„ O was für Schritte hat die Weltweisheit seit der Zeit des Verfassers getan! Seine Begriffe von der Welt, von der Seele, und seine ganze Moral sind höchst elend.“ Zu dieser Ansicht gelangte Mendelsohn nachdem er Ibn Ţufails philosophischen Roman Ḥaīy ibn Yaqzān gelesen hatte. Doch nicht alle Renzensenten schlugen den gleichen Tenor an. Andere besangen den Roman mit Lobliedern. Der Roman spaltete nicht nur die Zeitgenossen Mendelsohns, sondern er ist fast zeitlos in seiner Polarisierung zwischen totaler Ablehnung und Panegyrik. Wer aber vermochte es diese Wirkung zu evozieren?
Diese Arbeit widmet sich dem Autor Ibn Ţufail. Sie versucht zunächst seinen Lebensweg zu konstruieren, kontextualisiert diesen im historischen Rahmen und wendet sich dann den Inhalten seines Romans Ḥaīy Ibn Yaqzān zu. Anhand des Romans werden schließlich zentrale Elemente von Tufails philosophischer Weltanschauung herausgearbeitet und diskutiert. Die Informationen über den Urheber des Ḥaīy ibn Yaqzān sind relativ spärlich. Mit vollem Namen hieß der Autor Abu Bakr Ibn ̒Abd al-Malik Muhammad Ibn Ţufail al-Qaisi oder lateinisiert Abubacer. Er wurde um das Jahr 1110 bei Wādī Āsch, dem heutigen Guadix, 60 km nordöstlich von Granada, geboren. Ibn Ţufail entstammte einer wohlhabenden Familie und war der Sohn eines Gelehrten. Im Alter von etwa 20 Jahren zog er nach Granada und begann sein Studium der Medizin. Nach seinem Abschluss praktizierte er dort, bewegte sich in Gelehrtenkreisen und stieg alsbald zum Wesir des Stadthalters auf. Insgesamt verbrachte der Arzt 16 Jahre in Granada von1130 bis 1146. Nach diesem Lebensabschnitt, brach er seine Zelte in Spanien ab und verließ Al-Andalus 1147. Seine neue Heimat sollte Marrakesch werden, die Hauptstadt der Almohaden. Doch von Marrakesch aus, verschlug es Ţufail zunächst nach Ceuta. Dort trat er 1154 als Hofsekretär in den Dienst des Gouverneurs von Ceuta und Tanger, dem Sohn Abd al-Mu'mins dem Begründers der almohadischen Dynastie.
Inhaltsverzeichnis
1 Vom Körper zum Geist: Ein Arzt wird Denker
1.1 Einleitung
1.2 Der Lebensweg des Autoren
1.3 Historischer Kontext
2 Ḥaīy Ibn Yaqzān - Ein philosophischer Roman
2.1 Philosophische und zeitgenössische Einflüsse auf Ibn Ţufail
2.2 Inhaltliche Ebene: Der lange Weg zur Wahrheit
2.2.1 Vorgeschichte
2.2.2 Erster Lebensabschnitt: Die Entdeckung des Ichs
2.2.3 Zweiter Lebensabschnitt: Die Entdeckung der natürlichen Umwelt
2.2.4 Dritter Lebensabschnitt: Erkenntnis des irdischen Ordnungsprinzips
2.2.5 Vierter Lebensabschnitt: Erkenntnis des einzigen Gottes
2.2.6 Fünfter Lebensabschnitt: Ḥaīy erlangt die ultimative Erkenntnisstufe
2.2.7 Ende der Siebenjahreszyklen: Nächste Etappe: Ḥaīy, Absāl und Salāmān
3 Ibn Ţufails philosophische Weltanschauung: einige Aspekte
4 Literaturverzeichnis:
1 Vom Körper zum Geist: Ein Arzt wird Denker
1.1 Einleitung
„O was für Schritte hat die Weltweisheit seit der Zeit des Verfassers getan! Seine Begriffe von der Welt, von der Seele, und seine ganze Moral sind höchst elend.“ Zu dieser Ansicht gelangte Mendelsohn nachdem er Ibn Ţufails philosophischen Roman Ḥaīy ibn Yaqzān gelesen hatte. Doch nicht alle Rezensenten schlugen den gleichen Tenor an. Andere besangen den Roman mit Lobliedern. Der Roman spaltete nicht nur die Zeitgenossen Mendelsohns, sondern er ist fast zeitlos in seiner Polarisierung zwischen totaler Ablehnung und Panegyrik. Wer aber vermochte es diese Wirkung zu evozieren?
Diese Arbeit widmet sich dem Autor Ibn Ţufail. Sie versucht zunächst seinen Lebensweg zu konstruieren, kontextualisiert diesen im historischen Rahmen und wendet sich dann den Inhalten seines Romans Ḥaīy Ibn Yaqzān zu. Anhand des Romans werden schließlich zentrale Elemente von Tufails philosophischer Weltanschauung herausgearbeitet und diskutiert.
1.2 Der Lebensweg des Autoren
Die Informationen über den Urheber des Ḥaīy ibn Yaqzān sind relativ spärlich. Mit vollem Namen hieß der Autor Abu Bakr Ibn ̒Abd al-Malik Muhammad Ibn Ţufail al-Qaisi oder lateinisiert Abubacer. Er wurde um das Jahr 1110 bei Wādī Āsch, dem heutigen Guadix, 60 km nordöstlich von Granada, geboren. Ibn Ţufail entstammte einer wohlhabenden Familie und war der Sohn eines Gelehrten. Im Alter von etwa 20 Jahren zog er nach Granada und begann sein Studium der Medizin. Nach seinem Abschluss praktizierte er dort, bewegte sich in Gelehrtenkreisen und stieg alsbald zum Wesir des Stadthalters auf. Insgesamt verbrachte der Arzt 16 Jahre in Granada von1130 bis 1146. Nach diesem Lebensabschnitt, brach er seine Zelte in Spanien ab und verließ Al-Andalus[1] 1147. Seine neue Heimat sollte Marrakesch werden, die Hauptstadt der Almohaden. Doch von Marrakesch aus, verschlug es Ţufail zunächst nach Ceuta. Dort trat er 1154 als Hofsekretär in den Dienst des Gouverneurs von Ceuta und Tanger, dem Sohn Abd al-Mu'mins dem Begründers der almohadischen Dynastie. Der Autor zeichnete sich am Hofe des Gouverneurs durch seinen scharfen Verstand aus und erregte so die Aufmerksamkeit des Almohadenkalifs Abū Yaʿqūb Yūsuf (1163-1184). 1163 rief dieser Ţufail an seinen Hof in Fes und ernannte ihn zu seinem Sekretär und Leibarzt. In Fes verfasste der Autor zahlreiche Werke über Medizin, Philosophie und asketische Poesie. 1169 holte der schreibende Leibarzt den jungen Philosophen Ibn Rušd von Cordoba an den Hof in Fes. Nach fast 20 Jahren im Dienste des Kalifen in Fes zog sich Ibn Ţufail 1182 vom Hofleben zurück und verstarb schließlich 1185 in Marrakesch.
1.3 Historischer Kontext
Ibn Ţufail wurde in ein der Kultur und Wissenschaft feindliches Klima geboren, die Herrschaftszeit der nordafrikanischen Almoraviden[2]. Diese hatten 1086 Al-Andalus erobert und die Ţa’ifa-Splitterreiche vereint. Somit bildeten sie eine geeinte Front gegen die christliche Reconquista und konnten ihr Einhalt gebieten. Doch ein Kollateraleffekt dieser militärischen Erfolge war der kultureller Abstieg in Al-Andalus. Denn die Almoraviden vertraten einen strengen, orthodoxen Islam, der Philosophie und Astronomie als Häresie betrachtete. Es kam zu massiven Verfolgungswellen, Bücherverbrennungen, Hinrichtungen und Gefängnisstrafen für „Häretiker“, das heißt vor allem für Philosophen.
Nach etwa sechzig Jahren an der Macht wurden die Almoraviden 1147 gestürzt. Die neue Kraft waren die Almohaden[3], deren Hauptstadt Fes im heutigen Marokko liegt. Unter der Almohadendynastie blühte das unterdrückte, kulturelle Leben in Al-Andalus wieder auf. Als Reaktion auf den Radikalismus der Almoraviden, stütze sich die Theologie der Almohaden auf Rationalität. Besonders das anthropomorphe Gottesbild der Almoraviden wurde dekonstruiert. Unter der Herrschaft der Almohaden kam es somit zu einer neuen Blütezeit der Philosophie. Der Einfluss der Fuqahā’, der Rechtsgelehrten, sank kontinuierlich. Die Fuqahā’ waren die traditionellen Gegner der Philosophie und aller griechischen Wissenschaften und waren daher die Günstlinge und Stützpfeiler der Almoraviden gewesen.
Eine herausragende Stellung für die Renaissance der Philosophie nimmt der Kalif Abū Ya'qūb Yūsuf ein. Vor allen anderen Almohadenkalifen, ging er als Sammler von Büchern und als Mäzen der Wissenschaft und Philosophie in die Annalen ein. Seinen Hof in Fes schmückte er mit Intellektuellen aus arabischsprechenden Ländern. Dazu zählte auch der andalusische Ibn Ţufail. Den Kalifen und den Philosophen soll sogar eine tiefe Freundschaft miteinander verbunden haben. Sie haben demnach Tage diskutierend verbracht. Dort, am Hofe des Kalifen in Fes, schuff der schreibende Arzt sein bedeutendstes Werk, Ḥaīy Ibn Yaqzān, welches im Folgen vorgestellt werden soll.
2 Ḥaīy Ibn Yaqzān - Ein philosophischer Roman
„Es ist von Anfang bis zum Ende ein beispielloser non sense, eine abscheuliche Romanze und eine Strafe für jeden Leser.“ Dies schrieb Voltaire nach seiner Lektüre des Werks von Ibn Ţufail auf. Dabei war das Werk Ḥaīy Ibn Yaqzān, direkt nach dem Koran und Tausend und einer Nacht das am häufigsten übersetzte Werk aus dem Arabischen. Den Titel hatte der Urheber direkt von Ibn Şīnā übernommen. Ḥaīy Ibn Yaqzān heißt wörtlich der Lebende, Sohn des Wachen. Thematisch dreht es sich um die Suche des Menschen nach einem höheren, philosophisch-mystischen Glücksideal. Walther nennt es eine „rein-männlich, mystisch-intellektuelle Biographie[4].“ Stilistisch ist das etwa 100-seitige Werk einfach und prägnant gehalten, und der Autor verwandte keine Reimprosa. Ibn Ţufail tritt darin als Ich-Erzähler auf. Möglicherweise lieferte Ḥaīy Ibn Yaqzān die Inspiration für Defoes Robinson Crusoe. Doch das Werk wurde auch von zahlreichen externen Einflüssen angestoßen.
2.1 Philosophische und zeitgenössische Einflüsse auf Ibn Ţufail
Eine wichtige Inspirationsquelle für Ibn Ţufail war die Mystik. Hauptmotiv seines Werks ist die tauḥīd, die absolute Einheit mit Gott. Dies ist das wichtigste Ziel des nach Wahrheit Strebenden. Doch bereits der Weg zu tauḥīd ist ein Ziel. Denn die Pfade zur tauḥīd bedeuten die sukzessive Annäherung an Gott. Wichtigste Instrumente hierfür sind: Askese, Predigt und Ermahnung, die Ausführung von Kreiselbewegungen bis hin zur Extase, Gesang, Rezitation und Meditation. Dies soll das Individuum von seiner bloßen physischen Konzentration ablenken und die geistige Schau, mušāhada, ermöglichen.
Von Ibn Şīnā (lat. Avicenna) übernahm der Autor nicht nur den Titel, sondern auch den Ansatz Geschöpfe als„mumkin al-wuğūd“, also mögliches Seiendes zu betrachten. Doch das Möglich-Seiende entstehe nur durch Schöpfung, daher bedarf es der Existenz eines Architekten oder Urhebers. Gott ist somit der Notwendig-Seiende, „wāğib al-wuğūd“. Von Ibn Bāǧǧa (lat. Avempace), den er heftig kritisierte ließ sich Ţufail dennoch inspirieren. In seinem Werk verarbeitete er Bāǧǧas Leitmotive der Askese und der Gesellschaftsflucht. Das Zitat von Muhammad Ġazālī veranschaulicht eine weitere wichtige Anschauung, die auch in Ţufails Werk eingeflossen ist: „Wissen (̒ilm) steht über dem Glauben (imān), Schmecken (dauq) über dem Wissen.“ Glaube ist demnach die niedrigste Erkenntnisstufe. Wissen ist eine Stufe höher als der Glaube angesiedelt, doch das Schmecken oder das intuitive Erleben steht am Kopf der Hierarchie. Diese Intuition oder emotionale Erkenntnis ist die Schlüsselqualität Ibn Ţufails Helden. All diese Einflussquellen sind Puzzlestücke, die Ţufail in seinem Roman Ḥaīy Ibn Yaqzān zusammensetzt und ergänzt. Im Folgenden wird sich der inhaltlichen Ebene des philosophischen Romans zu gewandt.
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[1] Al-Andalus bezeichnet die Gebiete Spaniens unter islamischer Herrschaft. Zur Etymologie: Siehe Halm, 1989.
[2] Al-Moraviden: von arab. al-murābitūn= die Grenzkämpfer
[3] Almohaden= al-Muwahhidūn: Diejenigen, welche die Einheit (tauḥīd) Gottes bekennen.
[4] Walther, Wiebke; Kleine Geschichte der arabischen Literatur, München: C.H. Beck (2004), S.198
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- M.A. Sandra Calkins (Author), 2006, Ibn Ţufail: Leben und Werk des andalusischen Philosophen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113569
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