Ziel dieser B.A.-Arbeit soll es sein, die Analysen zum Begriff der Macht der beiden französischen Soziologen und Kulturphilosophen Pierre Bourdieu und Michel Foucault vorzustellen, sowie in einem nächsten Schritt miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise sollen schließlich deren Erkenntnisse für eine Analyse der modernen Gesellschaft – mit dem Schwerpunkt des Bildungssystems – nutzbar gemacht und gezeigt werden, welche Mechanismen (Bourdieu) und Technologien (Foucault) der Macht gegenwärtig wirksam sind. Vorausgesetzt wird dabei, dass beim Leser bereits eine grundlegende Vorkenntnis zentraler Begrifflichkeiten beider Theoretiker vorhanden ist.
Ausgehend von den zentralen Grundzügen der Theorie symbolischer Macht Bourdieus wird es zunächst darum gehen, deren soziale Konstruktion nachzuweisen, wozu ein knapper Rückbezug auf die Typenlehre der Herrschaft Max Webers vorgenommen wird. Anschließend werden die Charakteristika der von Bourdieu analysierten symbolischen Kämpfe auf dem Feld der Macht und die Funktion, die hierbei dem symbolischen Kapital zukommt, herausgestellt. In diesem Zusammenhang werden weiterhin zentrale Begriffe Bourdieus wie Doxa und Hexis erläutert. Letztgenannter Begriff verweist dabei bereits auf die körperliche Dimension der symbolischen Macht, welche in der Folge dargestellt wird. Abschließend sollen die gewonnenen Erkenntnisse auf das Bildungssystem angewandt werden, um die dort wirkenden Mechanismen der Macht identifizieren zu können.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. PIERRE BOURDIEUS THEORIE DER SYMBOLISCHEN MACHT: EINE „SANFTE GEWALT“
2.1 DIE SOZIALE KONSTRUKTION DER SYMBOLISCHEN MACHT
2.1.1. Symbolische Kämpfe auf dem Feld der Macht
2.1.2. Symbolisches Kapital und das Schweigen der Doxa
2.2 DIE INKORPORIERUNG DER MACHT
2.3 DIE REPRODUKTION DER MACHT IM BILDUNGSSYSTEM
3. MICHEL FOUCAULT: EINE ANALYTIK DER MACHT
3.1 REPRESSIONS- UND DISZIPLINARMACHT
3.2 PASTORALMACHT UND GOUVERNEMENTALITÄT
3.3 BIO-MACHT: POLITISCHE ANATOMIE DES MENSCHLICHEN KÖRPERS UND BIO-POLITIK DER BEVÖLKERUNG
3.4 TECHNOLOGIEN DER MACHT IN DER SCHULE
4. MACHT BEI BOURDIEU UND FOUCAULT: EIN VERGLEICH
4.1 DISZIPLIN UND HABITUS
4.2 WISSEN UND MACHT
4.3 ERZIEHUNG UND MACHT
5. AUSBLICK: EIN LEBEN UNTER BEOBACHTUNG IN DER KONTROLLGESELLSCHAFT
6. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
Ziel dieser B.A.-Arbeit soll es sein, die Analysen zum Begriff der Macht der beiden französischen Soziologen und Kulturphilosophen Pierre Bourdieu und Michel Foucault vorzustellen, sowie in einem nächsten Schritt miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise sollen schließlich deren Erkenntnisse für eine Analyse der modernen Gesellschaft – mit dem Schwerpunkt des Bildungssystems – nutzbar gemacht und gezeigt werden, welche Mechanismen (Bourdieu) und Technologien (Foucault) der Macht gegenwärtig wirksam sind. Vorausgesetzt wird dabei, dass beim Leser bereits eine grundlegende Vorkenntnis zentraler Begrifflichkeiten beider Theoretiker vorhanden ist.
Ausgehend von den zentralen Grundzügen der Theorie symbolischer Macht Bourdieus wird es zunächst darum gehen, deren soziale Konstruktion nachzuweisen, wozu ein knapper Rückbezug auf die Typenlehre der Herrschaft Max Webers vorgenommen wird. Anschließend werden die Charakteristika der von Bourdieu analysierten symbolischen Kämpfe auf dem Feld der Macht und die Funktion, die hierbei dem symbolischen Kapital zukommt, herausgestellt. In diesem Zusammenhang werden weiterhin zentrale Begriffe Bourdieus wie Doxa und Hexis erläutert. Letztgenannter Begriff verweist dabei bereits auf die körperliche Dimension der symbolischen Macht, welche in der Folge dargestellt wird. Abschließend sollen die gewonnenen Erkenntnisse auf das Bildungssystem angewandt werden, um die dort wirkenden Mechanismen der Macht identifizieren zu können.
Im nächsten Kapitel wird es auf der Basis zentraler Eigenschaften des Foucault’schen Machtbegriffs darum gehen, die von ihm behauptete Entwicklung verschiedener Technologien der Macht nachzuvollziehen sowie bestimmten historischen Entwicklungen zuzuordnen. Auch hier wird schließlich wieder ein Rückbezug auf die Schule genommen.
Für den im folgenden Kapitel vorzunehmenden Vergleich der beiden Theorien bieten sich unterschiedliche Ebenen an: Disziplin und Habitus, Wissen und Macht sowie Erziehung und Macht. Dieser Vergleich soll schließlich als Grundlage eines Analyserasters dienen, mit dem gegenwärtige bildungspolitische als auch damit in Zusammenhang stehende gesamtgesellschaftliche Entwicklungen beleuchtet werden können.
2. Pierre Bourdieus Theorie der symbolischen Macht: Eine „sanfte Gewalt“
Im Zentrum der Soziologie Pierre Bourdieus stehen neben dem Begriff der sozialen Ungleichheit vor allem Fragen von Macht und Herrschaft, indem Kämpfe um Machtpositionen für die verschiedenen Felder des sozialen Raumes als charakteristisch gelten. Dabei lässt sich sagen, dass der Aspekt der Macht im Grunde „den Angelpunkt seiner gesamten Theorie“ (Wayand 1998: 221) bildet, wie auch Bourdieu selbst es beschreibt:
„Ich denke, dass das Zentrum meiner Arbeit darin besteht, die Fundamente der symbolischen Formen von Herrschaft zu analysieren, die symbolische Gewalt der Macht kolonialen Typus, kultureller Herrschaft, der Männlichkeit, so viele Mächte, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich gewissermaßen von Struktur zu Struktur ausüben“ (Interview 2001: 166).
Die Ausgangsfrage bildet demnach für Bourdieu das gleichermaßen soziologische wie politische Problem der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung, d. h. die Tatsache, dass sich bestehende Herrschaftsverhältnisse und Existenzbedingungen – und seien sie auch noch so unerträglich – doch relativ einfach reproduzieren lassen und dabei oft sogar als akzeptabel und natürlich erscheinen können (vgl. Mauger 2005: 212).
Bourdieu unterscheidet grundlegend zwei Ebenen der Macht: eine materielle und eine symbolische. Materielle Macht ist dabei als ökonomische, kulturelle und physische Macht in einer vom Bewusstsein der Individuen unabhängigen, objektiven Form zu verstehen, welche auf der Verfügungsmacht über die von Bourdieu differenzierten Kapitalgrundsorten beruht und auf diese Weise direkt auf die Handlungen der Akteu- re einwirkt sowie deren Habitus prägt.1 Bourdieu interessiert sich allerdings hauptsächlich für die Mechanismen der symbolischen Macht, die er auch als symbolische Herrschaft oder symbolische Gewalt bezeichnet.2 Unter dem Begriff der symbolischen Macht versteht Bourdieu zunächst
„jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im Wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens, oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder, äußerstenfalls, des Gefühls ausgeübt wird“ (Bourdieu 2005: 8).
Unter Symbolen stellt man sich üblicherweise Zeichen vor, die für etwas anderes stehen. Bourdieus Theorie der symbolischen Macht baut auf der soziologischen Be- trachtungsweise eines Zeichens auf, welche davon ausgeht, „dass die Bezugnahme auf das Bezeichnete nur innerhalb eines bestimmten sozialen und kulturellen Zusammenhangs verständlich wird“ (Peter 2004: 48). In diesem Sinne kann symbolische Macht zunächst allgemein als das Potenzial verstanden werden, Bedeutungen durchzusetzen und ihre Anerkennung zu erreichen; eine Macht, die Bourdieu zufolge in der modernen Gesellschaft vor allem dem Staat zukommt:
„Indem der Staat mit Autorität sagt, was ein Seiendes, ob Sache oder Person, seiner legitimen sozialen Definition nach wirklich ist, […] übt der Staat eine wahrhaft schöpferische, gottähnliche Macht aus […]“ (Bourdieu 1998b: 115).
„Der Staat ist im Grunde genommen das große Reservoir an symbolischer Macht […]“ (Interview 1991: 99).
Die angesprochenen Bedeutungen markieren gewissermaßen Grenzen zwischen Individuen und Gruppen, wobei die Anerkennung der Bedeutungen den Akteuren als eine durch die symbolische Macht erzwungene „natürliche“ Grenze erscheint, die dementsprechend nicht zu überschreiten ist: „Symbolische Macht ist in diesem Sinne ein Vermögen des worldmaking“ (Bourdieu 1992b: 151), also der Konstruktion von Welt. Bourdieu geht davon aus, dass diejenigen, die an der Macht sind, im Grunde lediglich den im Habitus bereits angelegten Dispositionen der Unterworfenen zu folgen brauchen, um ihre Herrschaft mit „höchst erstaunlicher Leichtigkeit“ (Interview 1991: 119) durchzusetzen:
„Ihre Wirkung entfaltet die symbolische Herrschaft […] nicht in der reinen Logik des erkennenden Bewusstseins, sondern durch die Wahrnehmungs-, Bewertungsund Handlungsschemata, die für die Habitus konstitutiv sind und die diesseits von Willenskontrolle und bewusster Entscheidung eine sich selbst zutiefst dunkle Erkenntnisbeziehung begründen“ (Bourdieu 2005: 70).
Die Anerkennung bzw. der Gehorsam gegenüber der Macht ist demnach nicht im Sinne einer bewussten Entscheidung oder Zustimmung als Folge der Abwägung von Gründen zu verstehen; vielmehr ist die Bereitschaft zur Anerkennung der Überlegenen bereits im Körper der Akteure integriert. Demgemäß muss man bei der Befolgung einer Ordnung auf Seiten der Akteure im Grunde nicht von Bewusstseinsvorgängen, sondern von körperlich verinnerlichten Glaubensüberzeugungen sprechen. In der modernen Gesellschaft ist es dabei vorrangig der Staat, welcher – hauptsächlich durch das Bildungssystem – den Menschen diese grundlegenden Machtdispositionen einverleibt (vgl. Fuchs-Heinritz/ König 2005: 207-213).
Bourdieu geht davon aus, dass die symbolische Macht in der modernen Gesellschaft als eine grundlegende Form der Herrschaft zu sehen ist, vor allem aus dem Grunde, weil aufgrund heutiger zivilisatorischer Standards (etwa in Form von Menschenrechten) der Anwendung physischer Gewalt und offen gezeigter politischer Repression in vielen Ländern Grenzen gesetzt sind. Zwar hat auch die symbolische Macht einen repressiven Charakter, dieser tritt allerdings nicht offen in Erscheinung: Das Symbolische verschleiert seinen eigentlichen Zweck, also letztlich die Aufrechterhaltung von Ungleichheit sowie die Fremdbestimmung durch die herrschenden sozialen Klassen (vgl. Peter 2004: 48 f.). Daher kommt Bourdieu zu dem Schluss, dass die
„Konstruktion einer allgemeinen Theorie der symbolischen Herrschaft […] heute vielleicht das politisch Allerdringlichste [ist, R.K.]“ (Interview 1997: 220).
2.1 Die soziale Konstruktion der symbolischen Macht
Die symbolische Macht hat einen paradoxen Charakter: Die Verschleierung ihrer eigentlichen Zwecke ist nur dann möglich,
„wenn die Symbole einen spezifischen Erkennungswert für die Betroffenen haben. Die Symbole haben die Aufgabe, bei den Betroffenen Sinndeutungen auszulösen, die die Akzeptanz von gesellschaftlicher Macht zur Folge haben“ (Peter 2004: 49).
Demgemäß müssen sowohl die Machthaber als auch die Unterworfenen über ein identisches Deutungsund Bewertungssystem verfügen. Auf der einen Seite basiert symbolische Macht also auf Aner kennung, auf der anderen Seite gleichzeitig aber auch auf Ver kennung:
„Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Aner kennung zu verschaffen; d. h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür ver kennen zu lassen“ (Bourdieu 1992a: 82. Hervorhebungen R. K.).
Um auf diese Weise ihrer Aufgabe als Medium gesellschaftlicher Herrschaft letztlich gerecht zu werden, muss die symbolische Macht sozusagen ihre Gestalt verändern. Sie darf in der Wahrnehmung der Akteure nicht als ein Mechanismus der Unterdrü- ckung gelten, sondern muss im Gegenteil als wünschenswert und legitim anerkannt werden:
„Die symbolische Gewalt ist ein Zwang, der ohne die Zustimmung nicht zustande kommt, die der Beherrschte dem Herrschenden (und also der Herrschaft) nicht verweigern kann, wenn er […] zur Reflexion seiner Beziehung zu ihm nur über Erkenntnisinstrumente verfügt, die er mit ihm gemein hat und die, da sie nichts anderes als die einverleibte Form der Struktur der Herrschaftsbeziehung sind, diese Beziehung als natürliche erscheinen lassen […]“ (Bourdieu 2001b: 218).
Bourdieu grenzt sich mit seinem Begriff der symbolischen Herrschaft deutlich von der bekannten Typenlehre der Herrschaft Max Webers ab, bei der etwa die charismatisch legitimierte Herrschaft auf der Anerkennung des Führers durch seine Anhänger (und vor allem dem Glauben an ihn) beruht. Die Gründe dieser Anerkennung werden bei Weber aber nicht näher erläutert, wodurch der Charismabegriff auf einer naturalistischen Ebene verharrt und die sozialen Bedingungen seiner Konstitution undeutlich bleiben. Während Weber so die charismatische Herrschaft als den Regeln des Alltags sowie insbesondere des rationalen Erwerbs entgegengesetzt sieht und das Charisma dadurch sozusagen ontologisiert, versucht Bourdieu eben diese Phänomene in den (scheinbar) unbedeutenden Praktiken des Alltags aufzusuchen, um sie auf diese Weise einer soziologischen Analyse zugänglich zu machen (Kraemer 2002: 123-133). Während Weber von der Prämisse ausgeht, dass der Prozess der Säkularisierung das Aufkommen rationalisierter Lebensführungen in einer versachlichten Moderne mit einer gleichermaßen „entzauberten“ Alltagswelt hervorgebracht hat, in der charismatische Phänomene nur noch auf ganz bestimmte gesellschaftliche Bereiche beschränkt bleiben, beschreibt Bourdieu umgekehrt,
„dass die gesamte kulturelle Sphäre einer fast schon magischen Verzauberung unterliegt und in den Bann der ‚Ideologie der natürlichen Begabung’ gezogen wird, die den ‚Anschein von Angeborenheit und Instinkthaftigkeit’ […] erweckt“ (Kraemer 2002: 134).
Während charismatische Phänomene bei Weber demgemäß als etwas Außeralltägliches betrachtet werden, zielt Bourdieu darauf ab, eben diese im symbolischen Alltagshandeln zu identifizieren (Kraemer 2002: 136).
2.1.1. Symbolische Kämpfe auf dem Feld der Macht
Bourdieu zufolge finden in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern – sei es in der Wirtschaft, der Politik oder in der Wissenschaft – symbolische Kämpfe um die Vormachtstellung im Hinblick darauf statt, was in einer Gesellschaft als legitim gilt und was nicht, und wie diese Legitimität letztlich durchgesetzt wird. Dies basiert auf der Prämisse, dass die von Bourdieu differenzierten Kapitalsorten als knappe Ressourcen gelten und somit von den Individuen, sozialen Schichten, Klassen und Gruppen, welche bestrebt sind, das jeweils ihnen zur Verfügung stehende Kapital möglichst gewinnbringend einsetzen, umkämpft sind. Darüber hinaus versuchen die Akteure die Spielregeln – Bourdieu vergleicht die Felder häufig mit Spiel-Räumen (vgl. Fuchs-Heinritz/ König 205: 143) – und Klassifikationen – den „Definition[en] des Sinns der Sozialwelt“ (Bourdieu 1987: 748) – zu modifizieren, an denen sich die symbolischen Kämpfe orientieren. Es geht also um die symbolische Aufrechterhaltung der Struktur einer Gesellschaft, indem bestimmte Distinktionslinien in den Gesellschaftskörper eingeschrieben werden, damit die bestehenden sozialen Ungleichheiten und Hierarchien nicht angezweifelt und das Schweigen der Doxa (vgl. Kapitel 2.1.2) nicht aufgebrochen werden kann (vgl. Peter 2004: 54 f.).
Eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf die angesprochene Aufzeichnung von Linien der Distinktion hat der in Bourdieus Hauptwerk „Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft“ entwickelte Begriff des legitimen Geschmacks der herrschenden Klasse, die Bourdieu zufolge – ohne jede Intentionalität – lediglich mittels ihrer im Habitus bereits angelegten Dispositionen in der Lage ist,
„’ganz natürlich’ distinguierte Praktiken hervorzubringen; dies, ohne sich Distinktion zum Ziel zu setzen, ohne […] methodisch, absichtsvoll, mittels eines rationalen Plans, einer kalkulierten Strategie zwecks Maximierung der symbolischen Distinktionsgewinne nach ihr zu streben“ (Bourdieu 1989: 398).
Der legitime Geschmack ist demnach nicht in einem normativen Sinne zu verstehen, sondern bezeichnet vielmehr eine sozial geteilte Beurteilung. Diese äußert sich etwa im unablässigen kleinbürgerlichen Nacheifern der legitimen Kultur oder beispielsweise in der Tatsache, dass viele Kleinbürger, die keine Möglichkeit zum Theaterbesuch haben, dennoch der Aussage, dass das Theater geistig erbaue, zustimmen (vgl. Fuchs-Heinritz/ König 2005: 58).
In seinem Buch „Der Staatsadel“ nimmt Bourdieu einen terminologischen Wechsel vor. Er spricht nun nicht mehr von führender oder herrschender Klasse, sondern vom Feld der Macht, vorrangig um zu betonen, dass es ihm um die Analyse von Strukturen der Macht geht (vgl. Interview 1991: 69 f.). Für die französische Gesellschaft seiner Zeit sieht Bourdieu das Feld der Macht in zwei Pole geteilt. Auf der einen Seite verortet er die herrschenden Herrschenden, bei denen das ökonomische Kapital dominiert, das allerdings auch mit symbolischen Eigenschaften ausgestattet ist (so kann beispielsweise ein Bankier sein Geld in die Gründung einer Stiftung investieren). Auf der anderen Seite sieht Bourdieu die beherrschten Herrschenden, mit relativ wenig ökonomischem, dafür umso mehr kulturellem Kapital.
2.1.2. Symbolisches Kapital und das Schweigen der Doxa
Wie oben bereits angedeutet, versteht Bourdieu das Charisma nicht als eine Sonderform legitimer Herrschaft, vielmehr sieht er in ihm eine Dimension jeder Form symbolisch vermittelter Macht:
„Die Bezeichnung symbolisches Kapital wäre nur ein anderes Wort für das, was Max Weber Charisma nennt, wenn dieser, der sicher am besten erkannte, dass die Religionssoziologie nur ein Kapitel der Soziologie der Macht ist, und nicht eben das unbedeutendste, als Gefangener der Logik realistischer Typologien das Charisma nicht zu einer Sonderform der Macht gemacht hätte, anstatt darin eine Dimension jedweder Macht zu sehen […]“ (Bourdieu 1999: 257).
Das symbolische Kapital dient zunächst der Erlangung und Aufrechterhaltung von sozialer Anerkennung und sozialem Prestige. Im Hinblick auf die Art der Entstehung unterscheidet es sich von den von Bourdieu’schen Kapitalgrundsorten, tritt üblicherweise aber zusammen mit eben diesen auf, um ihnen Legitimation zu verschaffen, da sie nur auf diese Weise ihre machtvolle Wirkung entfalten können:
„Das symbolische Kapital […] ist nicht eine besondere Art Kapital, sondern das, was aus jeder Art von Kapital wird, das als Kapital, das heißt als (aktuelle oder potentielle) Kraft, Macht oder Fähigkeit zur Ausbeutung verkannt, also als legitim anerkannt wird“ (Bourdieu 2001b: 311).
Dabei stehen die Inhalte des symbolischen Kapitals in einer stetigen Auseinandersetzung. Als Beispiel ließe sich hier die Entwertung von akademischen Titeln durch die Bildungsreform der 1960er Jahre nennen, d. h. die gesellschaftliche Anerkennung ist in hohem Maße dem sozialen Wandel unterworfen (vgl. Kajetzke 2008: 81).
Zwar bildet das ökonomische Kapital nach wie vor die wichtigste Grundlage der Ausübung von Macht, jedoch reicht „die bloße ökonomische Herrschaft […] niemals aus“ (Interview 1991: 76). Demgegenüber geht Bourdieu davon aus,
„dass keine Macht sich umstandslos in ihrer Rohheit, auf willkürliche Weise, ausüben kann; sie muss sich tarnen, sich verbergen, sich dafür, dass sie existiert, wie sie es tut, rechtfertigen; es muss ihr gelingen, die Anerkennung ihrer Legitimität zu erwirken, indem sie die Verkennung der Willkür, die ihr zugrundeliegt, bewirkt“ (Interview 1991: 76).
Der Begriff des symbolischen Kapitals geht allerdings noch über die Verleihung von Prestige, Ansehen und Renommee hinaus, indem der Ausdruck in Bourdieus Spätwerk eine anthropologische Dimension erhält (vgl. Fuchs-Heinritz/ König 2005: 171). Bourdieu spricht davon, dass in der modernen Gesellschaft, in der die Religion nicht mehr im Stande ist, den Menschen einen gewissen Sinn zu vermitteln, diese – um dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit und völligen Kontingenz zu entrinnen – den Sinn ihres Lebens vorrangig im Dasein für andere suchen. Die Menschen sehen ihre Daseinsberechtigung demnach hauptsächlich darin, auf eine bestimmte Art und Weise wichtig zu sein, was ihnen durch immer fortwährende Anfragen, Erwartungen und Einladungen bekundet wird. Doch zweifellos trifft dieses Gefühl für andere zu zählen nicht auf alle Menschen zu; es ist eine Frage des symbolischen Kapitals:
„Die soziale Welt vergibt das seltenste Gut überhaupt: Anerkennung, Ansehen, das heißt ganz einfach Daseinsberechtigung. Sie ist imstande, dem Leben Sinn zu verleihen, und, indem sie ihn zum höchsten Opfer weiht, selbst noch dem Tod. Weniges ist so ungleich und wohl nichts grausamer verteilt als das symbolische Kapital, das heißt die soziale Bedeutung und die Lebensberechtigung“ (Bourdieu 2001b: 309 f.).
Ausgenommen von dieser Daseinsberechtigung sieht Bourdieu beispielsweise die Jugendlichen maghrebinischer Herkunft in den Banlieues von Paris, deren Eigenname, Akzent und Wohnort im Sinne eines Stigmas als negatives symbolisches Kapital auf ihnen liegt und ihre Chancen nicht nur auf dem Arbeitsmarkt enorm einschränkt
(vgl. Bourdieu 1998a: 212). Die Eltern dieser Heranwachsenden aus den Pariser Vororten sieht Bourdieu außer Stande, „ihnen die nötigen Existenzmittel zu bieten, und erst recht keine Daseinsberechtigung, die sie dem Gefühl, schlichtweg überflüssig zu sein, zu entreißen vermag“ (Bourdieu 1998a: 213). Die daraus resultierende Gewalt der Jugendlichen sieht Bourdieu letztlich als eine Antwort auf die Akte der unsichtbaren, symbolischen Gewalt, die sie bereits seit ihrer frühen Kindheit in der Schule, später dann auf dem Arbeitsmarkt oder auch in Geschlechterbeziehungen erfahren (vgl. Champagne 1998: 86).
Wie weiter oben bereits angesprochen, gilt wie bei der symbolischen Macht als solcher auch beim symbolischen Kapital der Aspekt der Verkennung als zentral:
„Verkennung nenne ich den Tatbestand, eine Gewalt anzuerkennen, die genau in dem Maße ausgeübt wird, in dem man sie als Gewalt verkennt; den Tatbestand also, jenes Ensemble der grundlegenden, vor-reflexiven Voraussetzungen zu akzeptieren, die die sozialen Akteure schon dadurch mitmachen, dass sie die Welt als etwas Selbstverständliches nehmen, das heißt so, wie sie ist, und sie natürlich finden, weil sie kognitive Strukturen auf sie anwenden, die aus eben diesen Strukturen hervorgegangen sind“ (Bourdieu/ Wacquant 1996: 204).
Diesen beschriebenen Umstand, die herrschende soziale Ordnung als natürlich wahrzunehmen, und damit ihren willkürlichen Charakter zu verkennen, beschreibt Bourdieu mit dem griechischen Begriff der Doxa, ein Ausdruck, der „jene stumme Erfahrung der Welt als einer selbstverständlichen“ (Bourdieu 1999: 126) bezeichnet, also gewissermaßen „der Glaube, der sich als solcher nicht kennt“ (Fuchs-Heinritz/ König 2005: 201). Bereits Platon verwendet den Begriff der Doxa, bei dem er eine Meinung in Abgrenzung zu gesichertem Wissen bezeichnet.3 In ähnlicher Weise verwendet auch der Phänomenologe Edmund Husserl den Begriff, indem er die Doxa als „die Grundform allen intentionalen Wahrnehmens und Denkens als „Vermeinen“ oder
„Glauben“ in Bezug auf einen Gegenstand oder auf die Welt insgesamt“ (http://www.guenterfunkeberlin.de/fileadmin/user_upload/Download/LEXIKON.pdf:
2) definiert. Bei Bourdieu erhält der Begriff nun seine soziologische Wendung dadurch, dass die Doxa sich auf das Verhältnis der Individuen zu den innerhalb eines Feldes oder einer gesamten Gesellschaft geteilten Werten bezieht. Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass dieses doxische Verhältnis zwar sozial erworben ist, der Erwerb von den Menschen aber auch sozial vergessen wird:
„Zur Entstehung gehört unweigerlich die Amnesie der Entstehung: die Logik des Glaubenserwerbs, die Logik der unmerklichen, d. h. ständigen und unbewussten Konditionierung, die ebenso über Existenzbedingungen wie über explizite Maßregelungen erfolgt, setzt voraus, dass dieser Erwerb vergessen wird und die Illusion entsteht, das Erworbene sei angeboren“ (Bourdieu 1999: 93).
Alltagssprachlich könnte man synonym zur Doxa den Begriff des „Common Sense“ (Interview 2006: 192) als „Verhaftung an Ordnungsbeziehungen, die, weil gleichermaßen reale wie gedachte Welt begründend, als selbstverständlich und fraglos hingenommen werden“ (Bourdieu 1987: 734 f.) verwenden. Die Herrschenden müssen demzufolge stets ein Interesse daran haben, das „Schweigen der Doxa“ (Bourdieu 1990: 108), d. h. die unreflektierte Anpassung der Individuen an die jeweils gegebene soziale Ordnung, aufrechtzuerhalten.
2.2 Die Inkorporierung der Macht
Bourdieu verweist an vielen Stellen seines Werkes immer wieder auf die körperliche Dimension der symbolischen Macht, indem er von einer „Somatisierung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse“ (Bourdieu 2005: 45) spricht. Er folgt in diesem Sinne Blaise Pascal4, für den „die soziale Ordnung nichts anderes ist als die Ordnung der Körper“ (Bourdieu 2001b: 215). Um die körperliche Dimension der Macht analy- tisch bearbeiten zu können, verwendet Bourdieu in diesem Zusammenhang häufig den griechischen Begriff der Hexis (Bourdieu 2005: 57), welcher von der Bedeutung her zunächst einmal ein Äquivalent zum lateinischen Ausdruck des Habitus bildet. Bourdieu gebraucht beide Begriffe allerdings höchst unterschiedlich: Während der Habitus für eine „’innere’ generative Tiefenstruktur (Tiefenformel)“ (Fröhlich 1999:
100) steht, welche in der Interaktion mit einem gesellschaftlichen Feld entsteht und dabei nicht beobachtbar ist, meint die Hexis bei Bourdieu ein „äußerlich wahrnehmbare[s] Ensemble dauerhaft erworbener Körperhaltungen und –bewegungen“ (Fröhlich 1999: 100). Die Hexis kann somit als die Schnittstelle zwischen Habitus und Feld angesehen werden, indem durch eine mimetische Nachahmung der Handlungen anderer Individuen eigene motorische Bewegungen und Körperhaltungen angenommen und automatisiert werden. Auf diese Weise verkörpern sich Gefühle, Denkmuster und Einstellungen sozusagen zu „Fleisch und Blut gewordenen Hypothesen über die [...] Welt“ (Fröhlich 1999: 102):
„Die körperliche Hexis […] ist eine ständige unauslöschliche Gedächtnisstütze, in der sich auf sichtbare und fühlbare Weise all die möglichen Gedanken und Handlungen, all die praktischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eingeschrieben finden, die einen Habitus definieren“ (Bourdieu 1997: 187).
Was aus dieser Verkörperlichung der Macht folgt ist der Gedanke, dass – wie oben bereits erwähnt – die symbolische Macht wirken kann, ohne auf das Bewusstsein oder den Willen der Akteure angewiesen zu sein. Sie dringt sozusagen tief in die Körper der Menschen selbst ein und hinterlässt dort ihre Machteffekte, was Bourdieu nicht zuletzt auch am Sprachgebrauch festmacht:
„Genau über dieses im Dunkel verbleibende, gleichsam körperliche Verhaftetsein wirkt sich symbolische Gewalt aus. Politischer Gehorsam schlägt sich in der Haltung, in den Falten, den Gewohnheiten des Körpers wie in den Automatismen des Gehirns nieder. Das Herrschaftsvokabular ist voll von körperbezogenen Metaphern: ‚zu Kreuze kriechen’, ‚den Nacken beugen’,
‚kuschen’ und so weiter […]. Worte bringen die politische Gymnastik der Herrschaft nur deshalb so hervorragend zum Ausdruck, weil sie gemeinsam mit dem Körper Träger jener tief verborgenen Montagen sind, in denen sich eine Sozialordnung dauerhaft verankert“ (Bourdieu 1993: 55).
Aufgrund dessen reicht es also nicht aus, sich der Herrschaft bewusst zu werden, um sich von ihr zu befreien – jede Bewusstwerdung wird somit vergeblich:
„Wenn es völlig illusorisch ist, zu glauben, die symbolische Gewalt könne mit den Waffen des Bewusstseins und des Willens allein besiegt werden, so deshalb, weil die Resultate und die Bedingungen ihrer Wirksamkeit in Form von Dispositionen dauerhaft in das Innerste der Körper eingeprägt sind“ (Bourdieu 2005: 72 f.).
Wie diese Inkorporierung nun konkret funktioniert erläutert Bourdieu anhand seines Habitus-Begriffs:
„Als Produkt der Einverleibung einer sozialen Struktur in Form einer quasi natürlichen, oft ganz und gar angeboren wirkenden Disposition ist der Habitus die […] die potentielle Energie, […] aus der die symbolische Gewalt […] ihre geheimnisvolle Wirkung bezieht“ (Bourdieu 2001b: 216).
Die Selbstverständlichkeit in der Erfahrung der Welt durch die Menschen liegt demnach in den Wahrnehmungsund Bewertungskategorien des Habitus begründet. Die objektiven Strukturen des Habitus sind auf diese Weise das Ergebnis einer Verkörperlichung der objektiven Strukturen der sozialen Welt:
„Die symbolische Herrschaft […] entfaltet ihre Wirksamkeit nicht in der reinen Logik erkennenden Bewusstseins, sondern in dunklen Dispositionen des Habitus, denen Wahrnehmungs-, Bewertungsund Handlungsschemata innewohnen, aus denen vor jeder bewusst getroffenen Entscheidung und willentlichen Kontrolle eine sich selber undurchsichtige Beziehung praktischen Erkennens und Anerkennens hervorgeht“ (Bourdieu 2001b: 218).
Diese Einverleibung ist vor allem im Sinne sowohl einer expliziten als auch einer impliziten Sozialisation innerhalb und außerhalb von Familie und Schule zu verstehen – einer Beeinflussung, die von der Ordnung der Dinge selbst ausgeht: „Von allen Formen der ‚unterschwelligen Beeinflussung’ ist die unerbittlichste die, die ganz einfach von der Ordnung der Dinge ausgeübt wird“ (Bourdieu/ Wacquant 1996: 205). Die praktische Anerkennung der symbolischen Macht durch die Beherrschten
„nimmt häufig die Form einer körperlichen Empfindung an (Scham, Schüchternheit, Ängstlichkeit, Schuldgefühl) […].
[...]
1 Bourdieu weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass selbst die Androhung physischer Macht als „nackter Gewalt“ immer auch eine symbolische Komponente des Erkennens und Anerkennens enthält (vgl. Bourdieu 2001: 220).
2 Obwohl der Gebrauch dieser Begriffe bei Bourdieu nicht immer ganz eindeutig ist (vgl. Schwingel 1993: 212 f.) verwendet er die Ausdrücke doch weitgehend synonym (vgl. Moebius 2006: 53).
3 Vgl. dazu http://www.textlog.de/8287.html.
4 Französischer Mathematiker, Physiker, Literat und Philosoph des 17. Jahrhunderts (vgl. http://www.bautz.de/bbkl/p/pascal_b.shtml).
- Quote paper
- René Klug (Author), 2008, Mechanismen (Bourdieu) und Technologien (Foucault) der Macht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113368
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