Die bis heute noch Anklang findenden Methoden von Barnett und Addams zeigen, dass ihre Ideen bis heute noch aktuell sind. Gemeinsam mit weiteren Studien die unter anderem von John Dewey im Hull House durchgeführt wurden, wurden damals Konzepte und Leitlinien entwickelt, die heute aktueller denn je sind. Reformpädagogische Bildungskonzepte, auf Selbsterfahrung und -reflexion aufbauende Aus- und Weiterbildungen und begleitende Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenslagen sind drei Arbeitsfelder, die zwar unterschiedlich klingen und verschiedene Nutzergruppen ansprechen, aber für darin tätige Sozialpädagogen eines verbinden: Gemeinsames Arbeiten, Lehren und Leben auf Augenhöhe, gleichzeitig wertschätzendem Umgang untereinander und dem Fördern von Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen, die sie selbst kaum wahrnehmen und zu wenig Beachtung schenken.
Freie Universität Bozen- Fakultät Bildungswissenschaften
Bachelor Sozialpädagogik: Jahr 1, Semester 1
Datum: 09.01.2018
Autor: Patzleiner Lukas
Die wegweisenden Beispiele moderner Sozialarbeit von Samuel Barnett und Jane Addams und deren Bedeutung für die Moderne
I. Momentaufnahme der Sozialen (Fürsorge-)Arbeit im 19. Jahrhundert
Der Mensch hat in seiner Geschichte viele große Errungenschaften gemacht. Viele dieser Errungenschaften haben vielen Menschen erst die Möglichkeiten offenbart und aufgezeigt, die die Gesellschaft vorher nur einigen wenigen bot. Die dadurch eintretende schnellere Weiterentwicklung des Menschen verbunden mit den sich ständig neu verändernden Lebensbedingungen und Möglichkeiten war ein großer Schritt für die Gesellschaft als Ganze. Je heller es auf der einen Seite wird, umso deutlicher treten allerdings auch Schatten hervor. Nicht alle konnten und wollten mit diesen Entwicklungen Schritt halten oder waren mit der Vielfalt an Möglichkeiten schlicht überfordert, weil sie vorher nichts Anderes erlebt hatten. Aus dem beschaulichen Alltag einer Bauernfamilie, die nun plötzlich aufgrund der industriellen Revolution gänzlich ihrer Grundlage beraubt wird und ihre Heimat aufgeben muss um in einer Stadt sich dem Takt einer Fabrik anzupassen, wurde nun ein angepasstes Leben innerhalb eines sehr schnell wachsenden Systems der Industrie verlangt. Diese Entwicklung führte zu oft traumatischen Erlebnissen und sozialen Problemen, da der analog wachsende Druck und Kampf um die Arbeitsplätze- verbunden mit Ausnutzung und Ausbeutung der Arbeiter- einen nun neuen veränderten Platz in der Gesellschaft bedingte. Viele Menschen wurden in eine veränderte Lebenssituation geschoben und somit vielfach auch an den Rand der Armut gebracht.
Aus dieser radikalen Veränderung der Gesellschaft und der herrschenden Not und Ungerechtigkeit der Arbeiter- und Bürgergesellschaft traten einige herausragende Menschen hervor, die diese Entwicklungen beobachteten und sich mit ihrer emphatischen Haltung für eine Besserung dieser prekären Verhältnisse einsetzten.
Diese Veränderung geschieht nicht sofort und scheint einem aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts als völlig logisch und normal, aber genaueres Studium zweier Beispiele zeigt, dass diese emphatische Haltung, die kurz mit dem modernen Begriff des „Empowerment“ bezeichnet werden könnte, von Pfarrer Samuel Barnett in England und etwas später in Chicago von Jane Addams noch heute nachwirken, sich weiterentwickelt haben, aber immer noch eine Grundhaltung der modernen Sozialarbeit sind.
II. Toynbee Hall, 1883: Pfarrer Samuel Barnetts Modell des Erfahrungen sammelns für Studierende in den Slums von London
Ein Pfarrer im Londoner Stadtteil Whitechapel, ein verspäteter Zug und der Mut einiger Studenten führte zur Gründung eines Hauses, das einen gänzlich neuen Ansatz der sozialen Fürsorge verfolgte.
Im England zu jener Zeit war eine Sozialarbeit oder besser formuliert, Sozialfürsorge eingerichtet und den Menschen anerzogen, die auf Fürsorge/Nächstenliebe aufbaute. Den Menschen, denen aufgrund von Schwierigkeiten persönlicher (psychisch, körperlich, sozial) oder zwischenmenschlicher Natur (in der Familie, Arbeit, Lebensbedingungen) die Grundlage zum Leben fehlte oder für sie nicht erreichbar war, wurde durch eine „gute Tat“ von Seiten caritativer Organisationen oder des Staates Hilfe erteilt. Diese Hilfe bewirkte aber keine Verbesserung der Situation sondern bedingte vielmehr die Abhängigkeit derselben und oft auch die Stigmatisierung innerhalb der Gesellschaft.
Diese Situation herrschte in Barnetts Stadtteil Whitechapel. Menschen vegetierten mit Armenhilfe dahin, deren Kinder besuchten die „Armenschulen“ und die arbeitslosen Männer mussten in sogenannten „Arbeitshäusern“, die wie Gefängnisse organisiert waren, leben und arbeiten. Dazu kam, dass viele Menschen die durchaus diese Unterstützung brauchen würden, sich nicht diesem staatlichen System unterordnen wollten. Der Staat selbst hatte auch nicht unbegrenzte Mittel und deshalb die Armenhilfe so organisiert, dass Menschen vielfach darauf verzichteten oder andere zwielichtigere Wege suchten, um dennoch ihr Überleben sichern zu können. Diese Lebensbedingungen waren den Reichen durchaus bekannt, allerdings beruhigten sie ihr Gewissen hauptsächlich durch Spenden, die in diesen Stadtteilen irgendwo eingesetzt wurden und verließen sich auf die bürgerlichen Wohlfahrtsverbände, die milde Gaben verteilten. Auch diese konnten die herrschende Not nicht lindern, sondern höchstens so erhalten, da weder die Form noch das Ausmaß dieser „Gaben“ reichte um die Lebenssituation der Menschen zu verbessern.
Barnett reiste mit diesem Brief, den er von sozial engagierten Studenten der Universität Cambridge erhalten hatte, bestärkt zur Universität nach Oxford und erhielt dort die Bestätigung, dass seine Idee, nämlich den Studenten die Möglichkeit zu geben, mit einem Engagement direkt vor Ort selbst erleben und erfahren zu können, wie zielgerichtete Hilfe funktionieren kann, von Seiten der Universität unterstützt wird.
Innerhalb kurzer Zeit wurde Geld gesammelt, ein Verein gegründet und ein Haus gesucht, das als Außenstelle der Universität dienen konnte. Barnett formulierte in seiner Vision das Haus und die gewünschte Anwesenheit der Studenten und Bürger wie folgt: „Auf diese Weise würde sich ihr Leben mit dem Leben der Armen berühren, und sie würden Dinge lernen, die ihr Bewusstsein revolutionieren könnten.“1 Weiter schreibt er: „der Londoner Osten wird nicht eher ‚gerettet‘ werden, als bis die Reichen ihr Verhalten geändert haben und sich wieder damit begnügen, die gleiche Luft zu atmen und in den selben Straßen zu wohnen wie die Armen.“2
Seine Idee und Einstellung zur Weiterentwicklung der Sozialhilfe kam nicht durch diese plötzliche Eingebung innerhalb des Jahres 1883, sondern war seine eigene Erfahrung, die er bereits selbst gemacht hat. Samuel Barnett, in Bristol geboren, studierte Geschichte, Recht und Religion im Wadham College in Oxford und diente dann als Diakon in Bristol, seiner Heimatstadt. Er versuchte dabei durch sozialpädagogische Aktivitäten (Referate, Diskussionen und Gesellschaftsspiele) sowie mit seiner eigenen, frischeren und lebendigen Art die Menschen zu bewegen. Auch arbeitete er mit den Wohlfahrtsverbänden dieser Zeit zusammen und lernte dort Henriette, seine zukünftige Frau, kennen und lieben. Barnett und Henrietta tauschten sich intensiv über die Systematik und Art der Fürsorge aus und lernt so, dass sein Ansatz der sozialen Arbeit durchaus richtig sein könnte. Nach der Übernahme der Pfarrei St. Jude in Whitechapel, die Barnett zugeteilt wird, nachdem er den Wechsel in eine „lohnende Pfarrei“ in der Nähe von Oxford ausgeschlagen hatte, sieht er seine Möglichkeit gekommen um sein Konzept dort den Menschen anzubieten und zu erproben. Anfangs bekamen sie von den Menschen reichlich Kritik und Wut zu spüren, da sie den bedürftigen Menschen nach den Messfeiern nicht den „belohnenden Obulus“ in Form von milden Gaben überreichten, sondern andere Wege versuchten. Die Bedürftigen hatten doch bisher den Messbesuch mit der Gegenleistung einer Mildtätigkeit der Sozialfürsorge verbunden. Samuel und Henrietta Barnett erkannten, dass die Menschen anfangs die Angebote und Strukturen die sie einrichteten (Religionsunterricht, Hilfs-Komitee, Arbeitskreise, ...) zwar nutzten, aber dennoch immer auf Sozialhilfe in Form von Geld und Nahrung hofften. Erst langsam veränderte sich diese Haltung der Menschen und das ist dem unnachgiebigen Glauben der Barnetts auf die nachhaltigere Form ihrer Sozialarbeit geschuldet.
Und so kam es, dass Toynbee Hall, gegründet 1883, als Haus für die Nachbarschaft errichtet, oder besser gesagt, ein bestehendes Wohnhaus, das nicht mehr genutzt wurde, einem neuen gemeinnützigen Zweck zugeführt wurde. Die Barnetts übernahmen die Koordination des Hauses und führten ihre Ideen und ihr Konzept dort fort. Sie waren der Überzeugung, dass die Menschen dazu befähigt werden müssen, ihr Leben selbst zu meistern und sich die zum Leben notwendigen Mittel durch eigene Arbeit zu verdienen.3
Diese Befähigung sollte durch verschiedene Formen der Unterstützung und Tätigkeit in den Bereichen Geselligkeit, Bildung und Freizeit gegeben werden. Deshalb war es ein wesentliches Bedürfnis und Wunsch Barnetts, dass Hilfswillige Studenten, Akademiker und Angehörige der gebildeten und kultivierten Mittelschicht nach Whitechapel kamen und in der Toynbee Hall den Menschen ein Beispiel ihrer Lebensweise, Vermitteln von Bildung und Vorleben von Kultur neuen Mut geben.
Zudem musste laut Barnetts Vorstellungen auch eine tiefgreifende kommunale Sozialreform vorangetrieben werden, die von eben jenen Menschen gefordert und mitgestaltet werden kann, die sich selbst vor Ort einen Überblick über Form und Notwendigkeit der Hilfe gemacht hatten.
Barnett bezeichnete diese Methode in seinem Konzept der „Aktiven Armenhilfe“ zweiundzwanzig Jahre nach der Gründung von Toynbee Hall“ als „wechselseitige Durchdringung“:
„Die Bewohner einer Universitäts-Niederlassung ändern sich in der Tat. Und in der Tat bedeutet dies auch eine Änderung ihrer Nachbarn. (…) Sie sind wie Kerzen, die in einem Kerzenhalter brennen. (…) Diese populären Konzepte gehen davon aus, dass der Reiche dem Armen hilft und dass der Weise den Unwissenden belehrt. (…) Diese Konzeption hat ihren eigenen Reiz – aber sie gehört ins Mittelalter. Es gibt eine andere Konzeption, die langsam Gestalt gewinnt. Es ist die Konzeption einer Gesellschaft, in der Kooperation die Rolle von Mildtätigkeit übernimmt- und Gerechtigkeit die Rolle von Nächstenliebe.“4
Bereits innerhalb weniger Jahre wuchs die Tätigkeit in der Toynbee Hall an und ermöglichte der Nachbarschaft in wesentlichen notwendigen Bereichen eine Erleichterung sowie Bereicherung ihres Lebens. Barnett führte bereits vor seiner Zeit als Leiter der Toynbee Hall einige Veranstaltungen und Veränderung in seiner Pfarrei ein, wie z.B. Nachbarschaftstreffen, Kunstausstellungen, Initiativen für günstigere Wohnungen, u.a.m.
Parallel zu den Angeboten in der Erwachsenenbildung wurden Aufenthalte für die Kinder organisiert. Im Stadtviertel wurden Kinderspielplätze errichtet, es gab sogenannte „Kinderlandverschickungen“, die man heute als „Sommerlager“ bezeichnen würde und es wurden auch Erwachsenenfahrten angeboten, welche den Familien und Erwachsenen Reisen in andere Länder (wie z.B. Italien, Schweiz, Griechenland, …) ermöglichten. Zudem gab Barnett für die Arbeiter Kurse in verschiedenen Bildungsbereichen, für Kinder am Sonntag ergänzende Schultätigkeit und ermöglichte Menschen durch den Besuch der Abendschule eine Weiterbildungsmöglichkeit und suchte weiters auch nach Möglichkeiten um auf die Umstände in seiner Gemeinde aufmerksam zu machen. Hierzu führte er Studien und Untersuchungen der sozialen Bedingungen der Bevölkerung durch und tauschte sein Wissen und seine Erfahrungen mit den Studierenden und Lehrenden aus. Diese sahen sich darin bestärkt, diese Forschungen weiterzutreiben und eine Reform des Sozialsystems anzustreben. Barnett aber blieb stets seinem Glaubenssatz „Wer arbeiten will, soll solange und auf eine solche Weise unterstützt werden, dass er auch arbeiten kann“5 treu.
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1 Müller, C. Wolfgang; Wie Helfen zum Beruf wurde. Beltz 1999 (Weinheim und Basel). S. 24-25
2 Müller, C. Wolfgang; Wie Helfen zum Beruf wurde. Beltz 1999 (Weinheim und Basel). S. 25
3 Müller, C. Wolfgang; Wie Helfen zum Beruf wurde. Beltz 1999 (Weinheim und Basel). S. 38
4 Müller, C. Wolfgang; Wie Helfen zum Beruf wurde. Beltz 1999 (Weinheim und Basel). S. 41
5 Müller, C. Wolfgang; Wie Helfen zum Beruf wurde. Beltz 1999 (Weinheim und Basel). S. 50
- Quote paper
- Lukas Patzleiner (Author), 2017, Die wegweisenden Beispiele moderner Sozialarbeit von Samuel Barnett und Jane Addams und deren Bedeutung für die Moderne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1130908
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