„Längerfristige Vorgänge lassen sich als Übergangszeit oder Epochenschwelle definieren, wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen und Kriterien die Mindestbedingungen eines ›Vorher noch nicht‹ oder ›Nachher nicht mehr‹ erfüllen. Für die Zeit um 1800 gilt dies mehr oder weniger für alle Bereiche des geistigen und kulturellen Lebens. Michel Foucault nimmt auf der Grundlage seiner Überlegungen zur Sprach-, Natur- und Wirtschaftsgeschichte für den Zeitraum zwischen 1775 und 1825 eine nachhaltige Diskontinuität in der Episteme der abendländischen Kultur wahr und markiert in dieser Phase den Übergang vom klassischen Zeitalter zur Epoche der Moderne“1. Festmachen lässt sich diese Umbruchszeit besonders gut an der Kategorie der Identität derer, die sie durchleben.
Mit Kleists Trauerspiel »Penthesilea« erschien 1808 ein Drama, welches die Zeitgenossen nachhaltig schreckte. Erika Fischer-Lichte will die Geschichte des europäischen Dramas als Identitätsgeschichte rekonstruieren2. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten des Verhältnisses von historischer Lebenswelt und im jeweiligen Drama entwickeltem Identitätsdiskurs: Eines der Übereinstimmung und eines der Nichtübereinstimmung3. „Im ersten Fall bestätigt das Drama die von der das Theater tragenden Schicht übernommene und realisierte Identität. Im zweiten Fall sind wiederum zwei Möglichkeiten denkbar: Das Drama kritisiert die von der das Theater tragenden Schicht übernommene und realisierte Identität oder das Drama bezieht sich auf eine gegenwärtig faktisch nicht verwirklichte Identität“4. Diesem letzten Fall sehen wir uns gegenüber, wenn wir Goethes hartherzige Reaktion auf das neue Drama Heinrich von Kleists zur Kenntnis nehmen, welches jener dem Weimarer Dichterfürsten „auf den Knieen [s]eines Herzens“ dargebracht hatte. Goethes Zurückweisung des unverstandenen Werkes ist bekannt.
Der Dichterfürst kann in diesem Zusammenhang durchaus als erster Repräsentant und Hegemon des geltenden Diskurses betrachtet werden. Dieser richtet sich neben Fragen der Ästhetik vor allem auch auf solche der Geltung beanspruchenden Identität, die durch aktuelle literarische Produktion bestätigt, modifiziert oder abgelehnt werden kann.
Die prekär gewordenen Diskurse, die Kleist in seiner »Penthesilea« thematisiert, beziehen sich beispielsweise auf das Recht (den Staat) und die Erkenntnis. Diese wollen wir hier anhand Kleists »Penthesilea« untersuchen.
Inhalt
Einleitung
I. Die Identität
II. Das Recht
III. Die Erkenntnis
Schlussbetrachtung
Literatur
Einleitung
„Längerfristige Vorgänge lassen sich als Übergangszeit oder Epochenschwelle definieren, wenn sie unter bestimmten Voraussetzungen und Kriterien die Mindestbedingungen eines ›Vorher noch nicht‹ oder ›Nachher nicht mehr‹ erfüllen. Für die Zeit um 1800 gilt dies mehr oder weniger für alle Bereiche des geistigen und kulturellen Lebens. Michel Foucault nimmt auf der Grundlage seiner Überlegungen zur Sprach- Natur- und Wirtschaftsgeschichte für den Zeitraum zwischen 1775 und 1825 eine nachhaltige Diskontinuität in der Episteme der abendländischen Kultur wahr und markiert in dieser Phase den Übergang vom klassischen Zeitalter zur Epoche der Moderne“[1]. Festmachen lässt sich diese Umbruchszeit besonders gut an der Kategorie der Identität derer, die sie durchleben.
Mit Kleists Trauerspiel »Penthesilea« erschien 1808 ein Drama, welches die Zeitgenossen nachhaltig schreckte. Erika Fischer-Lichte will die Geschichte des europäischen Dramas als Identitätsgeschichte rekonstruieren[2]. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten des Verhältnisses von historischer Lebenswelt und im jeweiligen Drama entwickeltem Identitätsdiskurs: Eines der Übereinstimmung und eines der Nichtübereinstimmung[3]. „Im ersten Fall bestätigt das Drama die von der das Theater tragenden Schicht übernommene und realisierte Identität. Im zweiten Fall sind wiederum zwei Möglichkeiten denkbar: Das Drama kritisiert die von der das Theater tragenden Schicht übernommene und realisierte Identität oder das Drama bezieht sich auf eine gegenwärtig faktisch nicht verwirklichte Identität“[4]. Diesem letzten Fall sehen wir uns gegenüber, wenn wir Goethes hartherzige Reaktion auf das neue Drama Heinrich von Kleists zur Kenntnis nehmen, welches jener dem Weimarer Dichterfürsten „auf den Knieen [s]eines Herzens“ dargebracht hatte. Goethes Zurückweisung des unverstandenen Werkes ist bekannt.
Der Dichterfürst kann in diesem Zusammenhang durchaus als erster Repräsentant und Hegemon des geltenden Diskurses betrachtet werden. Dieser richtet sich neben Fragen der Ästhetik vor allem auch auf solche der Geltung beanspruchenden Identität, die durch aktuelle literarische Produktion bestätigt, modifiziert oder abgelehnt werden kann.
Die prekär gewordenen Diskurse, die Kleist in seiner »Penthesilea« thematisiert, beziehen sich beispielsweise auf das Recht (den Staat) und die Erkenntnis. Diese wollen wir hier anhand Kleists »Penthesilea« untersuchen. In dem spezifischen Unbehagen an einer Moderne[5], deren Identitätsdiskurse in Patchwork-Ansätzen sich erschöpfen[6], in denen Langeweile an die Stelle des Leidens getreten ist[7], darf man vielleicht den Ausklang einer Identitätsgeschichte sehen, die zur Entstehungszeit der Dramen Kleists begonnen hatte: „Auf der archäologischen Seite sieht man, dass das System der Positivitäten sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf massive Weise gewandelt hat. Das heißt nicht, dass die Vernunft Fortschritte gemacht hat, sondern, dass die Seinsweise der Dinge und der Ordnung grundlegend verändert worden ist“ bemerkt hierzu Michel Foucault[8].
I. Die Identität
„Kleist war kein Mann des Theaters“, stellt Alexander Košenina fest, „und er hielt auch nicht allzu viel von der Bühne seiner Zeit“[9]. Kleists Versuch, Goethe, der mit seiner »Iphigenie« ebenfalls einen anspruchsvollen mythologischen Stoff auf die Bühne gebracht hatte, als Verbündeten zu gewinnen, scheiterte, wie wir wissen, kläglich. Goethe hielt Kleists resignatives Eingeständnis, auf ein künftiges Theater warten zu wollen, für das klägliche Scheitern eines Verirrten, welches ihn umso mehr dauerte, als er dem erfolglosen Dichter in dem einzigen Brief, den er an Kleist adressierte, durchaus „Geist und Talent[10] “ zuzubilligen sich genötigt sah. Ein Stichwort, das weiter hilft, mag hier jedoch viel eher der Erfolg gewesen sein, der sich notwendig an den Anforderungen des Jetzt orientiert und daher nicht darauf warten kann und will, bis sich die Beschaffenheit der Theater „vor und hinter dem Vorhang[11] “ – eine kleistsche Metapher, die durchaus für das ganze der Gesellschaft stehen kann – geändert haben wird. Wenn Goethe also Kleists »Zerbrochenen Krug« für die Weimarer Aufführung in drei Akte zerlegt – ein dramaturgischer Umstand, der in der Literatur oft für den, wie unterstellt wird, von Goethe gewollten Misserfolg des Stückes verantwortlich gemacht wird – so zeigt dies eben nur, dass Goethe das Stück aufführen möchte, anstatt auf die Erfindung der elektrischen Theaterbeleuchtung zu warten – die Brenndauer der Kerzen war schlicht zu kurz, um einen pausenlosen Einakter zu beleuchten.
Mag sich das Problem der Aufführbarkeit hier noch auf vorwiegend technische Aspekte eingrenzen lassen, so ist der Fall hinsichtlich Kleists späterem Drama »Penthesilea« anders gelagert. In diesem bündelt Kleist Identitätsdiskurse zusammen, die nicht nur für das klassische Weimar gänzlich ungenießbar waren. Kleists Drama kann als Ausdruck eines Epochenübergangs und der damit verbundenen Verunsicherung gelesen werden, und es mag dass große Unbehagen, dass Kleists Zeitgenossen, seine Förderer sogar mit eingeschlossen, an dem Stück hatten, gerade als Beleg für diese Vermutung gelten.
Den hier in Rede stehenden Übergang macht Foucault in den Jahren vor und nach 1800 zwischen der klassischen und der modernen Epoche aus[12]. Kleist selber artikulierte ja sein Leiden an für ihn nicht näher erklärbaren Veränderungen epochalen Ausmaßes: „Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben.“[13]. Der feinsinnige Beobachter attestiert der Familie Kleist beinahe schon ein besonderes Gespür für den ›Weltgeist‹, den sie zu verkörpern scheint: „Seltsam ist es doch mit den drei Dichtern aus dem Kleistschen Hause“ bemerkte Friedrich de la Motte Fouqué über Ewald Christian, Franz Alexander und den jüngsten, Heinrich von Kleist: „Alle so früh im Grabe, und jeder gewissermaßen durch die Todesart sein Zeitalter ausdrückend. Der erste gefallen im glorreichsten preußischen Kriege [dem Siebenjährigen], fromm und pflichttreu bis aufs letzte, der zweite in wüster Ausschweifung untergegangen noch vor dem Sterben, der dritte [Heinrich] in philosophischer Kraft, mit edler Besonnenheit verirrt hinabgestiegen, einer der herrlichsten Selbstmörder, die es je gegeben hat, nicht ohne Ahnung von Religion“[14].
Kleists Dramen sind das künstlerische Sublimat dieser Verirrung, die wohl als Symptom der Umbruchszeit gelten darf, sie teilt sich in relativer Deutlichkeit in Form einer spezifischen Sprachskepsis mit, der kommunikativen Dysfunktionalität, die durch die umso intensiveren Körperzeichen nicht eben kompensiert werden kann, weisen doch beide Systeme allerorten semantische Brüche und Missverständnisse auf[15], welche die Verzweiflung des verirrten Individuums spiegeln: Kleists so genannte ›Kantkrise‹ markiert den Anfang und zugleich – vor seinem Selbstmord – den ersten kuriosen Höhepunkt dieser Verirrung die vor allem an den Möglichkeiten der Erkenntnis verzweifelte.
Als epochale Erschütterung der europäischen Mächteordnung wurde schon von den Zeitgenossen die nach der Revolution von Frankreich ausgehende Neuordnung nicht nur der politischen Verhältnisse Europas aufgefasst – eine Erschütterung die sich gegen die gewohnte Rechtsordnung genauso, wie gegen die staatliche Integrität nicht nur Preußens richtete.
In England hatte die Industrialisierung begonnen, in Deutschland regten sich erste nationale Identitätswallungen, die vor allem vor dem Hintergrund der französischen Okkupation sich bald intensivieren sollten[16]. Beide Entwicklungen sind zentrale Merkmale einer Modernisierung, deren frühe Phasen Kleist mit sensiblem Gespür miterlebt hat. Modernisierung heißt vor allem: Säkularisierung. Diese war zu Kleists Lebzeiten in vollem Gange. Nicht ohne den historisch-lebensweltlichen Hintergrund des frühen 19. Jahrhunderts muss in dessen »Amphitryon« der Göttervater Jupiter „am eigenen Leibe [erfahren], wie wenig der Mensch [noch] eines Gottes bedarf“[17]: „Seit die Gesellschaft [nämlich] keine geheiligte Struktur mehr besitzt und seit die gesellschaftlichen Einrichtungen und Handlungsweisen nicht mehr in der Ordnung der Dinge oder im Willen Gottes gründen, sind sie in gewissem Sinne frei verfügbar geworden. […] Der Maßstab, der von nun an gilt, ist der der instrumentellen Vernunft“[18]. Nachdem die „alten Ordnungsgefüge weggefegt [worden waren, war] der Spielraum der instrumentellen Vernunft zweifellos sehr viel größer geworden“[19], ein Spielrau]m den der säkular-technokratische Geist, welcher der Epoche in der Nachfolge der Aufklärung den Prägestempel aufdrücken sollte, auch ausnützt. Hier findet auch der Übergang vom metaphysischen zum rational-technischen Weltbild statt. Die damit einhergehende Verunsicherung des frühmodernen Individuums ist evident[20]: „Die Ratio, welche die Mimesis verdrängt, ist nicht bloß deren Gegenteil. Sie ist selber Mimesis: die ans Tote“[21].
[...]
[1] Heimböckel, 48
[2] Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, zwei Bände, Tübingen 1999
[3] vgl. Fischer-Lichte 1999, Bd.1, 6
[4] ebd.
[5] vgl. Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt a.M., 1991
[6] vgl. Keupp, Heiner (Hg): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg, 2002
[7] Georg Büchner wird schon 25 Jahre später diese Geschichte erzählen: Sein Stück „Leonce und Lena“ war seiner Zeit ebenfalls weit voraus.
[8] Foucault, Die Ordnung der Dinge, 25
[9] Košenina, 38
[10] Weimar, den 1. Februar 1808
[11] Kleist an Goethe, Dresden, 24. Januar 1808
[12] Foucault, Die Ordnung der Dinge, 25ff.
[13] Brief an Rühle aus dem Dezember 1805. In: H. von KLEIST: Sämtliche Werke und Brief, 352.
[14] zit. n. Staengle, 10
[15] „Aus dem Gegensatz von ausgesprochenem aber missverständlichem Wort und traumhaftem, aber ahnungsvollen Handeln sind Kleists Dramen entwickelt“, Schlaffer, 91
[16] Kleists »Herrmannsschlacht« ist wohl nur vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege zu verstehen
[17] Heimböckel, 102
[18] Taylor, S. 11
[19] ebd.
[20] Foucault spricht gar davon, der Mensch sei eine lediglich zweihundert Jahre alte Errungenschaft
[21] Adorno/Horkheimer, S. 64
- Quote paper
- M.A. Björn Potulski (Author), 2004, Kleists „Penthesilea“ als Tragödie des Epochenübergangs , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110896
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