„Die Initiative Mindestlohn ist der Überzeugung, dass Arbeit nicht arm machen darf. Daher wird ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 7,50 € pro Stunde angestrebt, der schrittweise auf 9,00 € erhöht werden soll“. Diese Form der Meinungsartikulation mit dem Ziel einer organisierten Interessengruppe Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu erlangen, geht auf die pluralistische Demokratietheorie zurück, die sich bis heute mit aktuellen Fragen der modernen Demokratie beschäftigt. Diesem Konzept begegnen wir tagtäglich in Deutschland. Wir hören von Interessengruppen und Verbänden, von Streitigkeiten zwischen Parteien, von Einigungen und Kompromissen. Vieles davon kann auf die Grundannahmen des Pluralismus zurückgeführt werden, speziell in Deutschland vor allem auf Ernst Fraenkels Neopluralismus. Dass er solch eine Konzeption entworfen hat, kann v.a. auf drei historische Erfahrungen zurückgeführt werden. „Zum einen die Erfahrung der Weimarer Republik und ihres Untergangs, die Erfahrungen mit der Realität des faschistischen Totalitarismus und die Erfahrungen mit der, durch Gruppenpluralismus geprägten, amerikanischen Demokratie“. Somit kann sein Pluralismuskonzept als Antwort auf seine praktischen und theoretischen Erfahrungen, verstanden werden. Grundlage Fraenkels Theorie ist also ihr normativ-empirischer Charakter, der an die „analytischen Beobachtung der Wirklichkeit westlicher Demokratien“ anschließt. Diese pluralistische bzw. neopluralistische Demokratietheorie soll in dieser Arbeit etwas genauer unter die Lupe genommen werden.
In meiner Ausarbeitung werde ich in einem ersten Schritt die Pluralismustheorie, oder vielmehr die Fraenkelsche Neopluralismustheorie, vorstellen. Dabei sollen die Grundannahmen, die Akteure und ihre Rolle, sowie einige Kritikpunkte zu Fraenkels Theorie aufgeführt und verdeutlicht werden.
In einem zweiten Schritt wird diese Theorie auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen und analysiert, wie viel (Neo-) Pluralismus im deutschen Grundgesetz und wie viel in der politischen Realität Deutschlands steckt. Wie viel Pluralismus ist in Deutschland theoretisch möglich? Ist die Negation der Negation gelungen? D.h. ist die Hinwendung zum totalen Staat im Nationalsozialismus, durch die Negation des Pluralismus, durch eine Negation dieser Negation in Theorie und Praxis überwunden?
Inhaltsverzeichnis
1. Pluralismus – deutscher Alltag?
2. Vom Gemeinwohl a posteriori zum aktiven Schiedsrichter: Der Neopluralismus
2.1 Vielgliedrigkeit und Negation der Negation - Begriffsbestimmung
2.2 Zwischen Egoismus und Kollektivismus: Menschenbild und Demos-Begriff
2.3 Fundament und Schlachtfeld einer neopluralistischen Demokratie
2.4 Antipode zur volonté générale: Gemeinwohl a posteriori
2.5 Intermediäre Institutionen und die soziale Wertepolizei: Die Rolle autonomer Gruppen und des Staates
2.6 Theorie ohne Makel? Kritik an Fraenkels Pluralismuskonzeption
3. Zwischen Illusion und Wahrheit – Neopluralismus in Deutschland
3.1 Pluralismus als Verfassungskomponente? Das deutsche Grundgesetz und der Neopluralismus
3.2 Unterentwickelter Pluralismus vs. Steigende Interessenvielfalt: Bestandsaufnahme der politischen Realität
4. Pluralismus als moralisches Experiment: Fazit
5. Literaturverzeichnis
1. Pluralismus – deutscher Alltag?
„Die Initiative Mindestlohn ist der Überzeugung, dass Arbeit nicht arm machen darf. Daher wird ein gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 7,50 € pro Stunde angestrebt, der schrittweise auf 9,00 € erhöht werden soll“.[1] Diese Form der Meinungsartikulation mit dem Ziel einer organisierten Interessengruppe Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu erlangen, geht auf die pluralistische Demokratietheorie zurück, die sich bis heute mit aktuellen Fragen der modernen Demokratie beschäftigt. Diesem Konzept begegnen wir tagtäglich in Deutschland. Wir hören von Interessengruppen und Verbänden, von Streitigkeiten zwischen Parteien, von Einigungen und Kompromissen. Vieles davon kann auf die Grundannahmen des Pluralismus zurückgeführt werden, speziell in Deutschland vor allem auf Ernst Fraenkels Neopluralismus. Dass er solch eine Konzeption entworfen hat, kann v.a. auf drei historische Erfahrungen zurückgeführt werden. „Zum einen die Erfahrung der Weimarer Republik und ihres Untergangs, die Erfahrungen mit der Realität des faschistischen Totalitarismus und die Erfahrungen mit der, durch Gruppenpluralismus geprägten, amerikanischen Demokratie“.[2] Somit kann sein Pluralismuskonzept als Antwort auf seine praktischen und theoretischen Erfahrungen, verstanden werden. Grundlage Fraenkels Theorie ist also ihr normativ-empirischer Charakter, der an die „analytischen Beobachtung der Wirklichkeit westlicher Demokratien“[3] anschließt. Diese pluralistische bzw. neopluralistische Demokratietheorie soll in dieser Arbeit etwas genauer unter die Lupe genommen werden.
In meiner Ausarbeitung werde ich in einem ersten Schritt die Pluralismustheorie, oder vielmehr die Fraenkelsche Neopluralismustheorie, vorstellen. Dabei sollen die Grundannahmen, die Akteure und ihre Rolle, sowie einige Kritikpunkte zu Fraenkels Theorie aufgeführt und verdeutlicht werden.
In einem zweiten Schritt wird diese Theorie auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen und analysiert, wie viel (Neo-) Pluralismus im deutschen Grundgesetz und wie viel in der politischen Realität Deutschlands steckt. Wie viel Pluralismus ist in Deutschland theoretisch möglich? Ist die Negation der Negation gelungen? D.h. ist die Hinwendung zum totalen Staat im Nationalsozialismus, durch die Negation des Pluralismus, durch eine Negation dieser Negation in Theorie und Praxis überwunden?
2. Von Gemeinwohl a posteriori zum aktiven Schiedsrichter: Der Neopluralismus
Im folgenden Kapitel soll die Pluralismustheorie bzw. die Fraenkelsche Neopluralismustheorie genauer erläutert werden, in dem zunächst die Begriffe Pluralismus und Neopluralismus erklärt und voneinander abgegrenzt, sowie die Ziele Fraenkels und seiner Konzeption aufgezeigt werden. Anschließend wird das Menschenbild, von welchem Fraenkel ausgeht, geklärt und zusammen mit dem pluralistischen Demos-Begriff in das Konzept eingeordnet. Danach wird die Basis dieser Theorie vorgestellt, der nicht-kontroverse und der kontroverse Sektor, welche einen wichtigen Bestandteil in Fraenkels Konzeption ausmachen, bevor der neopluralistische Gemeinwohlcharakter erörtert wird. Als nächstes wird dann die Rolle von Interessengruppen und dem Staat beschrieben, um schließlich auf einige Kritikpunkte an der pluralistischen Demokratietheorie einzugehen.
2.1 Vielgliedrigkeit und Negation der Negation - Begriffsbestimmung
Vorläufer der Pluralismustheorie ist das Gruppenpluralismus-Konzept, nach welchem Ablauf und Inhalt von Politik hauptsächlich auf Kooperation, Konflikt und Machtverteilung zwischen organisierten Interessen zurückzuführen ist.[4]
„Im Pluralismus konkurrieren eine Vielzahl verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen mit- und gegeneinander um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Macht. Sie versuchen ihren Einfluss in den politischen Prozess einzubringen und auf die staatliche Gewalt durchzusetzen“.[5] Prinzipiell liegt die Annahme zugrunde, dass alle Interessen organisierbar, artikulierbar und konfliktfähig und alle Interessen durch Konsens vereinbar sind. „Der Schlüsselbegriff dieser Theorie – Pluralismus – meint allgemein Vielgliedrigkeit, im Gegensatz zum Monismus und zum Dualismus“.[6] Demzufolge stellt der Pluralismus einen Gegensatz zu monistisch strukturierten Ordnungen dar, wie totalitäre oder autoritäre Herrschaftssysteme. Aber auch dualistische Ordnungen, wie rigide Klassengesellschaften, werden strikt abgelehnt.
Der Neopluralismus, mit dem Hauptvertreter Ernst Fraenkel, unterscheidet sich dadurch vom „alten Pluralismus“, in dem die konkreten Erfahrungen mit totalitärer Herrschaftspraxis zu überwunden versucht werden.[7] Der direkte Bezug zu den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur, und die dadurch erforderliche Begründung einer eigenen konträren Position, führte zum Neopluralismus – Die Negation der Negation: Der totale Staat wurde aus der Negation des Pluralismus gerechtfertigt und der Neopluralismus wiederum negiert diese Negation als Gegenpol zur Diktatur – mit heterogenem Staatsvolk, dem unveräußerliche Grundrechte als Basis dienen. Weitere Bestandteile sind die Autonomie im Willensbildungsprozess, der a posteriori-Charakter des Gemeinwohls (3.4), sowie die Geltung des Rechts- und Sozialstaatsprinzips.[8] Desweiteren kommt dem Staat im Neopluralismus nicht nur die reine Schiedsrichterrolle zu, die er im Pluralismus einnimmt (3.5).
Fraenkel stellt den Idealtypus eines autonom-heterogen-pluralistischen Rechtsstaates dem Idealtypus einer heteronom-homogenen-totalitären Diktatur gegenüber.[9] „Autonom“ heißt, dass der Willensbildungsprozess freiheitlich und ohne vorher festgelegte Zielvorgabe stattfindet (a posteriori-Gemeinwohl). „Heterogen“ besagt, dass unterschiedliche Interessen und Strukturen in einer differenzierten Gesellschaft nicht gleichgeschaltet sind. „Pluralistisch“ bedeutet, dass alle Interessen die Möglichkeit haben, sich frei zu organisieren und zu artikulieren und der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess überwiegend durch den Wettstreit dieser ausgezeichnet ist.
Fraenkel Ziel war es, die Grundlagen der deutschen Demokratie zu festigen und die praktische Funktionsfähigkeit ihrer Institutionen zu verbessern. Er wollte eine soziale Demokratie in Freiheit mit dem Ziel, in einer klassenlosen Gesellschaft die Zukunft der Arbeiterbewegung sichern zu helfen.[10]
Der (Neo-) Pluralismus soll also Machtressourcen streuen, „totalitäre Herrschaft verhindern und die demokratisch gewählte Exekutive zügeln“.[11] Auch die nachdrückliche Befürwortung einer Repräsentativverfassung bestätigt die Negation der Negation im neopluralistischen Sinn.
2.2 Zwischen Egoismus und Kollektivismus: Menschenbild und Demos-Begriff
Um Ernst Fraenkels Theorie besser zu verstehen und nachvollziehen zu können, ist es desweiteren wichtig sein Menschenbild zu erläutern.
Fraenkel legt dem Demokratiebegriff westlicher Demokratien eine auf der jüdisch-christlichen beruhenden Tradition zugrunde. Der Mensch sei zwar in der Lage das Gute zu erkennen, könne es aber nicht voll verwirklichen, sondern ist in seinem politischen Handeln weitgehend von dem Bestreben motiviert, seine eigenen Interessen und Bedürfnisse bestmöglich zu befriedigen.[12] Es wird von einem personalen Menschenverständnis ausgegangen, demzufolge der Mensch prinzipiell gemeinschaftsbezogen ist, jedoch stets seine personale Würde als Einzelperson behält.[13] Der Neopluralismus richtet sein Denken am Menschen aus wie er ist, nicht wie er sein sollte, so dass man auf ein realitätsnahes Menschenbild schließen kann. Für Fraenkel ist es ganz natürlich, dass Menschen unterschiedliche Interessen besitzen und diese zu Konflikten führen. Diese werden von ihm als positiv bewertet und als Zeichen einer gesunden, freiheitlichen Demokratie gedeutet.
Der pluralismustheoretische Demos-Begriff nach Fraenkel macht die aktive Rolle der einzelnen Bürger und ihrer Interessen deutlich: Er betont die „Angehörigen der in den verschiedenartigsten Körperschaften, Parteien, Gruppen, Organisationen und Verbänden zusammengefassten Mitglieder einer differenzierten Gesellschaft, von denen erwartet wird, dass sie sich jeweils mit Erfolg bemühen, auf kollektiver Ebene zu dem Abschluss entweder stillschweigender Übereinkünfte oder ausdrücklicher Vereinbarungen zu gelangen, d.h. aber mit Kompromissen zu regieren“[14]
Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass das Bild vom Menschen im Neopluralismus einen Gegensatz zu dem Menschenbild in monistischen Herrschaftssystemen, wie der Diktatur der Nationalsozialisten, darstellt.
Nun stellt sich die Frage, wie eine Demokratie mit einem ausgeprägten Pluralismus stabil und die politische Ordnung trotz oder dank der Interessendivergenz bestehen bleiben kann.
2.3 Konsensbereich und Schlachtfeld einer neopluralistischen Demokratie
Fraenkel nennt die Notwendigkeit der Existenz eines nicht-kontroversen, nicht streitigen und eines kontroversen, streitigen Sektors, welche das politische System einer Demokratie stabilisieren.
Der nicht-kontroverse Sektor bildet die Basis. Er stellt den Konsensbereich dar und beruht auf einem mehr oder weniger komplexen Wertkodex, der allgemein anerkannt ist. Über ihn herrscht ein Minimalkonsens und er beinhaltet Verfahrensvorschriften und Spielregeln eines „fair play“, sowie auch ein Minimum an regulativen Ideen generellen Charakters.[15] Er bildet den Bereich zentraler Werte, wie unveräußerliche Grund- und Menschenrechte.
Der kontroverse Sektor dagegen stellt das Schlachtfeld einer Demokratie dar. Er ist der Dissensbereich, in dem Konflikte und Meinungsunterschiede ausgetragen werden, stets unter Einhaltung der Regeln des „fair play“, so dass „die Ergebnisse der Auseinandersetzungen sich im Rahmen der Mindestanfordernisse der sozialen Gerechtigkeit bewegen“.[16] In ihm herrscht Interessenvielfalt und Konkurrenz.
Die Grenzlinie zwischen den beiden Sektoren ist variabel, wobei jedoch der Konsenssektor weitaus größer sein muss und der kontroverse Sektor hingegen den Kern der politischen Kultur ausmacht. Eine stabile Demokratie bedeutet Konflikt und Konsens, Übereinstimmung und Differenzierung.[17]
[...]
[1] Initiative Mindestlohn: Unterstützen Sie die Initiative Mindestlohn!, http://www.mindestlohn.de/aktion/unterstuetzen_sie/ (aufgerufen am 01.03.2008), erster Absatz
[2] Vgl. Massing, Peter: Ernst Fraenkel. Ausgewählt und interpretiert von Peter Massing, in ders./Breit, Gotthard (Hrsg.): Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart (2. Aufl.), Bonn 2003, S. 214-222 (218)
[3] Steffani, Winfried: Pluralistische Demokratie. Studien zur Theorie und Praxis, Opladen 1980, S. 41
[4] Vgl. Schmidt, Manfred G.: Demokratietheorien. Eine Einführung (3. Aufl.), Wiesbaden 2006, S. 227
[5] Woyke, Wichard: Pluralismus, in: Andersen, Uwe/ders. (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland (5. Aufl.), Opladen 2003, S. 480-481 (480)
[6] Ebd.
[7] Vgl. Steffani, Pluralistische Demokratie, S. 37
[8] Vgl. Ebd., S. 38
[9] Vgl. Frankel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien (2. Aufl.), Frankfurt am Main 1991, S. 325
[10] Vgl. Steffani, Pluralistische Demokratie, S. 41
[11] Schmidt, Demokratietheorien, S. 228
[12] Vgl. Fraenkel, Ernst: Möglichkeiten und Grenzen der politischen Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie, in: V. Brünneck, Alexander (Hrsg.): Ernst Fraenkel. Gesammelte Schriften, Baden-Baden 2007, S.283-296 (291)
[13] Vgl. Steffani, Pluralistische Demokratie, S. 38f.
[14] Fraenkel, Ernst zitiert nach Schmidt, Demokratietheorien, S. 232
[15] Vgl. Steffani, Pluralistische Demokratie, S. 43
[16] Ebd., S. 52
[17] Vgl. Ebd. und Schmidt, Demokratietheorien S. 235
- Quote paper
- Christopher Schappert (Author), 2008, Negation der Negation - Theorie oder Praxis?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111778
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