[...] Im Jahre 1986 (und dann später 1993 und 1997)
wurde der Staatsoberhaupt der Chef der Opposition, was der Logik eines Systems
entgegensteht, die vor allem die Wirksamkeit der Macht fördert.
Der Verfasser von 1958 wollte nämlich mit dem „absoluten Parlamentarismus“
der III. und IV. Republik brechen, der die Exekutive paralysierte. Général de Gaulle
wollte die Mächte des Staatspräsidenten stärken und auch seine Legitimität mit dem
Vorschlag seiner Direktwahl vergrößern5.
In den Situationen übereinstimmender Mehrheiten, verfügt der Staatspräsident
über erhebliche Befugnisse. Nun hat die Kohabitation mehrere dieser Kompetenzen in
Frage gestellt, weil der Antagonismus der Akteure eine Rückkehr zu den Buchstaben des
Verfassungstextes als Antwort gefunden hat. Die Kohabitation kann in keinem Fall Gegenstand eines Vergleiches mit
Deutschland werden, weil die Rolle des Bundespräsidenten einfach daraus besteht,
genauso wie die der französischen Staatspräsidenten der III. und IV. Republik,
Chrysanthemen einzuweihen6.
Es sieht so aus, dass die Väter der Verfassung von 1958 die Möglichkeit einer
Kohabitation nicht im Kopf hatten, auch wenn es stimmt, dass das freie Ermessen des
Präsidenten über die Auflösung der Nationalversammlung7 als einen Mittel interpretiert
werden kann, um einer Regierung zu widerstehen, die mit der Unterstützung der
Nationalversammlung verzichten würde, die Hauptinteressen des Staates zu
berücksichtigen.
Man hat oft gesagt8, dass die Kohabitation dem Sinn der Verfassung
gegensätzlich ist. Ziel dieser Arbeit ist zu verstehen, inwiefern die Kohabitation eine
Definition der Mächte voraussetzt, die anders als die von de Gaulle ist, da sie den
parlamentarischen Charakter des Systems dank des Zerbrechens einer auf Zeit
übereinstimmender Mehrheiten entwickelten Verfassungspraxis wiederherstellt.
4 Innerhalb der V. Republik, weil früher gab es auch Arten von Kohabitationen mit Charles dem X. ab
1824, mit Napoleon im Jahre 1869, mit Mac Mahon am Ende des 19. Jahrhunderts und mit Millerand ab
1920, Choisel, S. 21-27.
5 1962 Referendum.
6 „inaugurer les chrysanthèmes“ hatte de Gaulle gesagt, d.h. aus einer fast ausschließlichen
Vertrettungsrolle.
7 Art. 12 der Verfassung, Abs. 1 : „Le Président de la République peut, après consultation du Premier
Ministre et des Présidents des assemblées, prononcer la dissolution de l’Assemblée Nationale“.
8 Besonders neulich bei dem parlamentarischen Wahlkampf.
Inhaltsverzeichnis
- I. DER VERFASSUNGSINN
- II. DIE KOHABITATION: EINE NEUE LESART DER VERFASSUNG
- A. Die Kohabitation setzt eine Rückkehr zum parlamentarischen Charakter des Systems voraus
- 1. Das vom Verfassungstext definierte System
- 2. Konkrete Folgen: Die stricto sensu Lesart der Verfassung entzieht dem Staatschef mehrere Befugnisse
- B. Die Kohabitation stellt eine exekutive „Dyarchie“ erneut her
- 1. Eine größere Selbständigkeit des Premierministers
- 2. Eine fortdauernde, aber umgeformte präsidentielle Macht
- III. DIE „DIABOLISIERTE“ KOHABITATION
- A. Politische Unverantwortlichkeit der zwei „Köpfe der Exekutive“
- B. Unterschiedliche Bedeutungen im Bezug auf die Erreichung der präsidentiellen Funktion: Typologie
- 1. Die,,ordentliche“ Kohabitation: ein institutionelles Zwischenspiel
- 2. Die,,außerordentliche“ Kohabitation: schwerwiegende institutionelle Verstümmelung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die Bedeutung der Kohabitation in Frankreich und untersucht, inwiefern diese „neue Praxis“ den Sinn der Verfassung von 1958 in Frage stellt. Ziel ist es, die Auswirkungen der Kohabitation auf die Machtverteilung zwischen Präsident und Premierminister zu untersuchen und die Entwicklung des parlamentarischen Charakters des Systems zu beleuchten.
- Die Kohabitation als eine neue Lesart der Verfassung
- Die Auswirkungen der Kohabitation auf die Machtverteilung zwischen Präsident und Premierminister
- Die Rolle der Verfassungspraxis in der Entwicklung des parlamentarischen Charakters des Systems
- Die unterschiedlichen Bedeutungen der Kohabitation im Hinblick auf die Erreichung der präsidentiellen Funktion
- Die politische Unverantwortlichkeit der zwei „Köpfe der Exekutive“
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Sinn der Verfassung von 1958 und untersucht, ob die Kohabitation dem Willen der Väter der Verfassung entspricht. Es wird hervorgehoben, dass die Kohabitation zwar nicht explizit in den vorbereitenden Ausarbeitungen der Verfassung erwähnt wurde, aber dennoch eine „neue Praxis“ darstellt, die die von de Gaulle angestrebte stabile und kohärente Machtverteilung in Frage stellt.
Das zweite Kapitel untersucht die Kohabitation als eine neue Lesart der Verfassung. Es wird gezeigt, dass die Kohabitation eine Rückkehr zum parlamentarischen Charakter des Systems voraussetzt, da sie die Macht des Premierministers stärkt und die Befugnisse des Präsidenten einschränkt. Die Kohabitation führt zu einer „Dyarchie“ an der Spitze des Staates, wobei die Selbständigkeit des Premierministers und die fortdauernde, aber umgeformte präsidentielle Macht im Vordergrund stehen.
Das dritte Kapitel befasst sich mit den unterschiedlichen Bedeutungen der Kohabitation im Hinblick auf die Erreichung der präsidentiellen Funktion. Es werden zwei Typen von Kohabitation unterschieden: die „ordentliche“ Kohabitation, die als ein institutionelles Zwischenspiel betrachtet wird, und die „außerordentliche“ Kohabitation, die als eine schwerwiegende institutionelle Verstümmelung angesehen wird.
Schlüsselwörter
Kohabitation, Verfassung, Frankreich, V. Republik, Machtverteilung, Präsident, Premierminister, parlamentarischer Charakter, Dyarchie, politische Unverantwortlichkeit, institutionelles Zwischenspiel, Verstümmelung, de Gaulle, Mitterrand, Debré, Janot.
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- Patrick Nitsch (Author), 2002, Die 'Cohabitation' oder Das Ende der Gaullistischen V. Republik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11260