Nach al-azl, wenn auch kaum nur durch ihn, hat die Geschichte der islamischen Philosophie als dem Islam in seiner orthodoxen Form entgegenstehend weitgehend - mit Ausnahme vor allem von al-Andalus - ein wenigstens vorläufiges Ende gefunden.1 Will man nicht an ihre völlige Nutzlosigkeit glauben, stellt sich die Frage, was an ihre Stelle trat. Offenbar war dies der fismus, der in den folgenden Jahrhunderten die bedeutendsten Denker hervorbrachte, die sich auf mystischer Grundlage nicht nur, aber gerade auch mit metaphysischen und philosophischen Fragestellungen beschäftigten.2 Stellt sich weiter die Frage, was Philosophie und fismus - über das Genannte, was auch erst erwiesen werden muss - gemeinsam hatten, dass das eine das andere ersetzen konnte. Und ferner die, was den fismus mit der ,reinen′ Religion verbindet, so dass er im Gegensatz zur Philosophie die Anfeindungen der religiösen Denker überleben
konnte und so erst an ihre Stelle treten. Denn die zunächst fast durchwegs apologetische Literatur des fismus, die er zuerst und zwar zeitgleich zu den Angriffen der orthodoxen sunnitischen Gelehrtenschaft auf die Philosophie und rationale Theologie hervorbrachte, zeigt, dass es um seine Existenzberechtigung aus der Sicht der besonders ,Frommen′ unter den ulam′ ursprünglich kaum besser gestellt war.3 Dabei soll die offenkundige Andersartigkeit von fismus und Philosophie nicht geleugnet werden, jedoch sollen die Kontinuitäten - bei aller
Veränderung -, die in dem Prozess liegen, bei dem die Mystik auf Kosten der Philosophie überlebte, aufgezeigt werden.
Inhalt:
1. Einleitung
2. Ṣūfismus und Philosophie
2.1. Übereinstimmungen
2.2. Ṣūfismus als Fortentwicklung philosophischer Gedanken
2.2.1. Ibn Sīnā
2.2.2. Sohravardī
2.2.3. Ibn Ṭufail
2.2.4. Der allgemeine Trend von der Philosophie zum Ṣūfismus
2.3. Befriedigung identischer Bedürfnisse
2.3.1. Geistiger Freiraum außerhalb der (unbefriedigenden) Welt der Religionsgelehrten
2.3.2. Elitäres Bewusstsein
2.3.3. Erkenntnis und Erfüllung in der Erkenntnis
2.3.4. Übertreffen der philosophischen Erkenntnis durch den Ṣūfismus
3. Ṣūfismus und Religion
3.1. Beziehung zur einfachen Bevölkerung
3.2. Hervorbringung von Vorbildern
3.3. Al-Ġazālī und die grundsätzliche Anerkennung des Ṣūfismus seitens der Vertreter der
Religion
4. Schluss
5. Verwendete Literatur
1. Einleitung
Nach al-Ġazālī, wenn auch kaum nur durch ihn, hat die Geschichte der islamischen Philosophie als dem Islam in seiner orthodoxen Form entgegenstehend weitgehend - mit Ausnahme vor allem von al-Andalus - ein wenigstens vorläufiges Ende gefunden.[1] Will man nicht an ihre völlige Nutzlosigkeit glauben, stellt sich die Frage, was an ihre Stelle trat. Offenbar war dies der Ṣūfismus, der in den folgenden Jahrhunderten die bedeutendsten Denker hervorbrachte, die sich auf mystischer Grundlage nicht nur, aber gerade auch mit metaphysischen und philosophischen Fragestellungen beschäftigten.[2] Stellt sich weiter die Frage, was Philosophie und Ṣūfismus - über das Genannte, was auch erst erwiesen werden muss - gemeinsam hatten, dass das eine das andere ersetzen konnte. Und ferner die, was den Ṣūfismus mit der ‚reinen’ Religion verbindet, so dass er im Gegensatz zur Philosophie die Anfeindungen der religiösen Denker überleben konnte und so erst an ihre Stelle treten. Denn die zunächst fast durchwegs apologetische Literatur des Ṣūfismus, die er zuerst und zwar zeitgleich zu den Angriffen der orthodoxen sunnitischen Gelehrtenschaft auf die Philosophie und rationale Theologie hervorbrachte, zeigt, dass es um seine Existenzberechtigung aus der Sicht der besonders ‚Frommen’ unter den ˁulamā’ ursprünglich kaum besser gestellt war.[3] Dabei soll die offenkundige Andersartigkeit von Ṣūfismus und Philosophie nicht geleugnet werden, jedoch sollen die Kontinuitäten - bei aller Veränderung -, die in dem Prozess liegen, bei dem die Mystik auf Kosten der Philosophie überlebte, aufgezeigt werden.
2. Ṣūfismus und Philosophie
2.1. Übereinstimmungen
Überraschenderweise galt al-Fārābī in der islamischen Überlieferung als Ṣūfī, obwohl es dafür keinerlei Grund zu geben scheint.[4] Immerhin zeigt dies, das aus bestimmten Perspektiven, die historisch tatsächlich einmal gegeben waren, Philosoph und Ṣūfī eins zu sein scheinen.
Ein prinzipieller Grund dafür ist in der neuplatonischen Prägung der islamischen Philosophie[5] zu suchen, die damit der Mystik relativ nahe steht,[6] wie auch andersherum der Ṣūfismus tief durch den Neuplatonismus geprägt ist.[7] Und zwar nicht zuletzt weil die neuplatonischen Elemente innerhalb der Mystik die islamischen Eliten ansprachen, unter denen sie weit verbreitet waren,[8] das heißt letztlich nichts Anderes, als dass die islamische Philosophie - sowie die rationale Theologie - die Führungsschichten in einem so hohen Maß mit philosophischem Gedankengut vertraut gemacht hatten, dass ihre Einbeziehung in den Ṣūfismus ohne dessen Übernahme nicht geschehen konnte. So zeigt sich noch Ibn al-ˁArabī, ein Mystiker durch und durch,[9] vertraut mit syllogistischer Beweisführung,[10] die sicherlich zu den Dingen innerhalb der Philosophie zu rechnen ist, die für einen Mystiker zunächst einmal am uninteressantesten sind.
Wenn wir nach Gemeinsamkeiten suchen, ist nämlich weniger nach den Methoden - hier gibt es die deutlichsten Unterschiede -, sondern eher nach den Zielsetzungen zu fragen. Hier gibt es sie, denn „Mysticism may be described as the urge to reach out to the Infinite. This may be in some mode of intellectual communion or ‘conjunction’, as in Neoplatonism; or through some kind of visionary illumination (mukāshafah, or ishrāq) [...] or finally in a total dissolution of personal identity (fanā’)”[11] oder andersherum formuliert, der Neuplatonismus, also die gängige Form, in der im Islam Philosophie getrieben wurde, könnte - wollte man denn so radikal sein - in seiner Zielstellung als eine Form der islamischen Mystik betrachtet werden, wobei wir sogar fast auch die Form des fanā’ gleichfalls für die Philosophie reklamieren könnten. Denn, wenn ar-Rāzī sagt, dass das Ziel der Philosophie die Nachahmung Gottes ist,[12] ist der Unterschied der Zielsetzung nur noch darin gegeben, dass er dies dahingehend einschränkt, soweit es die Fähigkeiten des Menschen zuließen,[13] während die Ṣūfīs, die den fanā’ anstreben, meinen, dass diese Nachahmung bis zur radikalsten Konsequenz ausführbar sei.[14]
Das gängige Ziel der Philosophen - genannt sowohl von al-Fārābī wie auch von Ibn Sīnā, ist jedenfalls der unmittelbare Kontakt (ittiṣāl) zum nous poietikos, ein Wesen, das auf halber Stufe zwischen dem menschlichen Bereich und Gott anzusiedeln ist, die die höchstmögliche Erfüllung für die intellektuelle Natur des Menschen bedeute und ihm Glückseligkeit verleihe.[15] Die Einswerdung mit Gott wird von den Philosophen dabei, wie wir schon bei ar-Rāzī sahen (s. o.), vor allem daher nicht angestrebt, weil sie nicht möglich scheint, wie es beispielsweise Ibn Bāǧǧa auch klar so formuliert, wobei er die Gottessuche der Ṣūfīs und das Streben nach ittiṣāl mit dem nous poietikos der Philosophen unmittelbar vergleicht und schon allein dadurch, obwohl er beide voneinander abgrenzt, deutlich macht, dass es sich eben um vergleichbare Zielsetzungen handeln muss.[16] Auffällig ist auch die Wortwahl al-Ġazālīs, der diejenigen, die die höchste ṣūfische Erkenntnisstufe erreicht haben, als „wāṣilūn“ bezeichnet,[17] also dieselbe arabische Wortwurzel für die Erreichung des obersten Ziels verwendet wie die Philosophen. Für Ibn Ṭufail hingegen gibt es ohnehin keinen Zweifel, dass rationale - also philosophische - und mystische Erkenntnis letztlich eins sind[18] bzw. dass das Streben nach mystischer Erfahrung nichts Anderes sei als das logische Endprodukt des rationalen Erkenntnisprozesses.[19] Bei genauerem Betracht ist er darin nicht fern von Ibn Sīnā. Nämlich auch bei ihm ist der ittiṣāl ein Endstadium, das jenseits rationalen Nachdenkens liegt und in vielem einer mystischen Schau gleicht, insofern die Seele in diesem Zustand der Perfektion das syllogistische Schließen nicht mehr nötig hat, sondern durch ḥads die Universalien unmittelbar erkennt,[20] bis hin zu der sonst vor allem vom Ṣūfismus[21] gezogener Konsequenz der Zuschreibung quasi übernatürlicher Fähigkeiten derer, die dieses Stadium erreicht haben, wie die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen oder den Lauf der Dinge in der physischen Welt auf wunderbare Weise zu beeinflussen.[22]
Aber nicht nur das Ziel ist ähnlich, auf der Weg dorthin wird ähnlich beschrieben. Er ist in beiden Fällen ein Stufenweg. Die Zustände und Orte, die der Ṣūfī auf seinem Weg zum höchsten Ziel zurücklegt, unterscheiden sich vielleicht in ihrer Bezeichnung, Zahl und Definition, sind aber so gut wie allen mystischen Richtungen des Islam gemein.[23] Aber auch der philosophische Fortschritt vollzieht sich z. B. bei Ibn Sīnā auf einem ähnlichen Weg und zwar in Stationen, die den Unterteilungen des theoretischen Teils der menschlichen Seele entsprechen.[24] Wie auch andererseits Theoretiker des Ṣūfismus, so al-Ġazālī, ihrer Beschreibung der Entwicklung des Adepten bis zur Vollendung nicht selten eine philosophische Seelenlehre zu Grunde legen.[25] Auch die Abkehr von weltlichen Bedürfnissen, die im Ṣūfismus fast stets am Anfang des Weges steht,[26] finden wir bei den Philosophen wieder. So ist es schon für al-Fārābī eine Notwendigkeit, dass sich die Seele von allem Materiellen und Körperlichen löst.[27] Für ar-Rāzī liegt die Aufgabe der Philosophie gerade darin, die Seele von der Trübung durch diese Welt zu befreien und sie zum Übergang in jene (rein geistig gedachte) bereit zu machen, was ebenfalls eine Befreiung aus den materiellen Verstrickungen der Welt beinhaltet.[28] Dem eng verbunden ist das ṣūfische Ideal der Zurückgezogenheit von der Welt. Es wird zwar keinesfalls von allen Philosophen und Mystikern geteilt, findet sich aber sowohl bei den allermeisten Ṣūfīs[29] wie auch bei Philosophen wie Ibn Bāǧǧa, der diesem Ideal eines seiner Hauptwerke widmete und es als ein philosophisches lehrt.[30]
Zusammenfassend lässt sich sagen, sowohl die islamische Philosophie wie auch bedeutende Teile der ṣūfischen Bewegung sind vom Neuplatonismus geprägt. Beide sind in ihrer Zielsetzung - der Vereinigung irgendeiner Art mit einem höheren Wesen - eng verwandt und ebenfalls darin, dass der Weg dorthin eine als Stufenweg zurückzulegende persönliche Entwicklung ist.
[...]
[1] Oliver Leaman, An Introduction to Classical Islamic Philosophy, Cambridge 22002, S. 26 ff.; Alexander Knysh, Islamic Mysticism. A Short History, Leiden 1999, S. 148.
[2] Vgl. Leaman, aaO., S. 27.
[3] Knysh, aaO., S. 116 ff.; Majid Fakhry, Islamic Philosophy, Theology and Mysticism. A Short Introduction, Oxford 22000, S. 64, 68 f.
[4] Leaman, aaO., S. 17.
[5] Fakhry, aaO., S. 8 f.
[6] Ernst R. Sandvoss, Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Bd. 1: Indien, China, Griechenland und Rom, Wiesbaden 2004, S. 379.
[7] Knysh, aaO., S. 80.
[8] Knysh, aaO., S. 107.
[9] Rom Landau, The Philosophy of Ibn ˁArabī, London 1959, S. 22.
[10] Knysh, aaO., S. 166.
[11] Fakhry, aaO., S. 73.
[12] ar-Rāzī, Abi Mohammadi Filii Zachariae Raghensis (Razis) opera philosophica fragmentaque quae supersunt, hsg. v. Paul Kraus, Kairo 1939 (ND), S. 108.
[13] ar-Rāzī, aaO., S. 108.
[14] Knysh, aaO., S. 309 f.
[15] al-Fārābī, Epistola sull’intelletto, hsg. u. übers. v. Francesca Luchetta, Padua 1974, S. 104 f.; Fakhry, aaO., S. 44 f., 48.
[16] Ibn Bāǧǧa, Kitāb tadbīr al-mutawaḥḥid, hsg. v. Maˁn Ziyāda, Beirut 1978, S. 63; Fakhry, aaO., S. 89.
[17] al-Ġazālī, Miškāt al-anwār, hsg. v. Abū-l-ˁAlā ˁAfīfī, Beirut 1974, S. 92.
[18] Fakhry, aaO., S. 91 f.
[19] Ibn Ṭufail, Ḥaiy Ibn Yaqẓān, hsg. v. Fārūq Saˁd, Beirut 1974, S. 115, 191 f.
[20] Ibn Sīnā, Kitāb an-naǧāt fi-l-ḥikma al-manṭiqīya wa-t-tabīˁīya wa-l-ilāhīya, hsg. v. Māǧid Faḫrī, Beirut 1985, S. 206, 328.
[21] Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus, München 31995, S. 209.
[22] Ibn Sīnā, Al-išārāt wa-t-tanbīhāt, Bd. 4, hsg. v. Sulaimān Dunyā, Kairo 1968, S. 151 ff.
[23] Knysh, aaO., S. 303 ff.
[24] Fakhry, aaO., S. 53.
[25] Fakhry, aaO., S. 78 f.
[26] Schimmel, aaO., S. 162.
[27] Fakhry, aaO., S. 45.
[28] ar-Rāzī, aaO., S. 302.
[29] Knysh, aaO., S. 314 ff.
[30] Ibn Bāǧǧa, aaO., passim.
- Quote paper
- Rainer Weirauch (Author), 2008, Sufismus als der lachende Dritte, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111890
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