Beginnend soll ein Grundriss der Sozialpädagogischen Familienhilfe erläutert werden. Dies hat zum einen den Grund den Untersuchungsrahmen abzustecken und zum anderen dem Leser zu vermitteln, was eigentlich damit gemeint ist, wenn im Laufe der Arbeit von dieser Hilfeform gesprochen wird. Um eine Sensibilität für dieses System zu schaffen, soll die Arbeit mit Hilfe der Ausführungen und Überlegungen von Michel Foucault ein gesellschaftliches Machtkonstrukt erläutern, wie es so oder so ähnlich hier in der Bundesrepublik Deutschland existieren könnte.
Darauf aufbauend werden unterschiedliche Perspektiven erläutert, unter denen Machtformen reflektiert werden können. Dabei handelt es sich um eine bescheidene Auswahl von Machtverständnissen, die im Kontext der Arbeitsbeziehung als besonders relevant erachtet werden. Abschließend werden drei Reflexions-Systematiken vorgestellt, die durch konkrete Kategorien, die Machtsubstanz zu gliedern vermögen und so handlungswissenschaftliche Ansätze generieren. Die Arbeit endet mit dem Fazit.
Macht umgibt und durchdringt alle unsere zwischenmenschlichen Beziehungen und ist somit stetiger Begleiter unseres Lebens. Gleichzeitig scheint sich das Thema "Macht" in unserer Gesellschaft eines gewissen Tabu-Charakters unterwerfen zu müssen. Als Sozialarbeiter bin ich aus fachlicher und persönlicher Sicht darauf angewiesen mich mit der Macht auseinanderzusetzen. Für mich und mein Klientel. Im fachlichen Diskurs der Sozialen Arbeit bleibt das Thema, trotz seiner hohen Relevanz, jedoch weitgehend unberührt. Mit dieser Arbeit habe ich versucht einen Akzent im Berufsfeld der Sozialen Arbeit zu setzen und das "Herzensthema" Macht sowohl theoretisch als auch praktisch aufzuarbeiten. Die Hoffnung einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich das Thema "Macht" seinen verdienten Platz im Bewusstsein meiner KollegInnen oder weiterer Interessierter verdient, hat mich beim Schreiben durchweg motiviert mein Meisterwerk zu vollenden. Viel Spaß und Bereicherung beim Lesen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundriss der Sozialpädagogischen Familienhilfe
2.1 Rechtlicher Rahmen
2.2 Weiterführende Erläuterung
2.3 Ein machtkritisches Beispiel der SPFH
3. Machtanalytische Grundannahmen
3.1 Von der Souveränitätsmacht
3.2 Über Pastoralmacht
4. Bio-Macht
4.1 Disziplinarmacht
4.1.1 Überwachung
4.1.2 Normalisierung
4.1.3 Prüfung
4.1.4 Produktivität der Disziplinarmacht
4.2 Bio-Politik
4.3 Gouvernementalität
5. Reflexionsperspektiven
5.1 Machtquellen
5.2 Macht und Gewalt
5.3 Macht und Subjektivierung
5.4 Macht und Konstruktivismus
5.5 Normativitäts-Wirkungs-Matrix
5.5.1 Begrenzungsmacht
5.5.2 Behinderungsmacht
5.5.3 Instruktive Macht
5.5.4 Destruktive Macht
5.5.5 Reflexionsmatrix
5.6 Macht und Widerstand
5.6.1 Einführung in ein Widerstandsverständnis
5.6.2 Widerstandsformen nach Heiter
5.6.2.1 Die individuell-kooperative Spielform
5.6.2.2 Die Individuell-agonale Spielform
5.6.2.3 Die kollektiv-kooperative und kollektiv-agonale Spielform
5.6.3 Kommunikationsbeziehung, Machtbeziehung und Widerstand – ein Beispiel
5.7 Pädagogische Macht
6. Reflexionssystematik
6.1 Analyse von Machtbeziehungen
6.2 Machtthemen
6.3 W für Wissen
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung
1. Einleitung
Macht. Ein Wort, ein Phänomen, unzählige Fassetten. Woran genau denkt man, wenn man dieses Wort in dieser Arbeit, in einem Buch oder in einer Zeitung liest? Welche Verbindungen und Zusammenhänge zieht man, wenn in den Nachrichten von „Macht“ gesprochen wird? Und was ist dieses Etwas eigentlich, das Menschen irgendwie haben und dadurch einflussreich, kraftvoll und imposant erscheinen und die, die es nicht haben irgendwie schwach, passiv und hilflos wirken? Würde man diesen Eigenschaften der „Mächtigen“ und „Ohnmächtigen“ so oder so ähnlich zustimmen, wäre man bereits in die erste Assoziationsfalle getappt. Der Verstand des Menschen wird am Alltag geschult. Unsere Vorstellung von „Macht“ speist sich aus den Skandalhäppchen der Medien und den Extremerfahrungen, die der Mensch in seinem Leben erfährt, in welchen er scheinbar besonders viel Macht hatte oder eben vermeintlich keine. Das Ergebnis von medialer Prägung und subjektiver Erfahrungsgeschichte ist ein gordischer Verständnisknoten, dessen gesellschaftliche Mystifizierung nur noch durch die Macht selbst übertroffen wird, die er besitzt. Man könnte also meinen, „die Macht der Macht scheint im Wesentlichen auf dem Umstand zu beruhen, dass man nicht genau weiß, um was es sich eigentlich handelt“ (Luhmann, 1969: 149). Dennoch sind wir uns der Existenz von Macht (zumindest in Momentaufnahmen) bewusst. Man kann sie spüren, wenn morgens der Wecker klingelt und wir zur Arbeit müssen, obwohl wir gerne weiterschlafen würden; wenn wir einen armen Menschen auf der Straße oder einen Menschen in einem teuren Auto vorbeifahren sehen; wenn Eltern, Lehrer oder Vorgesetzte uns etwas auftragen, was wir vielleicht gar nicht tun wollen oder wenn wir Hilfe benötigen oder uns jemand um Hilfe bittet. Sie ist überall dort vorzufinden, wo Menschen aufeinander treffen. Als soziales Wesen umgibt und durchdringt sie uns. Macht ist soziale Relation. Selbstverständlich können wir auch Macht über einen Toaster besitzen, indem wir entscheiden, ob wir ihn zerstören oder einfach nur benutzen wollen. Im Laufe dieser Masterthesis wird allerdings immer wieder deutlich werden, dass Macht mehr als nur Zustandsveränderung bedeutet und der Mensch etwas besitzt, dass ihn gegenüber dem Toaster zu einem weitaus empfänglicheren Körper für Macht werden lässt – Handlungsfähigkeit.
Macht stellt sich zunächst sehr abstrakt, als soziales Phänomen dar, das auf und durch jedes Subjekt innerhalb einer zwischenmenschlichen Beziehung wirkt. Man könnte sagen, Macht sei eine wechselwirkende, natürliche Konstante des Sozialen. In diesem Sinne, sei jede Beziehungsform, ob romantischer, freundschaftlicher, familiärer oder beruflicher Natur, eine Machtbeziehung – verstanden als zwischenmenschliche Beziehung, die durch diverse Machtformen geprägt und bestimmt wird. Dass Macht ein Teil der Arbeitsbeziehung im Berufsfeld der Sozialen Arbeit ist, erweist sich nach diesen ersten Überlegungen als unstrittige Tatsache à Macht ist der Sozialen Arbeit immanent. Um so fragwürdiger ist die Rezession der Machtthematik im sozialwissenschaftlichen Diskurs seit den 70er-Jahren zu bewerten (vgl. Kraus & Krieger, 2014: 9; vgl. Kessl, 2014: 29). Man könnte beinah meinen, es hätte sich eine Hemmung an wissenschaftlicher Neugier und Transparenz in der Sozialen Arbeit manifestiert. Die Relevanz des Machtthemas wird dadurch allerdings nicht gemindert. Ganz im Gegenteil. Aus meiner Sicht wird Macht in der akademischen Ausbildung der Sozialen Arbeit deutlich zu knapp oder gar nicht thematisiert. Als Folge bilden die Universitäten und Fachhochschulen Sozialarbeiter*innen aus, die während ihres Praktikums oder als Berufsanfänger mit Machtsystemen konfrontiert werden, deren ökonomische und bürokratische Maximen, das im Studium Gelernte auf eine harte Probe stellen. Ähnlich mangelhaft scheint es mit der Vermittlung von Fähigkeiten zum Beziehungsaufbau und der Identifizierung und Nutzbarkeit von Machtprozessen zu sein. Stattdessen wird ein Bild vom „guten“ Sozialarbeiter gelehrt, der zwar im Zwiespalt zwischen Hilfe und Kontrolle steht, aber scheinbar mit der richtigen Haltung schon viel bewirkt werden kann. Möglicherweise ist das so. Dennoch fehlt es an dieser Stelle deutlich am Praxisbezug. Nicht nur wie man eine solche Haltung entwickeln kann, ohne sich dabei nur auf die altruistische Grundhaltung einiger Studenten zu verlassen, sondern auch der professionelle Umgang mit Ablehnung und Macht in der Arbeitsbeziehung sollte aus meiner Sicht einen festen Platz im Curriculum der Sozialen Arbeit haben. In einigen Bereichen der Sozialen Arbeit ist aufgrund der besonderen Nähe zur Klientel eine gesteigerte Machtsensibilität erforderlich. Dabei ist der Nutzen einer solch erlernten Sensibilität nicht nur die Identifikation von Machtformen, sondern auch die Reflexion des sozialarbeiterischen Selbstbildes und die mögliche Erkenntnis über unbeachtete, disziplinierende und kontrollierende Handlungsweisen in der Beziehungsarbeit. Die Position der Sozialarbeiter*in ist zumeist die des Helfenden, des Unterstützenden. Durch den Einbezug von Machtaspekten in die tägliche Praxis, erlauben wir uns eine Züglung unserer eigenen Berufsidentität oder anders, eine moralische Grenze zu dem was man unter guter Sozialer Arbeit versteht. Darüber hinaus kann nur jene*r Macht bewusst nutzen, der sie bewusst wahrnehmen kann. Jeder Mensch ist in einer Beziehung Machtanwender und Machtbetroffener. Da die Arbeitsbeziehung aber ein vorher definiertes Ziel verfolgt, ist es gerade in Sinne einer professionellen, verantwortungsvollen Haltung, sich mit Macht auseinanderzusetzen und diese als festen Bestandteil ihrer Arbeit anzuerkennen. Welche Intervention ist zu welchem Zeitpunkt noch legitim und wie setze ich diese durch? Wo hört Lebensführung auf und wo beginnt Pathologie? Wo endet Selbstbestimmung und wo fängt Bevormundung an? Machtfragen sind Teil einer kritischen Sozialen Arbeit und verdienen einen deutlicheren Fokus, als ihnen derzeit zugesprochen wird.
Macht ist nicht gleich Macht. Diese Annahme wird in der vorliegenden Masterarbeit deutlich werden. Nicht nur, dass der Machtbegriff diverse Machtformen-, Strukturen-, Prozesse-, Mechanismen- und Manifestationen in sich vereint, sie kann auch durch unterschiedliche Lesarten verstanden werden. Pauschal könnte man sagen, es gibt eine Lesart, die einen eher repressiven Charakter der Macht fokussiert, eine die eher die produktiven Aspekte der Macht hervorhebt und zahlreiche Nuancen dazwischen. In dieser Arbeit soll eher ein neutrales Verständnis der Macht seine Anwendung finden. Macht soll weder als Übel noch als Rettung angesehen werden, sondern als das was sie im Grunde zu sein scheint – die Möglichkeit zur Manipulation, was nichts anderes bedeutet, als die Chance zur Veränderung. Wie eingangs angedeutet ist der Rahmen, in welchem die Macht analysiert und reflektiert werden soll, der einer Arbeitsbeziehung und noch spezifischer, die Arbeitsbeziehung in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Sich „nur“ auf einen solch kleinen Bereich von Machtformen zu limitieren ergibt durchaus Sinn, weil sich Macht zum einen kontextabhängig darstellt und ein und dieselbe Machtform in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich wirkt. Hierzu ein kleines allgemeines Beispiel als Appetitanreger vorweg: Der bürokratisierte Bearbeitungsapparat von Asylbewerber*innen hat eine staatlich legitimierte Bewertungsschablone etabliert, die einen bestimmten Status mit einer bestimmten Position innerhalb der Gesellschaft verknüpft, die wiederum den Zugang oder Ausschluss von bestimmten Leistungen nach sich zieht. In den meisten Fällen bedeutet diese zugeschriebene Position allerdings Ausschluss von der Teilhabe an der Gesellschaft. Auf der anderen Seite kann eine zugeschriebene Position für einen Mehrwert an sozialer Teilhabe sorgen. Beispielsweise das Plädoyer für eine gerechte Berücksichtigung von Frauen in Führungspositionen oder die Anrechnung der Kindererziehungszeit auf die Rente (vgl. Sagebiel & Pankofer, 2015: 115). Beide Beispiele wirken recht entfremdet voneinander, entspringen jedoch der gleichen Machtform. Zum Zweiten lassen sich konkretere, handlungswissenschaftliche Erkenntnisse generieren, wenn wir den zu erforschenden Bereich eingrenzen. Im Laufe der Arbeit werden einige Formen der Macht erläutert, die für die Arbeitsbeziehung relevant sein könnten und der Frage nachgehen, wie dieses Phänomen eigentlich wirkt, wie man es benutzen kann und was das Wissen um die Macht für einen Mehrwert in der Arbeitsbeziehung bieten kann. Weniger soll dabei die Frage im Mittelpunkt stehen, wer Macht besitzt und wer nicht. Die Frage nach dem „Wer“ würde suggerieren, dass Macht etwas sei, das ein Mensch haben kann und ein anderer nicht, gleich eines Besitzes und so könnte man sie auch allein besitzen. Macht, die einseitig wirkt ist – und das wird noch deutlich werden – in ihrer Begrifflichkeit und Existenz nichtig. Es ist auch nicht die Frage nach dem „Was“, denn der Gegenstand der Macht – sollte es diesen geben – ist ubiquitär und doch spezifisch. Dies erschwert den Versuch eines greifbaren Gegenstandes von Macht erheblich, da sie einerseits in Abhängigkeit von menschlichen Beziehungen keine objektive Struktur fassen kann, andererseits durch die ihr innewohnenden Techniken, Mechanismen, Formationen und Manifestationen nicht auf rein subjektive Intentionen limitiert werden kann. Daher ist eine systematische Betrachtung der Macht, stets unter Berücksichtigung des jeweiligen Relationsgeflechtes zu konzipieren. In Folge dessen kommt der Frage nach dem „Wie“ in dieser Masterthesis eine prominente Stellung zu. Ganz nach Foucault: „Die Frage lautet nicht, wie Macht sich manifestiert, sondern wie sie ausgeübt wird, also was da geschieht, wenn jemand, wie man sagt, Macht über andere ausübt“ (Foucault, 2005: 251). Wurde das „Wie“ ausreichend ergründet, soll – und so seien die Ziele dieser Arbeit – ein kleiner Beitrag dazu geleistet werden, das „Pseudomysterium“ der Macht aufzulösen, dem Thema „Macht“ durch eine Koalition mit Werten der Sozialen Arbeit, zum offenen Diskurs und zur Abspaltung als Tabu-Thema zu verhelfen und die Machtthematik für die Arbeitsbeziehung in der Sozialpädagogischen Familienhilfe (und wenn möglich, weiteren Bereichen der Sozialen Arbeit) handlungswissenschaftlich attraktiver zu gestalten.
Um diesen Zielen gerecht zu werden, ist es notwendig Macht zunächst aus einer Art Metaperspektive zu betrachten. Sozusagen eine „Gesellschaftsmacht“ darzustellen, in welche die Arbeitsbeziehung eingebettet ist. Würde man sich zum Verständnis von Macht lediglich auf den kleinen Bereich der Arbeitsbeziehung fokussieren, so läuft man Gefahr, makroskopische Machtformen außer Acht zu lassen und so in einer oberflächlichen Reflexion zu verharren, die gar nicht zu hinterfragen vermag, wie es überhaupt möglich sein kann, dass eben diese Formen der Macht in unserer Gesellschaft wirken können. Wissenschaftlich werde ich folglich einen deduktiven Erkenntnisweg einschlagen, der vom Abstrakten zum Konkreten führt. Methodisch ist diese Masterthesis eine Literaturanalyse, die durch hypothetische Schlussfolgerungen und Analogien erweitert und deren Erkenntnisse an geeigneten Stellen mit Praxisbeispielen untermauert werden. Was diese Arbeit nicht leisten wird, ist eine Theorie der Macht zu erläutern, geschweige denn eine solche zu entwickeln, da „(Macht) kein angemessenes Objekt für eine Theorie (sei). Aber analysiert kann sie werden […]“ (Dreyfus & Rabinow, 1987: 219). Dieser Meinung ist auch Michel Foucault, der fast sein ganzes berufliches Leben der Machtanalyse widmete und stets davon ausging keine Theorie der Macht entwickeln zu wollen, sondern lediglich eine Analyse. Nun wird die vorliegende Arbeit mehr als nur eine wissenschaftlich-systematische Untersuchung von Macht sein. Sie wird analytische Elemente durch Aspekte der zwischenmenschlichen Interaktion erweitern, die Komplexität und Dynamik der Wahrnehmung mit einbeziehen und innere Prozesse des Denkens und Lernens ansprechen, um so den Weg für eine fruchtbare Reflexion zu pflastern.
Beginnend soll ein Grundriss der Sozialpädagogischen Familienhilfe erläutert werden. Dies hat zum einen den Grund den Untersuchungsrahmen abzustecken und zum anderen dem Leser zu vermitteln, was eigentlich damit gemeint ist, wenn im Laufe der Arbeit von dieser Hilfeform gesprochen wird. Die Sozialpädagogische Familienhilfe unterliegt ebenso wie die Arbeitsbeziehung und die Subjekte, durch die sie erst existieren kann, einem gesellschaftlichen Machtsystem, das zwar tagtäglich erlebt aber selten bewusst wahrgenommen wird. Um eine Sensibilität für dieses System zu schaffen, soll die Arbeit mit Hilfe der Ausführungen und Überlegungen von Michel Foucault ein gesellschaftliches Machtkonstrukt erläutern, wie es so oder so ähnlich hier in der Bundesrepublik Deutschland existieren könnte. Darauf aufbauend werden unterschiedliche Perspektiven erläutert, unter denen Machtformen reflektiert werden können. Dabei handelt es sich um eine bescheidene Auswahl von Machtverständnissen, die im Kontext der Arbeitsbeziehung als besonders relevant erachtet werden. Unbestritten gibt es noch deutlich mehr Menschen, die für diesen Fokus relevante Ausführungen und Überlegungen getroffen haben. Heinrich Popitz, der die Prozesse der Machtbildung hinterfragte. Pierre Bourdieu, der mit seinen Arbeiten zur „verborgenen Macht“, zur „symbolischen Macht“ und deren wichtigen Bezug zum ökonomischen Kapital einen existenziellen Beitrag zum Machtverständnis beitrug und Judith Butler, die mit ihrer komplexen Theorie, Macht und Gender vereinte. Dies sind nur einige bedeutende Denker*innen, deren Vielzahl und Komplexität den Fokus dieser Arbeit leider übersteigen und daher nur gewürdigt außen vor bleiben müssen. Abschließend werden drei Reflexions-Systematiken vorgestellt, die durch konkrete Kategorien, die Machtsubstanz zu gliedern vermögen und so handlungswissenschaftliche Ansätze generieren. Die Arbeit endet mit dem Fazit.
2. Grundriss der Sozialpädagogischen Familienhilfe
Wie in der Einleitung erwähnt, soll in diesem Kapitel, die Hilfeform der Sozialpädagogischen Familienhilfe (folgend SPFH) erläutert werden. Um überhaupt nachvollziehen zu können, um was es sich dabei genau handelt, betrachten wir zunächst die rechtliche Rahmung. Die Hilfe wird stets auf der Grundlage eines rechtlichen Anspruchs gegenüber den Erziehungsberechtigten verfügt oder in Anspruch genommen. Daher ist es zunächst wichtig, eben diesen zu klären. Darauffolgend verlassen wir den rechtlichen Rahmen und wenden uns der Dynamik der SPFH zu, indem die besondere Nähe während der Fallarbeit kurz skizziert wird. Abschließend sollen mit kritischem Blick, zwei Aspekte der SPFH (und anderer Hilfeformen) – das Hilfeplangespräch und die Kostenfrage – betrachtet werden, um eine gewisse Systemtransparenz und Praxisnähe zu vermitteln.
2.1 Rechtlicher Rahmen
Der Gesetzgeber definiert die Sozialpädagogische Familienhilfe im Kinder- und Jugendhilfegesetz des SGB VIII. Dort heißt es im § 31:
„Sozialpädagogische Familienhilfe soll durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen, im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben. Sie ist in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert die Mitarbeit der Familie.“
Allgemein bedeutet dies: Als präventive Hilfe hat sie das Ziel, defizitäre Erziehungskompetenzen zu identifizieren und die Erziehungsberechtigten in der Erfüllung ihrer Fürsorgepflicht zu unterstützen, um im Ergebnis der potenziellen Kindeswohlgefährdung entgegenzuwirken. Wie genau die Gestaltung der Hilfe im Endeffekt erfolgt, wird in Absprache mit einer Fachkraft des Jugendamtes, den Personensorgeberechtigten, der Fachkraft des Trägers und ggf. des Kindes/Jugendlichen erörtert. Dabei werden häufig recht allgemeine Ziele formuliert, die im Abstand von ca. sechs Monaten auf deren Erfüllung, Modifikation oder Verfehlung hin überprüft und in Form eines Hilfeplangespräches evaluiert werden. Zwischengespräche bei dringenden Angelegenheiten oder prekären Situationen sind selbstverständlich möglich. Sechs Monate gelten lediglich als Richtwert.
Als eine von sieben Ausgestaltungen der „Hilfe zur Erziehung“ (HzE) nach §27 SGB VIII, handelt es sich um einen rechtlichen Anspruch für Personensorgeberechtigte im Sinne der §§ 7 Abs. 1, Nr. 5 SGB VIII und 1626, 1626a BGB. Die SPFH ist in der Regel eine aufsuchende Hilfe und orientiert sich am Unterstützungsbedarf der Familie. Die Hilfe kann ferner von Jugendamt verordnet werden, sollten Hinweise durch Polizeieinsätze, Nachbarn, Schulen, Kindergärten und Ärzten zu einem begründeten Bedarf führen. Weiterhin findet die Hilfe hauptsächlich in den jeweiligen Wohnungen der Familien statt, woraus sich bereits jetzt eine besondere Nähe zwischen Sozialarbeiter*in und Klient*in bzw. dem Familiensystem erahnen lässt, die sich aus dem Setting einer „intensiven Betreuung und Begleitung“ ergibt.
2.2 Weiterführende Erläuterung
Die Annahme einer besonderen Nähe wird weiter untermauert, wenn wir den Handlungs- bzw. Aufgabenbereich der SPFH näher betrachten. Erziehungsaufgaben, Alltagsprobleme, Konflikte und Krisen, Ämter und Institutionen, Hilfe zur Selbsthilfe. Der sich aus dieser Allgemeinheit formende Einwirkungskomplex, infiltriert eine bedenkliche Anzahl an Lebensbereichen des zu unterstützenden Systems. „Bedenklich“ in dem Sinne, dass die Inanspruchnahme einer solchen Hilfe stets mit der zumeist einseitigen Offenlegung intimer Gegebenheiten verbunden ist, die unter dem Tenor einer „Unterstützung“, einer „Hilfe“ oder etwas zugespitzter „dem Versprechen auf ein normgerechtes Leben“, ihre Legitimation findet. Mit „intim“ sind systemspezifische Verhältnisse ( Traditionen, Werte, Normen, Glaubenssätze, Fähigkeiten, Ressourcen, Gemeinschaftsgefühl, Verhaltensweisen usw.) gemeint , die sich in ihren Ausprägungen und Nuancen im Kontext des jeweiligen Systems differenziert haben und sich doch möglicherweise einem allgemeinen (gesellschaftlichen) Bezug unterwerfen. Hierzu ein Beispiel: „Zugehörigkeit“ als Wert in einem System. Ein Wort, das in unserer Gesellschaft unterschiedlich ausgelegt und ausgelebt werden kann. Unter Zugehörigkeit könnte man im Allgemeinen verstehen: Das Gefühl eines Subjektes, sich mit einem bestimmten System verbunden zu fühlen, hervorgerufen durch einen Assimilationsprozess, der in einer starken Form von Bindung und Identifikation mündet. „Zugehörigkeit“ hat eine sehr komplexe Beschaffenheit und wird durch zahlreiche Faktoren gebildet oder verwehrt. Dennoch könnten die meisten wahrscheinlich formulieren oder hätten zumindest eine Idee, was „Zugehörigkeit“ sein könnte. Um eine Vorstellung oder eine Haltung zur „Zugehörigkeit“ entwickeln zu können, bedarf es neben der gesellschaftlichen Normalisierung, den individuellen Erfahrungen des Subjektes, um das Wort mit erlernten Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu präsentieren, ihm einen scheinbar individuellen Wert zuzuordnen und es in der eigenen Identität einzubetten. Die Ausprägungen und die Wahrnehmung von „Zugehörigkeit“, sei demnach einerseits erfahrungsbedingt ein relativ subjektives Empfinden, andererseits weist sie durch ihren Nutzen für das System, als Abspaltungs- bzw. Distanzierungs- oder Ausschlussprozess, eine hohe systemspezifische Relevanz auf. Denn: Sobald sich eine Form der Zugehörigkeit bildet, muss es automatisch auch Ausprägungen der Entfremdung oder Abspaltung geben. Es sei denn, es würde ein ubiquitäres Makrosystem existieren, dem alle Subjekte zugehörig sind. Um nicht ganz in die Abstraktion zu verfallen, könnte dies beispielsweise die Erde sein. Alle Subjekte, sind dem Planeten Erde als System zugehörig. Legen wir den Fokus nun wieder auf ein Familiensystem, steht die Sozialarbeiter*in zunächst als „systemischer Eindringling“ da. Ob nun gewünscht, erzwungen oder durch Machtbeziehungen eingeleitet, erfährt die Sozialarbeiter*in systemeigene Verhältnisse, durch ihre eigene beruflich und subjektiv geformte Realität. Das Ergebnis dieser Skizzierung sei eine Relation, eine Interdependenz mindestens zweier Lebenswelten, von denen sich eine scheinbar unterstützend aber eher modifizierend der anderen offenbart. Was sich hier andeutet ist ein berufsspezifisches Spannungsfeld, das im Diskurs häufig mit den Extremen „Hilfe“ und „Kontrolle“ deklariert wird. Wie sich dieses Spannungsfeld manifestiert, soll anhand eines Beispiels erläutert werden, das den Aspekt der „Mitarbeit“ einer beginnenden SPFH kritisch beleuchtet.
2.3 Ein machtkritisches Beispiel der SPFH
Der §31 SGB VIII (Sozialpädagogische Familienhilfe) setzt als einziger der in den „Hilfen zur Erziehung“ formulierten Angebote, die Mitarbeit der Familie voraus. Und das hat auch seinen Sinn. Um Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, ist es unumgänglich, dass Klient*innen Erfahrungen ihrer eigenen Selbstwirksamkeit erleben, sich in der Bewältigung von Herausforderungen und der Organisation des Alltags zu erfahren und so positive Verknüpfungen zur aktiven Gestaltung ihre Lebenswelt herzustellen. So zumindest das theoretische Ideal. Praktisch scheint der Prozess einer erfolgreichen SPFH deutlich komplizierter und frustrationsanfälliger, was nicht zuletzt auf den Aspekt der „Mitarbeit“ zurückzuführen ist. Vorab: Dies ist kein Plädoyer für ohnmächtige Sozialarbeiter*innen oder unkooperative Klient*innen. Hier soll ein Auszug des Machtgeflechts dargestellt werden, das sich „Hilfesystem“ nennt. Warum? Ein kritischer Blick auf eingefahrene oder „normale“ Abläufe kann die Sensibilität für Machtformen erhöhen und professionelle (und riskante) Handlungsoptionen generieren. Das eine Mitarbeit der Familie von vornherein zu erwarten sei, ist recht naiv. Erst recht, wenn sich die Familie nicht freiwillig für die Hilfe entschieden hat, sondern diese vom Jugendamt verhängt wurde. Doch selbst wenn wir von einer freiwilligen Inanspruchnahme ausgehen, so erwartet man die Mitarbeit an Zielen, die:
1. in einem Setting erstellt worden sind, dem eine Fachkraft des Jugendamtes, eine Fachkraft des freien Trägers, möglicherweise noch eine Fachkraft einer anderen Institution und die Familie beiwohnen und durch ein einseitiges Übermaß an Machtquellen, kaum vorstellbarer Raum für Widerspruch vorhanden ist.
2. zumeist so abstrakt formuliert sind, dass der eigentliche Auftrag der Sozialarbeiter*in gar nicht erkenntlich ist und die SPFH zunächst ohne Handlungsplan beginnt.
3. durch die abstrakte Formulierung jegliche Motivation zur Mitarbeit der Familie negieren, weil gar nicht ersichtlich wird, welchen konkreten Mehrwert die SPFH bieten kann.
Und 4. zumeist nur die allgemeine Lösung von Problemzuständen fokussieren, ohne dabei Ressourcen, Fähigkeiten und Ursachen zu berücksichtigen.
Dass an dieser Stelle die Mitarbeit der Familie häufig vergeblich zu erwarten ist, kann unter diesen Anfangsbedingungen nachvollzogen werden. Doch ohne Mitarbeit ist keine wirksame Hilfe möglich. So kann es vorkommen, dass sich die Sozialarbeiter*in an den Abwehrmechanismen des Familiensystems abarbeitet, ohne dabei wirklichen Zugang zur eigentlichen Problematik zu erhalten. So werden vermeintlich wichtigere Termine vorgeschoben, notwendige Informationen vorenthalten, Termine abgesagt oder es wird einfach gar nichts gemacht und die Hilfe steht in der Luft. Im Grunde ein recht unbefriedigender Zustand, wäre da nicht die schmackhafte Kostenfrage. Je länger die Hilfe dauert, desto besser für den Träger. Hilfen, bei denen es scheinbar gar keine Problematik mehr zu geben scheint und die Anordnung einer SPFH fragwürdig wird, werden von Trägerseite häufig noch weiter aufgeschoben, um die Finanzierung durch die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration zu sichern. „Wir haben ein Finanzierungssystem, das eher denjenigen Träger belohnt, der Fälle länger hält, aber keines, das den Träger belohnt, der gut und zügig arbeitet. Betriebswirtschaftlich ist es ein System, das dazu führt, dass die Träger immer wieder neue Fälle brauchen, um ihre Existenz sichern zu können. Und ein System, das davon lebt, dass man immer wieder schreibend Fälle konstruieren muss, das wird auch Fälle konstruieren. Dieses System wird geschmiert durch die Fälle. Ein solches System rekrutiert sich immer wieder selbst, wenn es so finanziert wird“ (Prof. Dr. Wolfgang Hinte, zitiert im „Tagesspiegel“; Schönherr, 2011). So finden sich die Familie und die Sozialarbeiter*in in einer Zwickmühle wieder, die auf der einen Seite, ökonomisch motiviert, die Hilfe aufrecht zu erhalten versucht und auf der anderen Seite, die für die Mitarbeit notwendige Motivation der Familie ungenutzt auf der Strecke lässt. Das Ergebnis ist ein Machtgeflecht, bestehend aus diversen Machtformen, Machtquellen und Machtmechanismen. Einige davon werden im Laufe dieser Masterthesis vertiefend erläutert, andere bleiben auf Grund der thematischen Fokussierung unberührt.
Nachdem nun der Grundriss der SPFH – und damit der Forschungsrahmen – skizziert wurde, soll nun das Thema „Macht“ mehr in den Mittelpunkt dieser Arbeit rücken.
3. Machtanalytische Grundannahmen
Auch wenn es nicht die eine Macht oder die eine alles umfassende Machttheorie zu geben scheint, so soll sich in dieser Masterthesis doch auf ein gemeinsames Verständnis bzw. auf bestimmte Grundannahmen verständigt werden, mit denen die zu reflektierenden Machtformen primär betrachten werden können. Um solche Grundannahmen zu formulieren, sollen vorrangig die Ausführungen von Michel Foucault dienlich sein. Foucaults Überlegungen eignen sich aufgrund ihrer Abstraktheit und ihrer machtanalytischen Haltung besonders gut, um eine hohe Reichweite an theoretischer Kompatibilität zu erzeugen. Somit wird es möglich sein, die Quintessenzen unterschiedlichster Machtverständnisse zu extrahieren und für die Reflexion nutzbar zu machen.
Die erste machtanalytische Grundannahme, die hier erläutert werden soll ist jene, dass Macht als „die Vielfälligkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren“ (Foucault, 1983: 113) zu verstehen sei. Oder mit anderen Worten: „Macht ist eine allgemeine Matrix der Kräfteverhältnisse zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft“ (Dreyfus & Rabinow, 1987: 217). Was lässt sich aus der Aussage Foucaults und Dreyfus und Rabinow entnehmen? Macht besteht aus diversen Kräfteverhältnissen. Diese Kräfteverhältnisse wirken in einem bestimmten Gebiet zu einer bestimmten Zeit. Sie wirkt auf, in und durch die Bevölkerung und Organisation des Gebietes. Wenn nun Macht ein Gebiet bevölkert und organisiert, dann sei es für die Existenz der Macht unabdingbar, dass eine Bevölkerung in einem Gebiet vorhanden ist, die es zu organisieren gibt. Aus dieser Annahme lässt sich schlussfolgern, dass Macht aus Relationen des Sozialen – zwischen Beziehungen und deren Organisation – entsteht. Folglich könne Macht nicht alleiniges Privileg von Personen, Gruppen oder Institutionen sein. Foucault spricht in seiner Analyse daher stets von „Machtbeziehungen“, weil er davon ausgeht, dass sich Macht nur in Beziehungen zwischen Individuen (oder Gruppen) zeigt und sich so eine Partnerbeziehung offenbart (vgl. Foucault, 2005: 252). Hier sei selbstverständlich keine explizite Partnerbeziehung im romantischen Sinn gemeint, sondern eine Beziehung aus mindestens zwei Individuen, die sich in ihrem Handeln aufeinander beziehen. Eine einseitige Perspektive, die von einem Machtmonopol in der Arbeitsbeziehung ausgehen würde, wäre daher keine Machtbeziehung im foucaultschen Sinne. Nochmal konkret mit dem Worten von Hannah Arendt: „Macht benötigt keine Rechtfertigung , da die Macht „[…] allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist“ (Arendt 2000: 53). Weiter sagt Foucault, „[…] dass die Macht […] nicht etwas ist, das sich zwischen denen, die sie haben und explizit innehaben, und dann denen, die sie nicht haben und sie erleiden, aufteilt. Die Macht muss, wie ich glaube, als etwas analysiert werden, das zirkuliert, oder eher noch als etwas, das nur in einer Kette funktioniert […]“ (Foucault, 2005: 114). Mit dieser Überlegung trifft Foucault einen wichtigen Reflexionsaspekt. Machtformen scheinen nie unilateral. Im Laufe dieser Masterthesis wird sich an vielen Stellen zeigen, dass verschiedene Machtformen immer aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können, je nachdem welche Wirkung sie verfolgen und mit welchen Zielen sie eingesetzt werden. Weiter lässt sich ableiten, dass Macht nie statisch sei. Wirkt die Macht in zwischenmenschlichen Beziehungen, so unterliegt sie zwangsläufig auch deren Dynamik. Mit der Kettenmetapher ordnet Foucault der Macht eine Kausalwirkung zu. Es gibt ein Glied davor und eines danach. Eine Ursache und eine Wirkung. Gehen wir davon aus, dass es sich bei den einzelnen Gliedern um Handlungen handelt, so sei die Macht oder die Machtbeziehung „[…] definiert durch eine Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt. Eine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln“ (Foucault, 2005: 255). Festigen wir diese neutrale Annahme in unseren zukünftigen Überlegungen, so nehmen wir der Macht einen Großteil ihrer Mystifizierung, ihres bitteren Beigeschmacks und sind einen Schritt weiter zu einem multiperspektivischen Verständnis von dem was wir „Macht“ nennen. Ferner geht Foucault davon aus , dass „Macht […] nur über „freie Subjekte“ ausgeübt werden (kann), insofern sie „frei“ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen. […] In diesem Verhältnis ist Freiheit die Voraussetzung für Macht […]“ (Foucault, 2005: 257). Macht ohne Freiheit endet in „reinem Zwang oder schlichter Gewalt“ (ebd.). Diese seien nur Mittel oder Wirkungen von Macht, entsprechen aber nie dem Prinzip oder dem Wesen der Machtausübung (vgl. Foucault, 2005: 256). Zu diesem Entschluss gelangt unter anderem auch Luhmann, der formuliert, dass Macht vom Zwang dahingehend zu unterscheiden sei, dass er die Wahlmöglichkeiten des Gezwungenen negiere und der Zwingende damit auf die Steuerung der Selektion von Handlungen verzichte und einer Steigerung der Macht dadurch entgegenwirke, weil Macht in Abhängigkeit der Freiheit beider Partner wachse (vgl. Luhmann, 1975: 8 ff.). Wird Foucaults Ansicht der Freiheit als zutreffend anerkannt, so gebe es kaum Subjekte, die nicht frei sind. Ein Mensch im Komazustand wäre aufgrund seiner fehlenden Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten nicht frei. Ein Mensch, der in einem Gefängnis eingesperrt ist, könnte durchaus als frei betrachtet werden (eine detaillierte Ausführung dieser Schlussfolgerung wird im Kapitel zur „Disziplinarmacht“ folgen). Foucault offenbart mit dieser Grundannahme eine weitere Verankerung in den Maximen der Sozialen Arbeit. Ist jede Klient*in und jede Sozialarbeiter*in im foucaultschen Sinn frei, so sind beide Partner einer Beziehung, in der jeder über ein Repertoire an persönlichen Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügt. Diese Annahme ist wertfrei zu betrachten und suggeriert eine Gleichwertigkeit des Handelns, die sich in der Praxis als „Koproduktion“ widerspiegelt. Darüber hinaus soll nicht verschleiert werden, dass Macht immer mit dem Ziel der Manipulation eingesetzt wird. Dementsprechend „[…] Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten (nimmt)“ (Foucault, 2005: 256).
Foucaults Zugang zur Macht verabschiedet das Repressionsmodell der Macht und gestattet eine radikale Auffassung ihrer Produktivität. „Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ausschließen, unterdrücken, verdrängen, zensieren, abstrahieren, maskieren, verschleiern würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnisse sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault, 1994: 250). Was Macht alles zu produzieren vermag soll im Folgenden erläutert werden. Ganz im Sinne Foucaults, der davon ausgeht, keine Machttheorie formuliert zu haben, sondern lediglich an einer Analyse von Machtverhältnissen zu arbeiten, die das Ergebnis von Interpretationen historischer Prozesse sei (vgl. Foucault, 1983: 102), wird die Produktivität und das Wesen der Macht anhand vergangener Entwicklungsprozessen dargestellt. Der Ausgangspunkt wird dabei das Konstrukt der Souveränitätsmacht sein. Als eines der „erfolgreichsten“ makroskopischen Machtkonstrukte, bietet es zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Identifizierung historischer Entwicklungen von Machtprozessen. Ergänzend soll das Konstrukt der Pastoralmacht erläutert werden. Auch wenn sich die Ausprägungen dieser Machtform verändert haben, so lassen sich dennoch diverse Verbindungen zur modernen Sozialen Arbeit ziehen. Die Betrachtung der historischen Entwicklung beider Machtformen, wird das Verständnis zu jener makroskopischen Machtform schulen, in deren Prozessen und Strukturen die Menschen und die Arbeitsbeziehung momentan agieren müssen.
3.1 Von der Souveränitätsmacht
Foucaults Rekonstruktion der historischen Prozesse von der ständisch-feudalen hin zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, umfasst die Entwicklung der Souveränitätsmacht zur Bio-Macht. Im Folgenden wird zunächst ein Bild der Souveränitätsmacht erläutert, das nicht alle Aspekte Foucault´s widerspiegeln soll, wohl aber eine Quintessenz skizzieren darf. Dies wird hilfreich sein, um den Charakter der Bio-Macht anschaulicher darstellen zu können, da sich gerade durch die Akzentuierung essenzieller, historisch und gesellschaftlich begründeter Varianten eine Art Legitimationslogik erkennen lässt, die Machtformen als prozessuale Konstante zwischenmenschlicher Interaktion ausweist.
Souveränitätsmacht im foucaultschen Sinne, wäre die eigen zugeschriebene, auf ein Gebiet beschränkte und durch Untertanen bestärkte Entscheidungshoheit über Leben und Tod. Dabei sei der Zweck dieser Machtform auf die Abgabe von materiellen und personenbezogenen Gütern der Untertanen ausgelegt, die von versorgungstechnischer Natur bis hin zum Einsatz des Lebens reichen, ergo eine Bestärkung, Vermehrung und Sicherung von materiellen Reichtum und immateriellen Entscheidungshoheiten des Souveräns (vgl. Foucault, 1983: 162 f., vgl. Foucault, 2005: 160 ff.). Es handelt sich demnach um eine offensichtliche Machtstruktur, die durch Repression der Bevölkerung, das Wohl eines Einzelnen oder Weniger sichern soll. Ergänzend ist zu erwähnen, dass ein christlich-dogmatisches Menschenbild ebenfalls zur Legitimation der Souveränitätsmacht führte. Im Ergebnis gelang eine Normierung von Lebensführung, die Kontrolle über Subjekte erlaubte, in dem sie Werte, Tugenden und Sünden erschuf, die nicht nur Auswirkungen auf das irdische Leben hatten, sondern sich über den Tod hinaus erstreckten. Der Verstoß gegen die gottgegebenen Gesetze hatte Sanktionen zur Folge, deren Wirkung sich nicht nur auf die physische Existenz des Menschen belief, sondern wie in einem Tadelbuch festgehalten und nach dem Tod aufgewogen wurden. Die Entscheidungshoheit, das Recht über Leben und Tod zu entscheiden, wurde zum existenzbeeiflussenden, unteilbaren Privileg des Souveräns. Mit „unteilbar“ soll hier nicht gemeint sein, dass die Macht allein dem Souverän inne wohnte. Diese Macht erhält sich, so wie alle Machtformen die Foucault beschreibt, durch die Relation von Beziehungen. Untertan und Souverän müssen zueinander in Beziehung stehen, damit eine Souveränitätsmacht entstehen könne. Die Souveränitätsmacht wirkt durch eine besondere Methodik der Sanktion. Die physische Sanktion ist brutal. Sie reicht von Verstümmelung, über Folter bis zur Hinrichtung. Wichtig ist dabei, dass diese Sanktionen öffentlich zugänglich sind. Dadurch wird gewährleistet, dass jeder Untertan sich der Macht des Souveräns bewusst wird. Selbst wenn ein Subjekt eine solche Sanktion nie selbst erlebt hat, so ist das Wissen darüber im Erfahrungsfundus der Gesellschaft verankert und wird automatisch weitergegeben. Die spirituelle Sanktion ist weniger offensichtlich aber nicht weniger wirkungsvoll. Durch den Glauben an ein Leben nach dem Tod, wird das Leben zur Bewährungsprobe. Die Art zu leben bestimme, wie wir nach dem Tod weiter existieren.
Durch einen gottgegebenen Souverän, der entscheidet, was richtig und was falsch ist, gefährdet die Bestrafung nicht nur den Körper, sondern auch die Seele und wird zur existenzzerstörenden Macht. Die Souveränitätsmacht wirkt weiter durch ein bestimmte Personifikationsillusion. Einem Menschen (oder einer Gruppe) werden übernatürliche (gottähnliche) Eigenschaften zugeschrieben. Sie wurden von einer höheren Macht auf Erden gesandt, um zu herrschen. Möglicherweise wird ein einzelner Mensch (oder eine Gruppe) zur Personifikation systemspezifischer Grundsätze. Man betrachte nur einige diktatorische Gesellschaftsformen, in welchen der Diktator kein Mensch mehr zu sein scheint, sondern ein Wesen, in dem sich der Glauben, die Wünsche und die Werte der Bevölkerung vereinen. Der Souverän wird zum Beschützer und Henker, zum Lehrer und Richter, zum Vater und Herrscher. Das Ziel? Die Kontrolle vieler, unter dem Willen weniger.
3.2 Über Pastoralmacht
„Ich bin der gute Hirte; der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe“. „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und bin den Meinen bekannt“. (Johannes 10,11.14 ) (Meyer, 2000) Die Thematik der Pastoralmacht wurde zum ersten Mal im alten Testament angesprochen. Sie ist in ihrer Grundform eine biblisch begründete, zunächst durch den religiösen Glauben des Subjektes, legitimierte Machtform. Im Zentrum der Legitimation stehe der „Hirte“, der sich als Diener des Individuums zur Sicherung des Seelenheils im Jenseits, als Gott selbst oder als göttlicher Abgesandter, der sich für seine „Herde“ opfern würde, als Fürsorger, nicht nur für die Gemeinschaft, sondern für jeden Einzelnen und letztlich als Geheimnisbewahrer, der Bewusstsein und Seele erforscht, kennt und lenkt, offenbart (vgl. Foucault, 2005: 191 f.). Eine besondere Funktion kommt der Pastoralmacht als eine Art Orientierung, Lebensführung oder Existenzbewusstsein zu, denn sie sei stark mit der „[…] Erzeugung von Wahrheit verbunden, und zwar der Wahrheit des Einzelnen“ (Foucault, 2005: 248). Man könnte vielleicht sogar mutmaßen, dass diese Sichtweise auf die Pastoralmacht, ein Vorfahre der heutigen Bemühungen sei, sich in der Sozialen Arbeit an den Lebenswelten der Klient*innen zu orientieren.
Ist dem wirklich so? Zumal die Konstruktion von Wahrheiten auch nichts anderes sein kann als „überwundener Zweifel“ (Luhmann, 1975: 14). Doch die Frage bleibt, ob es nur die Wahrheit sei, die zurückbleibt, wenn man den Zweifel hinter sich lässt oder ob es nicht eher im blinden Vertrauen und blinden Gehorsam endet und die „eigene“ Wahrheit im Ergebnis auch nur eine Form der Kontrolle durch das was „richtig“ und „falsch“ ist oder was man glaubt sein oder tun zu müssen. Gerade als Professionelle laufen wir schnell Gefahr, die Lebensführung unserer Klient*innen, qua des Auftrags, durch unsere Wahrheiten scheinbar bereichern und verbessern zu können. Dabei scheint eine Neigung zur Pathologisierung vorhanden zu sein, die den Blick für Individualitäten trübt. Im Sinne einer beruflichen Legitimationsposition ist diese Annahme nachvollziehbar, denn Individualitäten bedürfen keiner sozialarbeiterischen Intervention und keiner staatlichen Kontrolle. Die Sozialarbeiter*innen dürfen an dieser Stelle Vorsicht walten lassen, sich nicht als Wahrheitsstempler, sondern als Individualitätsberater zu definieren. Paradox erscheint, dass die Pastoralmacht, eine Macht Gottes, ebenso auf einen Menschen übertragen werden kann. Wie schon bei der Souveränitätsmacht beschrieben, wird König David im alten Testament diese Aufgabe zuteil, der im Auftrag von Gott eine Herde führen soll (vgl. Foucault, 2005: 248 f.). Diese Passage könnte für die historische Entwicklung der Souveränitätsmacht eine besondere Rolle spielen, würde man sie als Schnittstelle zwischen göttlicher Macht und menschlicher Hoheit erkennen. Die Legitimation einer Herrschaft – außerhalb der Aneignung durch Erbschaft oder Eroberung, begründet durch die Übertragung eines zunächst rein göttlichen Privilegs auf einen Menschen, könnte das Fundament zukünftiger christlicher Herrschaftsansprüche (Könige, Inquisitionen, Kreuzzüge, Päpste, usw.) auf der Grundlage gottgegebener Qualitäten gewesen sein. Auf eine präzisere Charakterisierung der Hirten-Herde-Metapher soll an dieser Stelle verzichtet werden, da sonst die Gefahr besteht den Fokus zu sehr auf theologische Interpretationsmuster zu legen. Wobei die Tatsache, dass der „Hirte“ ein Mensch und die „Herde“ ein Zusammenschluss von Tieren ist, durchaus interessante Aspekte über Hierarchie und Menschenbild aufwirft, die in diesem Kontext leider nicht Teil dieser Arbeit sein können. Stattdessen wollen wir uns der Bedeutung der Pastoralmacht und seine Verkörperungen in der Moderne nähern. Foucault unterscheidet hier nun zwei Aspekte der Pastoralmacht.
Zum einen die kirchliche Institutionalisierung und zum anderen die Funktion der Institutionalisierung, die hier näher erläutert werden soll. Wo die kirchliche Institutionalisierung an Bedeutung in der modernen Gesellschaft verloren habe, so habe sich die Funktion neuen Rahmenbedingungen anpassen müssen, um weiter bestehen zu können. Zunächst, erläutert Foucault, habe sie sich in ihrer Zielsetzung verschoben. (1) Das Seelenheil im Jenseits wurde zu großen Teilen durch das Heil im Diesseits ersetzt. Gesundheit, Wohlergehen, Lebensstandard, ausreichende Ressourcen, Sicherheit und Schutz lösten religiöse Zielsetzungen durch „irdische“ Bedürfnisse ab, die auch vorher schon bestanden und die Ablösung daher weniger ins Gewicht fiel (vgl. Foucault, 2005: 247 ff.). Eine Entwicklung, die auf existenzielle Erkenntnisse des Subjektes hinweisen könnte, die Fragen nach der Priorität von Lebensqualität, der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung und der Positionierung zwischen Glauben und Wissen aufwirft. Ein weiterer Deutungsansatz könnte in der kapitalistischen Gesellschaftsform zu finden sein, die materiellen Gütern, Produktion, Effizienz und Optimierung einen höheren gesellschaftlichen Wert verleiht, als die Möglichkeit eines Jenseits. (2) Des Weiteren erfuhr die Pastoralmacht eine Differenzierung und/oder Expansion ihres Machtbereiches. Aufgaben, Spezialisierungen, Kompetenzen und Nischen, die dem Konstrukt der Kirche innewohnten, wurden von anderen staatlichen oder privaten Institutionen ausgeübt. Die Polizei, private Einrichtungen, Vereine, Krankenhäuser, die Familie und andere wurden immer mehr zu „Anwendern“ pastoraler Macht (ebd.). Ergänzend ist zu erwähnen, dass es sich nicht nur um eine institutionelle Expansion/Differenzierung handelte, sondern ebenfalls um eine professionelle. Die Pastoralmacht drang – wenn man so sagen möchte – in diverse Professionen vor und transformierte nicht nur dessen anthropologische Ausrichtung, sondern auch deren gesellschaftlichen Status, was wiederum sehr mit dem ersten Punkt, der modernen Orientierung der Pastoralmacht, in Verbindung steht. Im Studium der Medizin wird unter anderem gelehrt, wie man Patienten Hiobsbotschaften angemessen mitteilt. Haus- und Fachärzte besitzen „Stammpatienten“. Die Krankenhäuser sind mit Privatstationen ausgestattet, um den Komfort während des Aufenthalts so angenehm wie möglich zu gestalten. Die Psychologie – und im engeren Sinn – die psychologischen Therapien sind in der Regel Einzelfallarbeiten und auf die Modifizierung der subjektiven Wahrnehmung ausgelegt.
Der saloppe Ausdruck des „Seelenklempners“ suggeriert die mechanische Reparatur einer Seele für das momentane Leben und nicht für eine dogmatische Vorstellung eines Jenseits. Die Soziale Arbeit, entstanden aus der Armenfürsorge, taucht in immer intimere Bereiche der Lebenswelten ihrer Klient*innen ein. Dabei geht es schon lange nicht mehr nur um existenzsichernde Maßnahmen, sondern um die Befähigung des Subjektes zur Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung eines normativen Lebensstandards. Die Schweigepflicht betrifft mittlerweile nicht nur Ärzte. Es ist die Ausübung der Pastoralmacht oder eine pastorale Machtbeziehung, in der das Wissen um das Subjekt gesammelt, bewertet, klassifiziert und konzentriert wird. Dies führt uns zur dritten modernen Orientierung der Pastoralmacht, wie sie Foucault versteht. (3) Durch eine neue Zielsetzung und Expansion der Pastoralmacht kristallisierten sich zwei Wissenslager heraus. Das eine mit dem Fokus eines „[…] globalisierenden und quantitativen, (das) die Bevölkerung betraf […]“und das andere mit einem „[…] analytischen, (das) dem Individuum galt“ (Foucault, 2005: 249). Diese Entwicklung der Pastoralmacht spiegelt sich in vergleichbarer Form in der Entstehung der Bio-Macht wieder. Welche Bedeutung könnte das gerade Erläuterte für die Soziale Arbeit haben? Ähnlich wie sich die Orientierungen der Pastoralmacht verändern, so wächst auch der Anspruch der Sozialen Arbeit, sich in einem kapitalistischen Macht- und Herrschaftsgeflecht immer wieder kritisch zu hinterfragen. Warum? Im Spannungsfeld zwischen staatlicher Kontrollfunktion und vertrauensvoller Arbeitsbeziehung gilt es ein Gleichgewicht zu wahren, das weder zur Instrumentalisierung noch zur Verbrüderung kippen darf. Die Soziale Arbeit trägt Elemente beider Gewichtungen in sich und eben da liegt das strukturelle Dilemma, zu dem es sich zu positionieren gilt. Sich dessen bewusst zu sein, inwieweit man in der praktischen und theoretischen Sozialen Arbeit Macht- und Herrschaftsprozesse reproduziert und das unterstützte Subjekt zu einer gesellschaftlichen Normierung treibt, kann die reine Auseinandersetzung mit der Pastoralmacht nicht beantworten. Sie kann allerdings eine Reflexionshilfe sein. Vermeintlich zu wissen welchen Gegenstand die Soziale Arbeit besitzt, zu erkennen, wie Systeme in Relation zueinander stehen können, zu deuten, wie sich das Subjekt zu seiner Umwelt verhält und zu hinterfragen, was man in der Sozialen Arbeit glaubt zu wissen, sind Aspekte, die es bei der Einordnung der Pastoralmacht in die moderne Soziale Arbeit stetig zu diskutieren gilt. Gleichwohl ist die Bedeutung der Pastoralmacht nicht nur theoretischer, sondern auch ethischer Natur. Zwar bilden die Hochschulen und Universitäten keine metaphorischen Hirten aus – dennoch im übertragenen Sinn der ursprünglichen Pastoralmacht – Geheimnisbewahrer, Seelenforscher und Wahrheitsfinder. Da eine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen eine Generalisierung wäre, ist es für eine Profession, die sich als selbstkritisch darstellt, großes Interesse an politischen Entwicklungen hat und sich berufsbedingt mit gesellschaftsbezogenen Themen auseinandersetzen muss, hilfreich zu hinterfragen, wie Machtformen- und Techniken in die Gesellschaft integriert sind, wie sie historisch entstanden sind und welche Beschaffenheit sie aufweisen, in dem Sinne, zu erforschen, unter welchen Bedingungen sie modifiziert oder abgeschafft werden könnten. Die Reflexion der Pastoralmacht und ihre Verbindung zur Sozialen Arbeit ist und soll keine Lehranleitung sein. Sie kann stattdessen eine Orientierungshilfe darstellen. Eine Möglichkeit die praktische Arbeit zu deuten und zu hinterfragen und sie kann eine Justierung sein, eine kritische Positionierung im Arbeitsauftrag der Sozialen Arbeit. Souveränitätsmacht und Pastoralmacht in dieser Arbeit zu erwähnen verfolgt vier Ziele, in Sinne wie sie Luhmann zur groben Analyse eines Gesellschaftssystems formuliert hat (vgl. hierzu Luhmann, 1975: 5). Zum Ersten sollen sie eine evolutionäre Darstellung erlauben, die eine historische Sinnhaftigkeit von einer herrschenden Gesellschaftsform hin zu einer anderen skizziert. Zum Zweiten sollen sie einen Prozess verdeutlichen, in dem sich Machtstrukturen in Abhängigkeit vom Differenzierungsgrad des Gesellschaftssystems entwickeln. Zum Dritten sollen sie eine kommunikative Dimension hervorheben. Diese bezieht sich auf die Interaktionen und Interdependenzen zwischen Subjekt ßàSubjekt, Subjekt ßà Gesellschaft und Subjekt ßà Staat. Letztlich sollen sie eine mögliche Sichtweise begründen, wie sich die Bio-Macht entwickeln, differenzieren und festigen konnte. Damit nähern wir uns der makroskopischen Rahmung, der in dieser Arbeit angestrebten Reflexion.
4. Bio-Macht
Foucault bietet uns ein historisch begründetes Konstrukt von Machtbeziehung. Hervorgegangen aus dem Wandel vom feudalen, hin zum kapitalistischen Gesellschaftssystem. Sein Zugang zur Macht erlaubt zwar „nur“ allgemeine Aussagen über ein historisches Phänomen, zu dem keine allgemeingültigen inhaltlichen Aussagen möglich seien. Allerdings bieten seine Analysen und Ausführungen zur Bio-Macht einen Rahmen, der eine gesellschaftliche Makro-Machtbeziehung abbilden könnte, in der die Mikro-Machtbeziehung einer unterstützenden Arbeitsbeziehung eingebunden ist. Die Machtformen in der Arbeitsbeziehung werden nicht separiert reflektiert, sondern als Mikrosystem eines Makrosystems betrachtet. Daraus ergeben sich Interdependenzen, die möglicherweise in der Arbeitsbeziehung wahrnehmbar sind, deren Ursprünge jedoch auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene zu finden sind. Schon die Tatsache, dass eine institutionelle Unterstützung, wie die SPFH, für Familien besteht, kann nicht allein mit der Existenz einer Arbeitsbeziehung begründet werden. Die Bio-Macht als theoretisches, makroskopisches Machtkonstrukt zu wählen, soll der Interpretationsversuch sein, das „Warum“ von Machtformen zu ergründen, erste Impulse für die Beantwortung des „Wie“ zu liefern und im Laufe der Arbeit, Rückschlüsse auf die gesellschaftsbedingte Beschaffenheit einer Arbeitsbeziehung zu generieren.
Die moderne Bio-Macht fokussiere die Organisation des Lebens, anstatt die Kontrolle über den Tod, wie es bei der Souveränitätsmacht der Fall war. „Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (Foucault, 1983: 165). In seinem Werk „Überwachen und Strafen“ (1994) verdeutlicht Foucault den sich verändernden Fokus der Machtbeziehungen. Während Bestrafungen in Souveränitätsmachtbeziehungen eher physischer Natur waren und meist durch öffentliche Inszenierungen begleitet wurden, bedienen sich die Bio-Machtbeziehungen einer Lebensmanipulation durch Einschränkung von subjektiver Freiheit, die durch staatliche Institutionen kaum noch öffentliche Präsenz erlaubt (vgl. Meißner, 2010: 108). Es sei denn sie wird als Machtdemonstration absichtlich öffentlich skandalisiert, wie es beispielsweise bei der medialen Präsenz bestimmter Gerichtsverhandlungen der Fall ist (NSU-Prozess).
Dies impliziert eine gewisse Intransparenz der Machtbeziehungen, was ihre Effekte betrifft. Hierzu schreibt Foucault inhaltlich passend: „ Nur unter der Bedingung, (dass) Sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist die Macht erträglich […] Reine Schranke der Freiheit – das ist in unserer Gesellschaft die Form, in der sich die Macht akzeptabel macht“ (Foucault, 1983: 107). Die „Schranke der Freiheit“ foucaultisch übersetzt; eine Einschränkung von Handlungsfähigkeit. Dies sei der offensichtlich akzeptierte Charakter der Macht. Es ist akzeptiert, Straftäter für ihre Regel- oder Normverstöße mit Freiheitsstrafen zu belegen. Auch Geldstrafen sind eine Form des Freiheitsentzuges, ob nun finanzielle Mittel gezahlt oder vorenthalten werden, beide Sanktionsformen reduzieren Handlungsmöglichkeiten und sind dementsprechend als Freiheitsentzug zu bewerten. Doch warum ausgerechnet diese Entwicklung? Im Menschenbild des modernen, bürgerlichen Kapitalismus könne das Subjekt mehr als nur Lieferant*in von Gütern und Verteidiger*in von Land und Souverän sein. Vielmehr wird es durch qualifizierende und disziplinierende Prozesse in einen Produktionsapparat eingespannt, der durch die Zuweisung von bestimmten Aufgaben und Plätzen eine Form der Individualität suggeriere, die letztlich in der Einbindung gesellschaftlicher Machtverhältnisse münde, mit dem Effekt der Produktion und Applikation individueller Qualitäten (vgl. Meißner, 2010: 110). Eine Disziplinierung war notwendig, um ein sich selbst kontrollierendes und gesellschaftsfähiges Subjekt erschaffen zu können. Durch eine stetig wachsende Bevölkerung war es nun nicht mehr möglich, jede Abweichung der Norm öffentlich zu sanktionieren. Machtdemonstrationen durch physische Sanktionen verloren immer mehr an Wirkung, weil die Ressourcen zum kontinuierlichen Sanktionieren fehlten und eine Antizipation damit ausfiel. Das System der Souveränitätsmacht musste sich gezwungenermaßen weiterentwickeln, um als Machtsystem weiter bestehen zu können. Im Ergebnis entstand ein Verwaltungsapparat, der sich des Wissens über das Subjekt bedient, um effektivere Subsysteme (Rechtssystem, Schulsystem, Gesundheitssystem, Produktionssystem, Wirtschaftssystem, Familiensystem, …) installieren zu können, die Kontrolle auf allen erdenklichen Ebenen der Lebenswelt ausüben.
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- Quote paper
- Maximilian Lisker (Author), 2019, Intradisziplinäre Reflexion von Machtstrukturen in der Arbeitsbeziehung der Sozialpädagogischen Familienhilfe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1127629
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