Die Physiotherapie befindet sich derzeit in einem berufseigenen Entwicklungsprozess, in dem neue Zuständigkeiten wie Direktzugang, Akademisierung und professionelle Handlungsstrukturen ausdifferenziert werden müssen. Dabei lässt sich erkennen, dass die Grundlagen dieser Aushandlung auf einem bislang ungenutzten ethischen Unterbau aufliegen und eine Moralkompetenz der Physiotherapeuten in Gänze vernachlässigt wird. Zudem zeigt sich, dass diese Professionalisierung unsystematisch und ohne genauen Theoriebezug durchgerungen werden soll, was eine Strukturierung dieser Entwicklung bislang verhindert.
Genutzt werden sollen unterschiedliche Professionsmodelle, um eine Professionalisierbarkeit dieses Berufsbildes zu untermauern und darauf ein moralisches Handeln aufzusetzen. Aus einer ethischen Perspektive sollen darüber hinaus komplexe Dilemmata herausgefiltert sowie in eine praktische Lehrbarkeit überführt werden, um eine Neuausrichtung des Berufsethos sowie eine geeignete Moralkompetenz der Physiotherapeuten zu elaborieren. Dies soll dazu führen, dass sie in Zukunft autonome Entscheidungen verantwortungsvoll vertreten können, wodurch eine Diskussion auch in diesem Themenbereich initiiert bzw. intensiviert werden kann. Mit einem teilstrukturierten Experteninterview mit 15 Physiotherapeuten soll ein qualitativer Forschungszugang genutzt werden, um neue Erkenntnisse offen und flexibel zu gewinnen. Gerade im Bereich der Professionalisierungsforschung wird oft auf diesen Zweig der Sozialforschung zurückgegriffen, um die unterschiedlichen Lebenswelten der Studienteilnehmer zu strukturieren und Perspektiven einer dynamischen Berufssituation zu erzeugen.
Die Ergebnisse zeigen, dass die bisherige Auseinandersetzung im ethisch-moralischen Themenbereich für die praktizierenden Therapeuten unvollständig oder gar nicht gegeben ist. Mithilfe der Struktur- und Systemtheorie konnten ein professionelles Handlungsideal sowie eine genauere Berufsfunktion für die deutsche Physiotherapie erschlossen werden, was eine Berufsethik und moralisches Handeln durch einen eigens entwickelten Ethik- und Moralkompetenzunterricht fördert. Des Weiteren konnten typische Dilemmasituationen herausgearbeitet werden, die im Berufsalltag besonders häufig vorkommen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Zusammenfassung
Abstract
1 Einleitung
1.1 Problemaufriss
1.2 Zielsetzung
1.3 Forschungsfragen
1.4 Aufbau der Arbeit
2 Theoretischer Bezugsrahmen
2.1 Physiotherapie: Implikationen eines Gesundheitsfachberufes
2.1.1 Zur Geschichte der Physiotherapie
2.1.2 Im Spannungsfeld der Moderne
2.1.3 Perspektiven der Physiotherapie
2.1.4 Kompetenzen in der Physiotherapie
2.1.5 Berufsidentität: im Schatten der Ärzte
2.1.6 Clinical Reasoning
2.1.7 Evidence Based Practice
2.1.8 Direct Access in der Physiotherapie
2.1.9 Vom biopsychosozialen Modell bis zur Movement Continuum Theory
2.2 Professionalisierung als berufssoziologischer Prozess
2.2.1 Verberuflichung von Arbeit
2.2.2 Ausgestaltung einer Profession
2.2.2.1 Merkmalsorientiertes Konzept
2.2.2.2 Strukturfunktionalistisches Modell
2.2.2.3 Machttheoretisches Modell
2.2.2.4 Interaktionistische Perspektive
2.2.2.5 Systemtheoretischer Ansatz
2.2.2.6 Strukturtheoretischer Ansatz
2.2.3 Semiprofession und Deprofessionalisierung
2.2.4 Professionalität und professionelles Handeln
2.2.5 Der Weg zum Experten
2.2.6 Akademisierung als Initiator einer Professionalisierung
2.2.7 Ethik als Fundament einer Professionalisierung
2.3 Einführung in die Ethik
2.3.1 Pflichtenethik
2.3.2 Utilitarismus
2.3.3 Tugendethik
2.3.4 Verantwortungsethik
2.3.5 Berufsethik und Berufskodizes
2.3.6 Moralische Dilemmata und Lösungsstrategien
2.3.7 Bisherige Überlegungen zum Ethikunterricht
2.4 Einführung in die Moralpsychologie
2.4.1 Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit
2.4.2 Vier-Komponenten-Modell
2.4.3 Zwei-Aspekte-Modell
2.4.4 Bisherige Untersuchungen in der Physiotherapie
2.4.5 Bildung der Moralkompetenz
3 Methodologische Einordnung
3.1 Qualitative Sozialforschung als Forschungszugang
3.2 Das Experteninterview
3.3 Sampling der Experten
3.4 Interaktionsmuster und Konstruktion des Interviewleitfadens
3.5 Akquise und Erhebungsphase
3.6 Soziodemografische Daten der Probanden
3.7 Transkriptionsregeln und Auswertung
3.8 Qualitative Inhaltsanalyse als Auswertmethode
4 Ergebnisse
4.1 Themenblöcke und Kategorien
4.2 Hauptkategorie: Berufsbild
4.2.1 Berufsfunktion der Physiotherapie
4.2.2 Berufsspezifische Kompetenzen der Physiotherapeuten
4.2.3 Berufsspezifische Bildung
4.2.4 Berufsspezifische Merkmale von Physiotherapeuten
4.2.5 Strukturanalyse des physiotherapeutischen Handelns
4.3 Hauptkategorie: Professionalisierung der Physiotherapie
4.3.1 Verbandspolitik
4.3.2 Ausbildungsstrukturen
4.3.3 Auswirkung auf die Gesellschaft
4.3.4 Professionalität
4.3.5 Zum derzeitigen Spannungsfeld der Professionalisierung
4.4 Hauptkategorie: Ethik im berufspraktischen Alltag
4.4.1 Professionalisierung
4.4.2 Ethische Auseinandersetzung
4.4.3 Ethiktheorien
4.4.4 Zusammenfassende Implikationen der Ethik in einem beruflichen Kontext
4.5 Hauptkategorie: Bedeutung der Moral
4.5.1 Auswirkung auf die Professionalisierung
4.5.2 Ethik- und Moralkompetenzunterricht
4.5.3 Die Bedeutung der Moral im Prozess der Professionalisierung
4.6 Hauptkategorie: Moralische Dilemmata
4.6.1 Dilemmasituationen
4.6.2 Umgang mit Dilemmasituationen
4.6.3 Funktion der Dilemmasituationen im Kontext der Professionalisierung
4.7 Fazit der Ergebnisse im Kontext der Forschungsfragen
4.8 Skizze eines Ethik- und Moralkompetenzunterrichtes
5 Diskussion
5.1 Folgen einer reflexiven Professionalität für das professionelle Handeln
5.2 Ausdifferenzierung eines Funktionssystems für die Physiotherapie
5.3 Relevanz der Ethik und Moralkompetenz im professionellen Aushandlungsprozess der deutschen Physiotherapie
5.4 Reflexion der Forschungsmethode hinsichtlich einer Verallgemeinerung der Ergebnisse
5.5 Ausblick
6 Literaturverzeichnis
Anhang 2. Band
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Spiralmodell des Clinical-Reasoning-Prozesses
Abbildung 2: Handeln im Einzelfall - Stand des Wissens und weitere Determinanten
Abbildung 3: Multidimensional Movement Continuum of Physical Therapy
Abbildung 4: Beispiel des Bewegungspotenzials bei einer Rehabilitation
Abbildung 5: Verberuflichung, Professionalisierung und ihre Gegenprozesse
Abbildung 6: Theory of expert practice
Abbildung 7: Modell der Expertenentwicklung
Abbildung 8: Einteilung der Ethik
Abbildung 9: Kategorien von moralischen Dilemmata mit deren Unterpunkten
Abbildung 10: Das Zwei-Aspekte-Modell des moralischen Verhaltens
Abbildung 11: Generelles Ablaufschema der qualitativen Inhaltsanalyse
Abbildung 12: Ablaufschema einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse
Abbildung 13: Einteilung der Hauptkategorien anhand der Themeninhalte
Abbildung 14: Kategorien über die Häufigkeiten der moralischen Dilemmata
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Überblick über den Aufbau der vorliegenden Studie
Tabelle 2: Gesetzlich formulierte Ziele und zu vermittelnde Kernkompetenzen der Physiotherapieausbildung im Ländervergleich
Tabelle 3: Merkmale der Physiotherapieausbildung im Ländervergleich
Tabelle 4: Komponenten des RIPS-Modells
Tabelle 5: Themen, Kategorien, Methoden und Voraussetzungen für einen physiotherapeutischen Ethikunterricht
Tabelle 6: Zusammenfassende Beschreibung der Stufen des moralischen Urteils
Tabelle 7: Gegenüberstellung von Aspekte- und Komponenten-Modell
Tabelle 8: Unterschiedliche Gruppen und deren P-Werte
Tabelle 9: Soziodemografische Daten der Probanden
Tabelle 10: Definition und Anwendung der Hauptkategorie: Berufsbild
Tabelle 11: Definition und Anwendung der Kategorie: Berufsfunktion der Physiotherapie
Tabelle 12: Subkategorien der Kategorie Berufsfunktion
Tabelle 13: Definition und Anwendung der Kategorie: Berufsspezifische Kompetenzen
Tabelle 14: Subkategorien der berufsspezifischen Kompetenzen
Tabelle 15: Definition und Anwendung der Kategorie: Berufsspezifische Bildung
Tabelle 16: Subkategorien der berufsspezifischen Bildung
Tabelle 17: Definition und Anwendung der Kategorie: Berufsspezifische Merkmale
Tabelle 18: Subkategorien der berufsspezifischen Merkmale
Tabelle 19: Definition und Anwendung der Hauptkategorie: Professionalisierung der Physiotherapie
Tabelle 20: Definition und Anwendung der Kategorie: Verbandspolitik
Tabelle 21: Subkategorien der Verbandspolitik
Tabelle 22: Definition und Anwendung der Kategorie: Ausbildungsstrukturen
Tabelle 23: Subkategorien der Ausbildungsstrukturen
Tabelle 24: Definition und Anwendung der Kategorie: Auswirkungen auf die Gesellschaft
Tabelle 25: Subkategorien der Auswirkung auf die Gesellschaft
Tabelle 28: Definition und Anwendung der Hauptkategorie: Ethik im berufspraktischen Alltag
Tabelle 29: Definition und Anwendung der Kategorie: Professionalisierung
Tabelle 30: Subkategorien der Professionalisierung
Tabelle 31: Definition und Anwendung der Kategorie: Ethische Auseinandersetzung
Tabelle 32: Subkategorien der ethischen Auseinandersetzung
Tabelle 33: Definition und Anwendung der Kategorie: Ethiktheorien
Tabelle 34: Subkategorien der Ethiktheorien
Tabelle 35: Definition und Anwendung der Hauptkategorie: Bedeutung der Moral
Tabelle 36: Definition und Anwendung der Kategorie: Auswirkung auf die Professionalisierung
Tabelle 37: Subkategorien der Auswirkung auf die Professionalisierung
Tabelle 38: Definition und Anwendung der Kategorie: Ethik- und Moralkompetenzunterricht
Tabelle 39: Subkategorien des Ethik- und Moralkompetenzunterrichtes
Tabelle 40: Definition und Anwendung der Hauptkategorie: Moralische Dilemmata
Tabelle 41: Definition und Anwendung der Kategorie: Dilemmasituationen
Tabelle 42: Definition und Anwendung der Kategorie: Umgang mit Dilemmasituationen
Tabelle 43: Subkategorien des Umgangs mit Dilemmasituationen
Tabelle 44: Skizze für einen Ethik- und Moralkompetenzunterricht für die deutsche Physiotherapie
Zusammenfassung
Die Physiotherapie befindet sich derzeit in einem berufseigenen Entwicklungsprozess, in dem neue Zuständigkeiten wie Direktzugang, Akademisierung und professionelle Handlungsstrukturen ausdifferenziert werden müssen. Dabei lässt sich erkennen, dass die Grundlagen dieser Aushandlung auf einem bislang ungenutzten ethischen Unterbau aufliegen und eine Moralkompetenz der Physiotherapeuten in Gänze vernachlässigt wird. Zudem zeigt sich, dass diese Professionalisierung unsystematisch und ohne genauen Theoriebezug durchgerungen werden soll, was eine Strukturierung dieser Entwicklung bislang verhindert. Genutzt werden sollen unterschiedliche Professionsmodelle, um eine Professionalisierbarkeit dieses Berufsbildes zu untermauern und darauf ein moralisches Handeln aufzusetzen. Aus einer ethischen Perspektive sollen darüber hinaus komplexe Dilemmata herausgefiltert sowie in eine praktische Lehrbarkeit überführt werden, um eine Neuausrichtung des Berufsethos sowie eine geeignete Moralkompetenz der Physiotherapeuten zu elaborieren. Dies soll dazu führen, dass sie in Zukunft autonome Entscheidungen verantwortungsvoll vertreten können, wodurch eine Diskussion auch in diesem Themenbereich initiiert bzw. intensiviert werden kann. Mit einem teilstrukturierten Experteninterview mit 15 Physiotherapeuten soll ein qualitativer Forschungszugang genutzt werden, um neue Erkenntnisse offen und flexibel zu gewinnen. Gerade im Bereich der Professionalisierungsforschung wird oft auf diesen Zweig der Sozialforschung zurückgegriffen, um die unterschiedlichen Lebenswelten der Studienteilnehmer zu strukturieren und Perspektiven einer dynamischen Berufssituation zu erzeugen. Die Ergebnisse zeigen, dass die bisherige Auseinandersetzung im ethisch-moralischen Themenbereich für die praktizierenden Therapeuten unvollständig oder gar nicht gegeben ist. Mithilfe der Struktur- und Systemtheorie konnten ein professionelles Handlungsideal sowie eine genauere Berufsfunktion für die deutsche Physiotherapie erschlossen werden, was eine Berufsethik und moralisches Handeln durch einen eigens entwickelten Ethik- und Moralkompetenzunterricht fördert. Des Weiteren konnten typische Dilemmasituationen herausgearbeitet werden, die im Berufsalltag besonders häufig vorkommen. Diese Diskrepanz zwischen einem physiotherapeutischen Idealtyp und dem tatsächlichen Handlungsmuster lässt sich durch eine reflexive Professionalität mit einer entsprechenden moralischen Fähigkeit überwinden, indem ein reflektierter Umgang mit professionstypischen sowie ethischen Fragestellungen durch das eigene Berufsbild vermittelt wird.
Abstract
Physiotherapy is currently in a process of professional development in which new responsibilities such as direct access, academization, and professional action have to be differentiated. It can be seen that the foundations of these negotiations are rarely based on a ethical foundation and that the moral competence of physiotherapists is completely neglected. It is also apparent that this professionalization is to be carried out unsystematically and without a precise theoretical reference, which has so far prevented the structuring of this development. Different professional models are to be used to underpin the professionalization of this profession and to consolidate professional ethics. Furthermore, complex dilemmas are to be filtered out from an ethical perspective and transferred into practical teachability in order to develop a new orientation of professional ethics, as well as an appropriate moral competence of physiotherapists so that they can represent autonomous decisions in a responsible manner in the future, and to initiate a discussion in this subject area is also initiated or rather can be intensified. With a semi-structured expert interview of 15 physiotherapists, a qualitative research approach will be used to gain new insights in an open and flexible way. Especially in the field of professionalization research, this branch of social research is often used to structure the different life views of the study participants and to generate perspectives of a dynamic professional situation. The results show that the previous debate on ethical and moral issues is incomplete or non-existent for practicing therapists. With the help of structure and system theory, it was possible to develop a professional ideal of action, and a more precise professional function for German physiotherapy, which promotes professional ethical and moral action through specially developed ethics and moral competence teaching. Furthermore, typical dilemma situations were identified that occur particularly frequently in everyday working life. This discrepancy between an ideal physiotherapeutic type and the actual pattern of action can be overcome by reflective professionalism and moral competence by providing a reflective approach to typical professional but also ethical questions through one's own professional profile.
Geschlechterbezeichnung im Text
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Dissertation bei der Bezeichnung von Personengruppen die maskuline Form verwendet. Wenn zum Beispiel die Rede von Physiotherapeuten ist, sind selbstverständlich auch Physiotherapeutinnen oder Diverse einbezogen. Dies gilt nicht, wenn explizit zwischen weiblicher, diverser und männlicher Form in einer Gruppe unterschieden wird.
1 Einleitung
1.1 Problemaufriss
Geht es nach dem Weltverband der Physiotherapie, so können durch physiotherapeutische Interventionen gerade bei Funktionsverlust durch Alter, Verletzung, Schmerzen und Krankheiten sowie diversen Umweltfaktoren die individuelle Funktionalität und die Teilhabe am Leben für bestimmte Personen oder Personengruppen erhalten oder gefördert werden (WCPT, 2017a). Der Physiotherapeut trifft dabei klinisch verantwortungsvolle Entscheidungen über den Ausgang der Behandlung, der durch unterschiedliche Einflüsse erzielt werden soll. Dies setzt ein erhebliches Maß an Fachkompetenzen, Integrität und Verantwortung voraus.
Nach einem Hilfsmittelreport der BARMER GEK sind die Ausgaben für physiotherapeutische Leistungen im Zeitraum von 2012 bis 2013 um 4,59 % und im darauffolgenden Jahr um weitere 7,78 % gestiegen (Müller, Rothgang & Glaeske, 2015; Sauer, Rothgang & Glaeske, 2014). Auch stiegen die Gesamtkosten der gesetzlichen Krankenversicherung für physiotherapeutische Maßnahmen von 2014 zu 2015 von 4,17 Milliarden Euro auf 4,4 Milliarden Euro, was auf das stetig wachsende Behandlungsvolumen zurückzuführen ist (Reinhard, 2017; Waltersbacher, 2015; 2016). Dabei lässt sich der Trend erkennen, dass immer häufiger ältere Menschen mit multimorbiden Erscheinungen und chronischen Erkrankungen die Hilfe eines Physiotherapeuten in Anspruch nehmen (BMBF, 2014; Brechtel, Kossack & Grandt 2016). Durch diese Entwicklung wird klar, dass die Physiotherapie eine nicht unbedeutende sozioökonomische Rolle in der Gesundheitsversorgung einnimmt und vorhandene Ressourcen transparent und effizient bereitstellen muss.
In 260 Berufsfachschulen melden sich jährlich ca. 21 500 Schüler für die dreijährige Ausbildung zum Physiotherapeuten an, wobei der Anteil bei knapp 13 500 Frauen und etwa 8000 Männer liegt (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2017a). Gemäß den Ausführungen des Verbandes für Physiotherapie (ebd.) absolvieren jährlich beinahe 5500 angehende Therapeuten die Ausbildung. Jedoch zeichnet sich in Deutschland seit fast 20 Jahren ein Paradigmenwechsel in der Physiotherapie ab. Während dieser Beruf bisher weitgehend als praktisch orientiert angesehen wurde, ist es mittlerweile auch möglich, dieses Fach an Fachhochschulen zu studieren. Laut einiger Hochschulumfragen hat sich die Zahl der Studienabschlüsse von 915 im Jahr 2008 auf 4022 im Jahr 2017 und weiter auf 5247 in 2019 erhöht (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2017b; Deutscher Verband für Physiotherapie, 2020). Dies bedeutet, dass von rund 199 000 beschäftigten Physiotherapeuten derzeit etwa 2,6 % mindestens auf Bachelor-Niveau arbeiten (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2020), die sich als „High Potenzials“ (Höppner, 2009, S. 45) auf dem Arbeitsmarkt behaupten müssen. Der Anteil der jährlich akademisierten Physiotherapeuten liegt nach der neuesten Hochschulbefragung bei ca. 10 % (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2020). Zudem möchte der Wissenschaftsrat der Gesundheitsfachberufe diese Quote von jährlichen Hochschulabschlüssen auf 10 bis 20 % erhöhen (Wissenschaftsrat, 2012).
Die Erwartungen einer derartigen Akademisierung betreffen die Verwissenschaftlichung des Berufsbildes durch eine eigenständige Forschung sowie Disziplinbildung (Richter, 2016), die das Reflexionsvermögen der praktischen Tätigkeit der einzelnen Therapeuten stärkt, sodass sie komplexe Situationen durch evidenzbasiertes Handeln effektiver bewältigen können (Friedrichs & Schaub, 2011). Durch eine akademische Reformierung steigen zudem die Chancen, sich von einem weisungsgebundenen „Heilhilfsberuf“ zu emanzipieren und zu einer eigenständigen Profession zu entwickeln. Die Physiotherapie in Deutschland ist angesichts ihrer momentanen Kompetenzlage jedoch weit davon entfernt, weil sie durch den Ausbildungs- und Forschungsstand dem Ausland formal ca. 15 bis 20 Jahre „hinterherhinkt“ (Schämann, 2002, zit. n. Schämann, 2006, S. 26) und sich innerhalb der europäischen Union als einzige Berufsgruppe mit einer berufsfachschulischen Ausbildung auszeichnet (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2017d). Dieser Umstand wird verstärkt, da auf Bundesebene noch kein einheitliches Curriculum vorliegt, welches die Qualität der Ausbildung formuliert, wodurch eine Professionalisierung ebenfalls gehemmt wird (Funk, 2008; Hügler, 2017; Lehmann et al., 2014; Schämann, 2006). Schämann (2006) beschreibt die Professionalisierung als einen Prozess, den Berufe durchlaufen können, um sich letztendlich zu einer Profession, also zu einer gesonderten Form beruflichen Handelns, zu entwickeln. In der Regel werden solche Vorhaben durch eine vorangegangene Frustration der Berufsangehörigen initiiert, die das Streben nach eigenständigem und professionellem Handeln, besserer Entlohnung, nach einer formulierten Berufsethik und Mitgestaltung der eigenen Ausbildung fordern (Nittel, 2000; Schämann, 2006). Somit kann die Professionalisierung als eine berufssoziologische Transformation gedeutet werden, bei der professionelle Handlungsstrukturen, systematisches und akademisches Wissen sowie eine soziale Ausrichtung auf gesellschaftliche Probleme von den Berufsinhabern eingeleitet werden (Hartmann, 1972; Schaeffer, 1994; Seltrecht, 2016).
Einige Berufsverbände fordern aufgrund der derzeitigen Professionalisierungsdiskussion und des Gedankens einer unabhängigeren Berufstätigkeit, den „Direct Access“ auch in Deutschland einzuführen (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2013; IFK, 2007; SHV, 2019). Dieser wird als ein Direktzugang für Patienten beschrieben, der es erlaubt, therapeutische Leistungen auch ohne ärztliche Verordnung in Anspruch zu nehmen (Zalpour, 2008). Dies setzt allerdings voraus, dass der Arzt der alleinigen Verantwortung enthoben wird und jeder einzelne Physiotherapeut diese übernehmen muss.
Experten bemängeln, dass die Therapeuten bislang nicht die benötigten Ausbildungsstandards erfüllen (Klein, Rottler & Wietersheim, 2018; Konrad, Konrad & Geraedts, 2017; Rothstein, 1991) sowie sozialpolitische Entscheidungen und rechtliche Vorgaben fehlen, um eigenständig neben der bereits etablierten Profession des Arztes arbeiten zu können. Dies untermauert zudem den Stellenwert einer geeigneten Professionalität der Physiotherapeuten für ihre praktische Tätigkeit, damit sie den Autonomieforderungen auch gerecht werden können.
Weitere komplexe Themengebiete einer physiotherapeutischen Handlungspraxis sind die umfängliche Inventarisierung der Patientenproblematik und die daraus resultierende Therapiestrategie. Dieser Prozess wird als „clinical reasoning“ beschrieben und kombiniert Denk- und Entscheidungsvorgänge des Therapeuten während der gesamten Behandlung des Patienten, indem eigenverantwortlich agiert wird und/oder die Anweisungen der Entscheidungsträger kritisch reflektiert werden (Jones, 1997). Solche differenzierten Fähigkeiten sind nicht nur auf die praktische Anwendung von Fachwissen zurückzuführen, sondern berücksichtigen neben der Beziehungsfähigkeit auch persönliche Werte und Normen der involvierten Personen (Klemme & Siegmann, 2015). Dies setzt ethisches Reflexionsvermögen und ein hohes Maß an Verantwortung voraus (Magistro, 1989), da die fachspezifischen Kenntnisse auf dem neuesten Stand der Wissenschaft basieren und zum Wohl des individuellen Patienten die effektivste Maßnahme gewählt werden sollte. Dadurch wird der Physiotherapeut auch als ein moralischer Akteur im beruflichen Handeln skizziert (Triezenberg & Davis, 2000). Oftmals sind therapeutische Entscheidungen überaus komplex und müssen innerhalb weniger Sekunden oder Minuten getroffen werden, weshalb eine ethische Auseinandersetzung bewusst in der Ausbildung und im berufspraktischen Alltag reflektiert werden muss (Clawson, 1994).
Hieraus ergibt sich eines der essenziellsten Probleme für die Physiotherapie in Deutschland.
Während international die Diskussion zwischen Professionalisierung und Ethik gleichzeitig ablief, wurde sich in Deutschland überwiegend auf die klinische Forschung beschränkt (Scheel, 2013), obwohl die Diskussion ethischer Fragen einen überaus wichtigen Teil einer Professionalisierung ausmacht (Hudon et al., 2014; Hudon et al., 2016; Schwerdt, 2002; Stichweh, 1994). Gabard und Martin (2011) halten fest, dass die Ethik den Kern einer Profession formuliert und dadurch das Vertrauen der Gesellschaft gewonnen werden kann. Auch hat der Weltverband der Physiotherapeuten (WCPT) einen Ethikkodex formuliert, der ständig weiterentwickelt wird (WCPT, 2019). Jedoch wurde dieser erst 2017 in die deutsche Sprache übersetzt (Scherfer et al., 2017) und gilt bislang nur als lose Richtschnur für praktizierende Physiotherapeuten. Auch wird der Ethikunterricht lediglich als Unterpunkt in der Berufsfachschulausbildung genannt (BMJV, 2019a) und ist vorerst nur in den meisten Hochschulen fester Bestandteil des Curriculums (Jurgons, 2008). Dies wird jedoch als Grundvoraussetzung einer professionellen physiotherapeutischen Berufstätigkeit angesehen (WCPT, 2011a) und soll ein auf den Patienten bezogenes moralisches Handeln ermöglichen (Triezenberg & Davis, 2000). Das bedeutet, dass der Unterschied der Fachschulausbildung gegenüber dem Fachhochschulstudium nicht nur im Erwerb theoretischer und methodischer Kompetenzen liegt, sondern auch eine differenzierte Perspektive ethischer Kontextsituationen eröffnet. Ebenfalls wird in der Fachliteratur beschrieben, dass die explizite Entwicklung eines Berufsethos von besonderer Bedeutung ist, um eine Art Kollektivbewusstsein zu erzeugen und eine Professionalisierung entscheidend beeinflusst (Finch, Geddes & Larin, 2005; Schämann, 2006; Stichweh, 1994; 1996). Aus diesem Grund muss eine ethische Ausrichtung in der deutschen Physiotherapie verankert werden. Und die moralische Entwicklung des individuellen Therapeuten muss in Zukunft einen höheren Stellenwert einnehmen, um den Forderungen nach einem Direktzugang sowie einer beruflichen Selbstverwaltung gerecht werden zu können. Ein dergestalt aufgeklärter Physiotherapeut soll sich aus freiem Willen dazu entscheiden, eine von ihm selbst gewollte moralische Haltung zu entwickeln und ein professionelles Rollenbild auskleiden, da eine halbherzige Berufsidentität die Gefahr einer mittelmäßigen Berufsausübung in sich birgt (Sennett, 2002, zit. n. Strassnitzky, 2009, S. 28). In diesem Zusammenhang zeichnet sich ein neues Problem der Physiotherapie ab und zentralisiert eine weitere bedeutende Dimension der vorliegenden Studie. Fragen der Ethik tangieren auch immer im Wesentlichen das eigene und soziale Identitätsverständnis oder die Beschäftigung mit einer idealen Vorstellung von gewissen Handlungsweisen.
Einige Experten erkennen das Grundproblem und pointieren hierzu: „Die Auseinandersetzung mit der Ethik ist für den Professionalisierungsprozess der deutschen Physiotherapie zwar maßgeblich, jedoch nicht oder nur teilweise vorhanden“ (Jurgons, 2008, S. 1). An anderer Stelle heißt es: „Der Berufsgruppe fehlen Überzeugungen sowie Normen und Werte“ (Ophey, Beenen & Bant, 2007, S. 2). So stellt auch Richter fest (2016, S. 45): „Die Frage nach den typischen Merkmalen beruflicher Tätigkeit in der Physiotherapie bleibt bislang unbeantwortet.“ Daher erscheint es nicht verwunderlich, dass die Berufsidentität mehr als uneinheitlich wirkt (Rohrbach, Grafe & Zalpour, 2013; Schä- mann, 2006) und ein gemeinsames berufliches Selbstbewusstsein hemmt. Dies mündet in unklaren Berufstätigkeiten und erschwert die Grundlage einer ethisch reflektierten Handlungspraxis. Aus diesem Grund sieht Richter (2016) dieses Berufsbild nicht nur im Widerstreit mit dem „älteren Geschwister“ - der Medizin -, sondern auch im Streit mit sich selbst, was er mit einer eigenen abgrenzenden und gegenstandsbezogenen Definition ferner einer eigenen Berufsfunktion mit einer kritischen erkenntnisgewinnenden Grundlagenforschung aufzulösen empfiehlt. Zusätzlich könnte hierdurch eine elementare Begründung eines systemdefinierenden Kompetenzmonopols als Basis einer Profession aufgebaut werden.
Da es sich bei der deutschen Physiotherapie um eine relativ junge und wissenschaftsferne Disziplin handelt, kann sie auf keinen umfassenden ethischen Forschungsfundus zurückgreifen. Sie muss sich vielmehr angesichts einer Zunahme an wissenschaftlichen Bezugsdisziplinen sowie Wissensimporten vonseiten der Philosophie und anderen Wissenschaftsfeldern emanzipieren und dadurch gestärkt werden (Wilimczik, Bollert & Geuters, 2009). Nicht nur die Fähigkeit des Subjekts zum eigenständigen moralischen Handeln gilt es hervorzuheben, sondern auch die Bereitschaft zu fördern, persönlich Verantwortung zu übernehmen, um kollektiv das Berufsbild weiterzuentwickeln und durch eine wissenschaftlich reflexive Handlungsstruktur zu prägen. In diesem Sinne ist die Moral eine auf spezifischen Werten und Normen basierende Praxis, die konkrete Handlungsmuster gestaltet (Meinberg, 1995). Sie wurde von Kohlberg (1964) als eigenständige psychologische Fähigkeit etabliert, die in dieser Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit erfährt. Konflikte oder alltagspraktische Entscheidungen können dank dieser Fähigkeit konstruktiv und ohne Einsatz unfairer Mittel gelöst werden. Dadurch werden moralische Qualitäten zur Urteilsfindung aufgrund ethischer Argumente und nicht anhand subjektiver Meinungen bewertet. Da die Patienteninteraktion in den Therapieberufen als ein wichtiger Teil angesehen wird, sollte das Ziel der Ausbildungsinstitute neben den fachlichen Kompetenzen ebenfalls darin liegen, die Moral auszubilden (Lind, 2015). Schämann (2006) schlussfolgert diesbezüglich in ihrer Dissertation, dass die Vermittlung von ethisch-moralischen Grundsätzen mit einer adäquaten Integration in die Berufspraxis einen elementaren Stellenwert für die Physiotherapie einnimmt, um ein berufliches Selbstbewusstsein und eine kollektive Identität zu entwickeln.
Um eine positive Berufsentwicklung in der Physiotherapie zu intendieren, sollten sich auch die Lehrinstitutionen gezielter auf diese Handlungskompetenzen ausrichten, um in Zukunft eine bedarfsgerechte und patientenzentrierte Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Experten sehen es als einen wesentlichen Teil der Ausbildung an, die Therapeuten für die ethische Verantwortung im Berufsalltag zu sensibilisieren, um ein professionelles Verhalten der Physiotherapeuten sicherzustellen (Finch, Geddes & Larin, 2005; Geddes, Salvatori & Eva, 2009; Sisola, 2000; Triezenberg & Davis, 2000). Swisher (2010) konstatiert, dass die moralische Urteilsfähigkeit von Physiotherapeuten im Vergleich zu ähnlichen Berufsgruppen weniger ausgeprägt ist, sodass sie ebenfalls eine systematische Integration in die Ausbildung fordert. Finch et al. (2005) merken ebenfalls an, dass ein Großteil der in ihrer Studie befragten Physiotherapeuten in kritischen Situationen kaum ethische Prinzipien oder normative Theorien anwenden und ein fehlendes Verständnis dieser ethischen Entscheidungsfindung zu einer eingeschränkten Effektivität der Therapie führen kann.
Die Bildung eines kollektiven Berufsethos der deutschen Physiotherapie sowie einer moralischer Handlungskompetenz des individuellen Physiotherapeuten scheint in der bisherigen Berufsentwicklung unterrepräsentiert zu sein. Dies spielt im Zuge des Professionalisierungsdiskurses eine bedeutende Rolle, um sich den internationalen Berufsnormen anzupassen, national mehr Autonomie und Professionalität zu erlangen sowie in den kommenden Jahren eine effektivere Gesundheitsversorgung der Gesellschaft bzw. jedes einzelnen Patienten gewährleisten zu können.
1.2 Zielsetzung
Da eine diffuse Berufsidentität sowie eine unklare Berufslogik in der deutschen Physiotherapie diagnostiziert werden können und diese durch eine ungenügende ethische Diskussion begleitet wird, soll zu Beginn eine Schärfung einer idealtypischen Handlungsstruktur vorgeschlagen werden, um daraus eine professionelle Berufsfunktion zu rekonstruieren sowie Chancen und Risiken des beruflichen Entwicklungsprozesses der Physiotherapie darstellen zu können. Dies dient insbesondere dazu, um sich als eine separat im Gesundheitssystem eingegliederte Funktionsrolle herauszuheben sowie ein Fundament für die Entwicklung eines einheitlichen Berufsethos zu schaffen. Erst durch ein konsistentes berufliches Leitbild und ethischen Handlungsweisen einschließlich ihrer systemdefinierenden Anwendung kann eine Professionalisierung strukturiert werden (Stichweh, 1992; 1994). Dadurch soll ein zentraler Teil einer „Selbstthematisierung[] professioneller Beruflichkeit“ (Stichweh, 1996, S. 66) sowie ein selbstinitiiertes Lösungsmuster für Funktionsprobleme der eigenen Berufszuständigkeit erarbeitet werden (ebd.).
Des Weiteren liegt das Ziel der vorliegenden Studie darin, zu beschreiben, inwieweit die deutschen Physiotherapeuten bewusst die Bedeutung einer Berufsethik und eine moralische Fähigkeit für die Entwicklung einer beruflichen Professionalität wie auch der Professionalisierung begreifen. Darüber hinaus sollen moralische Dilemmata herausgearbeitet werden, die häufig im Arbeitsalltag als problematisch angesehen werden. Dies soll für die Ausbildung genutzt und ausblickend eine ethische Auseinandersetzung eingeleitet werden, da eine Reflexion berufseigener Konfliktsituationen, mit denen sich eine Berufsgruppe besonders häufig konfrontiert sieht, ebenfalls ein bedeutendes Element des Professionalisierungsprozesses darstellt (Triezenberg, 1996). Diese moralischen Zwangslagen gelten in den physiotherapeutisch professionalisierten Ländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Finnland und Dänemark als identifiziert und in die Ausbildung integriert, um die Berufsadepten auf ihre zukünftigen Aufgaben vorzubereiten (Barnitt, 1998; Geddes, Wessel & Williams, 2004; Guccione, 1980; Hudon, Drolet & Williams-Jones, 2015; Kulju, Suhonen & Leino-Kilpi, 2013; Praestegaard & Gard, 2013; Triezenberg, 1996). Jedoch unterscheiden sie sich innerhalb der
Gesundheitsfachberufe sowie der divergierenden Gesundheitssysteme und gelten vor allem in der Physiotherapie als einzigartig (Swisher, 2002), was zudem die Notwendigkeit einer genaueren Betrachtung nunmehr auch in Deutschland unterstreicht.
Die moralischen Dilemmata sowie die professionsbezogenen und ethischen Ansichten von fünf Physiotherapeuten mit einer Berufsfachschulausbildung und jeweils fünf Physiotherapeuten mit Bachelor- und Masterabschluss sollen herausgearbeitet werden, um möglichst viele unterschiedliche Perspektiven zu erfassen und für einen beruflichen Entwicklungsprozess einzusetzen. Vor diesem Hintergrund konnte gezeigt werden, dass unterschiedliche Bildungsschwerpunkte einen erheblichen Einfluss auf die moralische Entwicklung haben und dass dies zu einer Differenzierung des moralischen Urteils sowie den daraus resultierenden Handlungsfolgen führt (Gaul, 1987; Schillinger, 2006). Aus diesen Ergebnissen mit deren Relationierung soll eine makrodidaktische Skizze für einen Ethik- und Moralkompetenzunterricht konzipiert werden, um den Lernenden bzw. Studierenden einen verantwortungsvollen Umgang mit ethischen Aufgabenstellungen sowie die Entwicklung eines physiotherapeutischen Ethos in Form eines professionellen Habitus zu ermöglichen (Begemann, Heckmann & Weber, 2016; Finch, Geddes & Larin, 2005). Ferner soll ihre Fähigkeit geschärft werden, unter Anwendung persönlicher Werte ein verantwortungsbewusstes Handeln aus den richtigen Gründen abzuleiten (Gabard & Martin, 2011; Peer & Schlabach, 2007), das sie dazu befähigt, sich an professionellem Handeln auszurichten, um eine bedarfsgerechte Patientenversorgung zu gewährleisten. Erst nachdem die zentrale Rolle der Ethik im Umgang mit den Patienten erkannt und ein konsistenter Ethikunterricht im Curriculum verankert wurde, ist es der Physiotherapie möglich, sich zu professionalisieren (Triezenberg & Davis, 2000). In diesem Zusammenhang wurde nachgewiesen, dass durch entsprechende Bildungsmaßnahmen die Kompetenz gestiegen ist, ethische Fragestellungen angemessener zu reflektieren und moralische Handlungen besser zu beurteilen, sodass diese in einer potenzierten Form einer Professionalität angewandt werden können (Bebeau & Thoma, 1994; Geddes, Salvatori & Eva, 2009; Krawczyk, 1997; Lind, 2015; Rest & Thoma, 1985; Schlaefli, Rest & Thoma, 1985; Swisher et al., 2012): „The way students will live their lives as professionals is constructively influenced by ethics courses“ (Rest & Narvaez, 1994, S. x).
Ein weiteres Ziel ist es, einen Diskurs über die Moralkompetenz des individuellen Therapeuten im Zuge der Professionalisierung zu initiieren, der sich nicht nur auf die evidenzbasierte Behandlung des Patienten konzentriert, sondern darüber hinaus dazu führen soll, eine (selbst-)reflektierte Sichtweise in die Praxis einzubinden. Damit soll ein allgemeines Bewusstsein für eine Ethik im Beruf des Physiotherapeuten, eine moralische Expertise und die verantwortungsvolle Anwendung in der Berufspraxis geschaffen und dieser Themenkomplex erweitert werden. Johnson und Abrams (2005) sehen vor allem in einem unabhängigen moralischen Urteil des Physiotherapeuten eine enorme Steigerung der Berufsautonomie, was mit dem Direktzugang als berufspolitisches Ziel einer Professionalisierung unterstrichen wird. Neben den Untersuchungen von Jurgons (2008; 2010) und Scheel (2013), die sich mit einer berufsethischen Skizzierung befasst haben, wurde bislang keine wissenschaftliche Arbeit in Deutschland veröffentlicht, die sich aus dieser Perspektive einer ethisch-moralischen Annäherung in Bezug zur Professionalisierung der deutschen Physiotherapie gewidmet hat. Durch die vorliegende Untersuchung sollen nicht nur Rückschlüsse auf die derzeitige Berufskultur der Physiotherapie in Deutschland ermöglicht werden, sondern auch ein Ausblick auf weitere notwendige Studien in diesem Themenbereich.
1.3 Forschungsfragen
Mit der erstrebten Aussicht einer professionellen Handlungsstruktur, einer klaren Berufsfunktion und eines gesteigerten ethischen Reflexionsvermögens der deutschen Physiotherapeuten ergibt sich folgend die Fragen nach der konkreten Interpretation des Berufsbildes, welche moralischen Dilemmata die Berufsangehörigen bewusst im Berufsalltag wahrnehmen und wie dadurch die Professionsbestrebungen beeinflusst werden können. Von diesem Standpunkt aus soll eine Perspektive hinsichtlich des ethischen und moralischen Verständnisses in der Berufsgruppe eröffnet werden, um eine Kompetenzerweiterung und einen weiteren Impuls hinsichtlich der bestehenden Professionalisierungsabsichten zu erwirken. Da sich ein solches Vorhaben direkt in der Berufsgruppe widerspiegelt und in hohem Maße durch die Mitglieder mitgestaltet wird, soll ein subjektnaher Zugang gewählt werden, um eine individuelle Perspektive zu diesem Kontext zu erhalten. Gerade bei diesem noch ungenügend erforschten Themengebiet der deutschen Physiotherapie ist anzunehmen, dass berufsorganisatorische und -biografische Einflüsse von großer Bedeutung sind.
Aus den bisherigen Ausführungen werden daher folgende Forschungsfragen abgeleitet:
- Kann anhand der berufstypischen Handlungsstruktur überhaupt ein professionelles physiotherapeutisches Berufsbild realisiert werden, auf dessen Grundlage sich ein autonomes moralisches Handeln herausbilden kann?
- Wie blicken die befragten Therapeuten auf das derzeitige Spannungsfeld der deutschen Physiotherapie? Und welche Chancen können daraus abgeleitet werden, um das Berufsbild zu professionalisieren?
- Sind sich die befragten Physiotherapeuten der Bedeutung einer Ethik im Beruf sowie einer moralischen Kompetenz der Therapeuten in Bezug auf eine professionelle physiotherapeutische Alltagspraxis bewusst?
- Mit welchen ethischen Fragestellungen und Dilemmata sehen sich die befragten Physiotherapeuten im Berufsalltag konfrontiert? Und wie lassen sich diese Befunde für eine Professionalisierung nutzen?
- Können aus den gesammelten Daten essenzielle Inhalte für einen Ethik- und Moralkompetenzunterricht für die deutsche Physiotherapie skizziert und aufbereitet werden?
Den zentralen Forschungsfragen gliedern sich wiederum Aspekte zur Aufbereitung der deutschen Physiotherapie, der unterschiedlichen Mechanismen einer Professionalisierung sowie der Ausarbeitung eines allgemeinen sowie spezifischen ethischen und moralischen Verständnisses in Bezug auf die Einflussnahme des Berufsbildes und des einzelnen Physiotherapeuten unter. Die Zusammenhänge werden in Kapitel 2 erläutert und bauen thematisch aufeinander auf, um dem Bedürfnis einer beginnenden Auseinandersetzung dieses Sachgebietes nachzukommen. Die Kernfragen sollen durch ein qualitatives Studiendesign mittels Experteninterviews beantwortet werden, bei denen die Schwerpunkte in die Stränge einer derzeitigen Auseinandersetzung mit dem Berufsbild, den Professionalisierungschancen, einer beruflichen Ethik sowie den moralischen Dilemmata aufgeteilt werden.
1.4 Aufbau der Arbeit
Kapitel 2 steckt den fachtheoretischen Bezugsrahmen zu dieser Arbeit ab und zeigt welche Implikationen zwischen der beruflichen Situation des Physiotherapeuten, einer Professionalisierungsabsicht und einer ethischen Auseinandersetzung mit einer moralischen Kompetenzentwicklung gegeben sind und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Zunächst soll sowohl eine nationale als auch eine internationale Charakterisierung der Physiotherapie herangezogen werden, um eine differenzierte Sicht auf das derzeitige Spannungsfeld der eigenen Berufsidee sowie den gegebenen Handlungsspielräumen in Deutschland zu vermitteln. In diesem Teil soll nicht nur die historische Entwicklung, sondern auch der derzeitige Zustand der Physiotherapie im Inland erörtert werden. Ferner wird aufgezeigt, weshalb die Physiotherapeuten in ihrem eigenen Berufsbild nicht über den gewünschten Handlungsspielraum für eine berufsprofilbezogene Veränderung verfügen. Darüber hinaus werden auch die wichtigsten Merkmale und Kompetenzen, die ein professionelles Handeln in der Physiotherapie ausmachen, beschrieben, um die Charakteristika der angestrebten Profession aufzuzeigen. Dies beinhaltet ein Verständnis und die Anwendung des Clinical-Reasoning-Prozesses, des Direct Access sowie des evidenzbasierten Handelns. Im nächsten Schritt wird der theoretische Bezugsrahmen hinsichtlich der Differenzierung unterschiedlicher Professionsmodelle mit deren Ausgestaltung erklärt. Die darin enthaltenen theoretischen Ansätze und die Anmerkungen aus den vorherigen Kapiteln bieten Aufschluss darüber, warum die Physiotherapie derzeit vor der komplizierten Aufgabe steht, sich zu einer Profession zu entwickeln und wie ein möglicher Ausgang formuliert werden könnte.
Des Weiteren werden auch diverse Aspekte der Akademisierung genannt, um die Diskussion einer flächendeckenden Transformation auf ein Hochschulniveau anzuregen bzw. fortzuführen (Schä- mann, 2006). In diesem Abschnitt soll ein Zusammenhang hergestellt werden, wie die deutsche Physiotherapie dem Risiko eines berufssoziologischen Stillstandes entgegenwirken, ihr eigenes Berufsprofil schärfen und sich gegenüber anderen Berufsgruppen behaupten kann. Einen weiteren essenziellen Aspekt des theoretischen Hintergrundes stellt der Bezug zur Ethik dar. Aufgezeigt werden soll zunächst, weshalb gerade sie so wichtig ist, um eine Profession entstehen zu lassen, und warum dies vor allem für die Physiotherapie gilt. Neben den ethischen Grundlagen werden vorliegende normative Ethikmodelle beschrieben, die eine Anleitung der Reflexion ethischer Fragestellungen im Berufsalltag bieten und daher in den Ethikunterricht für angehende Therapeuten integriert werden sollen (Triezenberg & Davis, 2000).
Abgerundet wird dieser Themenkomplex durch die Auseinandersetzung mit dem Ethikkodex der WCPT (Scherfer et al., 2017) und den Ausführungen von Scheel (2013), der eine berufsethische Ver- ortung innerhalb Deutschlands gelungen ist, sowie durch eine Beschreibung des einschlägigen internationalen Schrifttums. In Kapitel 2.4 steht die Moral im Zentrum des Interesses. Auch hier gilt es, den Begriff zunächst zu operationalisieren und bisherige Standpunkte einer moralischen Fähigkeit und deren Entwicklung zu diskutieren. Zudem wird ein Bezug zur Moralkompetenz hergestellt und erklärt, mit welchen spezifischen Maßnahmen eine Entwicklung gefördert werden kann, welche vorangegangenen Untersuchungen hinsichtlich dieses Themenkomplexes Aufschluss über eine allgemeine Fachkulturentwicklung geben und welche Konsequenz dies für die deutsche Physiotherapie haben kann. Das Ziel dieser Theorieleitung besteht zum einen darin, dass ein breitbasiger Unterbau als Informationsquelle den Zugang zu diesem Themenkomplex unterstreichen soll. Zum anderen sollen die bearbeiteten Inhalte in einen Ethik- und Moralkompetenzunterricht für Physiotherapeuten während der Ausbildung und Studium einfließen, um eine Kompetenzerweiterung dieser zu ermöglichen. Kapitel 3 beinhaltet die Darlegung und Begründung der in der empirischen Untersuchung zur Professionalisierung der Physiotherapie angewandten wissenschaftlichen Methoden sowie das konkrete Verfahren der Durchführung und Auswertung der Experteninterviews. Diesbezüglich werden die Beschreibungen der Ergebnisse und die Darstellung im nachfolgenden Kapitel auf deskriptiver Ebene eingegliedert. Kapitel 5 umfasst die Interpretation und Diskussion der in den Experteninterviews ermittelten Ergebnisse. Reflektiert wird darin, welche Gefühle, Sorgen und Erwartungen die befragten Physiotherapeuten einer berufsbezogenen Auseinandersetzung mit ethischen und moralischen Fähigkeiten in Verbindung mit dem Prozess der Professionalisierung beimessen, mit welchen ethischen Fragestellungen sie konfrontiert sind und wie ein Ethik- und Moralkompetenzunterricht diese Bestrebungen forcieren kann. Ein Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf im Rahmen dieses Themengebietes rundet die Ergebnisse ab.
Tabelle 1: Überblick über den Aufbau der vorliegenden Studie
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
- Moralentwicklung
Professionalisierung durch Ethik und Moralkompetenz
2 Theoretischer Bezugsrahmen
2.1 Physiotherapie: Implikationen eines Gesundheitsfachberufes
Die Reflexion eines allgemeingültigen Bezugsrahmens für die deutsche Physiotherapie stellt sich insofern als Herausforderung dar, weil unterschiedliche Ausbildungsregelungen der einzelnen Bundesländer, abweichende Unterrichtsinhalte der Berufsfachschulen sowie der praktischen Befähigungen bestehen, die den rechtlichen Vorlagen des Gesundheitssystems, aber auch durch Überschneidungen anderer Berufsgruppen geschuldet sind. Aus diesem Grund muss das Tätigkeitsfeld der Physiotherapeuten mehrdimensional untersucht werden, damit die unterschiedlichen Strukturen differenziert dargestellt werden können.
Zudem liegt eine Vielzahl von Theorien, Praxismodellen, Therapiekonzepten und Behandlungstechniken vor, die eine einheitliche Erschließung erschweren. Theorien und Modelle ergeben insoweit einen Sinn, als sie eine Art roten Fadens für eine physiotherapeutische Identität darstellen (Probst, 2004). In wissenschaftlicher Hinsicht dienen sie dazu, therapieentscheidende Informationen zu bündeln, für Phänomene und Sachverhalte eine möglichst exakte Aussage zu ermöglichen sowie das berufliche Denken und Handeln zu strukturieren (Höppner & Richter, 2018; Probst, 2004). Hierzu zählen die „Movement Continuum Theory“ (Cott et al., 1995; Höppner & Richter, 2018), „The Not- So-Impossible Dream“ (Hislop, 1975), „Das neue Denkmodell“ (Hüter-Becker, 1997), „Modell der menschlichen Bewegung“ (Probst, 2007), das „Mehrdimensionale Belastungs-Belastbarkeits-Modell“ (Bernards et al., 1999; van Vonderen, 2005) und das „biopsychosoziale Modell“ (Engel, 1977; 1980). Als Vermittlung zwischen Theorie und Praxis dienen Modelle in der Physiotherapie der Beschreibung bestimmter Tätigkeitsbereiche und Qualitäten als klare Abgrenzungen zu anderen Berufsgruppen (Höppner & Richter, 2018; Probst, 2004): „Sie sind für die Professionalisierung der Berufsgruppe der Physiotherapeuten unerlässlich“ (Hengeveld, 2004, S. 65). Konzepte hingegen konstruieren die theoretischen Grundlagen, die ein therapiebezogenes Arbeiten ermöglichen (Scheel, 2013). In diesem Rahmen werden Indikationen für therapeutische Handlungen gestellt, der weitere Therapieverlauf anhand der individuellen Patientenproblematik definiert sowie Ziele und Erfolge festgelegt. Dementsprechend werden Prinzipien, Techniken und Methoden beschrieben, die Leitgedanken, Wirkungsgrenzen und die gesamte Therapieabfolge umspannen, während die Behandlungstechniken die spezifischen Mittel darstellen, über die der Physiotherapeut verfügt und die einem bestimmten therapeutischen Ziel dienen.
Die deutsche Physiotherapie wird in ihrer allgemeinen Form als ein spezifisches physisches Training und äußerliche Anwendung bestimmter Heilmittel beschrieben, wodurch die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederhergestellt wird (Brechtel, Kossack & Grandt 2016). Dabei sollen die natürlichen und physiologischen Reaktionen des Organismus genutzt und die Patienteneigenverantwortung gefördert werden. Es werden somit Effekte auf Körperstrukturen, die körperliche Aktivität und die soziale Teilhabe für eine sensomotorische Selbstbestimmtheit für Patienten oder Patientengruppen erwirkt (Probst, 2007). Physiotherapeuten sind dafür verantwortlich, die Lebensqualität der Patienten durch eine eigenständige Befundaufnahme, optimale Therapie und fachgerechte Aufklärung bedarfsorientiert zu fördern. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt gemäß Berufsordnung in der Krankengymnastik und Bewegungstherapie (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2012). Massage-, Thermo-, Elektro-, Hydro-, Ultraschall-, Balneo- und Inhalationstherapie ergänzen die genannten Primärmaßnahmen. Diese Techniken finden in den jeweiligen Teildisziplinen der Medizin Anwendung, die durch Fortbildungen mit den Leistungsträgern abrechnungsfähig werden. Darüber hinaus ermöglicht dieser Beruf in Deutschland die Möglichkeit, in einer leitenden Position zu arbeiten sowie als Dozent zu lehren oder zu forschen, wobei Schämann (2006) anmerkt, dass das Berufsbild ohne eine akademische Ausbildung einen Sackgassencharakter aufweist und die Berufsinhaber schnell durch Monotonie an ihre physischen und psychischen Grenzen geraten.
In der genannten Berufsordnung wird der Physiotherapeut dazu verpflichtet, sich den ärztlichen Diagnosen unterzuordnen und die Therapiesteuerung in diesem Rahmen zu planen und zu dokumentieren. Zudem wird in dieser Satzung auf die therapeutische Schweigepflicht, die Patientenaufklärung, die Fort- und Weiterbildung und die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen sowie vor allem die weisungsgebundene Rücksprache mit dem Arzt hingewiesen, was das Machtverhältnis der Mediziner gegenüber den Physiotherapeuten manifestiert (Scheel, 2013). Der deutsche Verband für Physiotherapie vertritt hingegen ein nebulöses Berufsverständnis: „Bei dem Begriff Physiotherapie handelt es sich um den Oberbegriff, der alle aktiven und passiven Therapieformen umfasst“ (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2017c, S. 1). Dabei ist auch der Aufgabenbereich durch das Masseur- und Physiotherapeutengesetz (MPhG) streng reglementiert.
„Die Ausbildung soll entsprechend der Aufgabenstellung des Berufs insbesondere dazu befähigen, durch Anwendung geeigneter Verfahren der Physiotherapie in Prävention, kurativer Medizin, Rehabilitation und im Kurwesen Hilfen zur Entwicklung, zum Erhalt oder zur Wiederherstellung aller Funktionen im somatischen und psychischen Bereich zu geben und bei nicht rückbildungsfähigen Körperbehinderungen Ersatzfunktionen zu schulen“ (BMJV, 2019b, § 8, MPhG).
Die World Confederation of Physical Therapy (WCPT) vertritt demgegenüber eine liberalere Auslegung des Aufgabenbereiches der Physiotherapeuten. Sie beschreibt, dass das Handlungsfeld von den jeweiligen nationalen Verbänden gestaltet werden soll, da unterschiedliche Gesundheitssysteme in den jeweiligen Ländern verschiedene Voraussetzungen bieten, die jedoch mit den Richtlinien dieses Weltverbandes übereinstimmen sollten (WCPT, 2017a). Die Physiotherapieverbände werden in die Pflicht genommen, Regulierungen von den Gesetzgebern einzufordern, um ein professionelles und autonomes Handeln der Physiotherapeuten zu gewährleisten (WCPT, 2011b).
Dabei sollte das Ziel der Physiotherapie in der Wiederherstellung und dem Erhalt der Gesundheit, des Wohlbefindens, der Optimierung des beeinträchtigten Bewegungsverhaltens sowie der Teilhabe am sozialen Leben liegen. Die praktischen Handlungen der Therapeuten sollen flexibel an das jeweilige Krankheitsbild adaptiert, mit einer evidenten Therapieform unterfüttert und für das Gesundheitssystem wirtschaftlich schonend durchgeführt werden (WCPT, 2017a). Angesichts der Zunahme des nationalen und internationalen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist eine regelmäßige Novellierung der Therapeutenexpertise erforderlich, um den Patientenbedürfnissen gerecht zu werden. Dies muss einerseits der Physiotherapeut durch eine reflektierte Integration klinischer Forschung leisten, und andererseits sind es die Berufsverbände, welche die Entwicklungen assimilieren und umsetzen müssen. Darüber hinaus sieht sich der professionelle Physiotherapeut mit der Identifizierung und Maximierung der Lebensqualität sowie des Bewegungspotenzials des Patienten durch die Prävention und Rehabilitation konfrontiert. Dazu grenzt die WCPT die Physiotherapie mit folgenden Eckpunkten ein (WCPT, 2017a):
- Da die Bewegung einen wesentlichen Bestandteil der Gesundheit und des Wohlempfindens darstellt, ist die Physiotherapie auf die Bewegungsbedürfnisse der Patienten ausgerichtet.
- Der Mensch ist ein physisches, psychisches und soziales Wesen und sollte dementsprechend als autonom wahrgenommen werden.
- Der Physiotherapeut soll in der Lage sein, selbstständig eine Diagnose zu stellen und den Behandlungsprozess des Patienten zu leiten. Dieser Prozess wird als clinical reasoning bezeichnet.
- Physiotherapeuten sind professionelle Praktiker mit einem wissenschaftlichen und ethischen Verständnis.
Des Weiteren fordert die WCPT (ebd.) profunde Kenntnisse der eigenen Berufsgeschichte sowie von Praxismodellen und der Definition der Physiotherapie, Respekt vor den Werten und Normen anderer, spezielle Fachtermini, ein evidenzbasiertes Handeln sowie die Förderung der Berufsentwicklung der Physiotherapie. Hinzu kommt die Aufforderung, sich selbstbestimmt nach ethischen Grundsätzen zu richten und diese in die Therapie einzubetten.
Auch die American Physical Therapy Association (APTA) hat eine sehr konkrete Vorstellung davon, wie das Bild der Berufsgruppe der Physiotherapeuten in den USA dargestellt werden soll. Der Fokus liegt auch hier wieder in der Bewegung für eine bestmögliche Lebensqualität und der Teilhabe an gesellschaftlicher Interaktion. Bemerkenswert ist auch hier, dass das Wohl der Patienten und gleichzeitig die Reduktion unnötiger Gesundheitskosten in die Beschreibung einfließen (APTA, 2019a). Die APTA (ebd.) konkretisiert diverse Prinzipien, die ein Verständnis der physiotherapeutischen Tätigkeit implizieren sollen:
- Identität: Der Physiotherapeut sieht die Grundlage seines selbstständigen Handelns in der Bewegung für die körperliche Funktion. Dies soll unter dem Aspekt der Gesundheit beim Individuum und der Gesellschaft gefördert werden.
- Qualität: Der Physiotherapeut verpflichtet sich, seine therapeutischen Maßnahmen nach den besten evidenzbasierten Standards auszurichten, um sich den Bedürfnissen im Gesundheitssystem flexibel anpassen und den Patienten bestmöglich versorgen zu können.
- Zusammenarbeit: Der Physiotherapeut soll den Wert kollegialer Kooperation schätzen und zum Wohle der gesamten Gesellschaft gesundheitsbezogene Herausforderungen mit anderen Berufsgruppen lösen.
- Ökonomische Effizienz: Physiotherapeutische Dienstleistungen sollen sicher, effizient, zeitnah und patientenorientiert erfolgen. Der Physiotherapeut unterliegt somit einer Rechenschaftspflicht.
- Innovation: Der Beruf des Physiotherapeuten soll kreative und vorsorgliche Lösungsstrategien in Gesundheitsdienst, Ausbildung und Forschung anbieten, um seinen Wert in der Gesellschaft zu erhöhen.
- Patientenzentrierung: Der Beruf des Physiotherapeuten umfasst zudem kulturelle Kompetenzen als notwenige Fähigkeit, um jedem einzelnen Patienten unabhängig von Herkunft, Geschlecht und/oder Religion neutral zu begegnen und in der Behandlung die jeweiligen Werte und Normen berücksichtigen zu können.
- Zugang: Die Physiotherapeuten sollen Disparitäten im Gesundheitssystem erkennen und Lösungen anbieten, um den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu erleichtern.
- Interessenvertretung: Dies bedeutet, dass die Interessen der Patienten berücksichtigt werden und die Belange des Berufsstandes im Fokus stehen.
Durch die unterschiedlichen Darstellungen der Physiotherapie wird deutlich, dass eine klare Berufsfunktion, die eigenen Handlungsspielräume sowie bestimmte Prinzipien, die das Berufsbild markant hervorheben, in Deutschland noch nicht so weit wie im Ausland entwickelt sind. Dabei lässt die Geschichte der deutschen Physiotherapie einige Entwicklungsrückschläge erkennen, die ein professionelles Selbstbild erschweren. Und sie zeigt, dass sich die positive Außendarstellung nicht in einem solchen Ausmaß wie im Ausland entwickeln ließ, da die Fremdbestimmung der Physiotherapie durch die Ärzteschaft bereits zu Beginn des 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm (Scheel, 2013). Eine positive Erscheinung war jedoch mit einer Intensivierung der Professionsbestrebung zu erkennen, die sich in den letzten Jahren - durch die beginnende Akademisierung - immer mehr etablieren konnte. Hiermit konnte eine qualitative Vertiefung und eine quantitative Entfaltung der beruflichen Aufgaben in den einzelnen Diversifikationen eingerichtet werden. Dies führte zu einer Inanspruchnahme neuer Tätigkeitsfelder (Klemme, Geuter & Willimczik, 2007) und konnte durch den derzeitigen Prozess der Verwissenschaftlichung eine Neuausrichtung der Physiotherapie mit einer systemrelevanten Funktion im Gesundheitssektor weiterhin positiv beeinflussen.
2.1.1 Zur Geschichte der Physiotherapie
Durch die Publizierung und Verbreitung der Gedanken und Methoden des schwedischen Arztes Per Hendrik Ling (1776-1839), der als Begründer der Krankengymnastik bezeichnet wird, wurden auch deutsche Ärzte auf die neuartige schwedische Heilgymnastik aufmerksam, die sich erstmals mit der systematischen Gliederung von Bewegungsabläufen auseinandersetzte (Grosch, 1996).
Vor allem dem Offizier Hugo Rothstein (1810-1865), dem Arzt Albert Constantin Neumann (18031870) und dem Mediziner Moritz Michael Eulenburg (1811-1887) ist es zu verdanken, dass die Heilgymnastik auch in Deutschland etabliert werden konnte. Vor allem Neumann schaffte es, eine größere Zahl an therapeutischen Maßnahmen zu etablieren, um Krankheitsbilder auch kurativ beeinflussen zu können (Schöler, 2005). Neumann gründete einen Kurssaal für Heilgymnastik und bildete ab 1853 Gymnastinnen und Gymnasten in Berlin aus. Das kann als die Geburtsstunde der Physiotherapie in Deutschland betrachtet werden (Schewior-Popp, 1994). Durch die hohe Zahl von Kriegsverletzten im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871 erhielt die Heilgymnastik weiteren Aufschwung. Durch diese Phase beflügelt, wurde 1900 die erste gymnastische Lehranstalt von dem Kieler Arzt Johann Hermann Lubinus (1865-1937) mit der Genehmigung des preußischen Kultusministeriums eröffnet, um den Bedarf durch ausgebildete Gymnastinnen und Gymnasten zu decken. Bis 1919 blieb die heilgymnastische Schule in Kiel die einzige in Deutschland.
Dies lag unter anderem auch daran, dass sich die Ärzte an der Einnahme ihrer Kompetenzen störten und 1912 mit einer Resolution gegen die Autonomisierung der Therapeuten vorgingen (Schewior- Popp, 1994). Hier ist bereits ein erster deutlicher Ansatz zu erkennen, der einer eigenständigen Entwicklung der Physiotherapie in Deutschland entgegenwirkte (ebd.). Um die hohe Nachfrage nach Krankengymnasten nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) decken zu können, wurde 1919 in Dresden die Staatsanstalt für Krankengymnastik und Massage gegründet. Die Krankengymnastik als Begriff wurde somit in den offiziellen Sprachgebrauch übernommen. Neben den neu gegründeten Schulen in München (1926), Frankfurt (1928), Marburg (1929) und Freiburg (1935) konnten sich neue Therapieformen etablieren (Hüter-Becker, 2004; Schewior-Popp, 1994). Schewior-Popp (1994) konstatiert, dass diese Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg der Verberuflichung gegolten hat und danach erste Anzeichen einer Professionalisierung ersichtlich waren, da die Berufsbezeichnung nur geprüften Krankengymnasten zugesprochen werden durfte. Durch die zu geringe Anzahl der Therapeuten während des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) mussten notgedrungen Turnlehrerinnen und Krankenschwestern diese Aufgaben übernehmen, was zu einer Deprofessionalisierung durch eine Inanspruchnahme von therapietypischen Tätigkeitsfeldern von anderen Berufsgruppen führte. Auch noch Jahre danach musste sich die Krankengymnastik um eine erneute Konsolidierung des Berufsbildes bemühen.
Als im Jahr 1949 die Fachzeitschrift für Krankengymnasten und im selben Jahr der Zentralverband der Krankengymnasten1 gegründet wurden, konnte ein überregionaler Informationsfluss zwischen den Mitgliedern stattfinden (Hüter-Becker, 2004). Zudem konnten diverse Interessen der einzelnen Krankengymnasten zusammengefasst und einheitlich vertreten werden. Des Weiteren waren sogar Orthopäden daran interessiert, die Qualität der Ausbildung zum Krankengymnasten zu verbessern, da sie erkannten, welchen Stellenwert die Rehabilitation nach Verletzungen hat. Einige Jahre später tritt der Zentralverband der Krankengymnasten der WCPT bei, der auch Verbände aus anderen Ländern beigetreten sind. Durch die Internationalisierung und schnelle Verbreitung neuer Therapiemethoden - wie der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation und dem Bobath-Konzept, die auf neurophysiologischen Grundlagen basieren -, konnten sich die Krankengymnasten dem therapeutischen Erkenntnisstand entsprechende Fähigkeiten aneignen (ebd.).
Im Jahr 1962 wurden die ersten Lehrkräfte in Berlin ausgebildet, die über ein vertieftes Wissen in der Krankengymnastik und eine gesonderte pädagogische Kompetenz verfügten. Dadurch konnte die qualitative Ausgestaltung der Ausbildung durch eigene Berufsanhänger gesteigert werden.
Hinsichtlich der medizinischen Neuausrichtung der Nachbehandlung von Patienten erfuhr die Krankengymnastik in den 1970er-Jahren einen regelrechten Boom. Dank der Frühmobilisation verkürzte sich die passive Regenerationsphase der Patienten um Tage und Wochen. Hinzu kamen auch noch neue Operationstechniken in allen Fachbereichen der Medizin, wodurch auch Komplikationen abgewendet werden konnten. Durch diese intensive Phase der Krankengymnastik verdoppelte sich die Zahl der Berufsfachschulen von 1971 bis 1981 von 22 auf 44 (Hüter-Becker, 2004; Schewior-Popp, 1994). Die 1980er-Jahre waren durch steigende Kosten für die Krankenkassen durch die kurative und rehabilitative Medizin charakterisiert, wobei die Gesundheitspolitik vor allem bei chronischen Rückenschmerzen und Herzkreislauferkrankungen den hohen Stellenwert der Prävention entdeckte. In diesem Jahrzehnt hat die Krankengymnastik festen Fuß in fast allen Teilbereichen der Medizin fassen können und zeichnete sich mittlerweile durch eine Vielzahl von Behandlungs- und Untersuchungstechniken aus. Es folgten selbst organisierte Fachkongresse, Weiterbildungsnetzwerke und Fachlehrbücher, die nicht mehr nur von Medizinern verfasst, sondern zunehmend auch von Physiotherapeuten geschrieben und publiziert wurden. Nach der deutsch-deutschen Vereinigung im Jahr 1990 war eine Neugestaltung der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung zwingend notwendig.
2.1.2 Im Spannungsfeld der Moderne
Noch immer befasst sich die derzeitige Fachdiskussion der Physiotherapie mit der heterogenen Ausbildungsstruktur in Deutschland, die sich durch eine fehlende Bindung an curriculare Vorgaben, rigide Stundenpläne, geringe Ausrichtung an ganzheitlichen Praxismodellen und eine zu intensive Orientierung an der Fachtheorie anstelle von Sozial- und Methodenkompetenzen auszeichnet (Höppner, 2008). Der demografische Wandel, veränderte sozioökonomische Rahmenbedingungen und die kontinuierliche Zunahme des Erkenntnisstandes durch medizinische und therapeutische Forschung führen permanent zu neuen Anforderungen an die deutsche Physiotherapie (Bollinger, 2005; Erhardt et al., 2015; Schämann, 2006), die grundlegend noch auf das MPhG von 1994 (BMJV, 2019b) ausgerichtet ist und den heutigen Standards nicht mehr gerecht werden kann. In diesem Gesetzestext sind die geschützte Berufsbezeichnung, die Berufsaufgaben sowie die allgemeinen Zulassungsbestimmungen festgelegt. Die Verantwortung für weitere Regelungen wie Unterrichtsgestaltung und qualitative Ordnung der Ausbildung wird auf Landesebene delegiert (Lehmann et al., 2014). Bei diesen Regelungen fallen die Zuständigkeiten in den jeweiligen Bundesländern auf unterschiedliche Ämter und Ministerien (Hügler, 2017; Wasner, 2006).
In Großbritannien wird diese Verantwortung durch eine Berufskammer getragen, welche die Standards sichert und die Eignung der Berufsangehörigen überprüft (HCPC, 2013). Für die Qualitätssicherung der professionellen Berufsausübung und die fachgerechte Ausbildung wird zudem noch eine Verbindlichkeit von der Quality Assurance Agency for Higher Education hergestellt (QAA, 2001). Da die deutsche Physiotherapieausbildung in erster Linie dem sekundären Bildungssektor zugeordnet ist, wird sie dadurch über den Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) auf Niveau 4 eingestuft, wohingegen die nationalen und internationalen Bachelorabschlüsse konsequent Qualifikationsniveau 6 zugeordnet werden (BMBF, 2013; Lehmann et al., 2014). Im Gegensatz zu Deutschland sind die Ausbildungsstrukturen in einigen anderen europäischen Ländern so ausgerichtet, dass die Physiotherapeuten dort ein erweitertes Handlungsspektrum abdecken können (Lehmann et al., 2014). In Tabelle 2 werden die Unterschiede der einzelnen Ausbildungsschwerpunkte zusammengefasst.
Tabelle 2: Gesetzlich formulierte Ziele und zu vermittelnde Kernkompetenzen der Physiotherapieausbildung im Ländervergleich (Lehmann et al., 2014, S. 112)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Auch die Dauer der Ausbildung mit deren inhaltlichen Schwerpunkten variiert im europäischen Vergleich (Tab. 3).
Tabelle 3: Merkmale der Physiotherapieausbildung im Ländervergleich (Lehmann et al., 2014, S. 114)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die reguläre Ausbildungszeit in Deutschland beträgt drei Jahre, während die Modellstudiengänge und die Studiengänge in anderen Ländern bei sechs bis acht Semestern für den primärqualifizierenden Bachelor liegen. Auch die WCPT (2011a) empfiehlt ein mindestens vierjähriges Studium an einer Universität und fordert die Befähigung zum autonomen Arbeiten. Zudem kritisiert Schämann (2006, S. 21) die ungenügenden Inhalte der Berufsfachschulen für die heutige Zeit und die „theorieabstinente Haltung und mangelnde Loslösung von der klassischen Fächeraufteilung“. Ihre Studie enthält eine drastische Beschreibung der Ausbildung: „Ich habe keine gute Erinnerung an meine Ausbildung, ich habe gute Erinnerungen so an soziale Kontakte, [...] es war unsystematisch, undidaktisch und ein unglaublicher Drill, den ich da erlebt habe, die erste Zeit [...]“ (Schämann, 2006, S. 228).
In Deutschland fordern Experten die intensivere Lehre physiotherapeutischer Prinzipien und eine Selbstdefinition, ein einheitliches Vokabular, mehr Selbstsicherheit im Handeln, Clinical-Reasoning- Kompetenzen, ein biopsychosoziales Gesundheitsverständnis, wissenschaftliche Methodenkompetenzen, Interaktionskompetenzen sowie die Vermittlung ethisch-moralischer Grundsätze (Kälble, 2008; Schämann, 2006; Schomacher, Bauer & Meyer, 2006; Walkenhorst & Klemme, 2008). Ziel sollte die Forcierung von Handlungskompetenzen durch eine Kombination von theoretischem Basis- und Handlungswissen mit einer Transferbildung zur klinischen Reflexion sein (Walkenhorst & Klemme, 2008). Demgegenüber wurde jedoch in einer Therapeutenbefragung folgender Vergleich zwischen der deutschen und der holländischen Ausbildung gezogen:
„[...] die Bachelorausbildung in Holland war definitiv dazu gedacht, mit dem erworbenen Wissen zu denken und zu arbeiten. Und das ist, glaub ich, ein großer Unterschied, weil das erworbene Wissen in der Berufsausbildung in Deutschland nur zur Anwendung gedacht ist. Also nicht fragen, nicht hinterfragen, schon gar nicht erstmal nachfragen, sondern einfach nur machen. Und das am besten, was jemand vorgibt. Und das ist halt in den Niederlanden nicht so [...], da ist Eigendenken, Eigenumsetzung und ja auch das Ganze mal ein bisschen innovativ anzupacken, aber trotzdem dem Standard und dem Wissenschaftsniveau angepasst, gewünscht. Und das entwickelt eine Dynamik oder auch eine Professionsdynamik, die in Deutschland gar nicht ausgebildet wird“ (Lehmann et al., 2014, S. 119 f).
Zwecks Vereinheitlichung der Ausbildung wurde 1998 von den Ministern für Bildung aus Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich die Erklärung von Sorbonne unterzeichnet, um die Grundlage eines gemeinschaftlichen europäischen Hochschulrahmens zu schaffen (BMBF, 2015). Ein Jahr später schlossen sich 30 europäische Staaten diesen Gedanken und der Bologna-Erklärung an, die den europäischen Hochschulraum betrifft. Diese umfasst mittlerweile 47 Mitgliedsstaaten und erklärt, dass die Einführung gestufter Studiengänge, eine einfachere Anerkennung von Leistungen, ein Kreditpunktesystem (ECTS), eine verbesserte Mobilität von Hochschulangehörigen und die Kultivierung des lebenslangen Lernens als Kernziele eingehalten werden (ebd.).
Vor allem die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz (2009) haben für die Physiotherapeuten weitreichende Bedeutung, da unter diesem Aspekt eine berufliche Qualifizierung ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung den Weg zum Studium eröffnete. Der Bachelorabschluss, der seit dem Bologna-Abkommen auch für Physiotherapeuten in Deutschland möglich ist, soll den Therapeuten grundsätzlich für eine professionelle berufliche Praxis qualifizieren.
Mit den im Studium erlernten Schlüsselkompetenzen ist er in der Lage, sich als wissenschaftlich reflektierter Praktiker im Berufsleben zu orientieren (Höppner, 2005). Wenn jemand vertiefte For- schungs- und Lehrkompetenzen erwerben möchte, sieht das zweistufige Hochschulbildungssystem noch ein Masterstudium als weiterführende Option vor. Derzeit gibt es rund 48 Bachelor- und 37 Masterstudiengänge, bei denen sich die Fachrichtungen deutlich unterscheiden und sich viele angrenzende Bezugswissenschaften als Schwerpunkte differenzieren (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2018), was eine Vereinheitlichung der Berufsidentität zusehends erschwert. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Struktur, Inhalte und Trägerschaften. Durch immer komplexer werdende Anforderungen der Gesundheitsversorgung und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit hat der Bundesrat (2009) einen Gesetzesentwurf beschlossen, der eine Modellklausel für die Erprobung einer akademischen Ausbildung für die Physiotherapie zur Folge hatte. Für das genannte Modellvorhaben wurden mehrere Hochschulen begleitet und regelmäßig evaluiert. Alle Evaluationen kommen zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass die Integration primärqualifizierender Studiengänge langfristig wünschenswert ist, sich als realisierbar einstufen lässt sowie den Bedarf in Lehre, Forschung und Leistungsaufgaben wie einem besseren Reflexionsvermögen, Anwendung standardisierter Instrumente oder dem „Recherchieren, Bewerten und Kommunizieren wissenschaftlicher Erkenntnisse“ abdeckt (Deutscher Bundestag, 2016; Stertz, Salzmann & Blättner, 2016; Dietrich et al., 2019, S. XIV). Dabei wird festgehalten, dass ein Mehrwert für die Studierenden an einer Hochschule durch geeignete pädagogische Konzepte, eine gute Verzahnung von Theorie und Praxis sowie eine gute personelle und sachliche Ausstattung zu erwarten sei (Stertz et al., 2016). Jedoch kommen diese Systeme durch die veralteten rechtlichen Vorgaben der Ausbildungsstrukturen und Prüfungsordnungen an ihre Grenzen. Hinsichtlich des Umfanges und der Dauer einer Primärqualifikation auf Hochschulniveau zeigen sich die Ergebnisse sehr heterogen. Die Hochschulen regen an, die Ausbildungszeit auf mindestens sieben Semester anzuheben, die Form der Vermittlung der Studieninhalte anzupassen sowie die staatliche und hochschulische Prüfung zu vereinheitlichen. Dazu wird diese akademische Erstausbildung für die Gesundheitsfachberufe und vor allem für den Physiotherapeuten als großer Vorteil für das Gesundheitssystem angesehen (Deutscher Bundestag, 2016). Als Kritikpunkte werden der verwehrte Zugang für Fachschüler mit mittlerem Bildungsweg und die steigenden Kosten für die Ausbildung vorgebracht (Stertz et al., 2016).
Da es noch keine langfristigen Untersuchungen diesbezüglich gibt, wird als weitere Verlängerung der Erprobung des Modellvorhabens ein Zeitraum von zehn Jahren vorgeschlagen (Deutscher Bundestag, 2016). Höppner sensibilisiert für dieses Thema und beschreibt eine mögliche Verzögerung der Modellumsetzung mit einer Verunsicherung für alle Beteiligten und einem tendenziell verloren
gehenden „Spirit“ (Höppner, 2016, S. 120), was darin münden könnte, dass die bisherigen Ausbildungsstrukturen trotz der genannten Vorteile erhalten blieben.
Stertz et al. (2016) kommen zu dem Ergebnis, dass eine Modellklauselverlängerung ohne eine Anpassung an hochschulische Strukturen nicht zielführend sei: „Mit den Erfahrungen aus den Modellstudiengängen stellt sich nicht mehr die Frage, ob eine akademische Ausbildung sinnvoll ist, sondern wie diese rechtlich umgesetzt werden soll“ (Stertz et al., 2016, S. 2).
Durch die Professionalisierungsbestrebungen in den letzten Jahren wird den Berufsverbänden eine immer wichtigere Funktion für eine Stabilisierung und Identifikation eines Berufsbildes zugeschrieben (Heidenreich, 1999). Hesse (1972, zit. n. Schämann, 2006, S. 40) misst ihnen insofern eine bedeutende Aufgabe für die Berufsangehörigen in diesem Prozess bei, da sie die neuen Herausforderungen im Berufsleben und eine Anhebung der Vergütung als Ziel selbst mit beeinflussen können. Es wird angenommen, dass eine geschlossene Interessenvertretung zu einer beruflichen Selbstgestaltung sowie zu kollektiv anvisierten Zielen führt, die in einem solchen Zusammenschluss effektiver erreicht werden können (Millerson, 2001; Schämann, 2006). Derzeit gibt es in Deutschland mit dem Verband Physikalischer Therapie (VPT), dem Verband selbstständiger Physiotherapeuten (IFK), dem Physiotherapieverband (VDB) und dem Deutschen Verband für Physiotherapie (ZVK) gleich mehrere verschiedene Interessenvertretungen. Millerson (2001, S. 28 ff.) beschreibt hierzu primäre und sekundäre Funktionen dieser Verbandsarbeit:
- Primäre Funktion:
- Organisierte Zusammenfassung von Mitgliedern,
- Qualifizierung der Mitglieder durch hochwertige Fortbildungsangebote,
- Forschungsförderung und Informationsaustausch,
- Mitgliederregister für kompetente Professionelle,
- Formulierung und Erhalt eines professionellen Verhaltenskodex.
- Sekundäre Funktion:
- Förderung eines professionellen Status,
- Kontrolle für den Berufseintritt,
- Schutz der Profession und der Gemeinschaft,
- Förderung von intra- und interberuflichen Kooperationen.
Im besten Fall fallen dem Berufsverband auch weitere Aufgaben zu, die für die Ausgestaltung des Berufsbildes hilfreich sind, um selbstgestalterisch agieren zu können. Experten beschreiben im Idealfall die Beeinflussung der Berufszulassung, die Gestaltung bzw. die Kontrolle diverser Mindeststandards für die berufliche Ausbildung, die Weiterbildung und Repräsentation der Mitglieder sowie erweiterte Tätigkeitsbereiche und eine monetär proportionierte Entlohnung (Schulze-Krü- dener, 1996, zit. n. Schämann, 2006, S. 40 f). Hinzu kommen noch die Entwicklung und Implementation eines Ethikkodex und die Expansion der Handlungsautonomie, was sich durch die vielen unterschiedlichen Interessenvertretungen der Physiotherapie als wahre Herkulesaufgabe darstellt.
Da die berufliche Ordnung in Deutschland durch den Staat reglementiert wird, lässt sich aus jetziger Sicht eine Umschichtung aus diesem Blickwinkel noch nicht verwirklichen. Dazu bedarf es einer Reform der Berufsgesetze (Höppner, 2016). In dem diffusen Kollektiv der Therapeuten und Berufsverbände werden im Zuge einer Professionalisierung der Physiotherapie immer wieder Stimmen für eine Therapeutenkammer laut (Stöver, 2008). Befürworter eines solchen Vorhabens erhoffen sich davon mehr Autonomie für den gesamten Berufsstand. Die Körperschaft des öffentlichen Rechts ist ein zentraler Bestandteil für die Selbstverwaltung eines freien Berufes, der sich mit einer besonderen beruflichen Qualifikation oder einer schöpferischen Tätigkeit auszeichnet (PartGG, 2015). Bei einem Zusammenschluss ist eine Pflichtmitgliedschaft, die eine Finanzierung zur Gewährleistung von Grundsätzen sowie eine berufliche Tätigkeitskontrolle sicherstellt, obligat (Hanika, 2012). Die gesetzlichen Standardaufgaben einer Berufskammer umfassen die folgenden drei großen Bereiche:
- die Interessensvertretung des gesamten Berufsstandes nach außen,
- die Disziplinierung der Mitglieder und die Förderung des Berufsstandes nach innen,
- sowie die Entlastung der staatlichen Verwaltung durch die Ausbildung und Prüfung durch eigene Gutachter (Brüser, 2010).
In der Regel sind die Kammern so strukturiert, dass sie landesrechtlich organisiert sind (Stöver, 2008). Solche Gesetze lassen sich am effektivsten realisieren, wenn möglichst viele Berufsangehörige einer solchen Lösung zustimmen, um die Landesregierung davon zu überzeugen, ein Kammergesetz zu verabschieden. Stöver (ebd.) fügt ergänzend hinzu, dass die Verbände dadurch nicht überflüssig würden, sondern sich nur ihre Aufgaben ändern, was in diesem Falle eine Interessenvertretung gegenüber der Kammer bedeuten würde.
Jedoch kann nur vermutet werden, dass sich durch einen solchen Zusammenschluss zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts auch die Professionalisierung in Deutschland vorantreiben lässt, da es bislang noch keine rechtlichen Grundlagen hierfür gibt.
2.1.3 Perspektiven der Physiotherapie
Bevor auf die zukünftige Physiotherapie in Deutschland eingegangen werden soll, wird sich zwecks einer Perspektivenerweiterung zunächst auf die bereits bestehenden Professionen in Australien und den USA konzentriert, um anschließend eine erfolgreiche Berufsentwicklung der deutschen Physiotherapie zu prognostizieren. Denn dort haben die Verbände eindeutige Visionen, die realisiert werden sollen, um das Profil der Physiotherapie für die Zukunft zu schärfen. Die Australian Physiotherapy Association (APA) hat für das Jahr 2025 diverse Hürden für die Physiotherapie beschrieben, die es durch eine professionelle Neuausrichtung zu überwinden gilt, wobei die dort ansässige Physiotherapie als Musterbeispiel für eine Profession angesehen wird (Zalpour, 2008). Auch in Australien steigt die Lebenserwartung kontinuierlich an, was einen Anstieg von Herzkreislauferkrankungen, Demenz, Schlaganfällen, Lungenfunktionsstörungen und chronischen Erkrankungen zur Folge hat, auf den sich das Gesundheitssystem einstellen muss (AIHW, 2016). Durch die Häufung von Komorbiditäten zeigt sich auch eine zunehmende Komplexität der Patientenbedürfnisse (Hoffmann & Sieber, 2017). Dadurch erwartet die APA (2013) auch veränderte individuelle Erwartungen der Patienten und neue Gesundheitsmodelle, die durch moderne Technologien, wie bspw. in Form einer digitalen Patientenakte, unterstützt werden.
Im Zentrum dieser Neuausrichtung steht der Patient, dem mit einer verbesserten wissenschaftlichen und kommunikativen Professionalität die Bedeutung seiner Gesundheitsbeschwerden deutlich gemacht werden muss. Es sollen mehr Spezialisierungen erfolgen, die eine breit ausgelegte klinische Expertise aufweisen, um den Patienten flexibel und spezifisch behandeln zu können. Diese Professionellen sollen dann auch über Managerfähigkeiten verfügen, um therapeutische Einrichtungen erfolgsorientiert leiten zu können (ebd.).
Auch der US-amerikanische Verband für Physiotherapie (APTA) hat seine Visionen für 2020 in einer Präambel fixiert, da die steigenden Kosten, der ungenügende Zugang zu Gesundheitsdienstleistern, mangelnde Therapiestandards und eine zu gering ausgerichtete psychosoziale Therapiestrategie das Gesundheitssystem in ein Krankheitssystem verwandeln, in dem die Beseitigung von Beschwerden mit Wellnessbehandlungen gleichgesetzt wird (Johnson & Abrams, 2005).
„By 2020, physical therapy will be provided by physical therapists who are doctors of physical therapy, recognized by consumers and other health care professionals as the practitioners of choice to whom consumers have direct access for the diagnosis of, interventions for, and prevention of impairments, activity limitations, participation restrictions, and environmental barriers related to movement, function, and health.“ (Van Sant, 2013, S. 139)
Dieser Prolog beschreibt, dass eine flächendeckende Anpassung der akademischen Ausbildung den Doctor of Physical Therapy (DPT) anstrebt, um die Profession mittels professionalisierter Therapeuten zu stärken, die ein qualifiziertes, anpassungsfähiges, reflektiertes und dienstleistungszentriertes Handeln anbieten. Als Ziel kann somit beschrieben werden, dass die Berufsautonomie so weit gestärkt wird, dass ein physiotherapeutischer Direktzugang vollständig gelingen kann. Hierbei werden auch die selbstständige Diagnosestellung, Behandlung und Überweisung an andere Spezialisten realisiert. Explizit wird der Prozess des „lifelong learning“ (APTA, 2012, S. 1) genannt, der durch solch eine Standardisierung angestoßen werden soll. Professionalität bedeutet für den US-amerikanischen Physiotherapeutenverband, in Zukunft neben der klinischen Expertise auch Grundlagen für die Pflege, Respekt für Mitmenschen, eine altruistische Grundeinstellung, Kommunikation, Verlässlichkeit und ethische Kenntnisse zu verinnerlichen (APTA, 2019b). Diese Bestrebung nach mehr Berufsautonomie einerseits und erweiterten Aufgabenbereichen andererseits hat eine wachsende Komplexität für ethische Herausforderungen zur Folge (Guccione, 1980; Magistro, 1989; Singleton, 1987).
Die kommenden Veränderungen der Gesellschaft, die gesundheitspolitischen Forderungen nach der Anwendung einer evidenzbasierten Therapie und die Stärkung von interdisziplinärem Handeln zwingen auch die deutsche Physiotherapie zu einer interinstitutionellen und organisationsbezogenen Neuausrichtung (Matzick, 2008; Meyer, 2015; Walkenhorst & Klemme, 2008). Die Physiotherapie als Wunschberuf ist durch Fachkräftemangel, sinkende Schülerzahlen, eine stagnierende Lohnentwicklung und eine Abwanderung in andere Berufe bedroht (Bundesagentur für Arbeit, 2017; IFK, 2021; Ripberger, 2015; Zöller, 2015). Aus diesem Grund ist sowohl die Weiterentwicklung des Berufsbildes als auch die Etablierung einer Physiotherapiewissenschaft unumgänglich, zumal der Weg durch das Bologna-Abkommen und durch die ersten primärqualifizierten Studiengänge erleichtert wurde. Experten sind sich einig, dass ausschließlich Hochschulstudiengänge ein professionelles Handeln im Beruf ermöglichen (Bögemann-Großheim, 2004; Hippel & Schmidt-Lauff, 2012), was als Motivation für die flächendeckende und beschleunigte Akademisierung der Physiotherapie gelten sollte.
Dies stellt eine bedeutende Chance dar, nicht nur das Berufsbild neu zu formulieren und zu erweitern, sondern durch Wissenschafts- und Forschungsergebnisse die Ausbildung wie auch eine Therapiepraxis zu speisen. Da Bildung als essenzielle Ressource für die Zukunft gilt und gerade bei Physiotherapeuten das Erfahrungswissen von übergeordneter Bedeutung ist, welches sich einem naturwissenschaftlichen Wissen gegenüber nicht aufrechterhalten kann, ist eine breitere sowie tiefere wissenschaftliche Orientierung der Therapeuten notwendig (Matzick, 2008; Scheel, 2013). Ebenfalls könnte sich die Physiotherapie der dem Arztberuf untergeordneten Rolle entledigen und unter den Gesichtspunkten der evidence-based practice und des Direct Access selbstständiger arbeiten. Professionalisierung über eine Verwissenschaftlichung kann nur dann erfolgreich realisiert werden, wenn die Physiotherapie selbst in der Lage ist, sich um ihre eigene Disziplin, wie bspw. den wissenschaftlichen Nachweis von Therapieformen und die Ausgestaltung von Praxismodellen, zu kümmern und weniger durch Bezugswissenschaften zu speisen (Richter, 2016; Scheel, 2013). Ergänzend führt Baeumer (2006) aus, dass der Gegenstandsbereich der Physiotherapie im eigenen Erkenntnisinteresse definiert und formuliert werden müsse, um eine adäquate Methodik zu konstruieren sowie sich gegenüber anderen Berufen im Gesundheitssystem abzugrenzen. Da sich die Physiotherapie durch eine Tätigkeit direkt am Patienten auszeichnet, muss sich auch diese berufliche Identität erheblich ändern. Die Professionalisierung des Berufsbildes soll die Therapeuten dazu befähigen, durch eine auf internationalen Standards beruhende qualifizierte Hochschulausbildung autonome physiotherapeutische Diagnosen und Behandlungsindikationen unter Berücksichtigung des Clinical-Reasoning-Prozesses zu erstellen und die Therapie durch evidenzbasierte Prinzipien interdisziplinär in einer partnerschaftlichen Beziehung zum Patienten zu gestalten (Baeumer, 2006; Kool & Niedermann, 2006).
Die hochschulische Ausbildung soll durch ein wissenschaftlich fundiertes Curriculum vereinheitlicht und auf das lebenslange Lernen ausgerichtet werden. Dies soll jeden Therapeuten dazu befähigen, sich kritisch und selbstständig aktuelles Wissen in praxisorientierter Perspektive anzueignen (Kool & Niedermann, 2006). Auf der Basis einer bislang unzureichenden Ausbildungsstruktur und ungenauen Berufsschwerpunkten wurde im Juli 2019 ein „Eckpunktepapier zum Transformationsprozess von Berufsfachschulen der Physiotherapie 2030“ (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2019a) entwickelt, um die Physiotherapie in Deutschland zukunftsfähig zu gestalten. Das Ziel dieses Papiers ist ein Modellplan, mithilfe dessen die Akademisierung der Physiotherapie von 2020 bis 2030 durch Einrichtung von Bachelor-Studiengängen vollzogen werden soll. Diese Transformation zielt ab auf eine erweiterte Berufsautonomie, eine Sicherung der Fachkräfte, den Trend zu höheren Bildungsabschlüssen, einen optimierten Transfer von Theorie und Praxis, ein eindeutiges berufliches Qualifikationsprofil und vergleichbare Rahmenbedingungen. Es bleibt abzuwarten, wann dieser Entwicklungsplan verwirklicht wird, da bisher noch die benötigten rechtlichen Grundlagen fehlen.
2.1.4 Kompetenzen in der Physiotherapie
Durch eine schnell wachsende Komplexität des gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Systems wird die Vernetzung von Autonomie und Kompetenzen immer wichtiger (Kool & Niedermann, 2006). Aus diesem Grund hat die Internationale Vereinigung der Universitäten (IAU) die nachhaltige Bildungsentwicklung zu einem der wichtigsten Themen ausgerufen (Rieckmann, 2012). Aufgrund der sich ständig weiterentwickelnden Gesellschaft, der damit verbundenen neuen Anforderungen und der Globalisierung wird es immer bedeutender, die Menschen in die Lage zu versetzen, nicht nur spezifisches Fachwissen zu erwerben und zukünftige Entscheidungen in einem vielschichtigen System verantwortungsvoll zu reflektieren, sondern auch das Wissen zu speichern, zu nutzen und weiterzuentwickeln. Dadurch wird die Bildung von Humankapital vorangetrieben und ein allgemein höheres Qualifikationsniveau erreicht (Matzick, 2008; Rieckmann, 2012).
Da auf das in der Erstausbildung erworbene Wissen nicht im gesamten Arbeitsleben zurückzugreifen ist und die Aktualität regelmäßig nachlässt, ist ein konkreter Qualifizierungsbedarf vor allem in den therapeutischen Berufen maßgebend um den Weiterbildungsinteressen nachzukommen (Weisser, 2002, zit. n. Matzek, 2008, S. 7). Derzeitige Defizite in den Gesundheitsfachberufen sind die fehlende Professionalisierung der Aus- und Weiterbildung, eine weitgehend einseitig ausgerichtete Arbeitstechnik, begrenzte Mitgestaltungsmöglichkeiten angesichts veränderter Anforderungen im Gesundheitssektor, die kaum genutzte „Human-Ressource-Kapazität“ sowie unzureichende berufliche und individuelle Entwicklungsmöglichkeiten. All dies kann zu Demotivation, Unzufriedenheit, Burn-out und Berufsabwanderungen führen (Matzick, 2008). Damit sich Menschen an soziale Entwicklungsverhältnisse anpassen, wurden zwölf Kernkompetenzen formuliert, die für eine Nachhaltigkeit einer Gesellschaft oder einer Berufsgruppe wegweisend sind (Rieckmann, 2011; 2012): Kompetenz zu
- systematischem Denken,
- vorausschauendem Denken,
- kritischem Denken,
- fairem und ökologischem Handeln,
- Zusammenarbeit in (heterogenen) Gruppen,
- Partizipation,
- Empathie,
- interdisziplinärem Arbeiten,
- Kommunikation und Mediennutzung,
- Planung und Realisierung innovativer Projekte,
- Evaluierung sowie
- Frustrationstoleranz.
Münch (1995, zit. n. Matzick, 2008, S. 16) stellt besonders berufsübergreifende Qualifikationen in den Mittelpunkt, die sich durch fachliche, methodische und soziale Kompetenzen auszeichnen. Darüber hinaus kommt es auf die Fähigkeit an, die Fachtheorie auf eine soziale und methodische Weise praktisch einzubeziehen (Arnold & Müller, 1999, zit. n. Matzick, 2008, S. 17), was für den Kontakt mit Menschen in einem gesundheitsorientierten Setting von großer Bedeutung ist (Matzick, 2008). Die genannten Fertigkeiten sollen auf einem akademischen Niveau verinnerlicht und als grundlegend-physiotherapeutische Voraussetzung angesehen werden.
In Neuseeland, wo die Physiotherapie aufgrund der Akademisierung eine professionelle Handlungsstruktur aufweist, werden diverse Kompetenzen als eine spezifische Bedingung gesehen, um überhaupt praktizieren zu dürfen (The Physiotherapy Board of New Zealand, 2009). Das Ziel besteht darin, die Gesundheit und die Sicherheit der Bürger durch die Tätigkeit kompetenter Gesundheitsexperten zu gewährleisten. Diese Kompetenzen gelten in Neuseeland für alle Physiotherapeuten gleichermaßen und umspannen die gesamte therapeutische Versorgung der Patienten, die zu jeder Zeit im Mittelpunkt der Betreuung stehen. Folgende Kompetenzen sind in der neuseeländischen Grundausbildung zum Physiotherapeuten maßgebend (ebd., S. 5):
- Kenntnisse biomedizinischer, verhaltensorientierter und soziale Grundlagen sowie deren Integration in die physiotherapeutische Praxis,
- Kompetenz zur Bewertung, Analyse und Planung der physiotherapeutischen Intervention,
- Kompetenz zur Anwendung und Evaluation der physiotherapeutischen Maßnahmen,
- kommunikative Kompetenz,
- Kompetenz zur Anwendung pädagogischer Prinzipien in der physiotherapeutischen Praxis,
- Kenntnis physiotherapierelevanter Managementprinzipien,
- Kompetenz zur Anwendung evidenzbasierten Wissens auf die physiotherapeutische Praxis,
- professionelles Auftreten und eine ebensolche Ausstrahlung sowie
- Kompetenz zu autonomem physiotherapeutischem Arbeiten.
Da im Vergleich zu Neuseeland in Deutschland keine entsprechende Berufsautonomie und kein Direktzugang für Patienten zur Physiotherapie besteht, sind die bisherigen Kompetenzen der Ausbildung dahingehend ausgelegt, dass primär den Anweisungen der Ärzte Folge geleistet werden soll und der Patient gemäß deren medizinischer Diagnose behandelt werden darf, um den Arzt also mehr oder weniger nur zu unterstützen. Aus diesem Grund befindet sich dieser Berufszweig in einem Abhängigkeitsverhältnis und bedarf erweiterter Fähigkeiten, um sich zukünftigen Herausforderungen wirksamer stellen zu können. Angesichts dieser ungenügenden Situation für die deutsche Physiotherapie wurde eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe vom Gesundheitsministerium beauftragt, Ideen für eine Novellierung sowie die Erweiterung der Fähigkeiten zusammenzutragen. Diese Erweiterung umfasst Ausbildungsziele, Prüfungsordnung sowie den Rahmen des theoretischen und praktischen Unterrichts mit dessen Ausarbeitung für folgende Kompetenzbereiche (Deutscher Verband für Physiotherapie, 2019b):
- Bewegung als zentrales Einflusssystem der Physiotherapie auf Gesundheit und Teilhabe verstehen und evaluieren,
- physiotherapeutische Prozesse indikationsbezogen und evidenzbasiert eigenverantwortlich organisieren, analysieren, planen, durchführen, steuern, dokumentieren und evaluieren,
- in komplexen Versorgungsbereichen personen- und situationsorientiert handeln,
- Kommunikation, Beratung und Edukation personen- und situationsbezogen gestalten,
- intra- und interprofessionelles Handeln in unterschiedlichen Versorgungskontexten verantwortlich gestalten sowie kooperativ und effektiv zusammenarbeiten,
- das eigene Handeln auf Grundlage aktueller Gesetze, Verordnungen und Leitlinien reflektieren, begründen und an diesen ausrichten sowie
- das eigene Handeln mit aktuellen verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen und berufsethischen Werthaltungen und Einstellungen untermauern, reflektieren, begründen und weiterentwickeln.
Diese Bereiche wurden erstmals von mehreren Berufsverbänden gemeinsam festgehalten und unterstreichen die Zukunftsperspektiven einer Kompetenzentwicklung, scheitern jedoch an der fundamentalen Argumentation, warum diese Kompetenzen von Bedeutung und weshalb gerade sie für die Physiotherapie entscheidend sind. Sie wirken - wie die Berufsordnung auch - als eine Aneinanderreihung von Pflichten und Verhaltensvorgaben, ohne von den Berufsinhabern vollständig verinnerlicht zu sein. Dies kann nur durch eine curriculare Transformation übernommen und habitualisiert werden, um die Physiotherapeuten in ihrer gesamten Form zukunftsorientierter zu befähigen.
[...]
1 Ehemals ZVK jetzt Deutscher Verband für Physiotherapie.
- Quote paper
- Sven Ringel (Author), 2021, Professionalisierung der deutschen Physiotherapie aus einer ethischen und moralischen Perspektive, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1139550
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