Im Zuge der Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union
wird im öffentlichen Diskurs die Türkei, obwohl nach eigenem Selbstverständnis ein
säkulares, laizistisches Land, mehr mit dem Islam in Zusammenhang gebracht als mit
ihrer staatstragenden Doktrin und die Debatte über ein Für und Wider dem Beitritt der
Türkei wird besonders von diesem Aspekt geprägt. Dabei rückt eben dieser wichtige
Aspekt in den Hintergrund, nämlich die offizielle Staatsdoktrin, der Kemalismus.
Insofern bietet es sich geradezu an, ja es erfordert sogar, diesen im Lichte der
Beitrittsverhandlungen zu untersuchen. Diese Hausarbeit möchte die Kompatibilität des
Kemalismus mit den Beitrittsbedingen der Europäischen Union genauer unter die Lupe
nehmen. Die leitende Frage, die uns während dieser Hausarbeit begleiten wird ist die,
ob der Kemalismus ein Hindernis für den EU-Beitritt darstellt, oder ob er sogar dafür
förderlich, begünstigend wirkt.
Zunächst einmal soll uns die geschichtliche Entwicklung der Beziehung der Türkei und
der Europäischen Union einen besseren Überblick über das Thema verschaffen.
Desweiteren ist es wichtig zu wissen, was der Kemalismus ist, welche Prinzipien und
Werte er besitzt. Demgegenüber stelle ich die wichtigsten europäischen Verträge mit
ihren Bedingungen für den EU-Beitritt vor, wie den Maastrichter Vertrag und die
Kopenhagener Kriterien. Von diesen abgeleitet sollen die Grundprinzipien der
Europäischen Union zusammengefasst werden. Schließlich möchte ich im letzten
Abschnitt dieser Hausarbeit die Fragestellung beantworten, die oben bereits formuliert
wurde.
[...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Geschichte der Beziehung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei
3. Definition des Kemalismus
4. Die Grundwerte der EU mit den kemalistischen Prinzipien im Vergleich
5. Fazit: Kemalismus: EU-kompatibel oder nicht?
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Im Zuge der Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union wird im öffentlichen Diskurs die Türkei, obwohl nach eigenem Selbstverständnis ein säkulares, laizistisches Land, mehr mit dem Islam in Zusammenhang gebracht als mit ihrer staatstragenden Doktrin und die Debatte über ein Für und Wider dem Beitritt der Türkei wird besonders von diesem Aspekt geprägt. Dabei rückt eben dieser wichtige Aspekt in den Hintergrund, nämlich die offizielle Staatsdoktrin, der Kemalismus. Insofern bietet es sich geradezu an, ja es erfordert sogar, diesen im Lichte der Beitrittsverhandlungen zu untersuchen. Diese Hausarbeit möchte die Kompatibilität des Kemalismus mit den Beitrittsbedingen der Europäischen Union genauer unter die Lupe nehmen. Die leitende Frage, die uns während dieser Hausarbeit begleiten wird ist die, ob der Kemalismus ein Hindernis für den EU-Beitritt darstellt, oder ob er sogar dafür förderlich, begünstigend wirkt.
Zunächst einmal soll uns die geschichtliche Entwicklung der Beziehung der Türkei und der Europäischen Union einen besseren Überblick über das Thema verschaffen. Desweiteren ist es wichtig zu wissen, was der Kemalismus ist, welche Prinzipien und Werte er besitzt. Demgegenüber stelle ich die wichtigsten europäischen Verträge mit ihren Bedingungen für den EU-Beitritt vor, wie den Maastrichter Vertrag und die Kopenhagener Kriterien. Von diesen abgeleitet sollen die Grundprinzipien der Europäischen Union zusammengefasst werden. Schließlich möchte ich im letzten Abschnitt dieser Hausarbeit die Fragestellung beantworten, die oben bereits formuliert wurde.
2. Geschichte der Beziehung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei
Kein anderer Anwärterstaat der EU musste wohl so lange vor dessen Toren auf Eintritt warten, wie die Türkei. Entsprechend lange wir auch dieser Abschnitt Platz in Anspruch nehmen. Dennoch muss die Beitrittsbestrebung der Türkei als Teil ihrer Westorientierung angesehen werden, die sie sich schon zu osmanischen Zeiten vorgenommen hat.
Wenige Jahre nach der Gründung der EWG, nämlich im Jahre 1959, klopfte die Türkei zum ersten Mal an ihrer Tür um Beitritt.[1] Daraufhin wurde ein Assoziierungsabkommen zwischen beiden Seiten, nämlcih der Vertrag von Ankara am 12.09.1963 unterzeichnet. Diese Assoziierung sollte ihre Gültigkeit aufrecht halten, bis die Türkei politisch wie wirtschaftlich reif für einen Beitritt war.
Einen schweren Rückschlag erlitt der Beitrittsprozess, als das Militär in der Türkei einen Putsch am 12.09.1980 anzettelte und daraufhin die EG ihre Beziehungen zur Türkei einfror.[2] 1982 wurde das Assoziierungsabkommen von Ankara zurückgestellt und erst 1988 formal wieder eingesetzt, was die Hoffnung auf einen Beitritt neu belebte. Die weitere Einbindung der Türkei in die EG erfolgte durch die Einführung des europäischen Wirtschaftsrechts in dem Land am 01.01.1996.[3] Ein großer Schritt in Richtung EU-Beitritt wurde am 03.06.1999 gemacht, als der Türkei in Helsinki der Status des Beitrittskandidaten offiziell verliehen wurde. Auf dieser Grundlage empfahl die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei mit strengen Auflagen. Der Europäische Rat wirkte bei diesem Ergebnis bestätigend und setzte als Termin den 03.10.2005 für die Beitrittsverhandlungen fest.[4] Das Ergebnis dieser Beitrittsverhandlungen war unter anderem, dass der frühestmögliche Beitritt der Türkei in die Europäische Union 2015 ist.
Der Jahresbericht Günter Verheugens vom 09.11.2005 bescheinigte der Türkei Fortschritte auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, jedoch gab es noch gravierende Mängel in Sachen Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Schutz von Minderheiten. Diese Mängel waren in diesen 40 Jahren der Beitrittsbemühungen durchweg Stolpersteine, die die Türkei bis heute nicht ganz aus dem Weg räumen konnte.
Ein weiterer großer Stolperstein für die Türkei ist Zypern. Beim EU-Gipfel vom 15.12.2007 wurden die Beitrittsverhandlungen teilweise auf Eis gelegt, da die Türkei in Nordzypern ihre Häfen und Flughäfen für die griechische Republik Zypern nicht öffnet. So ist der letzte Kapitel dieser “EU-Reise” der Türkei negativ für sie ausgefallen, was die Beitrittsbemühungen anbelangt.[5]
3. Definition des Kemalismus
Der Kemalismus ist die heute gültige Staatsdoktrin in der Türkei. Sein Name ist abgeleitet von dem Namen seines Erschaffers, Mustafa Kemal Atatürk. Dieser wollte aus den Trümmern des osmanischen Reiches, welches ein Vielvölkerreich gewesen war, einen Nationalstaat nach westlichem Vorbild schaffen. 1931 verkündete Atatürk die sechs Grundprinzipien seiner Staatsideologie:
- Nationalismus (türk.: Milliyetçilik; Staatslegitimation durch das türkische Staatsvolk)
- Laizismus (Laiklik; Säkularismus – Trennung von Staat und Religion)
- Republikanismus (Cumhuriyetçilik; republikanische Staatsform im Gegensatz zur Monarchie; statt eines persönlichen Herrschers lenkt eine Elite von Beamten die Geschicke des Staates
- Popularismus (Halkçılık; Beteiligung des Volkes am Staat mit Rechten und Pflichten)
- Etatismus (Wirtschaftslenkung durch Staatsmonopole, Staatskapitalismus als Antwort auf die Wirtschaftskrise)
- Reformismus (Devrimcilik; ständige innere Erneuerung in Richtung auf weitere Verwestlichung)[6]
Wichtig ist hierbei anzumerken, dass nach Atatürk einige Prinzipien des Kemalismus mit der Zeit sich gewandelt haben. Der Etatismus hat heute die Form eines Wirtschaftsliberalismus angenommen.
Den Etatismus kann man durchaus als eine Notwendigkeit betrachten, da das Land nach den Kriegen wirtschaftlich am Boden lag und somit der staatliche Aufbau und Lenkung der Wirtschaft notwendig gewesen war. Im Hinblick auf unsere Fragestellung ist hier festzustellen, dass der Wandel vom Etatismus zur Wirtschaftsliberalismus als “EU-konformer” zu erachten ist, die ebenfalls auf liberaler Marktwirtschaft basiert. Meines Erachtens ist es unabdingbar wichtig, was für eine Vorstellung von Volk und Nationalität Atatürk seinerzeit hatte.
Nur so kann man exakter feststellen inwiefern die kemalistische Ideologie eine Kompatibilität zu den Europäischen Werten aufweist. Nach Atatürks Verständnis war beruhte die Einheit des türkischen Volkes unter anderem auf Rasse und Sprache. Die Einheit der Rasse beruht jedoch nicht auf biologischer Basis, d. h. auf “Reinrassigkeit” oder “Blutsverwandtschaft.”[7] Vielmehr setze sich das türkische Volk aus unterschiedlichen Volksruppen und Stammesangehörigen zusammen[8], die durch das Zusammenleben auf dem selben geographischen Gebiet mit der Zeit eine einheitliche Lebensweise und Gewohnheiten entwickelt haben. Folglich wird jeder als Türke akzeptiert, der sich als solcher bezeichnet. Allein aus dieser Perspektive ist zu sagen, dass auch in dieser Hinsicht der Menschenwürde und den Werten, die die EU ausmachen, nicht widersprochen wird. Jedoch wirft diese Formulierung die Frage auf, ob von den Bewohnern der Türkei insgesamt erwartet wird, dass sie sich als Türken zu bekennen haben auch gegen ihren Willen, oder ab es ihnen freisteht, sich Türke zu nennen oder nicht. Dieser Frage möchte ich im vorletzten Teil dieser Arbeit nachgehen. Es wird uns den entscheidenden Hinweis für die Beantwortung meiner Fragestellung liefern. Bis hierher weisen die Grundprinzipien des Kemalismus, wie ich sie oben versucht habe darzustellen, keine “Disharmonie” zu den Grundwerten der EU.
Demnach hat die Türkei zumindest im Hinblick auf Demokratie und Republikanismus bereits vor 80 Jahren entscheidende Schritte unternommen und muss sie nicht erst heute vornehmen, um in die Europäische Gemeinschaft eingelassen zu werden. Ebenfalls von Bedeutung für den EU-Beitritt ist die Tatsache, dass die Türkei ihren Weg in Richtung Mehrparteiensystem- d.h. Demokratisierung bereits 1950 mit der Durchführung von allgemeinen, freien Wahlen getan hat.[9] Auch hier hat man quasi “rechtzeitig” vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaft einen entscheidenden Schritt getan.
4. Die Grundwerte der EU mit den kemalistischen Prinzipien im Vergleich
Wir sind im Herzstück dieser Hausarbeit angelangt und nun werde ich versuchen, anhand des Verfassungsvertrages der Europäischen Union, eines der wichtigsten Verträge, die entworfen wurde, zusammenzutragen und diese herauszufiltern. Vergleichend dazu werde ich die türkische Verfassung hinzuziehen, die nach den Prinzipien und Werten des Kemalismus gestaltet worden ist.
Im Grunde genommen sind es jeweils ein Artikel, die hier einem Vergleich unterstellt werden. Beginnen möchte ich mit Artikel 1 Absatz 2 des Vertrags, indem es heisst:” Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.”[10]
Artikel 2 der türkischen Verfassung besagt:” Das Türkische Reich ist republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär.”[11] Desweiteren heisst es in dem folgenden Artikel, dass die Staatsgewalt von der Nation ausgehe.
In den meisten Punkten sieht man keine zuwiderlaufenden Aspekte. Auch der Kemalismus, der in seinen Grundwerten westlich ausgerichtet ist, garantiert unter anderem Demokratie, Gleichheit, sowie Gleichheit von Mann und Frau. Die Volksverbundenheit, wie sie im 2. Artikel der türkischen Verfassung erwähnt wird, stellt nichts weiter dar als den Prinzip des Populismus der kemalistischen Ideologie. Kurzum haben wir in diesem Artikel die sechs Pfeiler des Kemalismus vor Augen.
Jedoch möchte ich auf den Prinzip des Nationalismus in der türkischen Verfassung und die Wahrung der Menschenrechte, insbesondere die der Minderheiten zu sprechen kommen. Gleichzeitig möchte ich mich auf die Frage bezüglich des Bekenntnisses zum Türkentum beziehen. Wir hatten bisher festgestellt, dass der Kemalismus im Prinzip keine ethnische “Reinheit” vom türkischen Volk erwartet, sondern jeden als Türken akzeptiert, der sich als solcher bezeichnet. Dies findet seinen Ausdruck insbesondere in dem berühmten Ausspruch Atatürks “Ne mutlu Türküm diyene!” (heisst soviel wie: Welch Glück demjenigen, der sich Türke nennt.). Sollen wir darunter “nur Glück demjenigen, der sich Türke nennt” verstehen?
Schon drückt sich einem die Kurdenproblematik als Beispiel auf. Dazu müsste man sich die Umsetzung dieser Grundkonstante der kemalistischen Ideologie zunächst einmal anschauen. Die Literatur zu diesem Thema spricht eine relativ einheitliche Sprache. Ziel des Kemalismus ist die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaats in Anatolien und abgesehen von den wenigen Griechen, Armeniern und Juden, deren Minoritätsrecht durch den türkischen Staat garantiert war, galt dasselbige für die weitaus zahlreicheren Kurden im Lande nicht.
“Das kemalistische Nationalprinzip läßt für eine eigenständige kurdische Nation keinen Raum.”[12] Auch in der türkischen Verfassung von 1924 wird das Türkische, das Bekenntnis zum Türkentum, wie wir sie bereits hatten, besonders hervorgehoben. Der Architekt der kemalistischen Ideologie selbst, Mustafa Kemal Atatürk, verbot am 3. März 1924 alle kurdischen Schulen, Einrichtungen und Literatur in kurdischer Sprache.[13] Man kann hier davon ausgehen, dass Atatürk sein kemalistiches Programm ganz so umgesetzt hat, wie er es sich vorstellte.
Ganz offensichtlich besteht hier ein Bruch mit dem Grundwert der Europäischen Union, nämlich dem Schutz von Minderheiten. Mit diesem Problem ist die Türkei bis heute konfrontiert. Eine andere Perspektive zum Kemalismus besagt jedoch, dass sie es stets vermieden hat, eine Lehre zu entwickeln und versucht nicht das Leben umfassend zu erklären.[14]
Folglich sei die kemalistische Ideologie das Ideal der türkischen Nation einer nationalen Modernisierung. Mit diesen Eigenschaften sei der Kemalismus pragmatisch und flexibel. Beispielsweise könne man darüber debattieren, wie der Reformismus, einer der Grundpfeiler dieser Ideologie, zu interpretieren ist. Wie kann man Populismus definieren?[15] Jedoch können wir in dieser Arbeit darüber nicht diskutieren, da das nicht Gegenstand dieser Arbeit ist. Wenn so eine Flexibiltät und Pragmatismus tatsächlich besteht, so kann man zumindest davon ausgehen, dass eine quasi Neuinterpretation dieser Grundpfeiler im Sinne der Grundwerte und Prinzipien der Europäischen Union durchaus zulässig ist.
Wir hätten es beim Kemalismus nicht mit einem starren, unverrückbaren System zu tun und folglich würde der Kemalismus kein Hindernis für den EU-Beitritt der Türkei darstellen. Die jüngsten Fortschritte im Bereich Unterricht in der Muttersprache, oder die Erlaubnis nichttürkische Vornamen zu gebrauchen geschieht augenscheinlich im kemalistischen Rahmen. “Es wurden gesetzliche Grundlagen für den Gebrauch der kurdischen Sprache in Privatsendern, den Kurdischunterricht und den Gebrauch nicht-türkischer Vornamen geschaffen, eine Amnestie für PKK-Angehörige verkündet und die Rückkehr der vertriebenen kurdischen Bauern zugesagt.”[16]
Aus meiner Perspektive ist die Umsetzung und vor allem das Verständnis einer Ideologie von Relevanz. Das Verständnis und die Umsetzung der Ideologie kann man am besten an demjenigen verfolgt werden, der seine eigene Ideologie entworfen und in die Tat umgesetzt hat. Am Beispiel Atatürks kann man ebendies besonders gut verfolgen. Für ihn gab es in der Türkei, wie wir bereits sehen konnten, für keine andere Nationalität als der türkischen Platz und unter diesem Aspekt hat man dann den Nationalismus, eines der Grundpfeiler der kemalistischen Ideologie, zu betrachten. Und auch die Anhänger des Kemalismus versuchen bis auf den heutigen Tag den Kemalismus genauso umzusetzen, wie es seinerzeit Atatürk selbst getan hat. Die anderen Grundpfeiler der kemalistischen Ideologie, wie Laizismus, Republikanismus und Populismus sind allerdings entscheidend und voraussetzend für einen EU-Beitritt der Türkei und insoweit kein Hindernis für den EU-Beitritt.
Was jedoch den Nationalismus nach Atatürks Vorstellung betrifft, stellt er einen Stolperstein und ein erhebliches Hindernis für einen Platz in der Europäischen Union dar. Diesem Grundpfeiler des Kemalismus kann man nicht nur die anfangs erwähnte Artikel 1 Absatz 2 des Verfassungsvertrages der Europäischen Union, sondern auch die Grundrechte-Charta der Europäischen Union entgegenhalten.
Der Artikel über die Nichtdiskriminerung[17] (Artikel 21 Absatz 1 und 2) und der darauffolgende Artikel, in dem die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen geachtet werden, verlangt auch von der Staatsdoktrin der Türkei die Achtung ebendiesen, will sie keinen Hindernis für die europäische Perspektive darstellen. Dies würde jedoch ein Paradoxon in sich schließen, da der Kemalismus gerade deshalb ins Leben gerufen wurde, damit die Türkei eine Entwicklung nach europäischem Vorbild nehme. Inwieweit die Minderheitenrechte in der Europäischen Union tatsächlich beachtet und praktiziert werden, darüber lässt sich streiten; doch ist dies nicht Gegenstand dieser Arbeit.
5. Fazit: Kemalismus: EU-kompatibel oder nicht?
Wir sind im letzten Teil dieser Arbeit angelangt und wollen den vorangegangenen Abschnitt hier zusammenfassen und damit die Fragestellung beantworten. Die kemalistische Ideologie mit ihren sechs Grundpfeilern trägt in sich zum einen Konstrukte, die überhaupt Voraussetzung für einen EU-Beitritt der Türkei sind. Die Trennung von Staat und Kirche, d. h. ein laizistischer Staatsaufbau, Die Republik als Staatsform, die Herrschaftslegitimation durch das Volk, wie sie der Populismus vorsieht, gehören ebenso zu diesen Voraussetzungen. Die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaats, wie sie ihn Atatürk vorgestellt hat, die “Schaffung” eines einheitlichen Volkes mit einer Sprache und Identität – das wird auch vom Nationalismus der kemalistischen Ideologie bezweckt – führt mit sich, dass Volksgruppen oder Ethnien ihre eigene Kultur und Sprache aufgeben müssen, d.h. sich assimilieren müssen, um als vollwertige Bürger akzeptiert zu werden. Dieser Eckpfeiler des Kemalismus wurde von den staatstragenden Kräften, wie dem Nationalen Sicherheitsrat oder dem Militär – das sich als Hüter des Kemalismus betrachtet – versucht so zu praktizieren, wie es seiner Zeit auch Mustafa Kemal Atatürk getan hat.
In dieser Hinsicht ist jedoch der historische Kontext, in dem die kemalistische Ideologie Gestalt annahm, von Bedeutung. Demnach beruht der Kemalismus auf einer Philosophie, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist und das zu einer Zeit, die nicht viele positiven Beispiele vorweisen kann, von denen die Türkei sich inspirieren lassen konnte.[18] Politische Hardliner, fanatische Anhänger der kemalistischen Ideologie auf politischer Ebene und auch im türkischen Volk wollen fest am Kurs Atatürks halten und wollen an den Grundfesten des Kemalismus nichts verändert wissen.
Daher kommt es auch, dass Reformen in Sachen Menschenrechte oder europäische Vorgaben nur zähflüssig in die Gesetzgebung und in die Praxis fließen. Die Staatsdoktrin des Kemalismus steht dem einem Bollwerk gleich gegenüber. Daher würde ich davon ausgehen, dass es unbedingt notwendig ist, die kemalistische Ideologie insbesondere in dem Punkt des Nationalismus neu zu definieren, oder zumindest inhaltlich zu lockern, so dass bestimmte menschenrechtliche, bzw. grundrechtliche Reformen leichter einzuführen sind. Es sollte möglich sein, politische Hardliner, die “Hüter” des Kemalismus, davon zu überzeugen, dass beispielsweise das Erlauben der kurdischen Sprache und Kultur auf türkischem Boden nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit der Zerstörung des türkischen Staates oder dessen Aufteilung.[19] Wir haben durchaus solch eine Möglichkeit der Modifikation der Inhalte dieser Grundpfeiler dieser Ideologie wie Murat Belge es versucht hat darzustellen.
Zuletzt möchte ich anmerken, dass ich mir durchaus bewusst war, wie schwierig es ist von europäischen Werten zu sprechen; daher erachte ich es als treffend, mich in dieser Hausarbeit ausschließlich auf die Grundwerte in dem EU-Verfassungsvertrag zu beziehen, sowie auf die Grundrechte-Charta der Europäischen Union.
Berlin, den 24.04.2007
Literaturverzeichnis
Ali Carkoglu und Barry Rub (Hg.): “Turkey and the EU- Domestic Politics, Economic Integration and International Dynamics, London 2003.
Dönmez, Serafettin: “Atatürk'ün Cagdas Toplum ve Din Anlayisi” (Atatürks Verständnis von der modernen Gesellschaft und Religion), Istanbul 1998.
Franz, Erhard;”Wie demokratisch ist die Türkei?”, In: Türkei- Politik, Gesellschaft, Wirtschaft; Hans-Georg (Hg.), Opladen 2002.
Dönmez, Serafettin: “Atatürk'ün Cagdas Toplum ve Din Anlayisi” (Atatürks Verständnis von der modernen Gesellschaft und Religion) , Istanbul 1998.
Pope, Nicole & Hugh: “Modern Türkiyenin kisa tarihi- ciplak Türkiye”, (Originaltitel: “Turkey Unveiled”, New York 2000- aus dem Englischen von Deniz Öktem), 3. aktualisierte Auflage, Istanbul 2004
Şahinler, Menter; “Kemalismus- Ursprung, Wirkung und Aktualität”, aus dem Türkischen von Sabine Adatepe, deutsche Ausgabe 1997, Hückelhoven.
Bora, Tanil & Gültekingil, Murat (Hg.): “Modern Türkiye'de Siyasi Düsünce- Kemalizm” (Politisches Denken in der modernen Türkei), Band 2, Istanbul 2001.
Weithmann, Michael W.: “Atatürks Erben auf dem Weg nach Westen- Die Türkei im Spannungsfeld zwischen Nahost und Europa, München 1997.
Websites:
- http://www.tuerkischebotschaft.de/de/eu/geschichte.htm.
-http://www.bpb.de/themen/LCD38U,0,0,Chronologie_der_
Beitrittsverhandlungen.html.
- http://www.euractiv.com/de/erweiterung/eu-setzt-beitrittsgesprache-turkei-teilweise/article-160414.
- http://europa.eu.int/eur-lex/lex/de/treaties/dat/12004V/htm/C2004310DE.01001101.htm
http://www.verfassungen.de/tr/tuerkei24.htm.
- http://www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html.
- http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf
- Http://www.uni-konstanz.de/FuF/SozWiss/fg-soz/ag-wis/JSVersion/mitarbeit/giannakopoulos/EU/texte/Auswertungsbericht_EU_Parlament.pdf.
[...]
[1] http://www.tuerkischebotschaft.de/de/eu/geschichte.htm, Stand nicht angegeben.
[2] http://www.bpb.de/themen/LCD38U,0,0,Chronologie_der_Beitrittsverhandlungen.html, Stand: Juli 2006.
[3] ebenda..
[4] ebenda.
[5] http://www.euractiv.com/de/erweiterung/eu-setzt-beitrittsgesprache-turkei-teilweise/article-160414, Stand: Dez. 2006.
[6] Franz, Erhard;”Wie demokratisch ist die Türkei?”, In: Türkei- Politik, Gesellschaft, Wirtschaft; Hans-Georg (Hg.), Opladen 2002, S. 102.
[7] Dönmez, Serafettin: “Atatürk'ün Cagdas Toplum ve Din Anlayisi” (Atatürks Verständnis von der modernen Gesellschaft und Religion), Istanbul 1998, S. 113.
[8] Inan, Ayse Afet:” Medeni Bilgiler ve M. Kemal Atatürk'ün yazilari”, S. 19-20. In: Dönmez, Serafettin: “Atatürk'ün Cagdas Toplum ve Din Anlayisi” (Atatürks Verständnis von der modernen Gesellschaft und Religion) , Istanbul 1998, S. 113.
[9] Şahinler, Menter; “Kemalismus- Ursprung, Wirkung und Aktualität”, aus dem Türkischen von Sabine Adatepe, deutsche Ausgabe 1997, Hückelhoven, S. 145.
[10] http://europa.eu.int/eur-lex/lex/de/treaties/dat/12004V/htm/C2004310DE.01001101.htm.
[11] http://www.verfassungen.de/tr/tuerkei24.htm, Stand: Feb. 2007.
[12] Weithmann, Michael W.: “Atatürks Erben auf dem Weg nach Westen- Die Türkei im Spannungsfeld zwischen Nahost und Europa, München 1997, S. 160.
[13] Pope, Nicole & Hugh: “Modern Türkiyenin kisa tarihi- ciplak Türkiye”, (Originaltitel: “Turkey Unveiled”, New York 2000- aus dem Englischen von Deniz Öktem), 3. aktualisierte Auflage, Istanbul 2004, S. 242.
[14] Belge, Murat: ”Mustafa Kemal ve Kemalizm” (Mustafa Kemal und der Kemalismus), In: “Modern Türkiye'de Siyasi Düsünce- Kemalizm” (Politisches Denken in der modernen Türkei), Band 2, Hg.: Tanil Bora, Murat Gültekingil, Istanbul 2001, S. 38.
[15] ebenda, S. 242.
[16] http://www.gfbv.it/3dossier/kurdi/kurtur-de.html, Stand: Feb. 2004.
[17] für nähere Informationen siehe: http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf, Stand: Dez. 2000.
[18] Http://www.uni-konstanz.de/FuF/SozWiss/fg-soz/ag-wis/JSVersion/mitarbeit/giannakopoulos/EU/texte/Auswertungsbericht_EU_Parlament.pdf, Stand: Dez. 2004, S. 6.
Häufig gestellte Fragen
Was ist das Hauptthema dieses Dokuments?
Dieses Dokument ist eine Hausarbeit, die die Kompatibilität des Kemalismus mit den Beitrittsbedingungen der Europäischen Union untersucht. Es wird analysiert, ob der Kemalismus ein Hindernis für den EU-Beitritt der Türkei darstellt oder ihn sogar fördert.
Was ist Kemalismus?
Der Kemalismus ist die Staatsdoktrin der Türkei, basierend auf den Prinzipien von Mustafa Kemal Atatürk. Zu den Grundprinzipien gehören Nationalismus, Laizismus, Republikanismus, Popularismus, Etatismus (ursprünglich, später Wirtschaftsliberalismus) und Reformismus.
Welche historischen Ereignisse sind wichtig für die Beziehung zwischen der Türkei und der EU?
Wichtige Ereignisse sind der Antrag der Türkei auf Beitritt zur EWG im Jahr 1959, das Assoziierungsabkommen von Ankara 1963, der Militärputsch 1980, die formelle Wiedereinsetzung des Assoziierungsabkommens 1988, die Einführung des europäischen Wirtschaftsrechts in der Türkei 1996, die Verleihung des Status des Beitrittskandidaten 1999 und der Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005.
Welche Hindernisse gibt es für den EU-Beitritt der Türkei?
Zu den Hindernissen gehören Mängel in Bezug auf Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Schutz von Minderheiten und die Zypernfrage (Nichtöffnung türkischer Häfen und Flughäfen für die griechische Republik Zypern).
Welche Grundwerte der EU werden in diesem Dokument diskutiert?
Die diskutierten Grundwerte der EU sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Minderheiten. Diese Werte werden mit den Prinzipien des Kemalismus verglichen.
Inwiefern steht der Kemalismus im Widerspruch zu den Grundwerten der EU?
Ein Hauptkonfliktpunkt ist der Nationalismus im Kemalismus, insbesondere in Bezug auf den Schutz von Minderheiten. Die kemalistische Auffassung von einem einheitlichen Nationalstaat ließ historisch gesehen wenig Raum für die eigenständige Identität kurdischer Bevölkerungsgruppen.
Was ist die Schlussfolgerung der Hausarbeit?
Die Hausarbeit kommt zu dem Schluss, dass bestimmte Aspekte des Kemalismus, wie Laizismus, Republikanismus und Populismus, grundsätzlich mit den Anforderungen für einen EU-Beitritt vereinbar sind. Der Nationalismus nach Atatürks Vorstellung stellt jedoch ein erhebliches Hindernis dar, da er mit dem Schutz von Minderheiten und kultureller Vielfalt in der EU kollidiert. Eine Neuinterpretation oder Lockerung des Nationalismusbegriffs im Kemalismus wird als notwendig erachtet.
Welche Rolle spielt der Laizismus im Kemalismus im Hinblick auf einen EU Beitritt?
Die Trennung von Staat und Kirche, d.h. ein laizistischer Staatsaufbau, ist eine der Grundvoraussetzungen für einen EU-Beitritt.
Welche Rolle spielt der Republikanismus im Kemalismus im Hinblick auf einen EU Beitritt?
Die Republik als Staatsform ist eine der Grundvoraussetzungen für einen EU-Beitritt.
Welche Rolle spielt der Populismus im Kemalismus im Hinblick auf einen EU Beitritt?
Die Herrschaftslegitimation durch das Volk, wie sie der Populismus vorsieht, ist eine der Grundvoraussetzungen für einen EU-Beitritt.
- Quote paper
- Muhsin Ergün (Author), 2007, Kemalismus versus Europäischer Verfassungsvertrag - Konsens oder Kollision?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111038