirkungen auf die Bewertung und Bepreisung der per Definition ausfallsicheren Staatsanleihen anderer hoch verschuldeter Staaten wie bspw. Italien haben. Es bestehen Ansteckungsrisiken für andere Länder, die einen Dominoeffekt auslösen können.1
Eine Rückkehr zu einem tragbaren Schuldenniveau in Verbindung mit Sparmaßnahmen und restriktiver Ausgabenpolitik ist aus vielfältigen Gründen politisch also nur schwer durchsetzbar. Steuererhöhungen können sogar kontraproduktiv sein um Mehreinnahmen zu erzielen, da sie einerseits Wachstum bremsen und andererseits zu Steuerflucht führen können.2
In den auf die Euro-Krise folgenden Jahren haben viele Euroländer ihre auf das BIP bezogenen Schuldenquoten konstant gehalten bzw. etwas abgebaut. Ende des Jahres 2019 hat die Diskussion um hohe Staatsverschuldung weitestgehend an öffentlicher Aufmerksamkeit verloren. Im Zuge der Corona-Krise 2020 steigt die konsolidierte Schuldenquote der Euroländer jedoch erheblich auf über 95%, siehe Abbildung 1. In diesem Umfeld gewinnt die Frage einer nachhaltigen Schuldentragfähigkeit an wiedergewonnener Bedeutung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Konsolidierte Schuldenquote Eurozone (2008-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: EZB Statistical Data Warehouse
Die Finanzminister vieler Länder sprechen über ihre Erfolge im Zusammenhang mit der Konsolidierung der Staatsverschuldung bis Ende 2019, während einige Wirtschaftswissenschaftler und Volkswirte finanzielle Repression als eigentlichen Treiber dieser Entwicklung und als mögliche Lösung für historisch hohe Schuldenstände ausmachen.3
Der Begriff der „finanziellen Repression“ ist von Shaw 1973 und McKinnon 1973 geprägt und beschreibt die Gesamtheit von Maßnahmen, deren Ziel es ist, die Finanzierungskosten und Schuldenquoten von Staaten zu reduzieren. Dies erfolgt über Maßnahmenbündel, die beispielsweise das Zinsniveau für Staatsanleihen künstlich senken oder Staatsanleihen regulatorisch besser stellen.
Historisch betrachtet folgt finanzielle Repression Phasen großer Ausgaben und Krisen, denen historisch hohe Schuldenstände folgen. Dies zeigt sich besonders gut am zweiten Weltkrieg, der zu einer sehr hohen Verschuldung der beteiligten Länder führte. In den Nachkriegsjahrzehnten verbesserten sich die Schuldenquoten Dank finanzieller Repression vielen Ländern erheblich. So konnten bspw. Großbritannien oder die USA ihre Schuldenquoten im Zeitraum 1945-1980 um durchschnittlich drei bis vier Prozent pro Jahr senken.4
Wesentliches Merkmal der finanziellen Repression ist die intransparente Wirkung. Denn die Maßnahmen bzw. deren Folgen wirken zwar wie eine Steuer für Sparer und der Staat profitiert in Form von geringerer Zinslast und einer geringeren Schuldenquote, dennoch ist die unmittelbare Belastung für den Einzelnen nur schwer messbar.5
Ziel dieser Thesis ist es, einen Überblick und eine Zusammenfassung über den aktuellen Stand der Forschung in Bezug auf das Vorliegen einer finanziellen Repression in Europa sowie damit verbundener Indikatoren zu geben. Zunächst wird der Fokus auf historische Erfahrungen mit finanzieller Repression gelegt. Dabei wird insbesondere und detailliert auf die Entwicklungen in Italien eingegangen.
Für die Bewertung der aktuellen Situation in Europa wurden 33 relevante Studien im Zeitraum von 2010 bis 2020 identifiziert, analysiert und tabellarisch zusammengefasst. Darauf aufbauend und begleitend von neuen Erkenntnissen sowie aktuellen Statistiken und Diskussionen wird die aktuelle Situation in Europa mit Blick auf etwaige Indikatoren finanzieller Repression analysiert. Diese jetzige Situation in Europa wird anschließend mit historischen Erfahrungen finanzieller Repression verglichen. Zusätzlich werden mögliche Ausstiegsszenarien aus der aktuellen Situation betrachtet.
Im abschließenden Teil der Masterarbeit werden die wesentlichen Erkenntnisse in einer Diskussion und einem Fazit herausgearbeitet. Darüber hinaus werden während der Untersuchung identifizierte Grenzen aufgezeigt und Ansätze für künftige Forschung herausgestellt. Die Resultate dieser Arbeit sollen einerseits Berücksichtigung in aktuellen Diskussionen finden und andererseits als Grundlage für weitere Forschung dienen.
2 Begriffsbestimmungen
Der folgende Abschnitt dient dazu wesentliche und entscheidende Begriffe der vorliegenden Arbeit zu definieren und voneinander abzugrenzen.
2.1 Staatsverschuldung und Schuldenquote
Staatsverschuldung entsteht durch die Ausgabe von Staatsanleihen. Dies erfolgt verstärkt dann, wenn ein Staat mehr Geld ausgibt, als er einnimmt. Staatsverschuldung wird immer nur für sich betrachtet, also nicht als saldierte Nettoposition von Vermögenswerten und Verbindlichkeiten eines Staates. Weltweit gibt es keine Industriestaaten, die unverschuldet sind, also keine Anleihen emittiert haben.
Die Weltbank beschreibt Schulden als kritisch und zugleich notwendig für Weiterentwicklung von Ländern, verweist aber gleichzeitig darauf, dass nicht nachhaltige Schuldenstände zu geringerem Wachstum und höherer Armut führen:
„Debt can be a useful tool if it is transparent, well-managed, and used in the context of a credible growth policy. But, too often, this is not the case. High public debt can inhibit private investment, increase fiscal pressure, reduce social spending, and limit governments' ability to implement reforms.6
Ohne Schulden auszukommen ist im volkswirtschaftlichen Sinne nicht zwingend unbedingt sinnvoll. John Maynard Keynes empfiehlt, dass der Staat in Krisenzeiten, also in Zeiten fallender gesamtwirtschaftlicher Nachfrage, seine Ausgaben erhöhen sollte umso, durch zusätzliche Nachfrage, die Rezession zu mildern bzw. eine Erholung zu beschleunigen. Sofern der Staat nicht über angehäuftes, gespartes Kapital verfügt, sollten die Ausgaben durch staatliche Verschuldung finanziert werden. Diese Verschuldung ist nach Ansicht von Keynes in Boomphasen dann durch höhere Steuereinnahmen und/oder geringere staatliche Ausgaben zurückzubauen (Keynesianismus).7
Die Höhe der Staatsverschuldung variiert zwischen unterschiedlichen Ländern und einzelne Beträge haben nur bedingt Aussagekraft. Um einen Vergleich zwischen Ländern und eine Einordnung der Staatsverschuldung als solche sicherzustellen, wird die Schuldenquote oder Staatsschuldenquote verwendet. Diese setzt die Staatsverschuldung im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt. Die Mitgliedsländer der Europäischen Union haben sich im Maastricht-Vertrag von 1992 einen Ziel-Höchstwert für die Schuldenquote von 60 Prozent8 und ein jährliches Maximal-Defizit in Höhe von drei Prozent (Neuverschuldung zu BIP) festgelegt. Beide Werte wurden mathematisch ermittelt: Die EU kalkulierte mit erwarteten, durchschnittlichen Wachstumsraten von jährlich fünf Prozent, sodass die Länder trotz Neuverschuldung ihre Schuldenquoten reduzieren würden.9
Nach Abschluss des Maastricht-Vertrags 1992 konnten Schuldenquoten leicht abgebaut werden. Aber seit der Weltfinanzkrise 2008/09 sind die Haushaltsdefizite fast immer größer oder ähnlich groß wie das BIP-Wachstum gewesen, sodass, mit Ausnahme von Deutschland und den Niederlanden, keine deutliche Reduzierung der Schuldenquoten erreicht wurde. Stattdessen führen im Zuge der Corona-Pandemie 2020 hohe Neuverschuldung und sinkende BIP der europäischen Länder zu deutlichen Steigerungen der Schuldenquoten, vgl. Abbildung 2.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Entwicklung der Schuldenquoten im Euroraum (1991-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: Reuters Terminal, Funktion: Maastricht Debt GDP
Im Zuge der pandemiebedingt erhöhten Staatsausgaben und neuen Rekordständen der Staatsverschuldung und Schuldenquoten im Euroraum warnt die Deutsche Bundesbank vor den Folgen. Die hohe Staatsverschuldung könnte zu Zweifeln an der Schuldentragfähigkeit von Staaten führen. Schlechtere Ratings würden sich auf die Banken auswirken und die resultierenden Risiken können sich länderübergreifend ausbreiten und zu neuen Krisen führen.10 11 Weiterhin ist zu beachten, dass sich Schuldenquote und Staatsverschuldung ausschließlich auf die Verschuldung eines Staates beziehen. Internationale Verbindlichkeiten wie bspw. Schulden der Europäischen Union sind kein Bestandteil und damit nicht inbegriffen.
Grundsätzlich kann ein Land seine Schuldenquote mithilfe einer oder mehrerer der folgend genannten Maßnahmen senken: Wirtschaftswachstum (sofern größer als die Neuverschuldung), eine restriktive Haushaltspolitik (Austerität), eine Restrukturierung bzw. Ausfall von Schulden, Hyperinflation oder finanzielle Repression.11,12
2.2 Indikator
Der Duden definiert den Begriff des Indikators als einen Umstand oder Merkmal, welches als Anzeichen für eine bestimmte Entwicklung bzw. einen eingetretenen Zustand dient.13
Die Literatur beschreibt Indikatoren und deren Eigenschaften vielfältig. Sie gelten als aussagekräftige, vereinfachende Messgrößen, die als Stellvertreter fungieren. Damit dienen Indikatoren zur Komprimierung und Reduzierung komplexer Informationen und erleichtern die Aussagekraft zu bestimmten Inhalten.14
Voraussetzung für die Verwertbarkeit eines Indikators, ist dessen Validität. Es müssen Daten zugrunde liegen, die „die aktuell sind, wissenschaftlichen Standards genügen, für das jeweils betrachtete Gebiet repräsentativ sind und im Optimalfall bereits über längere Zeiträume regelmäßig erhoben wurden“.15
Indikatoren gewinnen insbesondere dann an erhöhter Bedeutung, wenn ein Zustand oder eine Entwicklung nicht klar oder nicht direkt messbar ist. In einem solchen Fall besteht die Notwendigkeit Hilfsmittel für die Bestimmung oder Messung des Zustands zu nutzen.16
Ein Indikator alleine stellt nicht den zwingenden Beweis dar, dass eine bestimmte Situation eingetreten ist bzw. vorliegt. Je mehr Indikatoren und damit Aussagen zu einer bestimmten Fragestellung vorliegen, desto höher ist die Evidenz der daraus abzuleitenden Aussage. Im Rahmen dieser Thesis werden Indikatoren sowohl qualitativ durch Erkenntnisse und Aussagen der Studien als auch quantitativ in Form statistischer Entwicklungen verstanden.
2.3 Inflation
Unter Inflation versteht man einen Preisanstieg für Waren und Dienstleistungen. Für Europa wird Inflation durch die Preisentwicklung eines festgelegten Warenkorbs, dem harmonisierten Verbraucherpreisindex, HVPI gemessen. Grundlage hierfür ist die Betrachtung eines Warenkorbs der dem durchschnittlichen Konsum der Bevölkerung widerspiegelt. Auf dieser Basis wird für einzelne Länder der nationale HVPI bzw. der sich aus den einzelnen, gewichteten HVPI zusammensetzende HVPI für den Euroraum ermittelt. Wesentliche Einflussfaktoren auf den HVPI sind insbesondere die Preisentwicklungen in den Sektoren Energie, Transport sowie Restaurants und Hotels.17 In der Vergangenheit hat dabei besonders die volatile Preisentwicklung im Energiesektor großen Einfluss auf den HVPI gehabt.18
Ziel der EZB ist es, im Euroraum Preisniveaustabilität zu gewährleisten. Diese definiert sich über eine angestrebte, jährliche Inflation, also eine Preissteigerung des HVPI für den Euroraum nahe, aber unter zwei Prozent.19
In den ersten Jahren der Einführung des Euros konnte das Inflationsziel der EZB gut erreicht werden, aber seit 2012 liegt die Inflation mit Ausnahme des Jahres 2018 teils deutlich darunter, wie es die Abbildung 3 darstellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: HVPI Eurozone (2002-2020), eigene Darstellung, Datenherkunft: EZB Statistical Data Warehouse.
Literatur und Empirie zeigen, dass viele Gründe für die Wahl eines positiven Inflationsziels sprechen.20 Beispielsweise können - unterstützt durch eine positive Inflationsrate - bestehende Ineffizienzen in Wirtschaft und Volkswirtschaft reduziert werden.21
Aufgrund der Bedeutung und der Abhängigkeiten zwischen Geldpolitik und Inflation gibt es hierzu vielfältige Diskussionen. Dabei geht es einerseits um die Fragestellung, ob das EZBZiel von zwei Prozent noch angemessen ist bzw. wie Inflation insgesamt zu betrachten ist.22 Andererseits gibt es Veränderungsvorschläge zur Gestaltung und den Aufbau des HVPI. So plädiert Bundesbankpräsident Jens Weidmann für methodische Adjustierungen im Kontext Wohneigentum.
„Many people live in their own flats or houses. It is undisputed that the HICP should really include this component. Yet owner-occupied housing is absent from the HICP basket of goods, for technical and methodological reasons. Personally, I would be willing to accept some methodological shortcomings in order to better reflect people's real-life situations.”23
Historisch betrachtet ist der Begriff der Inflation besonders in Deutschland sehr negativ behaftet und viele Deutsche fürchten eine durch expansive Geldpolitik befeuerte Inflation. Mit Beginn des ersten Weltkriegs 1914 bis Mitte der 1920er Jahre Ende gab Deutschland viel neues Geld heraus. Das Geld wurde für Kriegsfinanzierung und Reparationen gebraucht. Nachdem im Januar 1923 Frankreich im Ruhrgebiet einmarschierte und die Kontrolle über die Kohleindustrie übernahm, verstärkten der Wegfall des Wirtschaftsmotors und fehlende Steuereinnahmen die bereits hohe Inflation weiter. Bis November 1923 folgte die Hyperinflation, mit Preissteigerungen von mehr als 1.000 Prozent im Monat. Für viele Menschen war diese Zeit mit Existenzängsten verbunden. Die damaligen Erfahrungen prägen noch heute das Denken in Deutschland. So verbindet ein großer Teil der deutschen Bevölkerung die damalige Hyperinflation einerseits mit den damit verbundenen Vermögensverlusten, andererseits aber auch mit der von der Hyperinflation unabhängigen Massenarmut der ein paar Jahre später folgenden Weltwirtschaftskrise.24
Zusammenfassend gilt, dass Inflation in Maßen gut für den Staat und die Wirtschaft ist. Die Höhe einer adäquaten Zielinflation und die Bestandteile der Inflation sind viel diskutierte Themen.
2.4 Finanzielle Repression
Der Begriff der finanziellen Repression geht auf die Wissenschaftler Shaw und McKinnon im Jahr 1973 zurück und referenziert auf eine breite Palette von politischen und regulatorischen Maßnahmen, die das Spielfeld auf dem Finanzmarkt zu Gunsten des Staates verändert.25
Diese Einflussnahme erfolgt zu Gunsten staatlicher Schuldner und zu Lasten von Gläubigern und Bürgern. Das bedeutet eine Besserstellung von Staatsanleihen, welche wiederum zu geringerem Zinsaufwand führt. Dabei lässt sich zwischen indirekter und direkter Einflussnahme unterscheiden.26 Durch diverse regulatorische Vorgaben kann der Staat Spielregeln für den Markt aufstellen bzw. beeinflussen. Typisches Beispiel hierfür ist, dass Staatsanleihen als risikofrei gelten und Banken (gem. Basel III) oder Versicherungen (gem. Solvency II) für Investments in diese kein Eigenkapital hinterlegen müssen. Für andere Anlageformen, zum Beispiel von Unternehmen herausgegebene und mit Sicherheiten hinterlegte Anleihen besteht hingegen eine Eigenkapitalhinterlegungspflicht.27 Direkte Einflussnahme des Staates kann über verschiedene Kanäle erfolgen. Dieser kann, mit dem Ziel der Schaffung erhöhter Nachfrage auf Staatsanleihen, Druck auf private Marktteilnehmer ausüben, verstärkt in Staatsanleihen zu investieren. Eine weitere Möglichkeit des direkten Einflusses ist eine Einbindung der Zentralbank, welche als verlängerter Arm des Staates diesem direkten Kredit gewähren könnte oder dessen Anleihen kauft.
Wesentliches Merkmal der finanziellen Repression ist die intransparente Ausgestaltung und Wirkung. In der Regel ist nicht klar nachvollziehbar, ob bestimmte Maßnahmen dem Ziel der finanziellen Repression dienen, oder ob dies nur ein Nebeneffekt ist. Zudem ist der Umfang finanzieller Repression nur schwer ermittelbar. Denn die Maßnahmen bzw. deren Folgen wirken zwar wie eine Steuer für Anleger bzw. Sparer und der Staat profitiert in Form von geringerer Zinslast und einer geringeren Schuldenquote, dennoch ist die unmittelbare Belastung für den Einzelnen und die tatsächliche Ersparnis für den Staat nur schwer messbar.28
Hinsichtlich der konkreten Bedeutung und Ausgestaltung finanzieller Repression finden sich verschiedene Definitionen. McKinnon definiert finanzielle Repression als Sammlung verschiedener und vielfältiger von der Regierung festgelegten Richtlinien, Gesetze, Steuern, qualitativen und quantitativen Beschränkungen, die den Finanzmarkt bzw. die Finanzintermediäre daran hindern, das volle Potenzial auszuschöpfen.29 Folglich bedeutet für McKinnon finanzielle Repression Ineffizienz des Marktes. Shaw betrachtet das Thema ähnlich, jedoch mit einem konkreteren Augenmerk auf die Wirkung. Für Shaw liegt finanzielle Repression dann vor, wenn Zinssätze künstlich unter dem Marktgleichgewicht aus Angebot und Nachfrage gehalten werden. Dies gehe häufig mit für den Staat vorteilhaften niedrigen oder negativen Realzinsen einher.30
Der große Teil der Wissenschaftler folgt diesen beiden weit verbreiteten, grundsätzlichen Begriffsdefinitionen. Einige Autoren schließen zudem Kapitalverkehrskontrollen, enge Verbindungen zwischen Banken und Regierungen sowie direkte Kreditvergabe von öffentlichen Organen an den Staat als typische Maßnahmen finanzieller Repression mit ein.31 Nichtsdestotrotz ist zu erwähnen, dass das Thema in der Vergangenheit auch differenziert betrachtet wurde. So beschreiben Giovanni und de Melo finanzielle Repression als die Effekte einer Politik und nicht als die Politik an sich. Effekte sind ein künstlich niedrig gehaltenes Zinsniveau und Verzerrungen in der Intermediation des Finanzsektors. Die Auslöser finanzieller Repression sind für sie von dem Effekt „finanzielle Repression“ zu trennen.32
Trotz der verschiedenen Maßnahmen, die finanzielle Repression bewirken können, sind diese auch limitiert. Denn der Haupteffekt finanzieller Repression, der sich durch einen niedrigen bzw. negativen Realzins auszeichnet, ist nur möglich, wenn Anleihen in der Landeswährung und nicht in Fremdwährung denominiert sind.
Zusammenfassend lässt sich finanzielle Repression mit vielfältigen Maßnahmen in Verbindung bringen, die dazu dienen staatliche Schuldner am Markt besserzustellen. Effekte sind bspw. höhere Marktdurchdringung und niedrigere Zinsen von Staatsanleihen. Das bedeutet auch, dass Sparer und Anleger infolgedessen Geld verlieren. Denn diese erhalten bei direkten oder indirekten Anlagen in Staatsanleihen eine geringere Rendite, die nicht zwingend den Geldwertverlust abdeckt. Dies ist ein Grund, warum finanzielle Repression häufig mit einer „Finanzrepressions-Steuer“ für Sparer und Finanzmarkt verglichen wird. Diese Steuer wirkt intransparent und führt zu einer Vermögensverschiebung zu Gunsten des Staates.33
2.5 Abgrenzung fiskalische Dominanz und finanzielle Repression
Der Begriff der fiskalischen Dominanz hat seinen Ursprung in der Betrachtung der Geldpolitik. Woodford definiert, dass fiskalische Dominanz vorliegt, wenn Druck auf die Zentralbank ausgeübt wird, die Geldpolitik so zu gestalten, dass für den Staat günstige Finanzierungsbedingungen geschaffen bzw. gehalten werden: „Fiscal dominance manifests itself through pressure on the central bank to use monetary policy to maintain the market value of government debt.”34
Konkret bedeutet fiskalische Dominanz, dass hohe öffentliche Verschuldung die Zentralbanken unter Druck setzen kann durch expansive Geldpolitik und niedrige Zinsen die Kosten bzw. Belastungen aus der hohen Verschuldung zu reduzieren. Die Umsetzung einer solchen Geldpolitik, die hauptsächlich dem Staat und nicht dem eigentlichen Ziel der Zentralbank, der Preisstabilität dient, würde die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der verantwortlichen Zentralbanken gefährden.35
Im Zusammenhang mit historisch hoher Staatsverschuldung im Euroraum und umfangreichen Anleihen-Kaufprogrammen der EZB gewinnt das Thema fiskalischer Dominanz erhöhte Aufmerksamkeit. Fiskalische Dominanz ist in seiner Ausgestaltung und seinem Mechanismus von finanzieller Repression abzugrenzen. Es ist offensichtlich, dass beide Begriffe „Dominanz“ und „Repression“ negativ behaftet sind. Außerdem haben beide Begriffe gemein, dass sie etwas unterdrücken oder dominieren. Fiskalische Dominanz zielt wörtlich darauf ab, die Geldpolitik zu dominieren und ihre Unabhängigkeit von der Fiskalpolitik aufzubrechen. Finanzielle Repression hat einen universelleren Fokus. Sie zielt auf eine Verschiebung des natürlichen Marktgleichgewichts, ein Unterliegen des Finanzsektors zu Gunsten des Staates ab. Dabei kann ein Transmissionskanal finanzieller Repression die Geldpolitik sein, wie im Folgenden dieser Arbeit dargelegt wird. In diesem Zusammenhang kann man fiskalische Dominanz als einen möglichen Bestandteil finanzieller Repression betrachten.36
Der Übergang von fiskalischer Dominanz zu finanzieller Repression ist also fließend. Dennoch sind beide Begriffe sind nicht als Synonym füreinander zu verwenden. Wer von finanzieller Repression spricht, spielt möglicherweise auf Maßnahmen der Zentralbank an, aber nicht zwingend nur auf diese Maßnahmen. Hingegen hat fiskalische Dominanz einen ausschließlichen Fokus auf die Zentralbank. Seit 2020 wird der der Begriff der fiskalischen Dominanz vermehrt in der Kommunikation von DBB und EZB verwendet. Für die Betrachtungsweise der Zentralbank an sich ist diese Bezeichnung nicht falsch, mit Blick auf finanzielle Repression in Europa, ist der Begriff der fiskalischen Dominanz nur ein Teilaspekt.
3 Historischer Rückblick
In diesem Kapitel liegt der Fokus auf historischen Episoden finanzieller Repression. Dabei werden detailliert die Maßnahmenbündel in Italien in der Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs bis Mitte der 1980er Jahre betrachtet. Dies hat den Hintergrund, dass Italien das Land ist, für welches die meiste historische Literatur zur Umsetzung finanzieller Repression identifiziert wurde. Anschließend werden die historischen Erkenntnisse aus Italien mit Erfahrungen in anderen Ländern konsolidiert in einem Fazit zusammengefasst.
3.1 Finanzielle Repression in Italien
Mit Blick auf die Auslöser finanzieller Repression zeigt sich, dass besonders solche Länder zu starken und umfangreichen finanziell repressiven Maßnahmen tendieren, die ein schlechtes bzw. lückenbehaftetes Steuersystem haben.37
Bis in die 1970er Jahre trifft diese Aussage bspw. auf Italien zu. Wesentliche Indikatoren dafür waren massive Steuervermeidung, bürokratische Ineffizienz und schlechte Kontrollen. Dies zeigt sich auch daran, dass Italien in dieser Zeit im europäischen Vergleich eines der schlechtesten Verhältnisse zwischen staatlichen Einnahmen und Bruttoinlandsprodukt hatte. Mit einer Steuerreform in 1973/74 und verstärkten Steuerkontrollen ab 1984 konnten die Steuereinnahmen substantiell erhöht werden. Gleichwohl blieben die Ersparnisse dank finanzieller Repression auf hohem Niveau. Ein ineffizientes Steuersystem ist kein zwingender Indikator für finanzielle Repression, kann aber einen Grund bzw. die Notwendigkeit finanzieller Repression aufzeigen.38
Eine bedeutsame Rolle im Kontext finanzieller Repression nahm auch die Zentralbank Italiens ein. Diese ist formal unabhängig von der Politik. Im wissenschaftlichen Sinne lässt sich die Unabhängigkeit der Zentralbank in zwei Kategorien unterscheiden. Politische Unabhängigkeit liegt vor, wenn die Zentralbank nicht unmittelbar an Weisungen des Staates gebunden ist. Wirtschaftliche Unabhängigkeit bezieht sich auf die Einflussmöglichkeiten des Staates Kredit bei der Zentralbank zu erhalten und die Nutzungsmöglichkeiten geldpolitischer Instrumente durch die Zentralbank.39
Diese wirtschaftliche Unabhängigkeit war für Italiens Zentralbank jedoch nicht gegeben. Seit der italienischen Zentralbankreform in 1947/48 bestand für das italienische Finanzministerium die Möglichkeit, Haushaltsdefizite durch Überziehungskredite bei der Zentralbank auszugleichen. Die Konditionen waren mit einem Zinssatz von einem Prozent sehr attraktiv. Einzige Zusatzbedingung war, dass der Überziehungskredit nicht größer als 14 Prozent des italienischen Staatshaushalts war. Dieser Überziehungskredit stellt jedoch vielmehr einen Anfang finanziell repressiver Maßnahmen dar. In den Jahren 1975 bis 1981 stieg der Einfluss des italienischen Staates auf die Zentralbank Italiens auf einen Höhepunkt. Denn in dieser Zeit agierte die italienische Zentralbank als automatischer Käufer von italienischen Staatsanleihen, sofern die Anleihen nicht direkt in Auktionen verkauft werden konnten. Eine Nutzenmaximierung dieser Gesetzgebung erfolgte dadurch, dass italienische Staatsanleihen mit Zinssätzen unter den Marktkonditionen herausgegeben wurden. Dies führte quasi zu einem automatischen Ankauf durch die Zentralbank.40
Unabhängig von dieser finanziell repressiven Rolle der Zentralbank wurden weitere Maßnahmen initiiert. Staatliche Vorgaben und Regulatorik dienten dazu, die Nachfrage des Privatsektors nach Staatsanleihen künstlich zu erhöhen.41
Wesentliche Aspekte dabei waren hohe Reserveanforderungen an die italienischen Banken, welche ihre Mindestreserve entweder durch das unverzinste Hinterlegen italienischer Lira oder durch das Hinterlegen italienischer Staatsanleihen, emittiert in der Währung Lira, erbringen konnten. Im Zeitraum 1947 bis 1975 betrugen die Reserveanforderung teilweise 25 Prozent. Ab 1975 wurden sie dann auf 15 Prozent fixiert, jedoch mit dem Recht des Finanzministeriums, diese wieder anzupassen. Gemeinsam mit diesem Gesetz aus 1975 wurden auch die Rahmenbedingungen für die Sparkassen Italiens verändert. Sparkassen hatten vorher eine Wahlmöglichkeit ihre Einlagen bei der Zentralbank oder dem „Istituto centrale delle Casse di Risparmio“, einem Institut, kontrolliert und im Eigentum der Sparkassen selbst, zu hinterlegen. Nach der Reform 1975 hatten sie weiterhin die Möglichkeit, allerdings wurde das o.g. Institut der Sparkassen dazu verpflichtet, die Einlagen weiter zur Zentralbank zu transferieren. Doch auch unabhängig von der Reservepflicht zielte die italienische Regierung darauf ab, die Nachfrage nach Staatsanleihen zu erhöhen. So waren seit 1973 italienische Banken dazu verpflichtet, in ihren Portfolios Mindest-Anteile von mittel- und langfristigen italienischen Staatsanleihen zu halten und es wurden Kreditobergrenzen für den Privatsektor festgelegt.42
Eine weitere Besserstellung von Staatsanleihen gegenüber Aktienanlagen erfolgte über die Besteuerung von Kapitalerträgen. Die italienische Steuerreform in 1973/1974 führte dazu, dass Zinsen aus nicht staatlichen Anleihen höher zu besteuern waren, als solche des Staates bzw. staatlicher Unternehmen. Weiterhin beschloss die italienische Regierung, dass nicht-italienische Investmentfonds, welche Einlagen von in Italien lebenden Bürgern hielten, ab 1973 einen mindestens gleichgroßen Betrag in italienische Staatsanleihen investieren mussten.43
Weiterhin wurden ab Anfang der 1970er Jahre vielfältige Einschränkungen des internationalen Kapitalverkehrs festgelegt. So wurden Kredite an nicht in Italien ansässige Personen verboten und Exportzahlungen in Fremdwährung wurden stark eingeschränkt.44 Von 1980 ab bis 1986 erfolgte dann eine stete und schrittweise Liberalisierung des italienischen Finanzmarkts, welche mit Lockerungen und schließlich auch Aufhebungen von finanziell repressiven Maßnahmen wie den o.g. Gesetzen verbunden waren.45
Diese Liberalisierung ging mit hohen Haushaltsdefiziten einher. Für italienische Wirtschaftswissenschaftler schien in 1989, also bereits vor dem Beschluss des MaastrichtVertrags, ein Herauswachsen aus der hohen Staatsverschuldung Italiens unrealistisch. Um hiermit, abseits von Schuldenschnitten, umzugehen wären entweder Steuererhöhungen, eine bessere Durchsetzung des bestehenden Steuersystems oder alternativ eine erhöhte Monetarisierung der Staatsverschuldung, also eine Finanzierung durch die Zentralbank notwendig.46
3.2 Fazit
Das Konzept finanzieller Repression wurde in vielen Ländern der Welt umgesetzt, um die Staatsverschuldung zu reduzieren. Dies betrifft insbesondere den Zeitraum nach Ende des 2. Weltkriegs bis Mitte der 1980er Jahre.47
Wesentliche Bestandteile finanzieller Repression dabei waren Zinsobergrenzen, eine direkte Finanzierung des Staates durch die Zentralbank sowie Sonderabgaben auf inflationsgeschützte Anlagen.48
Bei der Umsetzung unterstützte eine breite Gesetzgebung, die versuchte eine umfangreiche Kontrolle über den Finanzmarkt zu gewinnen. Im Kontext unterschiedlicher, nationaler Währungen in den verschiedenen Ländern waren umfangreiche Kapitalverkehrskontrollen ein wesentlicher Bestandteil finanzieller Repression. Diese waren erforderlich um eine Kapitalflucht in alternative Anlageformen im Ausland zu verhindern. Weiterhin hätten Abflüsse die (Steuer-)einnahmen des Staates und damit dessen Haushalt unmittelbar und negativ betroffen.49
Länder haben Regulatorik genutzt, um sich vor disruptiven Effekten wie Wirtschaftskrisen, Veränderungen internationaler Zinssätze oder Wetten gegen die eigene Währung zu nutzen.50 Die finanziell repressive Regulatorik bewirkte, dass zum Beispiel Pensionsfonds, Versicherungen und Banken unabhängig von der Rendite Staatsanleihen kauften.51
Weiterhin hatten die Zentralbanken eine bedeutende Rolle. Einerseits wurden sie häufig eingesetzt um Staatsanleihen zu kaufen.52 Andererseits konnten sie über ihre Zinspolitik implizite Zinsobergrenzen schaffen.53
Diese Maßnahmen führten zu sinkenden Renditen und in Kombination mit Inflation zu niedrigen Realzinsen, die oft unter einem Prozent lagen. Neben dem in Kapitel 3.1 beschriebenen Fall war finanzielle Repression für viele Staaten weltweit eine Möglichkeit zur Entschuldung nach dem 2. Weltkrieg. Ein weiteres europäisches Beispiel ist Frankreich, in welchem bis Mitte der 1980er Jahre vielfältige, regulatorische und geldpolitische Maßnahmen bestanden, die auf eine finanzielle Repression abzielten. Begleitet von einer hohen Inflation wurden auch dort die Schulden „weg inflationiert“. Eine durchgängige Begleiterscheinung war ein niedriger, häufig negativer Realzins.54
Neben diesen beschriebenen Fällen gab es vielfältige weitere Ausgestaltungen finanzieller Repression in unterschiedlichen Ländern.55
4 Wissenschaftliche Untersuchung
Im Folgenden werden die Vorgehensweise und Durchführung der Untersuchung erläutert. Anschließend werden die Ergebnisse konsolidiert und einzelne Indikatoren genauer betrachtet. Abschließend erfolgt ein Abgleich des Status Quo in Europa mit den in Kapitel 3 beschriebenen, historischen Erfahrungen mit finanzieller Repression.
4.1 Fragestellung
Wie bereits eingangs erläutert, ist finanzielle Repression eine Möglichkeit, welche in der Vergangenheit weltweit erfolgreich umgesetzt wurde um hohe Schuldenstände anzugehen bzw. Schuldenquoten zu reduzieren. In Zuge aktuell historisch hoher Schuldenstände und Schuldenquoten in Europa und vielfältig interpretierbarer Maßnahmen von Staaten und Notenbanken erfährt die Thematik steigendes Interesse.
Es stellt sich die Frage, ob sich Europa in einer finanziellen Repression befindet. Im Rahmen der Untersuchung sollen Erkenntnisse, Faktoren und Indikatoren identifiziert werden, die dabei helfen, darauf eine passende Antwort zu formulieren. Wie bereits erläutert, liegt der Fokus der Fragestellung auf der Eurozone in Europa und im Einzelnen wird auf konkrete Maßnahmen und Entwicklungen eingegangen. Aufgrund der Vielfalt an politischen Maßnahmen und der Geldpolitik abseits von EU und EZB wird im Folgenden nicht auf Länder außerhalb des Euroraums eingegangen. Im Anhang finden sich jedoch auch Übersichten zu finanziell repressiven Ländern außerhalb der EU.
4.2 Vorgehensweise und Suchstrategie
In diesem Abschnitt wird die Vorgehensweise für die in 4.1 genannte Forschungsfrage durchgeführt. Im Rahmen eines Reviews sollen vorliegende Kenntnisse gesammelt und konsolidiert werden. Für die Suche und Identifikation geeigneter Literatur ist es zweckmäßig, in Portalen und Datenbanken mittels Stichworte zu suchen, die die Forschungsfrage in Schlüsselwörter zerlegen und Synonyme berücksichtigen.56 Hierfür wurden im ersten Schritt die folgenden elektronischen Datenbanken hinzugezogen: EBSCOhost Business Source Premium, EconBiz, EconLit, Google Scholar, IWF eLibrary, JSTOR, OECD iLibrary, Science Direct, SpringerLink und Weltbank eLibrary.
Dabei wurden folgende Suchparameter verwendet: „Finanzielle Repression“, „Finanzrepression“, „Finanziell Repression“, „Financial Repression“. Diese wurden mit dem Suchparameter „Europe“ bzw. „Europa“ kombiniert. Die Suche erfolgte, sofern auswählbar, in Titeln, Abstracts und Schlagwörtern. Bei allen Datenbanken wurde der Zeitraum der Veröffentlichung der Studien auf 2010 bis 2020 (Stand: 30.11.2020) eingegrenzt. Es wird nur Empirie berücksichtigt, die in deutscher oder englischer Sprache verfasst ist. Weiterhin müssen der Fokus bzw. Schwerpunkt der Studien auf finanzieller Repression liegen. Außerdem sind nur solche Studien inbegriffen, die sich mindestens teilweise mit der Situation in Europa bzw. in der Eurozone auseinandersetzen.
Der Fokus der Untersuchung beschränkte sich jedoch nicht nur auf jene Empirie, die unmittelbar über die o.g. Datenbanken identifiziert wurde. Im Rahmen der Begutachtung der Studien und deren Referenzen wurde weitere Empirie identifiziert, die ebenfalls, sofern den o.g. Kriterien entsprechend, berücksichtigt wurde.
Bei der Auswahl und Analyse wird geprüft, welche Aussagen, Erkenntnisse und Ergebnisse die Studien mit Blick auf eine potenziell vorliegende finanzielle Repression in Europa identifiziert haben.
Zur Darstellung von Reviews existieren verschiedene Möglichkeiten. Die Reviewforschung schlägt hierfür qualitativ-tabellarische und quantitativ-statistische Verdichtungen vor. In diesem Sinne werden die Ergebnisse aller identifizierten und relevanten Studien in einer Summary-of-Findings-Tabelle zusammengefasst.57
4.3 Zusammenfassung der untersuchten Empirie
Eine Übersicht zu den untersuchten Studien findet sich in der Summary-of-Findings- Tabelle, vgl. Tabelle 1. Diese stellt die identifizierten Studien mit den entsprechenden Forschungsschwerpunkten und identifizierten Kernaussagen dar. Bei der thematischen Zuordnung wurde bewusst von der Nennung der Titel abgesehen, um möglichst einheitlich und leicht verständlich den Schwerpunkt zu vermitteln. Die dritte Spalte veranschaulicht, inwiefern eine Aussage über das Vorliegen finanzieller Repression in Europa getroffen wurde.
Für eine bessere Nachvollziehbarkeit von Autoren ist die Summary-of-Findings-Tabelle alphabetisch nach Nachnamen der jeweils erstgenannten Autoren sortiert. Die Ergebnisse von Autoren, die mehrere, inhaltlich sehr ähnliche Studien veröffentlicht haben, werden zwecks besserer Übersichtlichkeit konsolidiert in einer Zeile betrachtet.
Grundsätzlich betrachtet eine deutliche Mehrheit der Studien (26 von 33) das Thema finanzielle Repression ganzheitlich und geht neben der Geldpolitik auch auf weitere Faktoren wie bspw. Regulatorik und moralische Appelle (englisch: „Moral Suasion“)58 ein.
Die meisten Studien folgen der nach Shaw und McKinnon aufgebauten Definition von Reinhart/Sbrancia 2011 auf. Danach sind typische Maßnahmen finanzieller Repression: Deckelung von Zinsen, eine direkte Kreditvergabe von öffentlichen Organen (bspw. Zentralbank) an den Staat, enge Verbindungen zwischen Banken und Regierungen sowie eine Begrenzung des grenzübergreifenden Kapitalverkehrs.59
Davon abweichend beziehen die sieben folgenden Studien von Hoffmann/Zemanek 2012, Rösl/Tödter 2015, Rösl/Tödter 2017, Hoffmann/Schnabl 2017, Hoffmann/Schnabl 2018, Schnabl 2018 und Hoffmann 2019 finanzielle Repression ausschließlich auf die EZBGeldpolitik.
[...]
1 vgl. Buchholz/Tonzer 2016: 260 bis 266.
2 vgl. Alesina et al. 2018: 10 bis 11.
3 vgl. Anlage 1.
4 vgl. Reinhart/Sbrancia 2011: 36.
5 vgl. Beim/Calomiris 2000: 47 bis 72.
6 Weltbank 2020.
7 vgl. Keynes 1937: 219 bis 223.
8 Die Ziel-Höchst-Schuldenquote ist derzeit in Diskussion. In 2020 hat der Europäische Fiskalausschuss empfohlen, die Schuldengrenze der EU von aktuell 60 Prozent des BIP abzuschaffen und stattdessen „realistische“, auf die einzelnen Volkswirtschaften des Blocks zugeschnittene Schuldenziele zu beschließen, vgl. EURACTIV 2020. Eine vom ECON Komitee aufgegebene Studie empfiehlt weitere Anpassungen am Fiskalpakt, z.B. sollen Sanktionen durch positive Anreize ersetzt werden, vgl. Darvas/Anderson 2020: 35 bis 38.
9 vgl. VEU 1993: Art. 104 c, Abs. 2.
10 vgl. DBB 2020: 11.
11 vgl. Reinhart/Sbrancia 2011: 3 bis 4.
12 Beachte Strategieänderung der EZB in der Betrachtung von Schuldenquoten: In 2012 mahnte sie die Staaten, dass auf ihre angespannte Schuldensituation reagieren müssen. Schuldenquoten sollen durch länger anhaltende, jährliche BIP-Wachstumsraten von mehr als vier Prozent auf ein sicheres Level unter 60 Prozent reduziert werden, vgl. EZB 2012: 55 bis 56. In 2020 kommuniziert EZB-Direktorin Schnabel, dass die Schuldenquoten der Euroländer von häufig über 100 Prozent im weltweiten Vergleich kein erhöhtes Risiko für den Euroraum darstellen, vgl. Schnabel 2020a.
13 vgl. Dudenredaktion 2021.
14 vgl. Dörner 2003: 112.
15 vgl. Heiland et al 2018: 5.
16 vgl. Günther/Schuh 2001: 45.
17 vgl. EZB 2020b.
18 vgl. EZB 2018.
19 vgl. EZB 2021a.
20 Für eine Übersicht zu Diskussionen und Argumenten für eine positive Inflation, siehe Schmitt- Grohé/Uribe 2010.
21 vgl. Phelps 1973: 81 bis 82.
22 vgl. hierzu aktuelle Entwicklungen zur Betrachtung der Inflationsrate, siehe Kapitel 4.3.5.
23 Weidmann 2020b.
24 vgl. Redeker et al. 2019: 1 bis 4.
25 vgl. Schnabel 2018: 449 bis 451.
26 vgl. Zimmermann/Baier 2012: 599.
27 vgl. CGFS 2011: 30 bis 37.
28 vgl. lomiris 2000: 47 bis 72.
29 vgl. McKinnon 1973: 69 bis 73.
30 vgl. Shaw 1973: 80 bis 81.
31 vgl. Reinhart et al. 2011: 3 bis 4; Reinhart/Sbrancia 2011: 6.
32 vgl. Giovanni/de Melo 1993: 954.
33 vgl. Beim/Calomiris 2000: 47 bis 72.
34 Woodford 2001: 669 bis 701.
35 vgl. DBB 2020: 11 bis 12.
36 vgl. Aizenman et. al. 2020: 18.
37 vgl. Bartolini/Drazen 1997: 150 bis 152.
38 vgl. Batilossi 2003: 15 bis 16.
39 vgl. Grilli et al. 1991: 366 bis 370.
40 vgl. Batilossi 2003: 16.
41 vgl. Bruni et al. 1989: 197 bis 200.
42 vgl. Batilossi 2003: 18.
43 vgl. Batilossi 2003: 18 bis 20.
44 vgl. IWF 1992: 2.
45 vgl. Cotula/Rossi 1989: 362 bis 364.
46 vgl. Tabellini 1988: 90 bis 100; Giovanni 1989: 204.
47 vgl. Anlagen 1 bis 3.
48 vgl. Norkina/Pekarski 2014: 3.
49 vgl. Johnston/Tamirisa 1998: 29 bis 30; Schulze 2000: 54 bis 55, 180 bis 181.
50 vgl. Batilossi 2003: 5.
51 vgl. Belke/Keil 2013a: 118.
52 vgl. Anlagen 1 bis 3.
53 vgl. Reinhart/Sbrancia 2011: 6.
54 vgl. Aloy et. al. 2014: 633 bis 635.
55 vgl. Reinhart/Sbrancia 2011: 1 bis 64; Anlagen 1 bis 3.
56 vgl. Goeken 2011: 5.
57 vgl. Cooper 2016: 219; Schopp/Goeken 2018: 54.
58 Moralischer Appell: beschreibt einen von Gesetzgebung unabhängigen, politisch getriebenen Appell von öffentlichen Stellen der Kooperationsbereitschaft der Marktteilnehmer, also Unternehmen, Banken, etc. fördern soll, um sie zu einem erwünschten Verhalten zu bewegen, vgl. Romans 1966: 1220 bis 1226.
59 vgl. Reinhart/Sbrancia 2011: 8.
- Quote paper
- Johannes Christian Schopp (Author), 2021, Befindet sich Europa in einer finanziellen Repression? Identifikation und Analyse verschiedener Indikatoren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1141216
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