Gegenstand dieser Arbeit sind die Persönlichkeitsentwürfe der Protagonisten in Elias Canettis Roman "Die Blendung".
Zunächst wird versucht, deren Situation in einer für sie nicht erkennbaren und dadurch als fremd erfahrenen Welt darzustellen.
Die Figur des Dr. Peter Kien wird ausführlich untersucht, um zu zeigen, wie seltsam verloren der moderne Mensch in der technisierten Welt lebt. Das Verlorengehen jeglicher humaner Züge im gesellschaftlichen Umgang der Protagonisten im Roman wird ebenso beleuchtet.
Außerdem soll die Wahl Canettis begründet werden, dem Roman den Titel "Die Blendung" zu geben.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Fremde Welt?
1.1 Die Perspektive
1.2 Die Figuren
1.2.1 Peter Kien
1.2.2 Therese Krumbholz
1.3 Die Hochzeit
2. Der Titel: Die Blendung
2.1. Namen
2.2 Der Ausgangspunkt
2.2.1 „Es war das nachahmende Lernen,“
2.3 Die Blendung Simsons durch die Philister
2.4 Die Verblendung
2.4.1 Die Konsequenzen
Resümee
Abbildungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
Gegenstand meiner Arbeit sind die Persönlichkeitsentwürfe der Protagonisten in Elias Canettis Roman Die Blendung.
Ich werde deren Situation in einer für sie nicht erkennbaren und dadurch als fremd erfahrenen Welt darzustellen versuchen.
Die Figur des Dr. Peter Kien werde ich ausführlich darstellen, um zu zeigen, wie seltsam verloren der moderne Mensch in der technisierten Welt lebt. Das Verlorengehen jeglicher humaner Züge im gesellschaftlichen Umgang der Protagonisten im Roman wird ebenso beleuchtet.
Außerdem werde ich versuchen die Wahl Canettis zu begründen, die ihn in meinen Augen dazu brachte, dem Roman den Titel Die Blendung zu geben.
Dabei will ich unter Berücksichtigung weiterer Veröffentlichungen aus dem Werk Canettis deutlich machen, dass er mit keinem anderen Titel den Roman in treffenderer Weise hätte bezeichnen können. Es wird sich zeigen, dass er selbst erhebliche Bedenken bei der Wahl des Titels hatte.
Ich weiß, dass dies nur wenige Punkte sind, welchen ich mich in meiner Arbeit zuwende, und dass es weitere sehr interessante Zugangsmöglichkeiten zum Eröffnen der enormen Vielfalt dieses Romanes gibt. Aber für mich hat nach langem Abwägen die Frage nach dem Titel an Bedeutung gewonnen. In ihm sehe ich wesentliche Gedanken nicht nur des Romanes sondern auch des übrigen Werkes Canettis kulminieren.
1 Fremde Welt?
Der Roman Die Blendung von Elias Canetti beginnt mit einem Gespräch zwischen dem Sinologen Professor Peter Kien und dem neunjährigen Franz Metzger.[1]
Dieser Dialog, den angefangen zu haben den Gelehrten schon nach Beenden desselben gereut, ist der einzige wirklich sinnvolle Sprachakt im gesamten Roman.
Das Gespräch Professor Kiens mit einem kleinen Jungen wird von Canetti seinem Roman der Gesprächsunmöglichkeit (Die Blendung) vorangestellt.[2]
Beide Gesprächsteilnehmer wissen um den Gegenstand der Diskussion, beide sprechen von den Büchern, die all das begehrte Wissen bewahren. Zugleich wird deutlich, dass der Junge bestrebt ist, Zugang zu diesem Wissen zu finden. Kien hingegen, für seinen morgendlichen Spaziergang mit Büchern ausgestattet, übernimmt die Rolle des Bewahrers. Zwar zeigt er dem Jungen, von dessen Wissbegier er zunächst durchaus beeindruckt ist, eines seiner mitgebrachten Bücher, ein Band des chinesischen Philosophen Mong Tse, und lädt den Jungen auch zu sich nach Hause ein, um ihm die eigene Bibliothek und Bilder aus Indien und China zu zeigen; vertröstet den bereitwilligen Jungen aber, als dieser vorschlägt noch am selben Tag das Angebot annehmen zu wollen, auf einen unbestimmten Zeitpunkt.[3]
In den folgenden Abschnitten kann der Leser nachvollziehen, wie Professor Kien das soeben geführte Gespräch in seine Gedankenwelt einordnet. Und diese Gedankenwelt entlarvt sich von Satz zu Satz als eine sehr diffuse. So ist, wie bereits gesagt, bemerkenswert, dass sich Kien das von ihm verursachte Gespräch mit dem Jungen sofort vorhält. Der Grund dafür liegt in seiner Gepflogenheit, jeden Passanten zu ignorieren. Deshalb kann er den wissbegierigen Jungen Franz Metzger, obwohl dieser im selben Haus wohnt wie Kien, nicht erkennen. Der Knabe hingegen erkennt den Professor sehr wohl.
Kien ignoriert die Passanten aber nicht um sich ungestört wichtigen Gedanken hingeben zu können. Er verspürt generell keinen Bedarf, sich auf andere Menschen einzulassen, da er in ihnen lediglich Lügner sieht:
So viel Passanten, soviel Lügner.[4]
Interessant dabei ist, dass er das lügenhafte Verhalten der Passanten ihrer Neigung zu schreibt, sich täglich, ja stündlich zu wandeln. Niemand ist in seinen Augen ernsthaft bestrebt, in einer ihm ebenbürtigen Weise, das eigene Leben in den Dienst einer Arbeit zu stellen. Wie bereits geschildert, ist sein Arbeitsfeld die Sinologie. Und das sein wissenschaftliches Arbeiten sieht er als Dienst an der Wahrheit.
Denn Wissenschaft und Wahrheit waren für ihn identische Begriffe.[5]
Sein gesamtes Leben ist ausgerichtet auf diese wissenschaftliche Arbeit. Jeder andere Aspekt eines gewöhnlichen Lebens wird von Kien kategorisch ausgeblendet. Er legt seinen Ehrgeiz in die Hartnäckigkeit seines Wesens.
Nicht bloß einen Monat, nicht ein Jahr, sein ganzes Leben blieb er sich gleich.[6]
Und darin ähnelt er seinen Büchern. Canetti:
Ja, er wollte immer von Menschen absehen, Menschen waren ihm zu unverläßlich, zu fluid, die Bücher blieben sich immer gleich.[7]
Und genau an dem Punkt, an welchem Kien von dieser selbst gesetzten Reglementierung, keinen Passanten wahrnehmen zu wollen, zu seiner eigenen Überraschung absieht, setzt der Roman ein.
Noch bevor der Leser also um die, oberflächlich beurteilt, schrullige Art des Gelehrten erfährt, hat sich dieser schon, wenn auch in einem minimalen Belang, in seinem Verhalten der Umwelt gegenüber einen kleinen Fehltritt erlaubt. Er spricht den Jungen vor der Schaufensterauslage der Buchhandlung an. Der Grund dafür ist offensichtlich. Franz Metzger erscheint Kien ebenso bibliophil, wie er es als Kind bereits war.
Zugleich erfährt das selbstreglementierte Leben Kiens hier eine folgenschwere Wende.
Der strikt durchorganisierte Arbeitstag des Professors durfte bis dahin nicht gestört werden. Außer dem bereits geschilderten morgendlichen Spaziergang, der täglich und akribisch von sieben bis acht Uhr schweigend vollzogen wird, gönnt sich der Gelehrte keine Ablenkung. Seine Wohnung ist auf wissenschaftliches Arbeiten ausgelegt. Man kann im eigentlichen Sinne nicht von einer Wohnung reden, sondern eher von einer Bibliothek mit Küche und Dienstmädchenzimmer.
Die Bibliothek, mit einem Umfang von fünfundzwanzigtausend Bänden, befindet sich in vier hintereinander liegenden Zimmern. Sämtliche Wände sind vom Boden bis zur Decke zugestellt mit Büchern. Fenster wurden zugemauert und durch Oberlichter, Kien wohnt in der obersten Etage des Wohnhauses, ersetzt.[8]
Schweigend und ungestört verrichtet der Gelehrte in dieser Bibliothek seine tägliche Arbeit.
Sich in Reden verlieren, ist die größte Gefahr, die einen Gelehrten bedroht. Kien drückte sich lieber schriftlich als mündlich aus. Er beherrschte über ein Dutzend östliche Sprachen. Einige westliche verstanden sich von selbst. Keine menschliche Literatur war ihm fremd. In Zitaten dachte er, in wohlüberlegten Absätzen schrieb er. Unzählige Texte verdankten ihre Herstellung ihm. An schadhaften oder verderbten Stellen uralter chinesischer, indischer, japanischer Manuskripte fielen ihm Kombinationen ein, soviel er wollte. [...]
Von peinlicher Vorsicht, monatelang erwägend, langsam bis zum Überdruß, am strengsten gegen sich selbst, schloß er seine Meinung über einen Buchstaben, ein Wort oder einen ganzen Satz nur dann ab, wenn er ihrer Unangreifbarkeit sicher war. Seine bisherigen Abhandlungen, gering an Zahl, aber jede ein Fundament für hundert andere, hatten ihm den Ruf des ersten Sinologen seiner Zeit verschafft. Die Fachkollegen kannten sie genau, beinahe auswendig. Sätze, die er einmal niedergeschrieben hatte, galten als entscheidend und bindend. In strittigen Fragen wandte man sich an ihn, die oberste Autorität auch auf Nachbargebieten der Wissenschaft. Wenige beehrte er mit Briefen. Wen er aber erwählte, der empfing, in einem einzigen Schreiben, Anregung über Anregung und hatte auf Jahre hinaus Arbeit, deren Ergebnisse, in Anbetracht des Anregenden, zum vorhinein sicherstanden. Persönlich verkehrte er mit niemandem. Einladungen schlug er aus. Wo immer eine Lehrkanzel für östliche Philologie frei wurde, trug man sie zu allererst ihm an. Er lehnte mit verächtlicher Höflichkeit ab.[9]
Offensichtlich führt Kien ein sehr zurückgezogenes Leben. Und ebenso klar ist, dass er diese Lebensweise für sich als durchaus zweckmäßig erachtet. Er arbeitet streng wissenschaftlich, äußert sich, nach langen Überlegungen und Abwegen, lediglich schriftlich und bedarf deshalb vor allem der Ruhe.
Dieser zitierte Abschnitt enthält weitere wichtige Elemente. Auf diese gehe ich im folgenden Kapitel ein, ohne mit der Figurenanalyse zum Abschluss gekommen zu sein.
1.1 Die Perspektive
Am soeben zitierten Absatz möchte ich zwei weitere Punkte erläutern. Zunächst verweise ich darauf, dass sich Rudolf Hartung im Erzählstil an gewisse Techniken des „nouveau romans“ erinnert sieht.[10] Dieser Vergleich bezieht sich im wesentlichen auf einen Punkt:
Der Nouveau roman [...] löst die Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität auf, die Erzählfolge wird aufgehoben und die Möglichkeit des Schreibens thematisiert und zur Debatte gestellt. Dominierende Erzähltechnik ist der innere Monolog; auf den Erzähler wird weitgehend verzichtet.[11]
Die Konsequenz des inneren Monologs ist das Aufheben der Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität. Durch diesen ergibt sich keine eigentliche Erzählfolge. Der Leser ist häufig den inneren Gedankenwelten der Protagonisten ausgesetzt, im zitierten Beispiel der Gedankenwelt des spazierenden Kiens, und kann sich nicht sicher sein, ob Kiens Arbeiten in der Gelehrtenwelt nun tatsächlich „beinahe auswendig“ gekannt werden, oder ob Kiens Wahnvor-stellung hier bereits die Wirklichkeit verzerrt.
...es wird in der <<Blendung>> etwa das nur Vorgestellte, Traum oder Wahngebilde, so real <<gesetzt>> wie das Wirkliche; Einbildung und Realität sind oft kaum mehr zu unterscheiden.[12]
Dies geschieht hauptsächlich durch die inneren Monologe der Figuren. Dem Leser wird eine Welt geschildert, in der die Protagonisten aneinander vorbeireden.[13] Sie reden aneinander vorbei, weil die jeweiligen stark eingeschränkten Erfahrungshorizonte bis zur Ausbildung einer individuellen Sprachmaske führen.
Dieses Mißverstehen ist Leitmotiv der Blendung [sic!, M.D.]. Die Figuren sprechen miteinander, aber ohne sich zu verstehen, weil jede ihre eigene Vorstellung über das Gehörte stülpt, und also nicht mehr hört, sondern bloß zu hören denkt.[14]
Das Aufeinanderprallen der individuellen Erlebnissphären der Figuren ist der eigentliche Handlungsmotor im gesamten Roman. Rudolf Hartung erläutert dies, in einem Nebensatz, im Gespräch mit Canetti:
...- die Wahnsysteme der einzelnen Figuren stoßen sich sozusagen aneinander, und das ist dann der eigentliche <Vorgang> [sic!, M.D.] des Romans -...[15]
Dieser Situation ist der Leser im gesamten Roman ausgesetzt. Der auktoriale Erzähler tritt hauptsächlich dann hervor, wenn die Wahnsysteme beziehungsweise die Sichtweisen der Protagonisten mit der fiktiven Wirklichkeit zusammentreffen. In solchen Situationen werden die Fragilität und die Fragwürdigkeit der individuellen Weltinterpretationen der Protagonisten deutlich.
Dies trägt im romaneinleitenden Kapitel noch durchaus komische Züge. So wird Kien von einem Passanten nach der Mutstraße gefragt, obwohl sich, nach Kiens späterer Schilderung, beide bereits in derselben befinden. Der Sinologe, der, wie bereits geschildert, die Passanten und deren Wirken gar nicht wahrnehmen will, erregt zunächst unwissentlich den Zorn des Auskunftssuchenden, denn dieser hält den angesprochenen Sinologen für eingebildet und unhöflich. Erst als der zur Weißglut gekommene Passant Kien tätlich angreift, begreift dieser, dass er der Angesprochene ist.[16]
Kien entfernt sich wortlos vom Ort des Geschehens. Doch kann er sich des ihn ergreifenden Ärgers über den „frechen Mann“ nicht erwehren.[17] Auch Kien ist also nicht so gelassen wie er zu sein wünscht. Seine Reaktion auf die freche Beschimpfung des Passanten ist dann allerdings wieder eine sehr gefasste. Er verarbeitet die erlebte Begebenheit, indem er Notizen zum Vorgang in einem kleinen Heft niederschreibt. Dieses Heft trägt den sprechenden Titel: „Dummheiten“.[18]
Alles, was er vergessen wollte, trug er da ein.[19]
Kien ist durch seine Kontaktscheue auf Ersatzhandlungen angewiesen. Deshalb schreibt er sich den Frust von der Seele. Und er trägt diesen Frust in sein Notizheft ein, um ihn vergessen zu können. Deshalb liest er die früheren Einträge auch nicht, sondern möchte das Buch später als „Spaziergänge eines Sinologen“ veröffentlichen.[20]
Zurück zur Problematik der Wahrnehmung Kiens. Was er jetzt in seinem Buch niederschreibt, ist eine nicht nur in Einzelheiten abweichende Schilderung zu dem, was er zuvor erlebt hat. Für den Wissenschaftler, der Wahrheit und Wissenschaft für identische Begriffe erklärt (vgl. Anm. 5) und die Lüge verabscheut,[21] eine eklatante Ungenauigkeit.
Der Umstand, dass er sich gar nicht für den Angesprochenen gehalten hat, kommt nicht zur Sprache. Des weiteren behauptet nun Kien seinerseits „frech“, dass der Passant sein Missgeschick, dass sie sich also bereits in der Mutstraße befanden, selbst bemerkt hat, und nun deshalb mit groben Beschimpfungen auf ihn losging. Auch das erscheint zumindest zweifelhaft, da ja der Passant gesagt hat, dass er auf die Auskunft pfeift, und lediglich eine Entschuldigung für Kiens unhöfliches Benehmen fordert:
„Sie werden sich entschuldigen! Ich pfeife auf die Mutstraße! Die kann mir jeder zeigen! Aber sie werden sich entschuldigen! Hören Sie!“[22]
Der Grund für die Eskalation der Situation liegt also nicht, wie Kien behauptet, darin, dass der Fragende erkannt hat, dass er sich bereits in der Mutstraße befindet. Der Passant wird allein durch die Unhöflichkeit Kiens zum unfreundlichen Mitmenschen.
Der Fragende hat also noch gar nicht gewusst, dass er sich bereits in der Mutstraße befindet. Dann wird aber die zumindest gedanklich getätigte Beschimpfung Kiens gegenstandslos, in welcher er den Passanten als „gestikulierenden Analphabeten“ bezeichnet.[23] Diese Bezeichnung macht nur dann Sinn, wenn der Passant das Straßenschild zwar gesehen, aber eben nicht gelesen hat. Und dies kann aus der Perspektive Kiens nicht entschieden werden. Er tut dies trotzdem. Und erhält dadurch in der Konsequenz ein anderes Bewusstsein über die Realität, als aus dem Geschilderten hervorgeht. Man kann berechtigterweise von einer Wahrnehmungsverschiebung Kiens reden.
Da sich Kien seines wahrhaft phänomenalen Gedächtnisses selbst rühmt, ist es unwahrscheinlich, dass diese Wahrnehmungsverschiebung erst durch das Erinnern verursacht wird.
Irgendeines Gedächtnisfehlers, der ihm je unterlaufen sei, könne er sich nicht entsinnen.[24]
Der gedankliche getätigte Ausspruch des „Analphabeten“ deutet darauf hin, dass zumindest Kien das Straßenschild tatsächlich gesehen und gelesen hat. Worauf ich hinaus will, ist folgendes. Entweder gab es ein Straßenschild, auf welchem der gesuchte Straßenname gedruckt stand, dann macht die Bezeichnung des Analphabeten, auch wenn sie recht unhöflich ist, zumindest Sinn. Oder es gab keins. Dann bliebe die Alternative der schlechten Erinnerung Kiens, was allerdings auch recht unwahrscheinlich ist, da er sich seiner Gedächtnisleistungen ja so über die Maßen rühmt. Gab es dieses Schild aber nicht, dann hat Kien hier entgegen seiner angeblichen Natur eine faustdicke Lüge aufgeschrieben; oder er hat etwas wahrgenommen, was es in der Realität nicht gab. Da seine Augen aber noch nach Belieben funktionieren, worauf er mit seinen vierzig Jahren recht stolz ist, erscheint auch diese Möglichkeit recht zweifelhaft.
Gehen wir nun davon aus, dass es dieses Straßenschild tatsächlich gegeben und Kien dies auch bemerkt hat, so sind wir noch lange nicht bei dem Punkt, dass dies auch der Passant sehen konnte. Und dann würde in Kiens Argumentationsreihen ein wichtiges Glied fehlen. Denn er sieht in der Erkenntnis des Passanten darüber, dass er sich bereits in der Mutstraße befindet, den auslösenden Grund, für dessen freches Benehmen.
Damit hat Kien seine Erklärung für das Geschehen. Diese Erklärung deckt sich aber auf keinen Fall mit dem zuvor geschilderten Ablauf des Geschehens. Denn der wütende Passant pfeift, wie gezeigt, auf die Auskunft, und gerät aufgrund der erfahrenen Unhöflichkeit Kiens, denn dieser antwortet ja nun mal nicht, außer Rand und Band.
Was ist nun wahr? Was hat sich tatsächlich zugetragen?
Genau dies ist der Punkt, den ich versucht habe deutlich zu machen. Dem Leser wird eine Figur vor Augen geführt, die mit der Welt, trotz enormer sprachwissenschaftlicher Kompetenzen, gelinde gesagt, auf Kriegsfuß steht. Nur ist es gar nicht so leicht erkennbar, wo hier genau die Grenzlinien zwischen der Interpretation des Protagonisten und den sich tatsächlich zutragenden Geschehnissen in der fiktiven Wirklichkeit zu ziehen sind.
Was bleibt, ist vor Augen geführte Unsicherheit des Einzelnen, der sich zwangsläufig in der Realität zurechtfinden muss. Diese Unsicherheit wird aber nicht in einem reflexiven Prozess aufgebrochen, sondern die Realität wird durch selbstbezogene Weltinterpretationen in ein völlig anderes Licht gerückt. Bedrohlich wird dies dann, wenn es zu keinerlei Übereinstimmung mehr kommt, und „sich die verschiedenen Wahnsysteme der einzelnen Figuren“ dermaßen „aneinander stoßen“, dass ein vernünftiger Umgang miteinander nicht mehr möglich ist.
Die Wirkung dieser Erzählweise löst, nach meinem Empfinden, beim Leser eine ganz ähnliche psychische Reaktion wie bei den Protagonisten des Romans hervor. Man verliert den Überblick darüber, was sich nun in der (erzählten) Wirklichkeit tatsächlich ereignet oder was den Hirngespinsten der Figuren entspringt.
Im folgenden Kapitel gehe ich noch einmal und in intensiverer Betrachtungsweise auf einzelne Protagonisten des Romans ein. Die sich aus deren eben beispielhaft geschilderten Verhaltensweisen ergebenden Konsequenzen werde ich im zweiten Teil der Arbeit behandeln.
1.2 Die Figuren
1.2.1 Peter Kien
Professor Peter Kien, ein langer hagerer Mensch, ist also Sinologe im Hauptfach.[25] Sein Leben und vor allem seine Bibliothek finanziert er durch ein väterliches Erbe, 600.000 Goldkronen, das aber zu Beginn des Romans bereits so gut wie verbraucht ist.[26]
Er wird mit einem Professorentitel vorgestellt. Obwohl die Mutter des Jungen Franz Metzger, wie aus dem Gespräch Kiens mit diesem hervorgeht, anderer Meinung ist. Das wird dann auch im siebenten Kapitel des ersten Teils bestätigt. Dem brutalen Hausbesorger Benedikt Pfaff, der das Wohnhaus in der Ehrlichstraße von Bettlern „freihält“, indem er sie aus dem Haus prügelt, verdankt Kien den Titel des Professors. Für Kiens Arbeit ist die häusliche Ruhe von größter Bedeutung. Und nachdem er erfahren hat, dass er diese Ruhe dem unermüdlichem Wirken des Hausbesorgers verdankt, lässt er diesem ein monatliches Douceur zukommen, welches die Summe aller anderen Mietparteien zusammengenommen übertrifft. In seiner Dankbarkeit spricht der Hausbesorger von nun an vom „Herren Professor“ und setzt die Verwendung dieses Titels auch bei den übrigen Mietern durch.[27]
Kien liest bereits seit seinem fünften Lebensjahr und ist zu Beginn des Romans vierzig Jahre alt.[28]
Er führt ein streng durchorganisiertes Leben. Nach dem bereits erwähnten Morgenspaziergang setzt er sich an den Schreibtisch und arbeitet bis tief in die Nacht hinein. Unterbrochen wird diese Arbeit lediglich durch die Essenspausen, die er allerdings auch am Schreibtisch sitzend zu sich nimmt. Was er in den Pausen zu essen hat, ist ihm egal. Solchen Sinnesfreuden legt er keinerlei Bedeutung bei. Einen arbeitsfreien Tag gönnt er sich nicht.
Er hatte für einen Ruhetag keine Verwendung. Denn er schwieg und arbeitete immer.[29]
Schon als Kind war er in allen körperlichen Dingen nicht interessiert beziehungsweise ungelenk und wurde, vor allem im Sportunterricht, dadurch zum Gespött der Schüler seiner Klasse. In den anderen Fächern des Schulunterrichts war er durch sein gutes Gedächtnis der Beste.[30] Er sieht sein Gehirn auch als wahre Gottesgabe an, und hat es bereits als Dreißigjähriger, in einem Brief, einem Institut für Hirnforschung vermacht. Aber auch dies nur im Dienste der Wissenschaft.[31] Bereits als Schüler wurde sein Gedächtniszustand von „berühmten“ Psychologen untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass er nach nur einer Minute die Zahl Pi bis auf fünfundsechzig Stellen auswendig konnte.[32]
Ich habe bereits darauf aufmerksam gemacht, dass gewisse Schilderungen, wenn sie aus der Perspektive der Protagonisten vorgenommen werden, einen gewissen Verlust an Deckung mit der Wirklichkeit, wenn auch nur der fiktiven, durchlebt haben. Bei den eben geschilderten Eigenschaften Kiens bleibt es wichtig zu betonen, dass Kien hier über sich selbst spricht.
Festzuhalten bleibt, dass ihm sinnliche Tätigkeiten suspekt sind. Das Wissen, das er von der Welt hat, ist lediglich ein angelesenes Wissen; dafür allerdings von enormen Umfang. Seiner Bibliothek gilt die ganze Aufmerksamkeit. Er glaubt, das gesamte Wissen dieser Bibliothek verinnerlicht zu haben, und eine exakte Kopie der realen Bibliothek im Kopf zu bewahren.[33]
Wenn Kien überhaupt einer positiven Gefühlsregung für fähig gehalten werden kann, dann ist es seine bis zur Selbstaufgabe bereite Liebe zu diesen Büchern. Er trägt bei jedem Morgenspaziergang einige zuvor penibel ausgesuchte Bände in einer Tasche mit sich. Für dieses Verhalten liefert er selbst eine plausible Erklärung:
Bücher, auch schlechte, verlockten ihn leicht zum Kauf. [...] Unter den Besitzern kleinerer Läden gab es oft Frühaufsteher, die sich ab halbacht [die Zeit von Kiens Morgenspaziergang, M.D.] hinter ihren offenen Türen zu schaffen machten. Diesen Versuchungen zum Trotz pochte Kien auf seine wohlgefüllte Tasche. Er hielt sie eng an sich gepreßt, auf eine besondere Art, die er sich ausgedacht hatte, um möglichst viel von seinem Körper mit ihr in Berührung zu bringen. Die Rippen spürten sie durch den dünnen, schlechten Anzug hindurch. Der Oberarm lag in der seitlichen Vertiefung; er paßte genau hinein. Der Unterarm stützte von unten. Die gespreizten Finger verbreiteten sich über alle Flächen, nach denen es sie gelüstete. Seine übertriebene Sorgfalt entschuldigte er vor sich mit dem Wert des Inhalts. Fiel die Tasche zufällig zu Boden, öffnete sich der Verschluß, den er jeden Morgen vor dem Weggehen nachprüfte, doch gerade in diesem gefährlichen Augenblick, so war es um kostbare Werke geschehen. Nichts haßte er mehr als schmutzige Bücher.[34]
Der zitierte Absatz enthält in meinen Augen, neben der geschilderten Gefahr erneuter Buchkäufe, einen weiteren Aspekt. Kien umschließt die Tasche mit den Büchern auf geradezu zärtliche Weise. Er trägt sie so, dass er ein Maximum der Buchflächen durch die Tasche und den dünnen Mantel spüren kann. Kien umhüllt diese Bücher und schützt sie damit. Zugleich schützen diese Bücher auch den Träger. Darauf aufmerksam wurde ich durch einen weiteren Absatz. Wir befinden uns im Text an der Stelle, in welcher Kien den tätlichen Übergriff des fragenden Passanten ausgesetzt ist. Dessen Angriff gilt eigentlich der getragenen Tasche.
Da bekam Kien einen bösen Stoß. Jemand griff nach seiner Tasche und riß daran. Mit einem Ruck, der weit über seine normalen Kräfte ging, befreite er die Bücher aus den fremden Klauen und wandte sich scharf nach rechts.[35]
Dieser zerbrechlich wirkende Körper Kiens setzt sich hier einem Angriff, der seiner Tasche gilt, mit einer Kraft zur Wehr, die seine „normalen Kräfte weit“ übersteigen. Das Bild der von Kien vor dem Bauch getragenen Tasche erinnert an eine Mutter, die ihr Kind vor dem Bauch tragend mit einem über ihrer normalen Kraft liegenden Einsatz vor Tätlichkeiten zu schützen sucht. Am Ende des selben Absatzes befindet sich ein Syllogismus:
Wenn man Bücher bei sich trug, waren Handgreiflichkeiten zu vermeiden. Er trug immer Bücher bei sich.[36]
Der Leser kann an dieser Stelle in formal korrekter Weise den Schluss selbst ziehen:
1. Wenn man Bücher bei sich trägt, sind Handgreiflichkeiten zu vermeiden.
2. Kien trägt immer Bücher bei sich.
So folgt notwendig der Schluss (die Konklusion):
3. Handgreiflichkeiten sind immer zu vermeiden.[37]
Ich halte diesen Aspekt aus folgendem Grund für nicht unwichtig. Wenn Kien davon ausgeht, dass mit dem Tragen der Bücher Handgreiflichkeiten zu vermeiden sind, dann übernehmen die von ihm beschützten Bücher zugleich eine schützende Rolle für ihn. Hier besteht also eine reziproke Relation; Kien beschützt die Bücher, die Bücher beschützen Kien.
Er trägt sie quasi wie eine zweite Haut, hütet sie wie die eigene, und wird zugleich von ihr behütet; ja sie erst ermöglicht ihm analog der biologischen Haut das Leben. Vielleicht lässt sich damit annährend erläutern, in welchem Verhältnis dieser Gelehrte seinen Büchern gegenüber eigentlich steht. Sie werden in diesem Sinne zum Schutz vor der sinnlich erfahrbaren Welt.
Gleichwohl ist sich auch Kien durchaus bewusst, ein natürliches Wesen zu sein. Er verzweifelt ja geradezu bei dem Gedanken möglicherweise zu erblinden.
Kien schwor sich zu, sobald ihn Blindheit bedrohte, freiwillig zu sterben. Immer wenn er einem Blinden begegnete ergriff ihn dieselbe peinliche Angst.[38]
Es sind die Bücher, seine Privatbibliothek, die ihn vor sinnlichen Ablenkungen bewahrt. Wo zuvor Fenster den Blick auf ein Nachbarhaus oder die Straße freigaben, stehen nun Bücher. Damit erfüllen sie einen weiteren wichtigen Aspekt. Sie werden außer zur schützenden Haut zugleich zur Barriere. (Einem eventuellen Drang auf die Geschehnisse der Straße blicken zu wollen, ist damit von vornherein die Möglichkeit entzogen.) Einem sinnlichen „Ausbruch“ des Gelehrten ist damit von vornherein jeglicher Gegenstand entzogen. Das einzige woran er sich dann sinnlich erschöpfen kann, sind und bleiben die Bücher.
Deshalb sucht Kien auf seinen Spaziergängen nicht nur den größtmöglichen Kontakt zu seinen Büchern. Es sind die „fremden“ Bücher, die ihm den eigentlichen Sinneseindruck auf seinen Gängen liefern. Die Buchläden erahnt er, ohne hinsehen zu müssen.
Da er nicht die geringste Lust verspürte, Menschen zu bemerken, hielt er die Augen gesenkt oder hoch über sie erhaben. Wo Buchhandlungen waren, spürte er ohnehin genau. Er durfte sich ruhig seinem Instinkt überlassen. Was Pferde zuwege bringen, wenn sie in ihre Ställe heimtrotten, gelang ihm auch. Er ging ja spazieren, um die Luft fremder Bücher zu atmen, sie reizten ihm zum Widerspruch, sie frischten ihn ein wenig auf.[39]
Kien begrenzt seinen sinnlichen Wahrnehmungsapparat also bewusst und ausschließlich auf die Bücher. Andere Sinneseindrücke blendet er bewusst aus.
Die Bücher werden zur Barriere die Wirklichkeit sinnlich wahrzunehmen. Wenn man dies so sieht, ergibt sich zwangsläufig ein erweiterter Sinn seines Verhaltens dem Jungen, also Franz Metzger, gegenüber. Er zeigt diesem vor dem Buchladen nicht nur die wertvollen Bücher; er zeigt ihm sozusagen die eigene Haut. Canetti:
Denn als solchen, als Büchermenschen, hatte ich ihn vor Augen, so sehr, daß seine Verbindung mit Büchern weit wichtiger war als er selbst.[40]
1.2.2 Therese Krumbholz
Auch die Wirtschafterin von Peter Kien unterwirft sich einer rigiden Selbstbeschränkung. Therese Krumbholz begrenzt ihr Dasein hauptsächlich auf den Raum der Wohnung, die sie zu bewirtschaften hat. Das Verlassenmüssen derselben um etwaige Einkäufe zu machen, empfindet sie als ein notwendiges Übel.[41] Die Welt und speziell die ihr begegnenden Menschen beurteilt sie als durchweg böse. Deshalb wird auch von ihr ein sich Einlassen mit der sinnlich erfahrbaren Welt nicht betrieben.
So wie Kien lebt auch sie, was die Beurteilung ihrer Mitmenschen betrifft, mit einer Fundamentalkritik im Herzen. Auch sie erblickt in jedem Menschen lediglich einen Lügner und Dieb. Der sie an einem gewöhnlichen Leben hindernde Grund ist nun aber eben nicht die Wissenschaft, sondern ein ganz banaler. Therese ist schlichtweg geizig.
Verursacht ist dieser Charakterzug durch die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben machen musste. Schon hierin unterscheidet sie sich wesentlich zu Kien. Bereits mit fünfzehn Jahren musste sie für ihren eigenen Unterhalt sorgen. Dreiunddreißig Jahre arbeitete sie als Wirtschafterin in fremden Haushalten. Dann begann sie ihre Arbeit bei Kien. So eintönig sich das jüngere aber ebenso arbeitsreiche Leben Kiens in der Bibliothek vollzieht, ebenso eintönig ist das Arbeiten und Leben der Therese Krumbholz.
Therese in derselben ausführlichen Weise zu charakterisieren wie zuvor Peter Kien würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Gleichwohl möchte ich auf mir wesentliche Punkte dieser Figur kurz eingehen.
Der Name Krumbholz, den Therese ja durch die Hochzeit dann mit dem Namen Kien tauschen wird, ist in meinen Augen ein Verweis auf den Philosophen Immanuel Kant. Hier sei darauf verwiesen, dass es zahlreiche Bezüge in der Blendung zur Philosophie von Kant gibt.
Ich werde auf weitere Kantbezüge im Verlauf meiner Untersuchung eingehen.
In der religionsphilosophischen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, spricht Kant davon, dass die sinnliche Menschennatur aus krummen Holz geschnitzt ist:
Die erhabene, nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens verkleinert sich sehr unter menschlichen Händen, nämlich zu einer Anstalt, die allenfalls nur die Form desselben rein vorzustellen vermögend, was aber die Mittel betrifft, ein solches Ganze zu errichten, unter Bedingungen der sinnlichen Menschennatur sehr eingeschränkt ist. Wie kann man aber erwarten, daß aus so krummen Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde? [Hrvhbg.v.m., M.D.][42]
Wie zu sehen ist, spricht Kant in diesem Zusammenhang nicht von dem Individuum, dass aus krummen Holz geschnitzt ist, sondern von der Idee eines „ethisch gemeinen Wesens“, das von „menschlichen Händen“ gebildet werden soll.
Diese menschlichen Hände, die in religiöser Hinsicht durchaus eine Gemeinde bilden können, bleiben allerdings sinnlich affizierte Wesen.
Worauf ich hinaus will ist folgendes. Das, salopp ausgedrückt, „Ausgangsmaterial“ ist nicht notwendig das menschliche Wesen, sondern der Wille eines jeden vernünftigen Wesens. Wie beliebig die Bestimmungen des individuellen Willens sind, ist gerade auch an den überspitzt dargestellten Figuren der Blendung zu erkennen. Sind es bei Peter Kien die Bücher, so ist es bei Therese die Hoffnung auf den Besitz von möglichst viel Geld. Der Wille beider Figuren wird durch sinnliche Begierden fremdbestimmt. Er ist in Kants Worten nicht autonom, also „selbstgesetzgebend“ [altgriech.: autos = selbst; nomoi = Gesetz].
Die Fremdbestimmung des Willens ist nun Ausdruck für jedes sinnlich affizierte Wesen. Darin unterscheidet sich der Mensch nicht vom Tier. Und aus dieser sinnlichen Menschennatur, nach Kant also diesem krummen Holz, ist die erhabene Idee eines ethisch gemeinen Wesens nie völlig erreichbar.
Wichtig scheint im Kontext meiner Arbeit zunächst der Verweis auf das krumme Holz und den Namen der Therese Krumbholz. Aber auch den Aspekt, den das menschliche Zusammenleben in einer Gemeinschaft ausmacht, und den sich Kant in einer idealen Weise, also innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, vorstellt, halte ich für durchaus bedeutend im Zusammenhang der Figurenanalyse des Romans.
Ein sinnvolles Zusammenleben dieser Figuren findet im Verlauf der Schilderungen nicht nur nicht statt, sondern entbehrt von vornherein jeglichen Fundaments.
Auf den Mitmenschen wird nur eingegangen, wenn es ein selbstgestecktes Ziel zu erreichen gilt. Nur vereinzelt sind die Protagonisten also in der Lage, auf den Mitmenschen im Alltag einzugehen beziehungsweise sich in dessen Situation zu versetzen.
Dieses unreflektierte Verhalten birgt aber nicht nur die Gefahr, den Mitmenschen bloß als Mittel zur Durchsetzung eigener Zwecke zu nutzen und dadurch zu missbrauchen, was einen weiteren Bezug zur Philosophie Kants darstellt, sondern zugleich die Unmöglichkeit, das eigene Wesen, die eigene Persönlichkeit im Bezug zur Umwelt wahrhaftig erkennen und entwickeln zu können.[43]
Vor diesem Hintergrund scheint mir der zitierte Absatz und weitere Punkte aus Kants Moralphilosophie, auf die ich im Folgenden noch eingehen werde, geradezu prädestiniert, die von Canetti dargestellte Welt nicht nur leidend nachzuvollziehen, sondern gewinnbringend zu interpretieren.
So wie der Name Kien für Canetti die Brennbarkeit und damit das Schicksal des Gelehrten bereits enthält, spricht also auch der Name Krumbholz Bände.[44]
Therese ist als natürliche Menschennatur den sinnlichen Reizen ausgesetzt wie jeder andere Mensch auch. Aber die Aufgabe, aus diesem krummen Ausgangsmaterial durch Geduld und Mühe, letztlich Bildung, etwas halbwegs Gerades „zu zimmern“, wird von ihr weder erreicht noch in Angriff genommen. Sie verliert sich im Feld der Triebfedern und richtet all ihr Handeln allein darauf aus, einen wohlhabenden Mann zu heiraten, und dadurch dem lediglich als mühsam empfundenen Arbeitsalltag zu entkommen. Dies sehe ich darin begründet, dass Therese, obwohl sie einen halbwegs „guten Posten, auf dem sie sich soweit wohl fühlte“ inne hatte, doch die täglichen Zeitungsannoncen des „Tagblatts“ [sic!, M.D.] auf der Suche nach alternativen Stellenangeboten gründlich durchlas, übrigens ihre einzige Lektüre.[45] Und weiter:
Sie dachte nicht daran, ihr Leben bei dieser gewöhnlichen Familie zu beschließen. Sie war noch eine junge Person, keine 48 Jahre alt, und wollte am liebsten zu einem alleinstehenden Herrn.[46]
Die Annonce von Kien machte ihr vor allem aus einem Grund so viel Eindruck, dass sie sich sofort bewarb: ihren enormen Geiz reizt das in Aussicht gestellte Gehalt.
Diesmal stach ihr die Annonce gewaltig in die Augen. Bei >>Gehalt Nebensache<< blieb sie hängen und las die Sätze, die durch gleichmäßig fetten Druck hervorgehoben waren, einige Male von rückwärts nach vorwärts durch. Der Ton imponierte ihr; das war ein Mann.[47]
1.3 Die Hochzeit
Therese wird acht Jahre bei Kien arbeiten müssen, ehe sie ihn soweit verstanden hat, dass sie ihn mit dem Vortäuschen falscher Tatsachen, sie liest ein von ihm geliehenes Buch mit Handschuhen, dazu bringt, sie zu heiraten. Das dies dann allerdings so plötzlich geschieht, ist auch für Therese überraschend. Der Grund für diese Plötzlichkeit liegt in zwei Punkten.
Erstens unterscheidet sich auch Peter Kien in keiner Weise von Therese darin, seine Mitmenschen lediglich als Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen zu missbrauchen.
Am Monolog Kiens, indem er ein gedankliches Zwiegespräch mit dem chinesischen Philosophen Konfuzius führt, ist dieses bereits mehrfach erwähnte und moralisch fragwürdige Verhalten deutlich zu erkennen:
Ich werde ihr die acht verlorenen Jahre ersetzen. Ich werde sie heiraten! Sie ist das beste Mittel, um meine Bibliothek in Ordnung zu halten. Bei einem Brand kann ich mich auf sie verlassen. Hätte ich eine Person nach meinen Plänen konstruiert, sie wäre nicht so zweckmäßig ausgefallen. Sie hat gute Anlagen. Sie ist die geborene Pflegerin. [...] Ihr Herz gehört den Büchern. Was ist einfacher als heiraten.[48]
Die Affinität Kiens zu den Büchern geht soweit, dass er sich mit ihnen identifiziert, sogar in ihnen aufgeht. (siehe Seite 7 und 8)
Der Satz, dass das Herz von Therese den Büchern gehört, impliziert in gewisser Weise also auch, dass sie das liebt, was er liebt. Ob sich Kien ebenfalls als Gegenstand dieser Liebe empfindet, wage ich nicht zu beurteilen. Aber das Kien in diesem Fall einem von Kant formulierten moralischem Gebot zu wider handelt, lässt sich sehr wohl zeigen. Kant spricht im Zusammenhang der Entwicklung des kategorischen Imperativs auch vom Wert eines zur Vernunft fähigen Wesens, also (auch) vom Wert eines jeden Menschen:
Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.[49]
Der Gelehrte Kien, der sich in seinem Wahn einbildet, alle Texte seiner Bibliothek im Kopf zu haben, sollte also die Texte Kants kennen. Denn er fordert den Studenten, dem er den Preis für die Schillerausgabe überreicht, um ihn davon abzubringen die Bücher im Theresianum zu versetzen, dazu auf, statt Schiller doch lieber das Original zu lesen:
Der Student hatte Eile, [...] Er war schon bei der Glastür,[...] als Kien ihm nachrief: >>Warum gerade Schiller? Lesen Sie doch das Original! Lesen Sie Immanuel Kant! <<.[50]
Der Leser kann also berechtigter Weise davon ausgehen, dass Kien die Texte Kants kennt. Das Wissen, das Kien allerdings von diesen Texten hat, bleibt ein rein theoretisches Wissen.
Es ist durch keine selbst gemachte Erfahrung Kiens bestätigt oder widerlegt; es ist für ihn in diesem Sinne inhaltsleer. Begründet liegt dieser Zustand darin, dass es für Kien keine Notwendigkeit gab, sich Menschen gegenüber in irgendeiner teilnehmenden Art und Weise verhalten zu müssen beziehungsweise zu wollen.
Entfallen können ihm die betreffenden Textpassagen Kants auch nicht sein, denn er rühmt sich ja seines enormen Gedächtnisses.
Bezüglich dieser selbst zugeschriebenen Gedächtnisleistung folgendes Zitat:
Er sitze an seinem Schreibtisch und entwerfe Abhandlungen, in denen er bis auf die exaktesten Einzelheiten eingehe, ohne, außer eben in seiner Kopfbibliothek, je nachzuschlagen. Wohl prüfe er später Zitate und Quellenangaben an Hand der realen Literatur genau nach; aber nur aus Gewissenhaftigkeit. Irgendeines Gedächtnisfehlers, der ihm je unterlaufen sei, könne er sich nicht entsinnen.[51]
Was diese von ihm aus dem Gedächtnis zitierten Textstellen angeht, bleibt es wiederum dem Leser überlassen, dieser Aussage zu vertrauen oder aber Kiens Wahn zu zuschreiben.
Aber wesentlich wichtiger erscheint mir in dem genannten Zusammenhang der Punkt, auf den bereits Rudolf Hartung im Gespräch mit Canetti verwiesen hat:
So könnte man beispielsweise >>Die Blendung<< die Tragödie eines Weltlosen Intellektuellen nennen, der von der Welt abgeschieden lebt, innerhalb seiner riesigen Bibliothek, der die Welt eigentlich nicht kennt, außer im Medium der Bücher – ich erinnere mich an den schönen Satz über den Helden dieses Romans: Der Duft der Rosen, >>den er aus persischen Liebesgedichten kannte<<.[52]
Im Original:
Er nahm die Rosen aus Fischerles Hand, entsann sich ihres Wohlgeruchs, den er aus persischen Liebesgedichten kannte, und näherte sie seinen Augen, richtig, sie rochen [Hrvhbg.v.m., M.D.].[53]
Dieses Zitat und das zuvor erwähnte Wissen, dass Kien von den Texten Kants haben muss, verweisen auf die, von Zsuzsa Széll beschriebene, Einseitigkeit in der menschlichen Entwicklung dieses Wissenschaftlers.
In diesem Sinne gestaltet Canetti in Kien den Wissenschaftler, dessen Auffassung über die alleinige Autorität und Unbezwingbarkeit des Geistes sich als Blendung, als falsch erweist. Der – noch so geschulte – Kopf muß in seiner Einseitigkeit vor der Welt versagen.[54]
Diese Einseitigkeit in der Ausbildung menschlicher Seinsweisen trägt zum Misslingen der Subjektentwicklung des Peter Kien bei. Ihm misslingt die von Adorno und Horkheimer beschriebene Verschränkung des Innenlebens des Subjektes mit der Außenwelt; also der Mitmenschen und den Dingen beziehungsweise Sachverhalten, die in der realen Welt vorkommen und diese erst konstituieren:
Zwischen dem wahrhaften Gegenstand und dem unbezweifelbaren Sinnesdatum, zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muß. Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurückläßt: die Einheit des Dinges in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit rückwirkend das Ich, indem es nicht bloß den äußeren sondern auch den von allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische Einheit zu verleihen lernt.
Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt. In einem Prozeß, der geschichtlich erst mit den entfalteten Kräften der menschlichen physiologischen Konstitution sich vollziehen konnte, hat es als einheitliche und zugleich exzentrische Funktion sich entfaltet. Auch als selbstständig objektiviertes ist es freilich nur, was ihm die Objektwelt ist. In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich.[55]
Der Wissenschaftler Kien geht in seine Teildisziplin völlig auf. Die Welt, die nun einmal primär über die Sinne wahrgenommen werden muss, kann durch das sich vor ihr Verschließen Kiens keine Spuren in dessen Bewußtsein hinterlassen. Kien versucht auf diese Weise kein Brückenschlagen über den „klaffenden Abgrund“.
Er kann den Dingen, die sich eigentlich in ihm „spiegeln“ sollten, deshalb nichts zurückgeben. Die Welt in seinem Inneren noch einmal zu entwerfen, dazu ist er nicht in der Lage.
Einem erfahrungsgeleiteten Lernen fehlt dadurch das Fundament. Und aus diesem Grunde wird Kien zum Opfer der Therese und vor allem zum Opfer seines eigenen Lebensentwurfes.
Insofern kann er das moralphilosophische Denken von Kant, als Text, zugleich kennen und trotzdem dagegen verstoßen. Er benutzt Therese nach seinem Interesse und ruft damit zwangsläufig den eigenen Untergang hervor. Denn obwohl Therese ebenfalls keinen so ausgeprägten Zugang zur äußeren Welt und der eigenen Persönlichkeit hat, ist sie im Unterschied zu Kien doch in der Lage, die Verblendung des Geisteswissenschaftlers zu erkennen. Er durchschaut die ihrige nicht.
Der zweite Punkt für den plötzlichen Heiratsantrag Kiens betrifft also Therese selbst und wurde bereits implizit genannt. Ich möchte aber auch auf diesen ausdrücklich verweisen. Therese handelt moralisch fragwürdig, weil sie Kien, um ihre Ziele zu erreichen, täuscht:
Kien verließ die Küche in tiefer Erregung. Zur Heiligen sprach er kein Wort. Sie hörte ihn auf dem Gang draußen murmeln und wusste, woran sie war.[56]
Das ihr Vorhaben allerdings solche Früchte trägt, konnte sie nicht erwarten, ja nicht einmal erhoffen. Noch in dem Moment, in welchem Kien ihr den Heiratsantrag macht und ihre Hand verlangt, denkt sie:
Jetzt kommt die Verführung [...], und begann am ganzen Leibe zu schwitzen. >>Aber nein<<, sagte Kien, er meinte die Hand nicht wörtlich, >>ich will sie heiraten!<< Eine so rasche Entscheidung hatte Therese nicht erwartet. Sie warf den erschütterten Kopf auf die andere Seite herum und entgegnete stolz und gegen das Stottern ankämpfend: >>Ich bin so frei!<<[57]
Therese überschaut das ganze Ausmaß der Verblendung Kiens und natürlich auch der eigenen Verblendung nicht. Aber sie ist zumindest in der Lage, sinnlich gewonnene Daten in ihr eigenes Bezugssystem zu integrieren. Das ihr dabei haarsträubende Fehler unterlaufen, wird an dem Streitgespräch um das imaginäre Erbe zwischen ihr und Kien nur allzu deutlich.[58]
Aber da sie durch ihre haushälterische Arbeit und dem extremen Geiz ein eher weltlicheres und kaum geistiges Leben führt, ist sie Kien bei der Durchsetzung eigener Interessen um einiges überlegen. Und so ist es ihr auch ein Leichtes, im Bereich der Lüge Kien so stark zu beeindrucken, dass dieser das einzige verliert, was er besaß: seinen Kopf.
Aber auch der von Therese durch die Hochzeit erhoffte Gewinn, wird ihr nicht zu Teil. Kien gibt an die Ehefrau nun nicht nur seinen Namen weiter; aus Krumbholz wird eben nicht einfach Therese Kien. Aus dieser Namenkonstellation ist Vorherbestimmt worin diese Vermählung enden wird. Nicht in der Liebe, nicht einmal im gegenseitigen Ausnutzen und Missbrauchen, sondern im flammenden Inferno; Therese liefert das Holz für den Feuerfunken Peters. Zum Brennmaterial werden die Bücher und mit ihnen verbunden und in ihrer Masse aufgehend natürlich der gelehrte Sinologe.
2. Der Titel: Die Blendung
2.1 Namen
Im letzten Kapitel habe ich den Namen der Romanfiguren wesentliche Bedeutungen zugeschrieben. Als Begründung dafür, dass Canetti mit jedem Namen auch Bedeutungen verknüpft, verweise ich auf folgendes Zitat:
Überhaupt war ich von Namen abhängig, es gab Figuren [hier griechischer Götter- und Heldengestalten, M.D.], die ich wegen ihrer Namen allein verabscheute, und andere, die ich für ihren Namen liebte, noch bevor ich ihre Geschichten erfahren hatte: zu diesen gehörten Ajax und Kassandra. Wann diese Abhängigkeit von Namen entstand, vermag ich nicht zu sagen. Sie wurde unbezwinglich bei den Griechen, ihre Götter schieden sich für mich in zwei Gruppen, in die sie durch ihre Namen und seltener nur durch ihren Charakter gerieten.
[...]
Der Konflikt zwischen Namen und Taten wurde zu einer wesentlichen Spannung für mich, und der Zwang, sie in Übereinstimmung zu bringen, hat mich nie losgelassen. Menschen wie Figuren hing ich um ihrer Namen willen an, und Enttäuschung über ihr Verhalten hat mich zu den umständlichsten Bemühungen veranlaßt, sie zu verändern und mit ihren Namen in Einklang zu bringen. Über andere aber mußte ich abstoßende Geschichten aushecken, die ihre abscheulichen Namen rechtfertigen. Ich wüßte nicht, worin ich ungerechter gewesen wäre; für einen dem Gerechtigkeit das war, was er zuhöchst bewunderte, hatte diese durch nichts zu beeinflussende Abhängigkeit von Namen etwas wahrhaft Fatales, sie und sie allein empfinde ich als ein Schicksal. [Hrvhbg.v.m., M.D.][59]
Wie zu sehen ist, geht Canetti in der Sinnstiftung von Namen sogar soweit, dass er die Taten der Namensträger ändert, wenn sie, seinem Empfinden nach, dem Namen zuvor nicht genügend entsprachen. Dieses, von ihm selbst als ungerecht bezeichnete, Vorgehen bewirkt eine Aufwertung der Namen. So verstanden repräsentiert der Name nicht nur eine beliebige Figur, oder anders gesagt, erhält die Figur nicht nur einen beliebigen Namen; Name und Figur werden als unzertrennlich gedacht und empfunden. Ja, sie fallen in ihrer Bedeutung zusammen und zugleich verweist das eine auf das andere. Dadurch gewinnt in meinen Augen der Name einer Figur geradezu Symbolcharakter. Der Name wird zum Symbol der Taten; die Taten zum Symbol des Namens. Und dies nicht nur bei fiktiven Figuren sondern, wie er ausdrücklich anführt, auch für wirklich existierende Menschen.
In diesem Kontext sei auf den Wiener Hausarzt der Familie verwiesen: Dr. Weinstock. Canetti schildert in seiner Erinnerung einen kleinen unermüdlich zwinkernden Mann mit „Affengesicht“, der bei jedem Hausbesuch nicht nur das Gespräch zur Mutter Canettis, sondern sie selbst zu berühren suchte. Diese vom achtjährigen Canetti empfundenen Annährungsversuche des Arztes gehen später in dem Drama Hochzeit in die Figur des fast achtzigjährigen Hausarztes ein.[60]
Das im Drama geschilderte Verhalten des Arztes ist dann allein auf dessen sexuelle Anzüglichkeiten und Handlungen beschränkt. Wie der Sargfabrikant Rosig im mit dem Arzt gemeinsam, aber rivalisierend betriebenen Buhlen um die Apothekersfrau Monika Gall berichtet, „macht“ er seinen Patientinnen nicht nur die Kinder, sondern „kratzt“ sie ihnen anschließend wieder aus.[61] Inwieweit in dieser durch Rivalität entstanden Charakterisierung Übertreibung im Spiel ist, muss jetzt nicht entschieden werden. Aber das sich das Verhalten dieses Arztes allein darauf beschränkt, so vielen Frauen wie nur möglich sexuell nachzustellen, ist im Drama offensichtlich.
Der reale Dr. Weinstock würde den Vergleich zur literarischen Figur natürlich nicht bestehen. Und der Name Weinstock wäre in diesem Zusammenhang nichtssagend. Das geschilderte Verhalten des Arztes in der Hochzeit wird jedoch absolut treffend durch den dann gewählten Namen symbolisiert: Dr. Bock.
Dieses symbolhafte Verständnis der Namen bereitete Canetti später Probleme, seinem Roman einen passenden Titel zu geben. Auch die Betrachtung der Genese dieses Titels zeigt deutlich, wie ernst es Canetti um das symbolhafte Benennen von Gegenständen, Figuren und Menschen war.
Das Manuskript [...] trug den Titel >>Kant fängt Feuer<<. Unter diesem Titel lag es vier Jahre als Manuskript bei mir, und erst als es erscheinen sollte, 1935, gab ich ihm den Titel, den es seither trägt, >>Die Blendung<<.[62]
Canettis dargestelltes Verständnis der Bedeutung von Namen ließ ihn die Namensfolge von Brand zu Kant als zu ungenau erscheinen:
Im Oktober 1931, nach einem Jahr, war der Roman beendet. Brand hatte, wie man nun schon weiß, im Laufe der Arbeit seinen Namen gewechselt, er hieß jetzt Kant. Aber ich hatte Bedenken wegen der Namensgleichheit mit dem Philosophen und wußte, daß es bei diesem Namen nicht bleiben würde. So war auch der Titel, den das Manuskript trug, ein vorläufiger: >>Kant fängt Feuer<<.[63]
1935 erscheint der Roman, außer im Titel und im Namen des Sinologen, unverändert. Kant wurde zu Kien und erhielt etwas von seiner Brennbarkeit in den Namen zurück. Canetti entschließt sich zum endgültigen Titel: Die Blendung.
Aber warum die Blendung?
2.2 Der Ausgangspunkt
Unter den Vorwürfen, die ich in diesem Jahr [1924, M.D.] oft zu hören bekam, gab es einen, der mir zu schaffen machte: dass ich nicht wisse, wie es im Leben zugehe, dass ich verblendet sei, dass ich es gar nicht wissen wolle [sic!, M.D.].
Ich hätte Scheuklappen an und sei entschlossen, nie ohne sie zu sehen. Immer suche ich nach dem, was ich von Büchern her kenne. Sei es, dass ich mich zu sehr auf eine [sic!, M.D.] Art von Büchern beschränkte, sei es dass ich ihnen das Falsche entnähme – jeder Versuch, mit mir über etwas zu sprechen, wie es faktisch vor sich gehe, sei zum Scheitern verurteilt.
>>Du willst alles hochmoralisch haben oder gar nicht. Das Wort Freiheit, das du immer im Munde führst, ist ein Witz. Einen unfreieren Menschen als dich gibt es gar nicht. Es ist dir unmöglich, dich unbefangen [sic!, M.D.] einem Ereignis zu stellen, ohne alle deine Vorurteile davor aufzuwälzen, bis es gar nicht mehr sichtbar ist. Vielleicht wäre das in deinem Alter nicht so schlimm, wenn nicht dieser hartnäckige Widerstand wäre, der Trotz und feste Vorsatz, es dabei zu belassen, ja nie etwas daran zu ändern. Von Entwicklung, von allmählichem Reifen, von Verbesserung und besonders von der Nützlichkeit eines Menschen auch für andere hast du mit all deinen großen Worten keine Ahnung. Das Grundübel ist deine Verblendung. Von Michael Kohlhaas hast du vielleicht auch etwas gelernt. Nur bist du kein interessanter Fall, denn er hat immerhin etwas tun müssen. Was tust du?<<
Es war richtig, dass ich nicht lernen wollte, wie es in der Welt zuging. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich durch Einsicht in etwas zu Missbilligendes daran mitschuldig machen würde. Ich wollte es nicht lernen, wenn lernen bedeutete, dass ich denselben Weg gehen müsse. Es war das nachahmende [sic!, M.D.] Lernen, gegen das ich mich wehrte. Gegen dieses trug ich Scheuklappen, da hatte sie [Canettis Mutter, M.D.] recht. Sobald ich merkte, dass man mir etwas empfahl [sic!, M.D.], bloß weil es in der Welt so üblich sei, bockte ich und schien nicht zu verstehen, was man von mir wollte.
Auf anderen Wegen kam mir aber die Wirklichkeit doch nahe, viel näher, als sie und vielleicht auch ich selber damals ahnten.[64]
In dem zweiten autobiographischen Band Die Fackel im Ohr schildert Canetti die sich anhäufenden Auseinandersetzungen mit der Mutter.
Sie war, nach dem frühen Tod des Vaters, für ihn die erste und bedeutendste Bezugsperson geworden. Elias lernte von der Mutter in nur drei Monaten und unter großem Zwang die vierte Sprache; die Sprache, in der sich seine Eltern zärtlich unterhielten und ihnen Wichtiges besprachen: die deutsche Sprache.[65]
Die Mutter benötigte nach dem Verlust des Ehemanns wieder ein „deutsches Ohr“, vordergründig um sich in kulturellen Fragen ausdrücken zu können. Die Stadt, die für sie im kulturellen Sinn wesentliche Bedeutung hatte, war natürlich Wien. Und bevor die Familie dorthin zog, musste Elias die deutsche Sprache lernen. Außerdem begann die Mutter mit den Leseabenden. Neben Shakespeare in englischer wurde auch Schiller in deutscher Sprache gelesen und anschließend darüber diskutiert.[66]
Auch dadurch entwickelte Canetti eine tiefe Bindung zur Mutter. Diese steigerte sich später sogar in Eifersucht; Elias war jedem fremden Herren gegenüber, der potentieller Nachfolger des Vaters hätte werden können, und ihn selbst aus der einmal eingenommenen Position wieder vertrieben hätte, von vornherein negativ eingestellt. So zum Beispiel dem schwarzbärtigen Arzt und Dozenten der Wiener Universität gegenüber.[67]
Er verteidigte diese liebgewonnene Position entschieden. Wichtig war sie ihm, weil er allein in ihr dem mütterlichen Urteil am Nähesten war.
Im Kapitel Die Auffindung des Bösen / Festung Wien berichtet Canetti von einem Mitschüler, der ihm erklärt, wie die Kinder entstehen.[68] Der Vergleich des Freundes, dass der Mann mit der Frau so verfährt, wie der Hahn mit der Henne, ist nun nicht unbedingt als falsch zu bezeichnen. Gleichwohl ist dem puritanischen Geist der Zeit beziehungsweise der Familie Canettis zu schulden, dass man dies als Ungehörigkeit empfand. Auch Elias betont seine damalige Naivität im Umgang mit allen sexuellen Belangen. Was ihn aber erschüttert, sind nun zwei Punkte: erstens diese „unanständige“ Beschreibung als solche und zweitens, dass der Freund Deutschberger dieses Wissen auch noch von dessen Mutter erfahren haben will. Tief erschüttert schildert er das Gehörte seiner Mutter, und findet Trost in ihrem Urteil:
„Mein Sohn, glaubst du deiner Mutter?“ „Ja! Ja!“ „Es ist nicht wahr. Er lügt. Das hat ihm seine Mutter nie gesagt. Kinder kommen anders, auf eine schöne Weise. Ich werde es dir später sagen. Du willst es jetzt noch gar nicht wissen!“ Ihre Worte nahmen mir auf der Stelle die Lust dazu. Ich wollte es wirklich nicht wissen. Wenn das andere nur eine Lüge war! Nun wußte ich, daß es eine war – und eine schreckliche Lüge dazu, denn er hatte erfunden, was seine Mutter ihm nie gesagt hatte!
Von diesem Augenblick an haßte ich Deutschberger und behandelte ihn wie den Abschaum der Menschheit.[69]
Wie froh und ausschließlich sich der junge Elias dem Urteil der Mutter (Welches zu diesem Zeitpunkt ja selbst nur eine Vermutung sein kann!) hier aussetzt, wird in diesem Kapitel deutlich. Das von der Mutter entwickelte Weltbild wird in diesem Punkt unhinterfragt als richtig bewertet.
Außerdem enthält der zuletzt zitierte Satz einen wichtigen Begriff: den Hass.
Dieses und das vorige Zitat zeigen ein entgegengesetztes Verständnis im Umgang Canettis mit den Urteilen der Mutter. Berücksichtigt man die zehn dazwischenliegenden Jahre der Selbstbeschreibung, so ist das natürlich kein so überraschendes Ergebnis. Aber an diesem Bruch, der zwischen Mutter und Sohn im Verständnis der Welt offen zu Tage tritt, lässt sich ein Punkt sauber herausarbeiten. Die Emanzipation die Canetti im eigenen Urteilen über Sachverhalte in der Welt entwickelt, ist nicht nur im Zusammenhang der Streitpunkte mit der Mutter von Bedeutung; der neunzehnjährige Elias hat zu dieser Zeit ein sittliches Empfinden entwickelt, dass ihm die Wirkung, der ihm in den Urteilen Einzelner entgegentretenden Wirklichkeit, wie ein mit Hass vollzogener Gewaltakt erscheint.
Canetti emanzipiert sich durch die Urteile seiner eigenen Gedankenwelt von den Urteilen anderer Menschen, besonders den Urteilen der Mutter:
Es war richtig, dass ich nicht lernen wollte, wie es in der Welt zuging. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich durch Einsicht in etwas zu Missbilligendes daran mitschuldig machen würde. Ich wollte es nicht lernen, wenn lernen bedeutete, dass ich denselben Weg gehen müsse. Es war das nachahmende Lernen, gegen das ich mich wehrte. Gegen dieses trug ich Scheuklappen, da hatte sie recht. Sobald ich merkte, daß man mir etwas empfahl, bloß weil es in der Welt so üblich sei, bockte ich und schien nicht zu verstehen, was man von mir wollte.[70]
Der Vorwurf seiner Mutter, dass er die Wirklichkeit nicht an seine Person „heranlassen wolle“, ist unbegründet.
Canetti ließ die Wirklichkeit gerade auch in der Frankfurter Zeit, also den Folgen von Inflation und Ohnmacht, sehr wohl an sich heran.[71]
Die Konsequenzen und Urteile, die er daraus zieht, stehen allerdings auf einer reflektierenderen Stufe, als die Urteile der Mutter. Dass es ringsum in diesem Maße Leid zu sehen gab, brachte ihn nicht dazu, beglückt ans eigene Wohlsein zu denken, wie es die Mutter forderte. Dieses nicht akzeptieren wollen, ist gerade die von der Mutter beklagte und ironisierte „hohe“ Moralität, die in der Realität keine Anwendung findet. Dieses so an Idealen orientierte Leben beurteilt die Mutter als wirklichkeitsfremd und deshalb auch als „verblendet“.[72]
Was soll diese Verblendung verursacht haben? Die Mutter:
Ich hätte Scheuklappen an und sei entschlossen, nie ohne sie zu sehen. Immer suche ich nach dem, was ich von Büchern her kenne. Sei es, dass ich mich zu sehr auf eine Art von Büchern beschränkte, sei es dass ich ihnen das Falsche entnähme – jeder Versuch, mit mir über etwas zu sprechen, wie es faktisch vor sich gehe, sei zum Scheitern verurteilt.[73]
Die Bücher und die darin enthaltenen Gedanken sollen ihrer Ansicht nach der Grund für die Verblendung sein. Und die Verblendung selbst bezieht sich auf die von der Mutter gesehene reale Welt, die sich in ihren Augen also von den Darstellungen der Bücher stark unterscheidet. In dieser kann sich demzufolge das moralische Empfinden des Sohnes auf keinen Fall bewähren.
Aus diesem Grunde hält ihm die Mutter vor, dass er sich vor der realen Welt verschließt und nicht lernen will, wie es darin zugeht.
Diese Charakterisierung durch seine Mutter findet im Ohr Canettis, wie eben gezeigt, durchaus Bestätigung.
2.2.1 „Es war das nachahmende Lernen, gegen das ich mich sträubte.“
Nun trat die Wirklichkeit doch an ihn heran; aber auf andere Weise.[74] Und was die Mutter mit dem Begriff der Verblendung bezeichnet, wird Canetti nicht unberührt lassen.
Der enorm ausgeprägte Umgang des jungen Elias mit den verschiedensten Texten unterschiedlichster Kulturen scheint bei ihm in der Tat ein Verständnis geschult zu haben, dass dem geschriebenen Wort und dem mit diesem zum Ausdruck gebrachten Inhalt de facto Realität im engsten Sinne zukommen lässt. Der fiktive Gehalt des Geschilderten erlangt für Canetti in diesem Sinne weniger Bedeutung als der ebenfalls enthaltene „realere“ Kern oder Gedanke.
Die Orientierung an der Wirklichkeit ist also auch bei ihm durchaus gegeben, allerdings ist sein Verständnis dieser Wirklichkeit durch die Aufnahme auch fiktiverer Elemente vielfältiger. Folgerichtig ist der Zugang zur „realen Welt“ durch Märchen, Mythen und Geschichten erweitert. Diese und die in ihnen vorkommenden Figuren und deren unterschiedlichste Vermögen begleiten ihn sein gesamtes Leben. Diese breitangelegte Charaktersammlung gab Elias die Orientierung an unterschiedlichst möglichen Seinsweisen.
Das Lernen durch Erfahrungen wird dadurch natürlich nicht ersetzt; aber es wird bereichert.
Neben dem Lesen der Bücher gab es einen weiteren Zugang zur Wirklichkeit. Den fand der junge Canetti in einigen Gemälden.
In Wien waren dies Kopien von Pieter Breughels (dem Älteren) Bildern. In der Fackel im Ohr bezieht er sich auf zwei Bilder Breughels, Sechs Blinde und Triumph des Todes.
Außerdem verweist er im selben Kapitel auf das in Frankfurt gesehene Gemälde Rembrandts, das den biblischen Stoff der Blendung Simsons aufgreift, mit dem gleichnamigen Titel: Die Blendung Simsons. [75]
Im Kontext meiner Untersuchung sind vor allem die beiden Bilder, die sich mit Blinden, Blindheit und Blendung beschäftigen und diese darstellen, wichtig.
Analog zur Figur des Peter Kien erlitt Canetti tatsächlich „in früher Kindheit“ infolge einer Masererkrankung eine vorübergehende Erblindung.[76]
Diese Darstellungen entsprechen also in gewisser Weise eigener Erfahrung. Was den Vorgang der Blendung betrifft, verweist er auf das Gefühl des Hasses, welchen er im Spiel, das für seine Cousine „einen tödlichen Ausgang hätte nehmen können“, als Fünfjähriger erlebte.[77]
Wenn man die Erläuterungen Canettis zu diesen Bildern berücksichtigt, und sie, wie er es selbst in diesem Kapitel macht (siehe Anm. 75), in den Zusammenhang zu der Auseinandersetzung mit der Mutter setzt, dann erscheint es mir als folgerichtig, den Titel des Romanes auch mit diesen Erfahrungen Canettis zu verbinden.
Das Gespräch mit der Mutter verweist auf eine Grundsituation, wie sie im Roman dargestellt wird. Einerseits die selbstverschuldeten Verblendungen der Figuren, die es ihnen unmöglich machen, einen halbwegs objektiven Blick bezüglich der erfahrbaren Welt zu entwickeln. Und andererseits die gegenseitig vollzogenen Blendungen der Menschen, wenn es um das Erklären der individuell projizierten Realitäten und um die rücksichtslose Durchsetzung persönlicher Interessen in eben dieser Welt geht.
Das sich Einleben in die Welt geschieht hauptsächlich durch „nachahmendes Lernen“. Hierfür wichtig sind nicht so sehr moralische Empfindungen oder ideale Vorstellungen als vielmehr realitätsbezogener Pragmatismus. Eigenständiges Denken und Handeln sind für das sich orientierende Subjekt weniger bedeutend als Beobachten und Imitieren.
Durch erfolgreiches und unhinterfragtes Imitieren geht aber „geistiges Licht“ verloren. Blinde verlassen sich auf Blinde.[78]
Die Konsequenzen für dieses Verhalten sind bereits in den Erzählungen und Mythen der Bibel geschildert. Aber der alleinige Zugang zur Wirklichkeit über Bücher hat in Canettis Vorstellung einen Nachteil. So gewiss ihn die literarischen Figuren und Helden einen geistigen Reichtum in der Anlage seines Charakters bieten, ebenso gewiss bleibt ihm dieser Vorgang, und eigentlich jedem Lesenden, innerlich. Obwohl diese literarischen Inhalte dem geistigen Auge also durchaus Orientierung geben, bleiben sie den tatsächlichen Augen verborgen. Und dies bedeutet erkenntnistheoretisch einen qualitativ erheblichen Unterschied.
Die Erfahrung dieses erkenntnistheoretischen Unterschiedes schildert Canetti so:
Denn ein Weg zur Wirklichkeit geht über Bilder. Ich glaube nicht, daß es einen besseren Weg gibt. Man hält sich an das, was sich nicht verändert, und schöpft damit das immer Veränderliche aus. Bilder sind Netze, was auf ihnen erscheint, ist der haltbare Fang. Manches entschlüpft und manches verfault, doch man versucht es wieder, man trägt die Netze mit sich herum, wirft sie aus, und sie stärken sich an ihren Fängen. Es ist aber wichtig, daß diese Bilder auch außerhalb von Menschen bestehen, in ihm sind selbst sie der Veränderlichkeit unterworfen.[Hrvhbg.v.m., M.D.]
Es muß einen Ort geben, wo er sie unberührt finden kann, nicht er allein, einen Ort, wo jeder, der unsicher wird, sie findet. Wenn er das Abschüssige seiner Erfahrung fühlt, wendet er sich an ein Bild. Da hält die Erfahrung still, da sieht er ihr ins Gesicht. Da beruhigt er sich an der Kenntnis der Wirklichkeit, die seine eigene ist, obwohl sie ihm hier vorgebildet wurde. Scheinbar wäre sie auch ohne ihn da, doch dieser Anschein trügt, das Bild braucht seine [sic!, M.D.] Erfahrung, um zu erwachen.[79]
Analog den Inhalten der Bücher sind also auch Bilder Veränderungen ausgesetzt, wenn sie allein im Inneren des Erfahrungssubjekts präsent sind. Es ist zwangsläufig darauf angewiesen, die innerlich angehäuften Sedimente der Erfahrung, die so zu Bildern über die Wirklichkeit werden, mit tatsächlichen Bildern zu vergleichen. Das bedeutet, dass die inneren Projektionen des Menschen, die er von der Welt entwickelt hat, mit Elementen der äußeren Welt verknüpft werden müssen; um so Bestätigungen oder Irrtümer erfahren zu können.
Gedanken über Sachverhalte in der Welt können nun in Form von Gemälden tatsächlich „vor Augen treten“. Wenn also, nach Canetti, ein Gemälde eine bestimmte Erfahrung zum Ausdruck bringt, die das Subjekt bereits gemacht und abgespeichert hat, dann bekommt es quasi einen zweiten Zugang zur selben Erfahrung und kann im besonders günstigen Falle eine Verschränkung und Rückkopplung des eigenen Weltentwurfs mit der realen Welt erfahren. Dies bedeutet eine Bestätigung der eigenen Identität, des bewussten Persönlichkeitsentwurfes, mit der Seinsweise der äußeren Welt.
2.3 Die Blendung Simsons durch die Philister
Würden mir die Haare geschoren, dann würde meine Kraft mich verlassen; ich würde schwach und wäre wie jeder andere Mensch. Nun merkte Delila, daß er ihr alles offenbart hatte. Sie schickte jemand zu den Philisterfürsten, um sie zu rufen und ihnen sagen zu lassen: Kommt her! Diesmal hat er mir alles offenbart. Die Philisterfürsten kamen zu ihr herauf und brachten das Geld mit. Delila ließ Simson auf ihren Knien einschlafen , [rief einen Mann] [sic!,M.D.] und schnitt dann die sieben Locken auf seinem Kopf ab. So begann sie ihn zu schwächen, und seine Kraft wich von ihm. Dann rief sie: Simson, die Philister kommen! Er erwachte aus seinem Schlaf und dachte: Ich werde auch diesmal wie bisher entkommen und die Fesseln abschütteln. Denn er wußte nicht, daß der Herr ihn verlassen hatte. Da packten ihn die Philister und stachen ihm die Augen aus. Sie führten ihn nach Gaza hinab und fesselten ihn mit Bronzeketten, und er mußte im Gefängnis die Mühle drehen. Doch sein Haar, das man abgeschnitten hatte, fing wieder an zu wachsen.[80]
Zu dem Gemälde Rembrandts liefert Christopher Wright folgende Bildbeschreibung:[81]
In der Frankfurter Blendung Simsons durch die Philister […] gelangt die Simsongeschichte zu ihrem Höhepunkt. Es ist Rembrandts grausamste Komposition und zugleich eines seiner wenigen Werke in großem Format. Nicht nur der Maßstab ist ehrgeizig, sondern das Drama erfüllt auch die Bildfläche bis zum Rand; dies vor allem deshalb, weil Rembrandt hier zwei Phasen der Erzählung in einem Bild zusammengefasst hat, was eher ungewöhnlich ist. Die erste, beherrschende Episode ist der grauenhafte Vorgang, wie die Soldaten Simson die Augen ausstechen. Der zweite Teil der Handlung – weniger brutal, aber nicht weniger aussagekräftig - ist Delilas triumphierende Geste, mit der sie Simsons Haar davonträgt, in dem das Geheimnis seiner Kraft verborgen war. Die Komposition ist gerade chaotisch genug, um als grässliches Ereignis zu überzeugen. Der Betrachter soll es, mit der schreckeneinflößenden Silhouette des Soldaten links, wie eine Theaterszene vor sich sehen.[82]
Diese Bildbeschreibung wirkt plausibel und treffend. Doch stellt man dieser die Beschreibung Canettis gegenüber, wird deutlich, dass darin nicht nur ein Dichter, sondern auch ein sich betroffen Fühlender zum Sprechen kommt. Er stellt die Handlung der Blendung und das Vorgehen Delilas folgendermaßen dar:
Simson liegt da, mit nackter Brust, das Hemd heruntergezogen, den rechten Fuß schräg in die Höhe gestreckt, die Zehen in wahnwitzigem Schmerz verkrampft. Ein Kriegsknecht, in Helm und Panzer über ihn gebeugt, hat ihm das Eisen ins rechte Auge gestoßen, Blut spritzt auf die Stirn, sein Haar ist kurzgeschoren, unter ihm liegt ein Kriegsknecht, der seinen Kopf dem Eisen entgegenhält. Ein anderer Häscher nimmt den linken Teil des Bildes ein. Er steht mit gespreizten Beinen da, auf Simson zugeneigt und hält in beiden Händen die Hellebarde, auf Simsons linkes Auge, das fest geschlossen ist, gerichtet. Die Hellebarde reicht durch das halbe Bild, Drohung der Blendung, die wiederholt werden wird. Zwei Augen hat Simson wie jeder, vom Häscher, der die Hellebarde hält, sieht man nur das eine, Simsons blutverschmiertem Gesicht und der Vollendung des Auftrags zugewandt.
Das volle Licht fällt von außerhalb der Gruppe, in der alles sich ereignet, auf Simson. Es ist nicht möglich wegzusehen, diese Blendung ist noch nicht Blindheit, sie wird [sic!, M.D.] es erst und erwartet weder Rücksicht noch Schonung. Sie will gesehen sein, und wer sie gesehen hat, weiß, was Blendung ist und sieht sie überall. Es gibt ein Augenpaar auf dem Bild, das der Blendung zugewandt bleibt und sie nie preisgibt, die Augen Delilas, die im Triumph enteilt, in einer Hand die Schere, in der anderen Simsons abgeschnittenes Haar. Fürchtet sie ihn, dessen Haar sie hält? Will sie sich vor dem einen Auge , solange er`s noch hat, retten? Sie sieht auf ihn zurück, Haß und mörderische Spannung auf ihrem Gesicht, auf das soviel Licht fällt wie auf das des Geblendeten. Ihr Mund ist halb offen: >>Die Philister über dir, Simson!<< hat er eben gerufen.
Versteht er ihre Sprache? Das Wort Philister versteht er, den Namen ihrer Leute, die er schlug und tötete. Zwischen Verstümmelung und Verstümmelung blickt sie auf ihn, sie wird ihm das verbliebene Auge nicht schenken, sie wird nicht >>Gnade!<< rufen und sich vors Messer werfen, sie wird ihn nicht mit den Haaren, die sie hält, mit seiner alten Kraft bedecken. Worauf blickt sie zurück? Auf das geblendete Auge und auf das, das geblendet werden wird. Sie wartet auf das Eisen, das noch einmal zustößt. Sie ist der Wille, durch den es geschieht. Die Männer im Panzer, der mit der Hellebarde sind ihre Handlanger. Sie hat ihm seine Kraft genommen. Sie hält seine Kraft und haßt und fürchtet ihn noch jetzt und wird ihn hassen, solange sie an diese Blendung denkt, und wird, um ihn zu hassen, immer an sie denken.[83]
Die Frage bleibt: Was bedeutet Blendung im Kontext des Romanes?
Die Erfahrung, die im jungen Canetti angelegt war und durch das Bild bestätigt wurde, beschreibt einen Umgang von Menschen miteinander. Man blendet sich nicht selbst! Der Akt, den das Gemälde darstellt und den Canetti beschreibt, ist ein Gewaltakt; willentlich ausgeführt von anderen Menschen. Der geblendet werden soll, ist der Erleidende. Er wehrt sich nach Kräften, ist aber seiner ursprünglichen Kraft beraubt. Ein Satz wird zum Hauptmotiv des Gemäldes: „Da packten ihn die Philister und stachen ihm die Augen aus.“ In diesem kommt die brachiale Gewalt zum Ausdruck. Hier ist eine Widerrede nicht möglich. Es ist ein unumgängliches und endgültiges Faktum. Die Situation des Simsons wird danach nicht mehr dieselbe sein. Gewiss, sein Haar wird wieder wachsen. Er wird alte Kräfte wiedererlangen. Das Augenlicht aber nicht. In dem Moment, in welchem es darum geht, den Angriff abzuwehren um das Augenlicht zu bewahren, ist Simson seiner Kraft beraubt. Ihm geht es wie jedem gewöhnlichen, sterblichen Menschen. Er könnte sogar getötet werden. Aber die Rache der Philister ist unersättlich. Was Simson ihrem Volk antat, ist mit dem Tod nicht gesühnt. Er soll wieder Sklave werden bei eben dem Volk, dass er so fürchterlich bekämpfte. Zu jener Zeit waren die Juden Sklaven der Philister. Simson als Jude begehrt dagegen auf. Er widersetzte sich also der bestehenden Ordnung und des bestehenden Machtverhältnisses. Jetzt ist er seiner Kraft beraubt; nun lässt sich Rache an ihm vollstrecken für erlebten Ungehorsam. „Denn er wußte nicht, daß der Herr ihn verlassen hatte.“
Gewalt ist also ein Element jeder Blendung. Ein weiteres, und mit der Gewalt eng verbundenes, ist der Hass.
Hass ist der Motor dieser Handlung. Delila verkörpert diesen Hass. Ihr Wirken, wenn man davon absieht, dass Gott Simson verlassen hatte, beraubte ihn der Kraft, die ihm bis dahin Schutz war. Natürlich wird sie für diesen Dienst bezahlt. Aber es sind die Männer ihres Volkes, denen sie dient. An der Seite Simsons bräuchte sie sich keiner Sorgen, auch finanzieller, hingeben. Sie löst dieses Ehebündnis bewusst auf, sie verrät ihren Mann und wendet sich vom verhassten Volk, dem jüdischen, ab.
Aus Furcht vor der Rache des Ehemannes muss dieser nicht nur für den Moment geschwächt werden, er soll schwach bleiben für den Rest seiner Tage. Als Geblendeter ist er angewiesen auf Führung durch Sehende; nicht er selbst kann erkennen, wohin sein Fuß tritt, er muss sich einreihen in den Zug derer, die selbstständig die Umwelt zu erkennen nicht mehr in der Lage sind. In diesem Sinne wirken die mit Blindheit geschlagenen verletzlich und schwach; sie sind jedem fremden Willen schutzlos ausgeliefert. Die Sechs Blinde [n] von Breughel verdeutlichen, deren Hilflosigkeit im Angewiesensein auf fremde Führung.[84] Sie sind nicht mehr in der Lage, selbstständig das Umfeld zu erkunden. Das Paradoxe der Situation ergibt sich aus dem Umstand, dass keiner der Gruppe einen Blick für die Welt hat; keiner ein Wissen vom zu gehenden Weg. Deshalb kommt es zum Sturz.
Doch noch einmal zur Blendung; im Moment der Blendung erfahren Delila und ihr Gefolge die Macht des Stärkeren. Jetzt ist der sonst Unbezwingbare verletzlich, nur im Augenblick ist die Tat durchführbar. Und nur in diesem ist ihnen die Macht gegeben, die Simson zum Opfer machen wird. Aber erst durch die Blendung wird diese umgekehrte Situation, und damit das Machtverhältnis, manifestiert.
Den Vorgang der Blendung verstehe ich deshalb als einen bewusst vollzogenen und im Hass begründeten Gewaltakt am anderen Menschen; mit dem Ziel, diesen seiner Andersartigkeit, seines persönlichen Vermögens, zu berauben.
Durch das gewaltsame Berauben des individuellen Kerns eines Menschen wird dieser uniform. Das Individuum verschwindet indem es auf elementare Bedürfnisse jedes Menschen begrenzt wird. In der Masse dieser „zurechtgestutzten“ Menschen werden keine Andersartigkeiten honoriert. Das Problematische im Zusammenleben, das in der Vielheit unterschiedlichster Seinsweisen liegen kann, verschwindet.[85]
Canetti hat in seinem Opus Magnum Masse und Macht, die verschiedensten Zustände und Erscheinungsformen von Menschenansammlungen untersucht. Die notwendige Voraussetzung, die zur Bildung von Massen führt, erläutert er in den ersten Sätzen des Buches. Es ist das „Umschlagen der Berührungsfurcht“ des Individuums.[86]
Diese Berührungsfurcht unterstreicht im Alltag das individuelle Sein. Vereinzelt erlebt man die anderen Menschen und vereinzelt lebt man unter ihnen. Die verschiedenartigsten Merkmale der Individuen dienen sekundär dem Erkennen des jeweils anderen, primär dem sich Bilden, und in der Folge, dem sich Abheben von den anderen. Diese anstrengende Grundhaltung, denn zur Differenz dienen nicht allein körperliche sondern auch geistige Merkmale, wird in der Masse nicht mehr benötigt. In ihrer größten Dichte spielen körperliche und geistige Differenzen des Einzelnen keine Rolle mehr. Die Existenz des Einzelnen innerhalb der Masse erschöpft sich in dem einigenden Ziel dieser Masse, und diesem allein stellt er sich zur Verfügung; nicht als Individuum sondern als Gleicher unter Gleichen, als undifferente Nummer.
Diese Undifferenziertheit bietet ihm Schutz, und nimmt ihm zugleich die Verantwortung für eventuelle Folgen der dann eben von allen vollzogenen Handlungen. Genau dieser Zustand wird im Kapitel Das Kleine der Blendung beschrieben.[87]
In solchen Massenansammlungen gibt das Individuum die persönlichen Merkmale freiwillig auf. Nicht die Absonderung und Unterscheidung wird gesucht, sondern das Aufgehen in der Masse, das Undifferente: die Gleichheit mit allen, die Uniformität.
Aber diese Situation ist eine Ausnahmesituation. Massen, zumindest offene Massen, fallen ebenso plötzlich, wie sie entstehen, auch wieder auseinander.[88]
Im Zusammenhang der bewusst vollzogenen Blendung des Mitmenschen kann von einer Überwindung der Berührungsfurcht allerdings nicht gesprochen werden. Die betroffene Person vollzieht dies nicht freiwillig, sondern ist, wie erläutert, einer Gewalt ausgeliefert, die über die eigenen Kräfte geht. Durch den Gewaltakt der Blendung wird die Person ihrer charakteristischen Merkmale beraubt. Und Blendungen vollziehen sich täglich und überall.
Canetti:
Sie will gesehen sein, und wer sie gesehen hat, weiß, was Blendung ist und sieht sie überall.[89]
Jetzt schließt sich der Kreis:
Es war richtig, dass ich nicht lernen wollte, wie es in der Welt zuging. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich durch Einsicht in etwas zu Missbilligendes daran mitschuldig machen würde. Ich wollte es nicht lernen, wenn lernen bedeutete, dass ich denselben Weg gehen müsse. Es war das nachahmende Lernen, gegen das ich mich wehrte. Gegen dieses trug ich Scheuklappen, da hatte sie [Canettis Mutter, M.D.] recht. Sobald ich merkte, dass man mir etwas empfahl [sic!, M.D.], bloß weil es in der Welt so üblich sei, bockte ich und schien nicht zu verstehen, was man von mir wollte.[90]
Im unhinterfragt betriebenen nachahmenden Lernen, im Akzeptieren von Urteilen, deren Schlüssigkeit nicht überprüft werden darf, sondern qua Autorität durchgesetzt und anerkannt werden müssen, fügt man dem „Lernenden“ die Gewalt zu, die ihn zum geistig Blinden werden lässt. Wer auf solche Art die Wirklichkeit nahegebracht bekommt, wird des Erklärens abhängig wie der Blinde des Blindenhundes. Sich vor unreflektierten Erklärungen und Meinungen über die Welt zu bewahren, ist ein existentiell betriebener Lebenskampf, der den Menschen im Erfolgsfall stark und unabhängig werden lässt. Diese Stärke äußert sich beispielsweise darin, dass es ihm schwieriger wird, die beschriebene Berührungsfurcht zu überwinden. Vieles muss vom individuell Agierenden hinterfragt werden, dass in der Menschenmasse ungeprüft akzeptiert und rauschhaft vollzogen wird. Verantwortung für individuelles Handeln kann es in der Masse nicht geben. Der Handelnde verschwindet in dieser Masse; und in ihrer größten Dichte kann er am folgenlosesten agieren.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Figur des Dr. Peter Kien in der Lage wäre, sich einer solchen spontan entstehenden offenen Masse anzuschließen.
Die von ihm durch das Lesen erworbene so vielfältige geistige Welt, der „steinige Weg“ zu dieser, wird von ihm nicht als anstrengend erfahren. Seine Wissenschaft empfindet er nicht als Beruf; es ist seine Berufung. Dafür lebt Kien. Er betreibt sie aus einem existentiellen Trieb, und kann gar nicht anders leben. So gesehen, wirkt dieser Lebensentwurf zunächst plausibel und akzeptabel. Széll verweist auf das Problematische daran:
Der ganze übrige Mensch, das Meiste woraus er besteht, ist einfach nicht mehr da.[91]
In diesem so vereinzelt geführten Leben liegt die Tragik, dass Kien diese Berufung aus Selbstzweck betreibt; er lebt allein für sie. Das bedeutet, dass ihm nichts bleibt, wenn er die zum Fetisch erhobenen Bücher nicht mehr um sich weiß.
Der Pfad, auf dem er als gebildeter Mensch schreiten könnte, ist von ihm überschritten und in den eigenen Wahn gekippt: seine Verblendung. Und für diese trägt er, und er allein, die Verantwortung.
2.4 Die Verblendung
In der Einseitigkeit der Entwicklung Kiens liegt der Funke seines Untergangs. Seine Verblendung ist, wie jede Verblendung, eigenverschuldet und unterscheidet sich demnach vom Vorgang der Blendung.
Worin liegt nun das charakteristische der Verblendung? Noch einmal Horkheimer/Adorno:
Zwischen dem wahrhaften Gegenstand und dem unbezweifelbaren Sinnesdatum, zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muß. [...]
In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich.[92]
Die Person, die ihre Aufmerksamkeit bewusst einschränkt, die also die Verschränkung zwischen innen und außen aktiv unterbricht, wird zum „Geisteskranken“.[93]
Günter Schenk:
Canetti zeigt mit aller Schärfe, wie die Isolation des Individuums zur Selbstvernichtung des Ichs, d.h. der Persönlichkeit, führt und darüber hinaus zur Perspektivlosigkeit menschlichen Daseins überhaupt.
Des weiteren kam man zu der Erkenntnis, daß die Unfähigkeit zur Kommunikation nicht nur zur Ich-Vernichtung führt, sondern auch zur Vernichtung des Mitmenschen, weil das isolierte Ich dazu gezwungen ist, >>sich irgendwie zu behaupten, greift es zu Mitteln, die von keinerlei Grundgesetzen menschlichen Zusammenlebens Kenntnis nehmen.<<[94]
Ob dieser Vorgang bewusst oder unbewusst vollzogen wird, ist uninteressant; er ist und bleibt selbstverschuldet. Wie reagierte Canetti auf diese Erkenntnis?
Eines Tages kam mir der Gedanke, daß die Welt nicht mehr so darzustellen war wie in früheren Romanen, sozusagen vom Standpunkt eines [sic.!, M.D.] Schriftstellers aus, die Welt war zerfallen [sic.!, M.D.], und nur wenn man den Mut hatte, sie in ihrer Zerfallenheit zu zeigen, war es noch möglich, eine wahrhafte Vorstellung von ihr zu geben. Das bedeutet aber nicht, daß man sich an ein chaotisches Buch zu machen hätte, in dem nichts mehr zu verstehen war, im Gegenteil, man mußte mit strengster Konsequenz extreme Individuen erfinden, so wie die, aus denen die Welt ja auch bestand, und diese auf die Spitze getriebenen Individuen in ihrer Geschiedenheit nebeneinander darstellen. Ich faßte jenen Plan einer Comédie Humaine an Irren und entwarf acht Romane, um je eine Figur am Rande des Irrsinns angelegt, und jede dieser Figuren war bis in ihre Sprache, bis in ihre geheimsten Gedanken hinein von allen verschieden. Was sie erlebte, war so, daß keine andere dasselbe hätte erleben können. Nichts durfte austauschbar sein, und nichts durfte sich vermischen. Ich sagte mir, daß ich acht Scheinwerfer baue, mit denen ich die Welt von außen ableuchte. Ein Jahr lang schrieb ich an diesen acht Figuren durcheinander, je nachdem, welche mich im Augenblick am meisten reizte. Es gab einen religiösen Fanatiker darunter; einen technischen Phantasten, der nur in Weltraumplänen lebte; einen Sammler; einen von der Wahrheit Besessenen; auch einen Verschwender; einen Feind des Todes und schließlich einen reinen Büchermenschen.[95]
Mit dem Vorhaben, diese verschiedenen Charaktere in einzelnen Büchern zu beschreiben, und dies dann als Comédie humaine an Irren zu bezeichnen, schließt Canetti an die Tradition Honoré de Balzacs und letztlich Dante Alighieris an. Der Dichter steht außerhalb der Welt und leuchtet diese mit den von ihm isoliert dargestellten Figuren quasi als „Scheinwerfer“ aus.
Mit La Comédie humaine, (frz.: Die menschliche Komödie) betitelte Balzac sein gesamtes Romanwerk. Er wollte die Romane und Erzählungen zu einem zusammenhängenden Komplex verbinden:
[...] am Beispiel der französischen Gesellschaft seiner Zeit, d. h. der ersten Hälfte des 19. Jh.s., wollte er ein großangelegtes, repräsentatives Bild der menschlichen Gesellschaft vorführen. [...]
Neben der Einwirkung des Milieus auf die Menschen thematisiert die Comédie humaine jene andere von Balzac als zeittypisch angesehene Triebkraft: den individualistischen Drang nach Bereicherung und sozialem Aufstieg.
Zeitgebunden ist auch Balzacs Theorie von der >>fixen Idee<<.
Sie manifestiert sich in einer ganzen Reihe von Charakteren, die als Verkörperungen irgendeiner Besessenheit dargestellt werden. Zwar liegen diese Charaktere oft jenseits der Grenzen des Wahrscheinlichen, aber gerade als isolierte Personen von absoluter Homogenität, als konzentrierte Fiktionen, gehören sie zu Balzacs faszinierendsten Geschöpfen . [96]
Die „fixe Idee“ Balzacs ist der „Verblendung“ Canettis vergleichbar. Beides führt zu einem unhinterfragten Lebensentwurf des Individuums.
In ihren Verblendungen entwickeln die Menschen einen nicht nur partiellen Blick auf die Welt, sie entfernen sich außerdem generell aus der menschlichen Gemeinschaft. Das gesamte Leben wird nur einem Ziel, einer Idee, untergeordnet. Die Folge beschreibt Széll:
[Kiens] Waffenstrecken auf jedem außerberuflichen Gebiet wird zur Wehrlosigkeit, zum Ausgeliefertsein selbst einer Therese gegenüber.[97]
Deshalb verstehe ich das verblendete Individuum als eines, dessen Lebensentwurf wenig Rücksicht auf die „objektivere“ Welt um sich herum nimmt. Den Begriff des Objektiven in diesen Kontext zu setzen ist zugestandenermaßen problematisch; wie weit sich die Erfahrungen der einzelnen Menschen überhaupt auf einem breiteren Feld darstellen und von anderen Menschen dann wahrnehmen und nachvollziehen lassen, ist eine weitere grundlegende Frage.
Wenn man aber die positive Forderung nach einer von allen zugänglichen Objektivität dahingehend abschwächt, dass man in der negativen Formulierung auf die Komponenten verweist, welche die Realität dieser Objektivität unmöglich machen; dann befindet man sich auf der Ebene, auf welcher beispielsweise die fixen Ideen oder Verblendungen des einzelnen Menschen untersucht werden müssen, um das Scheitern hinsichtlich einer von allen gebildeten Gemeinschaft erklären zu können.
Széll spricht im Zusammenhang der Verblendung von der Einseitigkeit der Ich-Entfaltung jedes Menschen.[98] Diese Einseitigkeit wird durch das Spezialistentum, das sich in modernen Staaten zwangsläufig entwickelt, bedingt. In diesem Prozess kommt es zur Isolation des Individuums, die, wie Schenk sagt, zur Selbstvernichtung der Persönlichkeit führt.
Erfahren und Entwickeln lässt sich diese Persönlichkeit nur im sprachlichen Austausch der Menschen. Die von Schenk erwähnte Unmöglichkeit zur Kommunikation ist nun aber nicht die Ursache für das Auseinandertriften der Menschen in ihre jeweiligen Verblendungen, sondern die Folge. Széll verweist auf die Notwendigkeit von Kommunikation gerade weil die Menschen in die jeweiligen Teildisziplinen aufgehen:
Gerade das erreichte Niveau der Spezialisierung benötigt den Dialog.[99]
2.4.1 Die Konsequenzen
Sprachverwirrung ist die Folge, nicht die Ursache für das Entfremden der Menschen von einander. Die unhinterfragt als objektiv gesetzten Erfahrungen der eigenen Wahrnehmung und das Ausprägen von Spezialistentum bewirken einen immer größer werdenden Abstand zu den vielfältigen Erfahrungen anderer Menschen. Das Resultat für das Individuum ist ein Nichtverstehen von Realität, die ja hauptsächlich gesellschaftlich fabrizierte Realität ist. In diesem Sinne spricht Canetti von Privatmythen der einzelnen Individuen, und im Roman begrenzt er die Figuren folgerichtig allein auf diese.[100]
Die Welt, die dem Leser der Blendung im ersten Teil des Romans geschildert wird, ist die Welt des Peter Kiens; deshalb die Teilüberschrift Ein Kopf ohne Welt.
Dargestellt wird zunächst das Verständnis, das dieser Gelehrte von der Welt hat. Und diesem Verständnis fehlt die Rückkopplung zur Welt; es ist weltlos, es ist verblendet.
Ebenfalls im ersten Teil wird Kien im Traum, in welchem es vorweg zur Bücherverbrennung kommt, die bevorstehende Blendung prophezeit.[101] Von da an prallen die Wahnsysteme von Kien und Therese gnadenlos aufeinander.
Seine Odyssee wird hauptsächlich im zweiten Teil, Kopflose Welt, beschrieben und macht das Chaos deutlich, in dem sich die Menschen tagtäglich zurecht finden müssen.
In dieser chaotischen Welt kann Kien nicht bestehen, seine Verblendung erleidet in ihr Schiffbruch; er geht mit ihr und durch sie beim Erleben der Welt zugrunde.
Der dritte Teil, Welt im Kopf, zeigt dem Leser, wie der aufgrund seiner Verblendung gescheiterte Kien nicht mehr in der Lage ist, sich in diese zurückzuflüchten; den Weg zur Realität kann er aber ebenfalls nicht mehr beschreiten. Die äußere Welt erweist sich für ihn als nicht erkennbar.
Die Welt in seinem Kopf dagegen ist noch die seiner Verblendung; da sie sich im Laufe der Odyssee aber nicht bewähren konnte, und er zwangsläufig seine Realitätsverschiebung erkennen und deren Folgen erleiden musste, bleibt ihm nichts mehr. Er tauscht letztlich sogar die philologische Wissenschaft mit der praktischen „Arbeit“ am Guckloch des Benedikt Pfaffs.[102]
Was im Laufe des Romangeschehens gezeigt wird, ist die gewaltsam vollzogene Blendung des Sinologen. Gewalt wird ihm angetan von Therese und Pfaff, in diebisch geschickter Manier auch von Fischerle. Der Hausbesorger und Therese können aufgrund ihrer körperlichen Überlegenheit mit ihm verfahren wie sie wollen, Fischerle dagegen muss als stadtbekannter Dieb und „Krüppel“ den Weg des Schmeichelns und Lügens wählen. Das Resultat bleibt dasselbe: Kien wird zum Opfer seines Umfelds, das mit ihm nach Belieben verfährt. Seiner individuellen Verblendung beraubt, muss er sich so dieser Welt gegenüber als schutz- und machtlos erfahren. Sein Persönlichkeitsentwurf scheitert und wird vernichtet.
Am Ende sieht er die Bücher im Theresianum brennen; brennen sie tatsächlich?
Da hörte er die wilden Rufe; es waren schreiende Bücher. [...] das Theresianum brannte.[103]
Jetzt vollzieht sich im Geblendeten der Wunsch nach Scheingemeinschaft; das einzige ihm verbliebene Gefühl ist die Nähe zu den Büchern. (siehe S. 2, Anm. 7) Das Theresianum, man beachte den Bezug zu Therese, ist der Ort, an welchem die Bücher versteigert werden; wenn man so will, agieren Therese und Theresianum in analoger Weise: beide „verleiben“ sich die Bücher ein. Therese wird zur Zustellerin, die für die gelieferten Bücher mit dem ihr so wichtigen Geld entlohnt wird. Das Theresianum wird zum Schlund, der sich die Bücher einverleibt. Vor diesem Schicksal versuchte Kien die Bücher ja vergeblich zu bewahren.[104]
Nun hört er die dorthin verbannten Bücher in den Flammen schreiend zugrunde gehen. Das Traummotiv erfüllt sich. Er muss zu ihnen ins Feuer. Im gleichmachenden Feuer der brennenden Bücher gelingt ihm dies.
[...] denn was er während seines ganzen Lebens wollte, war die Einheit mit seinen Büchern.[105]
Was dem Sinologen im Umgang mit den alten Sprachen als selbstverständlich scheint, lässt er seinen Mitmenschen in keiner Weise zukommen: Aufmerksamkeit.
Dieser Mangel an Aufmerksamkeit ist auch Therese und Pfaff eigen. Deshalb ist es auch ihnen, die sich Kien gegenüber im Vorteil fühlen, letztlich nicht vergönnt, die realen Prozesse im Verlauf des Geschehens zu erkennen und sinnvoll zu interpretieren. Erfolgreiche Kommunikation findet bei diesen Figuren ebenfalls nicht statt; auch sie werden zu Opfern ihrer eigenen Wahnvorstellungen. Zu persönlicher Entwicklung kann es so nicht kommen, wohl aber zu Ich-Erstarrung und Realitätsverlust.
Fischerle wirkt in diesem Zusammenhang erstaunlich überlegen. Auf den ersten Blick eine recht groteske Erscheinung ist er gleichwohl in der Lage, sich in dieser chaotischen Welt zurechtzufinden. Um Kiens Verblendung zu erkennen, benötigt er, im Gegensatz zu Therese, keine acht Jahre. Da ihm aber aufgrund seiner Verwachsenheit die Gewalt eines Pfaffs nicht zur Verfügung steht, und ihm zum anderen eine polizeiliche Fahndung leicht ausfindig machen könnte, muss er zur Täuschung des Sinologen greifen und wohl oder übel auf dessen „Spiel“ eingehen. Fischerle erscheint auf diese Weise als die cleverste Figur im Geschehen; er allein ist in der Lage Situationen richtig einzuschätzen und in gefordertem Maße zu handeln. Dies erklärt sich aus seiner Position der Schwäche heraus; nur in der Verwandlung der eigenen Person gelingt ihm das Realisieren selbstgesteckter Ziele.[106]
Diese Wandlungsfähigkeit wird zur Beliebigkeit im Rollenspiel. Einmal abgelegte Rollen werden für ihn bedeutungslos. So kann er die Gefahr nicht erkennen, in die er sich bei seinem letzten Streich begibt. Der einen Blinden imitierende Knopfhans spricht über die Rache, die er am Zwergen vollziehen will. Fischerle wird nicht bewusst, dass er derjenige ist, über den hier gesprochen wird. Er sieht sich als Schachweltmeister, neu eingekleidet, mit neuem Pass versehen und hat mit dem „Arbeitgeber“ Fischerle, der sich im Abgang mit dem Knopfhans noch einen derben Scherz erlaubte, nichts mehr gemein.[107]
Deshalb beachtet er das Gespräch zwischen dem Knopfhans und der Pensionistin nicht und kann nicht beurteilen, wie leichsinnig er sich in diese für ihn tödlich endende Situation begeben hat.[108]
Der Erstarrung der eigenen Persönlichkeit, die durch das „Pflegen“ eines Privatmythos beziehungsweise einer Verblendung verursacht wird, setzt er also die Wandlungsfähigkeit der eigenen Person entgegen und agiert in der Realität, die von ihm dadurch zwangsläufig erkannt werden muss, bis zum bösen Ende, erfolgreicher.[109]
Mit dieser Art zu leben nimmt Fischerle außerdem eine Mittelposition zwischen Peter und dessen Bruder Georg Kien ein. Der absoluten Treue im Selbstentwurf Peters, der in Fischerle so den Lügner nicht erkennen kann (siehe S.1), setzt Georg eine fast ebenso maßlos betriebene Selbstvergessenheit entgegen.
Als Direktor und leitender Psychiater einer Irrenanstalt in Paris sammelt er die Persönlich-keitsentwürfe seiner Patienten und nimmt diese in sich auf.[110]
Alles, was Georg tat, spielte in fremden Menschen.[111]
Und:
[...]Eine spazierende Wachstafel war er, in die Worte und Gesten sich eindrückten.[112]
Georgs Aufmerksamkeit richtet sich gänzlich auf die anderen Selbstentwürfe; in ihrer Masse möchte er aufgehen und das als Zumutung empfundene Streben nach Selbstverwirklichung ablegen. Bildung bezeichnet er als Festungsgürtel des Individuums gegen die Masse in ihm selbst. In den Verrücktheiten der Patienten erblickt er das eine und allen gemeinsame Streben der Gesamtheit: den einenden Charakter der Masse der Menschen; das „Individuelle“ der Menschheit.[113] Diesem opfert er bereitwillig die Arbeit am eigenen Selbst:
[...] jetzt lag ihm nur daran, sich unaufhörlich zu verlieren.[114]
Peter Kien und Therese können auf ihr Umfeld nicht oder nur höchst begrenzt eingehen; was sich Kien zur Maxime macht, kann auch für Therese gelten: die Starrheit im eigenen Wesen. Fischerle erscheint im Vergleich dazu wie ein Chamäleon. Er passt sich den Erfordernissen seines Umfeldes an, und ist dadurch in der Lage sich in diesem durchzusetzen. Wo Kiens Starrheit an der Realität zerbricht, kann Fischerles Geschmeidigkeit erfolgreich agieren.
Kiens Ego ist durch die gewählte Starrheit im Charakter ausgeprägt und gefestigt. Fischerles Ego kann sich durch die Geschmeidigkeit beziehungsweise Wandelbarkeit nur schwer behaupten. Eine Identität mit sich selbst ist ihm so über den Lauf der Zeit nicht gegeben. Er agiert von Augenblick zu Augenblick wie es ihm die Erfordernisse der Situationen zu gebieten scheinen. Von Identität mit sich selbst kann also nur bedingt gesprochen werden.
Ausgedrückt wird dies in der äußeren Verwandlung durch neue Kleider und in seiner gewandelten Sprache.
Läuft der Prozess des Identitätsverlusts bei Fischerle eher unbewusst ab, so betreibt Georg Kien diesen bewusst. Die Frage nach Festigkeit oder Wandelbarkeit im Charakter stellt sich für Georg nicht. Er wendet sich von dieser bewusst ab. So übernehmen die Patienten seiner Psychiatrie die Rolle der Bücher bei Georg. Wie es Peter letztlich zur Masse seiner Bücher treibt, ebenso treibt es Georg zu „seinen Irren“. Nur in den Phantasien seiner Patienten findet Georg Gefallen am eigenen Leben. Er behütet sie und erfreut sich an ihnen wie Peter an den Büchern. Über jeden „Geheilten“ und damit verlorenen Insassen seiner Psychiatrie und folglich seines Bewusstseins macht er sich tiefe Vorwürfe.
Resümee
Peter Kien stellt eine extreme Überspitzung des verblendeten Individuums dar; letztlich des modernen Menschen. In seiner Teildisziplin aufgehend, entfremdet er sich von den ihn umgebenden Menschen. Seine Sprachkompetenz macht ihn sicher im Beurteilen alter Schriften; aber für einen sinnvollen Umgang mit seiner Haushälterin reicht sie nicht.
Seine Schutz- und Machtlosigkeit dieser Welt gegenüber und damit einhergehend die Unfähigkeit sich in ihr zurecht zu finden, lässt ihn vor der Wirklichkeit kapitulieren. Dies ist der eigentliche „Erkenntnisgewinn“ seiner schmerzreichen Odyssee. Nur kann er mit dieser neuen und schmerzlich gemachten Erkenntnis nicht umgehen; seiner Verblendung gewaltsam beraubt, wird er zum endgültig Geblendeten.
Am Ende des Romanes ist der erste Sinologe seiner Zeit der fürsorglichen Hand des Bruders so bedürftig wie der Blinde des Blindenführers. Peters Lebens- und Persönlichkeitsentwurf ist gescheitert.
Die Konstitution einer sozialen Gemeinschaft scheint mit den Protagonisten der Blendung ausgeschlossen. Fixiert auf die eigenen Bedürfnisse kommt es zu keiner Teilnahme am Schicksal des anderen Menschen. Paradoxerweise führt gerade dieses Verhalten zur Ich-Vernichtung. Es kommt zu keiner Verschränkung mit der Welt; deshalb wird diese als bedrohlich und nicht erkennbar erfahren. Die Orientierungslosigkeit in der Welt wächst mit zunehmendem Rückzug des Individuums aus dieser Welt beziehungsweise der Gesellschaft. Dieses Verhalten unterliegt aber nur in der Folge dem geschilderten Automatismus. Verursacht wird die Orientierungslosigkeit durch die persönliche Entscheidung, dem Umfeld keine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Nur im ständigen kommunikativen Austausch erfährt das Subjekt das eigene Ich sowohl vom inneren Entwurf als auch der äußeren Wirkung. Erst dann kann es erfolgreich in der Gemeinschaft agieren. Und nur auf diese Weise haben die Urteile des Individuums über die Welt und das eigene Ich zumindest eine minimale Aussicht auf Wahrhaftigkeit und Objektivität. Dieser Prozess ist nicht zu einem Ende zubringen. Wird er vom Menschen vernachlässigt, erstarrt das Ich und es kommt zur Verblendung. Die Gefahr der Blendung folgt auf den Fuß. In immer subjektiveren Urteilen über die Welt stoßen die Privatmythen der Menschen aufeinander und es kommt zum Gewaltakt: der Blendung. Die dann entstehende „Gemeinschaft“ ist zu betrachten auf Breughels Bild Die sechs Blinden (Vgl. Abb. 2). Blinde im Urteil über den zu gehenden Weg verlassen sich auf Blinde.
Wohin dieser Mangel an Aufmerksamkeit, diese Blindheit gegenüber der Gesamtsituation des einzelnen Menschen, führen kann, haben die Ereignisse im vergangenen 20. Jahrhundert wiederholt gezeigt. Wie intuitiv richtig Canetti dies bereits durch persönliche Erfahrung, durch intensive Lektüre und nicht zuletzt durch das Bemerken der entsprechenden Bilder beurteilt hat, ist bemerkenswert und zeigt im Gegensatz zum Roman Die Blendung, wie weltoffen und an Menschen interessiert ein bewusst so angelegtes Leben sein kann, und wie der Gefahr einer solchen Entwicklung zu begegnen ist: in der Ich-Erweiterung.
An dieser grundlegenden Situation des modernen Menschen hat sich seit dem Erscheinen des Romans insofern nichts geändert, als das die Gefahr von Ich-Verengung, der Abkehr von der sozialen Gemeinschaft und in deren Folge die Möglichkeit von Sprachverwirrung des einzelnen Menschen nach wie vor besteht.
Abb.1:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
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Canetti, Elias. Masse und Macht. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003. 28. Aufl.
Canetti, Elias. Die Blendung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003. 35. Aufl.
Canetti, Elias. Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. Berlin: Verlag Volk und Welt 1983. 2. Aufl.
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2. Sekundärliteratur:
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Horkheimer, Max/ W. Adorno, Theodor. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003.
Kant, Immanuel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten. Drittes Stück IV. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Verlag v. Georg Reimer 1914. Band VI.
Kant, Immanuel. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1999.
Riedner, Nicola. Canettis Fischerle: eine Figur zwischen Masse, Macht und Blendung. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994.
Széll, Zsuzsa. Ichverlust und Scheingemeinschaft. Gesellschaftsbild in den Romanen von Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti und George Saiko. Budapest: Akadémiai Kiado 1979.
Schenk, Günter. Das Menschenbild des Neopositivismus. In: Der Mensch. Neue Wortmeldungen zu einem alten Thema. Hrsg. v. Dieter Bergner. Berlin: Dietz Verlag 1982. S. 271-323.
Wright, Christopher. Rembrandt.[Aus dem Engl. von Annemarie Seling]. München: Hirmer Verlag 2000.
3. Nachschlagewerke:
Der Literatur-Brockhaus: in acht Bänden. Hrsg. v. Werner Habicht, Wolf-Dieter Lange und der Brockhaus-Redaktion. Mannheim, Leipzig, Wien: Zürich BI-Taschenbuchverlag 1995. Bd. 6.
Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. v. Jürgen Mittelstraß. Stuttgart/Weimar: Metzler 2004. Bnd. 4.
Kindlers neues Literaturlexikon. Hrsg. V. Walter Jens. München: Kindler Verlag GmbH 1998. Bd. 2. S. 127f.
4. Abbildungsverzeichnis:
Abb. 1: Die Blendung Simsons durch die Philister. Frankfurt am Main, Städelsches Kunstinstitut. In: Die Rembrandt-Bibel. Hrsg. von Hidde Hoekstra. [übertragen ins Dt. von Betty Hausmann]. Neuhausen-Stuttgart: Hänsler Verlag 1984. Bd. 5. Von Mose bis zu der Zeit der Könige und Propheten.
Abb. 2: Das Gleichnis von den Blinden. Neapel, Museo Nazionale. In: Die Gemälde Peter Bruegels des Älteren. Wien: Verlag Anton Schroll & Co. 1941. Tafel 79.
[...]
[1] Canetti, Elias. Die Blendung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003. 35. Aufl. S. 7 f.
[2] Széll, Zsuzsa. Ichverlust und Scheingemeinschaft. Gesellschaftsbild in den Romanen von Franz Kafka, Robert Musil, Hermann Broch, Elias Canetti und George Saiko. Budapest: Akadémiai Kiado 1979., S. 25.
[3] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 8.
[4] Ebd. S. 13.
[5] Ebd. S. 13.
[6] Ebd. S. 14.
[7] Hartung, Rudolf: Gespräch mit Elias Canetti. In: Rudolf Hartung. Elias Canetti. Ein Rezipient und sein Autor; eine Dokumentation. Hg. v. Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 1992. S. 89-105. S. 100.
[8] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 21f.
[9] Ebd. S. 15f.
[10] Hartung, Rudolf: Die Lebensfeindschaft eines Geistes. Zur Neuauflage von Elias Canettis Roman <<Die Blendung>>. In: Rudolf Hartung. Elias Canetti. Ein Rezipient und sein Autor; eine Dokumentation. Hg. v. Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 1992. S. 38-44. S. 41.
[11] Der Literatur-Brockhaus: in acht Bänden. Hrsg. v. Werner Habicht, Wolf-Dieter Lange und der Brockhaus-Redaktion. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich BI-Taschenbuchverlag 1995. Bd. 6, S.112.
[12] Hartung, Rudolf: Die Lebensfeindschaft eines Geistes. Vgl. Anm. 10, S. 41.
[13] Ebd.
[14] Riedner, Nicola. Canettis Fischerle: eine Figur zwischen Masse, Macht und Blendung. Würzburg: Königshausen und Neumann 1994. S. 30.
[15] Hartung, Rudolf: Gespräch mit Elias Canetti. Vgl. Anm. 7, S. 99.
[16] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 15.
[17] Ebd. S. 19.
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd. S. 13.
[22] Ebd. S. 15.
[23] Ebd.
[24] Ebd. S. 18.
[25] Ebd. S. 8.
[26] Ebd. S. 144.
[27] Ebd. S. 89.
[28] Ebd. S. 45.
[29] Ebd. S. 35.
[30] Ebd. S. 118/119.
[31] Ebd. S. 18.
[32] Ebd. S. 228.
[33] Ebd. S. 18.
[34] Ebd. S. 9.
[35] Ebd. S. 15.
[36] Ebd.
[37] Es handelt sich hierbei um einen hypothetischen Syllogismus folgender Form:
p ➔ q
p_____
q
Diese Schlussregel wird kurz modus ponens genannt. [eigentlich: modus ponendo ponens (lat. modus, Art, Weise; ponere, setzen, legen)].
In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hrsg. v. Jürgen Mittelstraß. Stuttgart/Weimar: Metzler 2004. Bnd. 4; S. 154f.
[38] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 20.
[39] Ebd. S. 14.
[40] Canetti, Elias. Das erste Buch: Die Blendung. In: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1981. S. 241-253. S. 241.
[41] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 34.
[42] Kant, Immanuel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Metaphysik der Sitten. Drittes Stück IV. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Verlag v. Georg Reimer 1914. Band VI., S.100.
[43] Zum Gebrauch des Mitmenschen als bloßes Mittel siehe folgendes Kapitel: Die Hochzeit.
[44] Canetti, Elias. Das erste Buch: Die Blendung. Vgl. Anm. 40, S. 252.
[45] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 25.
[46] Ebd.
[47] Ebd.
[48] Ebd. S. 47f.
[49] Kant, Immanuel. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1999. AA S. 428. Die kursiv dargestellten Wörter entsprechen dem Originaltext. Um dem zitierten Abschnitt aber nicht unnötig zu zerstückeln, stelle man sich die Bemerkung [sic!, M.D.] als hinter jedes gesetzt gedanklich vor.
[50] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 234.
[51] Ebd. S. 18.
[52] Hartung, Rudolf: Gespräch mit Elias Canetti. Vgl. Anm. 6, S. 97.
[53] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 269.
[54] Széll, Zsuzsa. Ichverlust und Scheingemeinschaft. Vgl. Anm. 2, S. 55.
[55] Horkheimer, Max/ W. Adorno, Theodor. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003., S.197f.
[56] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 45.
[57] Ebd. S. 48.
[58] Ebd. S. 147ff.
[59] Canetti, Elias. Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Berlin: Verlag Volk und Welt 1979. S. 158f.
[60] Canetti, Elias. Hochzeit. In: Elias Canetti. Zwiesprache. 1931-1976. Berlin: Verlag Volk und Welt 1980. S. 9-73.
[61] Ebd. S. 46.
[62] Canetti, Elias. Das erste Buch: Die Blendung. Vgl. Anm. 40, S. 241.
[63] Ebd. S. 252f.
[64] Canetti, Elias. Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. Berlin: Verlag Volk und Welt 1983. 2. Aufl., S. 130.
[65] Canetti, Elias. Die gerettete Zunge. Vgl. Anm. 59. S. 112-121.
[66] Ebd. S. 137.
[67] Ebd. S. 198ff.
[68] Ebd. S. 176-180.
[69] Ebd. S. 178.
[70] Vgl. Anm. 64.
[71] Canetti, Elias. Die Fackel im Ohr. Vgl. Anm. 64. S. 9-66.
[72] Vgl. Anm. 64.
[73] Ebd.
[74] Ebd.
[75] Canetti, Elias. Die Fackel im Ohr. Vgl. Anm. 64. S. 132-136.
[76] Ebd. S. 133.
[77] Ebd. S. 136. Und: Canetti, Elias. Die gerettete Zunge. Vgl. Anm. 59. S. 51-55.
[78] Die Bibel. Das Evangelium nach Matthäus 15.14: „Laßt sie, es sind blinde Blindenführer. Und wenn ein Blinder einen Blinden führt, werden beide in eine Grube fallen.“ Dieses Motiv wird in dem Bild Sechs Blinde aufgegriffen.
[79] Canetti, Elias. Die Fackel im Ohr. Vgl. Anm. 64. S. 131f.
[80] Die Bibel. Das Buch der Richter. 16,17-22.
[81] Siehe Abb. 1, S. 31.
[82] Wright, Christopher. Rembrandt. [Aus d. Engl. v. Annemarie Seling]. München: Hirmer Verlag 2000. S. 97.
[83] Canetti, Elias. Die Fackel im Ohr. Vgl. Anm. 64. S. 135f.
[84] siehe Abb. 2, S. 32.
[85] Canetti, Elias. Masse und Macht. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003. 28. Aufl. S. 30ff. Darin erläutert Canetti vier Eigenschaften von Menschenmassen. Unter dem Punkt zwei erläutert er die Gleichheit, die innerhalb der Masse herrscht: „Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, daß man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. [ebd. S. 30.]
[86] Ebd. S. 14.
[87] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 356-359 und S. 361. Hier zeigt sich die Beliebigkeit in der Ursache, die zur Massenansammlung führt und zugleich die Austauschbarkeit des Zielobjektes, dass den Zorn der Masse auf sich zieht. Anstelle des ursprünglich verfolgten Fischerle wird die Fischerin getötet.
[88] Canetti, Elias. Masse und Macht. Vgl. Anm. 85. S. 14f.
[89] Vgl. Anm. 83.
[90] Vgl. Anm. 64.
[91] Széll, Zsuzsa. Ichverlust und Scheingemeinschaft. Vgl. Anm. 2. S. 55.
[92] Vgl. Anm. 55.
[93] Széll, Zsuzsa. Ichverlust und Scheingemeinschaft. Vgl. Anm. 2. S. 61.
[94] Günter Schenk. Das Menschenbild des Neopositivismus. In: Der Mensch. Neue Wortmeldungen zu einem alten Thema. Hrsg. v. Dieter Bergner. Berlin: Dietz Verlag 1982. S. 271-323., S.289.
Das Zitat ist angegeben als Fußnote 53: Z. Széll: Ichverlust und Scheingemeinschaft. S.72. (Vgl. Anm. 2.)
[95] Canetti, Elias. Das erste Buch: Die Blendung. Vgl. Anm. 40. S. 249.
[96] Kindlers neues Literaturlexikon. Hrsg. V. Walter Jens. München: Kindler Verlag GmbH 1998. Bd. 2. S. 127f.
[97] Z. Széll: Ichverlust und Scheingemeinschaft. Vgl. Anm. 2. S. 63.
[98] Ebd. S. 55f.
[99] Ebd. S. 65.
[100] Hartung, Rudolf: Gespräch mit Elias Canetti. Vlg. Anm. 7. S. 98.
[101] Canetti, Elias. Die Blendung. Vlg. Anm.1. S. 38.
[102] Ebd. S. 415.
[103] Ebd. S. 506.
[104] Ebd. S. 238f und das folgende Kapitel Vier und ihre Zukunft.
[105] Hartung, Rudolf: Gespräch mit Elias Canetti. Vlg. Anm. 7. S. 100.
[106] Riedner, Nicola. Canettis Fischerle. Vgl. Anm. 14, S. 146.
[107] Canetti, Elias. Die Blendung. Vlg. Anm. 1, S. 364. Wichtig in diesem Zusammenhang ist das Ablegen der eigenen Sprache Fischerles. In seinen vielfältigen Wandlungen entfernt sich Fischerle zunehmend vom eigenen Ich. Folgerichtig findet er nicht in die alte Rolle zurück und damit einhergehend nicht in die ihm typische Sprache, die ihm im Milieu des Idealen Himmels Orientierung gab und Situationen richtig einzuschätzen lehrte. [siehe: Riedner, Nicola. Canettis Fischerle. Vgl. Anm. 14, S. 79-81.]
[108] Canetti, Elias. Die Blendung. Vlg. Anm. 1, S. 397f.
[109] Auch Riedner verweist darauf, dass Canetti „[...] zwei Verwandlungsformen an Fischerle aufweist: Zum einen die seinem anthropologischen Prinzip der Verwandlung entsprechende, zum anderen eine Verwandlung, die zu Wesensveränderung führt. Gerade letztere sieht Canetti als Gefahr, denn durch sie scheitert Fischerle, nachdem er sein Ziel fast erreicht zu haben scheint.“ Ebd. S. 146f.
[110] Canetti, Elias. Die Blendung. Vgl. Anm. 1, S. 432 und 435.
[111] Ebd. S. 449.
[112] Ebd. S. 452.
[113] Ebd. S. 449.
[114] Ebd. S. 450.
- Quote paper
- Marco Dietze (Author), 2005, Persönlichkeitsentwürfe der Protagonisten in Elias Cannettis Roman "Die Blendung", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111528
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