Wer heute von >1968< spricht, denkt gewöhnlich an >die große Weigerung<, den großen Bruch der Studenten- mit ihrer bürgerlichen Vätergeneration. Eine solche Einstellung war mir damals vollkommen fremd. Die große >Weigerung< gegenüber dem Establishment< und die Idee einer antiautoritären Gesellschaft, die womöglich basisdemokratisch organisiert, irdisches, vor allem auch sinnliches Glück verhieß, war mir damals so fremd, wie die Frage nach der >Dialektik der Aufklärung<, deren Widersprüchlichkeit mir damals allenfalls aus den >Aufklärungsfilmen< eines >Oswald Kolle< vertraut war.
Die Erklärung ist einfach und, ich denke, doch nicht untypisch für eine halbe Generation von (ehemals) linken westdeutschen >KopfarbeiterInnen<: Ich bin – und das soll hier einmal positiv betont, und nicht nur von der Redaktion stillschweigend ausgebügelt werden – ein Kind der deutschen >Bildungskatastrophe<. Nämlich jener dramatischen Diagnose des Soziologen Georg Picht aus dem Jahre 1962, die da lautete, die bundesdeutsche Gesellschaft müsse angesichts des >Sputnik-Schocks< und der ausbleibenden Zuwanderung aus der DDR, über die in diesem Zusammenhang (offiziell) freilich nicht gesprochen wurde, über kurz oder lang im internationalen System-Wettbewerb kapitulieren, wenn nicht alle >Bildungsreserven< ausgeschöpft werden würden.
Anpassungsbereitschaft und Aufstiegsorientierung
Aufgewachsen in einem kleinbürgerlich-halbproletarischen Elternhaus entstammte ich objektiv genau jenen bildungsfernen Schichten, in denen Mitte der 60er Jahre diese Reserven vermutet wurden. Subjektiv und in meinem persönlichen Fall waren es wohl eher die nur halb bewußten Versprechungen der NS-Vergangenheit und die durch Flucht und Vertreibung hervorgerufene Erfahrung des Bruchs der eigenen Biographie, die meinen Eltern die entscheidende Maxime für meine Erziehung vorgaben.
Anpassungsbereitschaft und Aufstiegsorietierung standen als >Sekundärtugenden< ganz oben an. Abgerufen wurden sie als konkrete Verhaltensweisen wie Höflichkeit, Fleiß, Rationalität, Leistungsbereitschaft und Gefühlskontrolle. Der Maßstab für >richtiges< Verhalten waren im Zweifel die (natürlich kaum voraussehbaren) Erwartungen der >äußeren< Autoritäten. Und die größte Freude machte ich meinen Eltern stets dann, wenn z.B. ein völlig Fremder anmerkte, ich sei für mein Alter schon sehr vernünftig.
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- Dr. Walter Grode (Author), 1998, Mehrwert und Humboldt vertauscht - Erinnerungen an 1968, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112379
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