Die Arbeit betrachtet den Kulturbegriff unter den Paradigmen der Ausländerpädagogik und der Interkulturellen Pädagogik. Es wird der Frage nachgegangen, in welchen Bedeutungskontexten Kultur in der Ausländer- und der Interkulturellen Pädagogik eingesetzt und für welche Ziele pädagogischen Handelns „Kultur“ herangezogen wird.
Im Zentrum steht ausserdem die Frage, inwiefern Kulturdefinitionen der Sozialwissenschaften den pädagogischen Kulturbegriff mitkonstituiert und dessen Bedeutungsveränderungen mitbeeinflusst haben.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Aufbau
1 Der Kulturbegriff in der Ausländerpädagogik
1.1 Verwendungskontexte von Kultur in Bezug auf die Praxis der Bildungsinstitutionen
1.2 Kritik an ausländerpädagogischen Sichtweisen auf Kultur
1.2.1 Pädagogisierung eines gesellschaftlichen Problems
1.2.2 Hierarchisierung von Kulturen
1.2.3 Kritik an Kultur als Problemfeld
2 Der Paradigmenwechsel der Interkulturellen Pädagogik
2.1 Die Differenzierung des Kulturbegriffs
2.2 Konzepte von „Kultur“ in den Sozialwissenschaften
2.2.1 Ethnizität
2.2.2 Kritik am Ethnizitätskonzept
2.2.3 Annäherungen an einen modernen Kulturbegriff
2.3 Kritik an der Interkulturellen Pädagogik
3 Perspektiven für den Umgang mit Diversität in den Erziehungswissenschaften
3.1 Strukturelle Massnahmen
3.2 Globales Lernen
Schluss
Literatur
Vorwort
„Kultur“ kann als Schlüsselkategorie der Interkulturellen Pädagogik bezeichnet werden. Bereits im Namen „Interkulturelle Pädagogik“ ist der Begriff „Kultur“ enthalten und verweist darauf, dass Kultur in der Auseinandersetzung mit dem Fremden in den Erziehungswissenschaften eine massgebende Rolle spielt. In der Literatur zur Interkulturellen Pädagogik wird dem Terminus „Kultur“ ein prominenter Platz zugewiesen. „Kultur“ wird in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen und mit vielfältigen Gebrauchslegitimierungen verwendet. Die folgenden Sätze bringen diese heterogenen Gebrauchsweisen von „Kultur“ zum Ausdruck:
- „Multikulturelle Klassen sind eine Realität“ (Kübler; Stricker; Winterberger 1997, S.30)
- [...] Interkulturelle Erziehung bezieht sich auf die Aufgabe eines [...] Kulturfortschritts des Kulturwesens Mensch (Löwisch 1989)
- Tatsächlich kann interkulturelle Erziehung nur solange sinnvoll sein, wenn die Betroffenen an Besonderheiten ihrer Kultur [...] festhalten möchten (Nieke 1995, S. 197).
In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, in welchen Bedeutungskontexten Kultur in der Ausländer- und der Interkulturellen Pädagogik eingesetzt wird. Zudem wird gefragt, für welche Ziele pädagogischen Handelns „Kultur“ herangezogen wird.
Dabei wird untersucht, welche Neukonzeptionen der Kulturbegriff durch Paradigmenwechsel in der Interkulturellen Pädagogik erfahren hat und inwiefern Kulturdefinitionen der Sozialwissenschaften den pädagogischen Kulturbegriff mitkonstituiert und dessen Bedeutungsveränderungen mitbeeinflusst haben.
Aufbau
Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird die Verwendung des Begriffs „Kultur“ in der Ausländerpädagogik analysiert. Es wird gezeigt, in welchen Zusammenhängen „Kultur“ in Konzepten der Ausländerpädagogik als relevante Kategorie herangezogen wird und welche Argumentationslinien für die Positionierung der Kategorie verwendet werden. Am Beispiel eines Buchs für Praxisfelder der Ausländerpädagogik werden Gebrauchsweisen von Kultur aufgezeigt. Abschliessend werden Kritikpunkte an der Verwendung des Kulturbegriffs in der Ausländerpädagogik zusammengetragen und diskutiert.
Im zweiten Teil der Arbeit wird der Paradigmenwechsel von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik aufgezeichnet. Dabei steht wiederum „Kultur“ und die Neukonnotierung des Begriffs im Zentrum. Die Erläuterung der Bedeutungsveränderungen des Kulturbegriffs in den Sozialwissenschaften ermöglicht ein vertieftes Verständnis über die unterschiedlichen Sichtweisen auf „Kultur“ in der Interkulturellen Pädagogik. In einem weiteren Kapitel wird näher auf die Kritik an der Interkulturellen Pädagogik und dem Gebrauch von „Kultur“ eingegangen.
Der dritte Teil fragt nach Perspektiven für eine Interkulturelle Pädagogik mit Berücksichtigung der erläuterten Kritik über die Verwendung von „Kultur“ in den bisherigen Konzepten. In Ansätzen werden zwei mögliche Perspektiven erläutert: Die erste Perspektive legt den Schwerpunkt der Auseinandersetzung über gesellschaftliche Diversität auf konkrete institutionelle Anpassungsmassnahmen. Eine zweite Perspektive skizziert das Konzept des Globalen Lernens mit der Möglichkeit eines Einbezugs der Interkulturellen Pädagogik.
Im Schlusskapitel werden die wichtigsten Aspekte der Arbeit zusammengefasst und abschliessend diskutiert. 1 Der Kulturbegriff in der Ausländerpädagogik
Unter der Bezeichnung „Ausländerpädagogik“ setzte in den 1960er-Jahren die Diskussion über den „richtigen pädagogischen Umgang“ mit Gastarbeiterkindern und ihren Familien ein (vgl. Krüger-Potratz 1999, S. 154). Die Thematik wurde auf zwei Ebenen konzeptualisiert: Zum einen wurden Sozialisationsdefizite und sprachliche Schwierigkeiten von Migrantenkindern festgestellt. Zum anderen wurde der kulturelle Hintergrund der Migrantenkinder als Ursache für Konflikte gesehen (vgl. Kiesel, S. 3). Kultur als Kategorie der wissenschaftlichen Analyse wurde in der Literatur zunächst kaum reflektiert und analysiert. Lebenspraktiken und Weltauffassungen von Migrantinnen und Migranten galten als kulturell determiniert, ohne weitere Einflussfaktoren zu erwägen (vgl. Gogolin; Krüger-Potratz 2006).
Die Verwendungskontexte legen nahe, dass Kultur zunächst als „Nationalkultur“ verstanden wurde, im Sinne eines „homogenen, statischen Bestands an Tradition, Auffassungsweisen und Ausdrucksformen in dem gesellschaftlichen Ganzen eines Staates“ (vgl. Gogolin 1998, S. 8). Diese Sichtweise beinhaltet die Annahme, dass Individuen über gemeinsame kulturelle „Eigenschaften“ verfügen, die durch ihre nationale Zugehörigkeit definiert werden. Vertreterinnen und Vertreter der Ausländerpädagogik gingen davon aus, dass diese „Eigenschaften“ auch in der Migration stabil bleiben. Deshalb wurde als Problempunkt der neuen pädagogischen Interessensrichtung die Sozialisation der ausländischen Kinder in „zwei Kulturen“ hervorgehoben vgl. (Hamburger 1994). In einem im 1977 erschienenen Buch kommt dieses Verständnis zum Ausdruck:
Besondere Sozialisaionsprobleme der ausländischen Kinder und Jugendlichen entstehen dadurch, dass der Entwicklungsprozess im soziokulturellen System des Herkunftslandes unterbrochen und im Aufnahmeland unter dem Einfluss zweier unterschiedlicher soziokultureller Systeme fortgesetzt wird [...] (Boos-Nünning; Hohmann 1977, S. 9).
In zahlreichen weiteren Publikationen mit ausländerpädagogischem Hintergrund wird ersichtlich, wie der Problemfokus stark auf die durch die Migration verursachte Desorientierung in zwei unterschiedlichen kulturellen Systemen gelegt wurde. Die Erziehungswissenschaftler Furrer und Müller beispielsweise, beschreiben den „Zwang türkischer Kinder, gewissermassen in zwei Welten zu leben“ (Furrer, Müller et al. 1992, S. 16). Abweichendes Verhalten wurde oft mit diesem soziokulturellen Einflussfaktor in Verbindung gebracht. Die Autoren Boos und Nünning sprechen gar von „Störungen des Sozialisationsprozesses“. Als „Symptome“ nennen sie Angst, Unsicherheit, verminderte Kontakt- und Leistungsfähigkeit sowie steigende Aggressivität (1977, S. 8). Solche Analysen weisen Migrationsbiographien von Kindern und Jugendlichen regelrecht pathologische Folgeerscheinungen zu. Wie bereits angesprochen, wurde das Augenmerk vor allem auf die sprachlichen und sozialen Defizite von Ausländerkindern gerichtet. Paul Mecheril stellt fest, dass auch unterschiedliche kulturelle Orientierungssysteme von Zugewanderten als defizitär eingestuft wurden (vgl. 2004, S. 100). Das eigene kulturelle Wertesystem galt als Referenzkultur und Bezugsrahmen gegenüber den „Kulturen“ von Migrantinnen und Migranten. Weil die in der Optik der Aufnahmeländer „dominante Kultur“ nur einmal vorherrschen kann, wurde von den Zugewanderten eine Angleichung an dieses soziale Referenzsystem erwartet (Mecheril 2004, S. 100). Diese Angleichungserwartung und die darauf referierenden Massnahmen haben unter dem Begriff der „Assimilation“ während Jahren die Diskussion bestimmt.
Versuche, die Ausländerpädagogik als systematischen Gegenstand zu konstituieren, wurden erst in der nachträglichen kritischen Beleuchtung der Kategorie vorgenommen. Zur besseren Übersicht wird hier trotzdem ein Systematisierungsversuch dargestellt, welcher in einem späteren Kapitel durch eine Systematisierung der „Interkulturellen Pädagogik“ ergänzt wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1.1 Verwendungskontexte von Kultur in Bezug auf die Praxis der Bildungsinstitutionen
„Kultur“ als Bezugsrahmen der Ausländerpädagogik hat die Ausgestaltung der Curricula und der Unterrichtsmaterialien stark geprägt. Der assimilatorische Ansatz der pädagogischen Institutionen führte in seiner praktischen Umsetzung zu spezifischen Formen des Umgangs mit Fremden und deren Repräsentation.
Ein Beispiel aus der Unterrichtsliteratur soll im folgenden näher betrachtet werden: Der 1977 erschienene Titel „Ausländische Kinder“ der Herausgeber Boos-Nünning und Hohmann fokussiert auf die Schule und Gesellschaft in den Herkunftsländern der Migrantenkinder.
Boos-Nünning und Hohmann sehen die zukünftige Aufgabe der Pädagogik darin, ihre Forschungstätigkeit im Bereich des interkulturellen Vergleichs zu verstärken. Diese Forderung gründet auf der Annahme, dass schulische Probleme mit Zugewanderten nur durch ein besseres Verständnis von deren Herkunftskulturen erfasst und angegangen werden können:
Angestrebt wird eine Beschreibung der Situation in den genannten Entsendeländern, die Lehrern und anderen Interessierten eine erste Information über Gesellschaft und Schule in den für sie in der Regel unbekannten soziokulturellen Systemen vermitteln kann (1977, S. 12).
Das Buch enthält sechs Länderberichte, welche aufgrund von Gutachten, die eigens für das Buch in Auftrag gegeben worden waren, erstellt wurden. Die detaillierten Länderberichte sollten bei Lehrpersonen einerseits „Verständnis für die Situation der Ausländer“ bewirken, andererseits eine Hilfestellung abgeben für die „Bewältigung der vielfältigen Probleme“ in Zusammenhang mit Migration (Boos-Nünning; Hohmann 1977, S. 15).
Bezeichnend ist die Herangehensweise der Herausgeber: Im vorangehenden Kapitel wurde darauf eingegangen, dass der kulturelle Hintergrund von Zugewanderten in Einklang gebracht wurde mit den „Nationalkulturen“ der Herkunftsländer. Weitere Faktoren wie Schichtzugehörigkeit, Bildungshintergrund und lokale kulturelle Ausprägungen wurden nicht mit in Betracht gezogen. Nationalkultur wurde repräsentiert als eine statische Ausprägung, welche der Gesellschaft eigen ist. Ein Textauszug aus dem Länderbericht des damaligen Jugoslawiens kann diese Sichtweise illustrieren. Es handelt sich um die Beschreibung der Sozialisationsbedingungen einer „typischen“ Familie:
Die typische dörfliche Familie, die aber auch in Grossstädten anzutreffen ist, [...] ist die patriarchalische. Der Vater hat die dominierende Stellung. Er trifft alle wesentlichen Entscheidungen, fordert Anerkennung seiner Macht, Unterwerfung und Dienstbarkeit von Frau und Kindern. Die erzieherischen Massnahmen leiden unter universellen Rezepten, metaphysischen Schablonen und Elementen einer negativen Tradition. Die Eltern versuchen ihre Autorität durch Forderung von bedingungslosem Gehorsam, Unterordnung der Kinder unter ihren Willen [...] zu wahren. Teilweise nutzen die Eltern die Arbeitskraft ihrer Kinder in einem Ausmass, dass negative Auswirkungen auf die körperliche und psychische Entwicklung (und) den Schulerfolg [...] nicht ausbleiben. (Boos-Nünning; Hohmann 1977, S. 166)
Das Textbeispiel hat für die Debatte der Ausländerpädagogik einen exemplarischen Charakter: „Die Familie“ der jugoslawischen Gesellschaft wird als ein national-universelles und statisch funktionierendes System beschrieben. Individuelle lokale Ausprägungen sowie die Möglichkeit von dynamischem Wandel, Veränderung und Entwicklung werden nicht berücksichtigt.
Wie bereits erläutert, spricht Ingrid Gogolin hierbei vom Verständnis eines „homogenen, statischen Bestands an Tradition, Auffassungsweisen und Ausdrucksformen in dem gesellschaftlichen Ganzen eines Staates“ (vgl. Gogolin 1998, S. 8). Die Exotisierung der „anderen Kultur“ wird im Textbeispiel dadurch verstärkt, dass die Schilderung aus einer ethnozentrischen Perspektive verfasst ist. Als Referenzmassstab gilt wohl ein liberales Familiensystem welches jenes der damaligen deutschen Gesellschaft repräsentieren soll. Wie Anfangs Kapitel angesprochen, sieht das Autorenteam einen sinnvollen Nutzen in kulturvergleichenden Studien. Die Risiken scheinen offensichtlich, dass hierbei, wenn auch unbeabsichtigt, ein hierarchisierender Ansatz verfolgt wird.
1.2 Kritik an ausländerpädagogischen Sichtweisen auf Kultur
Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre entwickelte sich eine breite Kritik an den Konzepten der Ausländerpädagogik. Im Folgenden sollen vor allem jene kritischen Standpunkte verarbeitet werden, welche die Rezeption von Kultur betreffen.
Eine erste Kritik betrifft die Ausländerpädagogik als Gegenstand der Pädagogik: Verschiedene Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass die Ausländerpädagogik nicht als linearer Diskurs abgegrenzt werden kann. Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke (1999, S. 127ff.) legen dar, dass die Ausländerpädagogik erst durch deren Kritik systematisch beschrieben wurde. Erst durch die Kritik an der Ausländerpädagogik entstand deren inhaltliches Konstrukt.
Auch wenn es sich als problematisch erweisen dürfte, die Ausländerpädagogik im Kontext einer linearen systematischen Entwicklung zu verstehen, können inhaltliche und diskursive Schwerpunkte zumindest im Nachhinein durchaus mit dem Gegenstand der heute als „Ausländerpädagogik“ bezeichneten Diskussion verknüpft werden.
Weshalb die kritische Rezeption der Ausländerpädagogik erst Anfangs der Achtzigerjahre einsetzte, könnte darin begründet sein, dass in den Aufnahmeländern bis Ende der Siebzigerjahre keine institutionalisierte Forschung zum Themenbereich Schule und Migration betrieben wurde (vgl. Czock 1993, S. 74).
1.2.1 Pädagogisierung eines gesellschaftlichen Problems
Wie erläutert, stellt „Kultur“ in der Diskussion der Ausländerpädagogik keineswegs eine analytisch ausgewiesene Kategorie dar. Die vielfältige und umfassende Literatur, die sich kritisch zu den Inhalten der Ausländerpädagogik äussert, legt nahe, dass „Kultur“ bedeutsamer aber unhinterfragter Terminus war, um die festgestellten „Defizite“ von Ausländerkindern zu begründen. Im Folgenden sollen jene Kontexte analysiert werden, in denen Kultur im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der Ausländerpädagogik verwendet wurde.
Diehm und Radtke sehen die Anerkennung und Beachtung der Ausländerpädagogik als Forschungs- und Handlungsfeld darin begründet, dass es gelungen ist, diese als bisher nicht eingegrenzten und verorteten Problemkreis zu konstruieren. Die Problemverortung mit der Unterscheidung „Kultur“ vermochte ein neues Praxisfeld und eine neue Klientengruppe zu erschliessen. Die Feststellung einer zunehmenden kulturellen Diversifizierung der Gesellschaft wurde nach Ansicht der Autoren problematisiert, um der Thematik Anerkennung zu verschaffen und den zuständigen Akteuren Anlass zum Handeln zu geben (vgl. Diehm and Radtke 1999, S. 67).
Albert Scherr (1998, S. 54) spricht von der „Erfindung von Fremdheit in sozialen Konflikten“. Der Autor argumentiert, dass bei sozialen Konflikten die Wahrnehmung von Fremdheit und Andersartigkeit hervorgebracht werden kann. Die Zuschreibung von Differenz kann in Konfliktsituationen konstruiert werden, ohne dass diese vor Eintreten der Auseinandersetzung zwischen den beteiligten Gruppen bestanden hat.
Der soziale Konflikt bringt die Wahrnehmung der Andersartigkeit der Aussenseiter hervor und findet in dieser Wahrnehmung seine Legitimation (Scherr 1998, p. 54).
Dass der Problempunkt der kulturellen Differenz in der Ausländerpädagogik breit gestützt wurde, wird von Czock mit dem Umstand in Verbindung gebracht, dass die Argumentation der Defizit-Orientierung nur unzureichend belegt werden konnte. Für die festgestellten sprachlichen und sozialen „Defizite“ wurden Fördermassnahmen etabliert, welche jedoch nicht die erwarteten Erfolge zeigten. Czock ist der Ansicht, dass dabei das Paradigma der kulturellen Differenz als neue und plausible Problembegründung herangezogen wurde (vgl. 1993, p. 73-76). Radtke (1995, S. 853) unterstützt diese Sichtweise und warnt vor der “Pädagogisierung eines gesellschaftlichen Problems“. Er argumentiert, dass gesellschaftliche Probleme als pädagogische Aufgaben verstanden würden, wenn für politisches Handeln kein Ansatz gefunden oder kein Konsens erreicht wird. Erziehung wird aus seiner Sicht oft instrumentalisiert als „Ersatzhandlung“ für Probleme, welche auf einer politischen und strukturellen Ebene angegangen werden müssten.
Die Autorinnen und Autoren weisen darauf hin, dass das Differenzparadigma aufgrund von institutionellen, politischen und forschungstheoretischen Interessen konstruiert werden kann. Auch Doron Kiesel (1996) ist der Ansicht, dass die Auffassung von Migrationsfragen als pädagogische Aufgabe deshalb bevorzugt wurde und wird, „weil sie auf diesem Weg bürokratisch bearbeitbar erscheint.“
1.2.2 Hierarchisierung von Kulturen
Annedore Prengel kritisiert, dass die Ausländerpädagogik einen Ausgleich von Defiziten beabsichtigt, sich dabei aber unhinterfragt am Massstab der eigenen Schulsysteme orientiert. Sie spricht dabei von einer „monistisch ausgerichteten Hierarchie der Kulturen“ (2006, p. 76). Prengel betrachtet diese „assimilierend-kompensatorischen Bemühungen“ um zugewanderte Kinder zwar rückblickend als in einem gewissen Grade unerlässlich für die Lebensbewältigung. Diese Notwendigkeit zur Anpassung sieht sie aber verbunden mit dem Dilemma, dass die Ausländerpädagogik auf einem monokulturellen Weltbild basiert, eine Tendenz, die auch noch in der heutigen Debatte der Interkulturellen Pädagogik Niederschlag findet. Der Erziehungswissenschafter Paul Mecheril (2004, S. 100ff.) spricht hierbei von Ethnozentrismus und meint damit die einseitige Beurteilung anderer gesellschaftlicher Wertmassstäbe aus dem Standpunkt der eigenen kulturellen Orientierung. Er analysiert die damalige Diskussion um kulturelle Differenz unter einer evolutionistischen Perspektive. Dabei wird, so Mecheril, der „Rückstand“ der MigrantInnen zu einem Modernisierungsrückstand.
Die festgestellte Differenz wird als Rückstand diagnostiziert, weil es einen kulturellen Bezugspunkt gibt, der als universelles Beurteilungsmass Verwendung findet (Mecheril 2004, p. 101)
Albert Scherr stimmt dieser Beurteilung zu und stellt fest, dass die Modernisierungsdebatte nicht erst mit Einsetzen der Arbeitsmigration begonnen hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die „Armen und Verwahrlosten“ als Fremde wahrgenommen. Die soziale Pädagogik sollte die innergesellschaftliche Problemgruppe auf das „kulturelle Niveau der bürgerlichen Gesellschaft heben“. Scherr erachtet deshalb soziale Konflikte als „Konflikte um die Anerkennung legitimer Lebensformen“ (Scherr 1998, S. 52-55). Er spricht von einer „Privilegierung der jeweiligen Normalität“ und meint damit jene Form der Stratifizierung, die Mecheril mit dem „Modernisierungsrückstand der Migranten“ bezeichnet.
Auch Doron Kiesel (1996, S. 84) kommt zum Schluss, dass die Ausländerpädagogik zwar den Ausgleich von Defiziten der ausländischen SchülerInnen anstrebte, sich dabei aber unhinterfragt am deutschen Schulsystem orientierte. Dieser Ansatz führte dazu, dass ein „Ausgleich“ nur als Prozess der Assimilation, einer Angleichung an die selbstverständlichen Deutungsmuster verstanden werden konnte. Das Assimilationsziel in den Förderkonzepten der Ausländerpädagogik wurde in der Folge stark kritisiert. Der Vorwurf lautete, dass Assimilation und Akkulturation letztlich zu einer „Germanisierung“ führen. Diese Praxis stand letztlich auch im Widerspruch mit der Zielsetzung der Erhaltung der Rückkehrfähigkeit der Migrantinnen und Migranten. Es wurde auch bemerkt, dass das Selbstverständnis einer dominierenden Kultur im Widerspruch steht zur damals zunehmend anerkannten Auffassung, dass alle Kulturen gleichwertig seien (vgl. Nieke 1995, S. 16ff.).
1.2.3 Kritik an Kultur als Problemfeld
Es wurde vielfach kritisiert, dass sich die Ausländerpädagogik lediglich mit den Herkunftskulturen der Zugewanderten beschäftigt. Mit der Kulturkonflikt-Hypothese war auch die Ansicht vertreten, dass sich AusländerInnen durch die Migration quasi im „Niemandsland der Kulturen“ befinden (vgl. Kiesel 2006, S. 4). Dabei wurde vernachlässigt, dass Zugewanderte durchaus über soziale Handlungs- und Überlebensstrategien verfügen. Zugewanderte sind nicht Träger ihrer Herkunftskulturen. Das neue gesellschaftliche Umfeld in der Migration führt zur Herausbildung von neuen kulturellen Referenzsystemen. Annedore Prengel (2006, S. 67) spricht dabei von „Migrantenkulturen“: Kulturelle Symbole können sich durch die Migration verändern, sie können an Bedeutung verlieren, gewinnen oder ihren Bedeutungsgehalt verlagern. Die Sichtweise beinhaltet auch die Feststellung, dass sich die Zugewanderten von ihren „Herkunftskulturen“ entfremden können. Einerseits deshalb, weil sich Migrantinnen und Migranten ein neues kulturelles Bezugssystem aneignen müssen, welches sich im sozialen Umfeld der Aufnahmegesellschaft sinnhaft integriert. Ausserdem schenkten die Sozial- und Erziehungswissenschaften vermehrt dem Umstand Beachtung, dass kulturelle Systeme sich dynamisch verändern. So sind auch Herkunftskulturen in einem Wandel begriffen und MigranInnen können an den Veränderungsprozessen ihrer „Herkunftskulturen“ nicht vollumfänglich teilhaben.
Der Prozesscharakter von Kultur wurde hierbei ebenso übersehen, wie der Tatbestand, dass die „Heimatkultur“ als Bezugsgrösse nicht mehr mit der faktischen Sozialstruktur oder autochthonen Traditionen korrespondiert und ihre Pflege folkloristische Züge annehmen muss (Kiesel 1996, S. 86).
Ein zentrales Begründungsmuster für die Notwendigkeit der Ausländerpädagogik stellt die Annahme dar, dass sich bei Ausländerkindern bedingt durch das „Leben in zwei Kulturen“ ein Identitätsproblem ergebe. Franz Hamburger (1994, S. 15ff.) weist darauf hin, dass diese These empirisch kaum gestützt ist. Belege für diese Annahme würden lediglich aufgrund von für die Gesamtpopulation nicht repräsentativen Studien mit problematischer Methodik ausgewiesen. Aufgrund der im Folgenden beschriebenen Mängel muss laut Hamburger an der Glaubhaftigkeit der Differenzhypothese gezweifelt werden. Der Autor legt dar, dass der Kulturbegriff diffus und weitgehend impressionistisch verwendet wurde. Ohne eine Klärung der Unterschiede und Zusammenhänge mit Sozialstruktur, Religion, Wirtschaftsform, Sprache, usw. erweise sich die Kulturkonflikthypothese als unbrauchbar. Er kritisiert, dass Kulturkonflikte als Erklärungsschema für unterschiedliche soziale Phänomene herangezogen würden, ohne dabei die Zusammenhänge mit „Kultur“ nachweisen zu können. Er erachtet es ausserdem als problematisch, „von widersprüchlichen kulturellen Verhaltenserwartungen auf Identitätsprobleme zu schliessen“. Seine Analyse mündet wiederum in der bereits erläuterten Kritik, dass die Erklärung „Kulturkonflikt“ letztlich ein Ersatzargument für ökonomische, politische und sozialstrukturelle Problempunkte sei.
Die Annahme, dass Kinder mit Migrationshintergrund zu Identitäts- und Kulturkrisen neigen, hatte zahlreiche sozialpädagogische Massnahmen zur Folge, welche eine Bewältigung der angeblichen Konflikte ermöglichen sollten. Gerechtfertigt wurden diese einseitig bei den Ausländerkindern angesetzten Massnahmen mit der Begründung, dass für den Ausgleich der Defizite nicht die Chancen der privilegierten Gruppe herabgesetzt werden können (vgl. Kiesel 1996, S. 92ff.). Von Kritikern wurde bemerkt, dass die Herausbildung einer pädagogischen Spezialdisziplin zu einer weiteren Marginalisierung der Ausländerkinder führen würde.
Von solchen Massnahmen würden nicht die Kinder profitieren, sondern in erster Linie die Fachpersonen, welche sich durch dieses pädagogische Praxisfeld neue Ressourcen erschliessen konnten. 2 Der Paradigmenwechsel der Interkulturellen Pädagogik
Durch die Kritik an der Ausländerpädagogik wurde Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre ein Paradigmenwechsel eingeleitet. Zwar sind einige Autorinnen und Autoren (vgl. Ingrid Gogolin) der Ansicht, dass es einen erkennbaren Diskurswechsel von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik nicht gegeben habe. Auch Mecheril (2004, S. 89-90) stimmt zu, dass die beiden Ansätze historisch nicht klar abgrenzbare Phasen darstellen. Das „ausländerpädagogische Prinzip“ sei noch nicht überwunden, sondern in so genannt „interkulturellen“ Konzepten nach wie vor bedeutsam. Trotzdem lassen sich die beiden Ansätze durch ihre unterschiedliche Sichtweise auf den „Anderen“ voneinander unterscheiden: Währenddem die Ausländerpädagogik ihr Augenmerk auf den „Ausländer“, fehlende Fähigkeiten und Fertigkeiten des „Anderen“ gerichtet hatte, legte die Interkulturelle Pädagogik ihren Fokus primär auf den kulturellen Hintergrund der Zugewanderten. Das Anderssein wurde nicht mehr auf die nichtdeutsche Staatsbürgerschaft reduziert, sondern mit dem anderen kulturellen (und sprachlichen) Hintergrund erklärt.
Die Interkulturelle Pädagogik beginnt, den Anderen als in einer partikularen Weise handlungsfähig und gewissermassen „ich-begabt“ zu erkennen. Diese rigorose Hinwendung zum Anderen ist der Ausländerpädagogik fremd. Sie bemisst den Anderen lediglich in seinem Vermögen, sich in einem vorgegebenen, dominanten Handlungskontext zu bewegen (Mecheril 2004, S. 92).
Der Defizitkonstruktion der Ausländerpädagogik wurde nun eine relativistische Konzeption von Kultur entgegengesetzt. Die Herkunftskultur galt im Ansatz der Ausländerpädagogik gemessen an der eigenen Kultur als defizitär. Das Scheitern der Bemühungen, „Defizite“ von zugewanderten Schülerinnen und Schülern mit förderndem Unterricht zu kompensieren, wurde „mit der herkunftskulturell geprägten psycho-sozialen Ausstattung der Kinder und ihrer Familien begründet“ (Diehm; Radtke 1999, S. 129).
Was bisher als Mangel erschien, wurde nun positiv gewendet und als Anderssein definiert (Diehm; Radtke 1999, S. 129).
Konzepte der Interkulturellen Pädagogik anerkennen vordergründig die „gesellschaftliche Multikulturalität“ und sehen die „andere Kultur“ als Ressource, welche einen gesellschaftlichen Nutzen darstellt. Die Interkulturelle Pädagogik stellte sich die Aufgabe, Konzepte für einen „vernünftigen Umgang mit Differenzen“ zu entwickeln (vgl. Krüger-Potratz 1999, S. 157ff.). Die Anerkennung von Multikulturalität erfordert Toleranz und Solidarität; Qualitäten, für die Schülerinnen und Schüler im Unterricht sensibilisiert werden sollen (vgl. Hamburger 1994, S. 63-69). Das Kennenlernen von „anderen Kulturen“ sowie die Sensibilisierung für Toleranz sollten Lösungen für Konflikte herbeiführen. Ausserdem sollte durch die Auseinandersetzung mit dem Fremden das Eigene besser verstanden werden. M. Krüger Potratz fasst den Ansatz unter folgender Formel zusammen:
Das Fremde soll erkundet und als gleichwertig geachtet, aber weiterhin als Fremdes gedacht werden, an dem das Eigene schärfer erkannt und in seiner Eigenheit schätzen gelernt werden soll (vgl. Krüger-Potratz 1999, S. 157ff.).
Die Formel bringt zum Ausdruck, dass der Defizitansatz auch in Konzepten der Interkulturellen Pädagogik in einem veränderten Kontext immer noch enthalten ist: Die Überbrückung von kulturellen Differenzen gilt unter neuen Vorzeichen nach wie vor als zentrales Handlungsfeld der Interkulturellen Pädagogik. Die untenstehende tabellarische Aufstellung umreisst die konzeptuellen Schwerpunkte der Interkulturellen Pädaogik:
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2.1 Die Differenzierung des Kulturbegriffs
Die Ethnologie und andere sozialwissenschaftliche Disziplinen waren massgeblich daran beteiligt, dass der Kulturbegriff in der Pädagogik differenziert wurde. Die Definitionen von Kultur in den Sozialwissenschaften sind jedoch äusserst vielfältig und stehen teilweise im Widerspruch zueinander. Gerade die Sozialanthropologie verwendet „Kultur“ im allgemeinen äusserst kritisch und zurückhaltend. Einige Autorinnen und Autoren – auch der Erziehungswissenschaften – verwerfen den Kulturbegriff, weil damit aus ihrer Sicht gesellschaftliche Problemlagen kulturalisiert werden (vgl. Auernheimer 2003, S. 73). Darauf wird in einem weiteren Kapitel näher eingegangen.
Im Folgenden sollen wesentliche Kulturkonzepte näher erläutert werden. Die Definitionen weisen in ihren Ansätzen in zwei unterschidliche Richtungen:
Es lassen sich statisch essentialistische Definitionen von Kultur unterscheiden von dynamisch situationalen. Essentialistische Definitionen verstehen Kultur als erfassbare Konstante, welche den Individuen einer Gesellschaft gemeinsam ist. Die Möglichkeit, dass sich kulturelle Orientierungssysteme verändern, wird nicht mit in Betracht gezogen. Dynamisch situationale Konzepte begreifen Kultur als ein System, welches die Möglichkeit der Veränderung und der Bedeutungstransformation mit einschliesst. Sowohl statische wie auch dynamische Kulturkonzepte lassen sich dem Themengebiet der Interkulturellen Pädagogik zuordnen. Die folgenden Kapitel vertiefen unterschiedliche Definitionsversuche sowie Gebrauchsweisen des Begriffs Kultur im Kontext der „Interkulturellen Pädagogik“.
2.2 Konzepte von „Kultur“ in den Sozialwissenschaften
Im Folgenden soll ein kurzer Abriss über den Kulturdiskurs die Kulturparadigmen der Pädagogik in einen erweiterten Kontext stellen.
In der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts bezeichnete E.B. Tyler im Buch „Primitive Culture“ Kultur als ein komplexes Ganzes, das Wissen, Glaubensvorstellungen, Kunst, Moral, Gesetze und Bräuche einschliesst.
"Culture or civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society." (Tylor 1903)
Tylors Definition von Kultur schliesst alle Fähigkeiten mit ein, welche sich Menschen als Mitglieder von Gesellschaften aneignen (vgl. Wicker 1996, S. 375). Damit grenzte sich Tylors Kulturparadigma vom Evolutionismus von Lewis Henry Morgan ab. Morgan vertrat die Sichtweise, dass „Kultur“ sich linear über mehrere Stufen von der „Barbarei“ bis hin zur „Zivilisation“ entwickelt. Kultur wurde verstanden als zivilisatorische Leistung. Diese evolutionistisch geprägte Definition beinhaltete den Anspruch auf zivilisatorische Entwicklung und Fortschritt. Tylors Kulturverständnis war nicht in einem hierarchisierenden Kontext gedacht: die nachevolutionistische Idee von Kultur wurde nicht mehr „mit anzustrebendem Fortschritt, sondern mit ungebrochener, persistierender Tradition“ verbunden (vgl. Wicker 1996, S. 375). Wicker resümiert, dass die Sichtweise auf Kultur als eine komplexe Ganzheit dazu führte, dass die Sozialwissenschaften sich mit der Suche nach Gesetzmässigkeiten beschäftigten, die das überindividuelle kulturelle Ganze zu erfassen suchten. Dabei ist im Besonderen Ruth Benedict zu erwähnen, die im Buch „Patterns of Culture“ (1989) argumenteirte, dass jede Kultur sich durch bestimmte Charakteristiken auszeichnet, welche wiederum die Persönlichkeit des Individuums massgeblich konstituieren. Benedikt ging davon aus, dass die Individuen einer Gesellschaft jeweils über einen spezifischen und abgrenzbaren „Nationalcharakter“ verfügen. Ruth Benedikt gilt als wichtige Vertreterin des Kulturrelativismus, der entscheidenden Einfluss auf Kulturkonzepte der Interkulturellen Pädagogik haben sollte. Der Kulturrelativismus postuliert, dass Kulturen über jeweils eigenständige Eigenschaften verfügen, die kontextabhängig betrachtet werden müssen. Kulturen verfügen demnach nicht über eine Grundlage, die einen Kulturvergleich ermöglichen würden. Daraus folgt das Postulat der kulturellen Gleichwertigkeit und die Forderung der gegenseitigen Anerkennung. In Konzepten der Interkulturellen Pädagogik hat diese Sichtweise bestimmenden Einfluss. Kulturrelativistische Ansätze der Interkulturellen Pädagogik gehen davon aus, dass „jedes Individuum als Träger einer spezifischen Einzelkultur, die seine Einstellungen und Handlungsstrategien massgeblich bestimmt, verstanden werden muss (Kiesel 1996, S. 120ff.).
H.R. Wicker stellt fest, dass das Konzept des „Kulturellen Ganzen“ bis heute Nachhall findet. Als Beispiele nennt er die Bestrebungen der kanadischen Regierung für die Anerkennung kultureller Diversität und Identität oder die Forderung von gewissen Autoren, kulturellen und religiösen Gruppen, innerhalb der Gesellschaft Eigenständigkeit zuzugestehen. In beiden Fällen – so Wicker – ist hier die Sicht von einer kulturellen Ganzheit und der Toleranz zwischen diesen Ganzheiten enthalten (Wicker 1996, S. 375ff.). Auch die Interkulturelle Pädagogik begibt sich in den inneren Widerspruch, dass durch das Postulat der Anerkennung fremder „Kulturen“ die Existenz von unterschiedlichen voneinander abgrenzbaren „Kulturen“ legitimiert wird.
Tylors Definition und die darauf aufbauenden Konzepte wurden in der Folge stark kritisiert. Zum einen wurde argumentiert, dass „Kultur“ als Ersatzbegriff von „Rasse“ instrumentalisiert würde, um genau jene Hierarchisierungen wieder zu festigen, welche mit der Dekonstruktion des Rassebegriffs beseitigt worden seien. Eine zweite Kritik setzte mit der Etablierung des Paradigmas der Ethnizität ein. Mit dem Begriff der Ethnizität wurde die Einsicht eingebracht, dass ethnische Trennungslinien sich über Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung konstituieren und erhalten und nicht durch naturhaft auftretende Charakteristika von Gruppen begründet werden können. Im folgenden soll das Konzept der Ethnizität näher ausgeführt werden.
2.2.1 Ethnizität
Die Debatte der Ausländerpädagogik lässt sich einem essentialistischem Kulturverständnis zuordnen. Kultur wird definiert als eine Ansammlung von „konkreten“ Merkmalen, welche zu den Bedingungen der menschlichen Existenz gehören. Der Essenzialismus sucht nach der “Essenz”, dem Ursprünglichen und Gemeinsamen, welches eine Gruppe teilt, auf welches sie sich zurückberuft. Pnina Werbner beschreibt den Begriff wie folgt:
"To essentialise is to impute a fundamental, basic, absolutely necessary, constitutive quality to a person, social category, ethnic group, religious community, or nation. It is to posit falsely a continuity or a person. It is to imply an internal sameness and external difference or otherness" (Webner 1998, S. 310).
Bereits im Jahr 1969 erhob der Ethnologe Frederik Barth Kritik an einem essentialistischen Verständnis von Kultur. In seinem Buch "Ethnic Groups and Boundaries" (1969) verwirft er die Annahme, dass ethnische Differenz naturhaft auftritt und zeigt, dass solche Abgrenzungen sozial organisiert werden. Ethnische Identität setzt sich nach Barth aus "kognitiven Kategorien" zusammen. Diese Kategorien müssen für das Individuum nicht unbedingt von Bedeutung sein. Je nach der soziokulturellen Struktur des neuen Kontextes ändern sie ihre Relevanz. Demnach können Kategorien wie „Sprache“ und „Religion“ nicht als stabile unveränderliche Merkmale einer „Kultur“ verstanden werden. Wohl spielen diese Merkmale bei der Selbst- und Fremdzuschreibung von Kultur eine Rolle. Sie sind jedoch sozial organisiert und sind deshalb in einem ständigen Veränderungsprozess begriffen.
Der absichtsvolle soziale Gebrauch von kulturellen Unterschieden wird im sozialwissenschaftlichen Diskurs als „Ethnizität“ bezeichnet. Ethnizität kann durch Selbsteinbindung und Fremdabgrenzung von Gruppen entstehen und aufrechterhalten werden. Die Abgrenzung garantiert den Zusammenhalt der Gruppe, halten die Autorinnen Stienen und Wolf fest (1991, S. 130ff.). Frederik Barth erläutert, dass Ethnizität nur aufrechterhalten werden kann, wenn eine Gruppe sich nach aussen ständig als Kollektiv legitimiert und bestätigt. Das Wahrnehmen anderer als Fremder bedinge ein Erkennen und sich Beschränken auf angeblich gemeinsames Verstehen, Werturteilen, Handeln. Abgrenzungen müssen sich nicht über sichtbare Merkmale wie Hautpigmentierung, Essen, Kleidung, Namen, Haartracht und Formen expressiven Verhaltens definieren. Auch subjektive Identifikationen wie z.B. unterschiedliche Wertsysteme können einer Gruppe als nicht sichtbare Abgrenzungen dienen. Sowohl objektive wie subjektive Unterscheidungsfaktoren verändern sich und können sich gerade angesichts des weltweiten rasanten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse transformieren, ganz wegfallen oder aber an Bedeutung verlieren (Stienen 1991, S. 130ff.).
Das System der Einbindung und Ausgrenzung ist demnach flexibel und dynamisch und lässt keine Rückschlüsse auf starre “Unterscheidungsmerkmale” zu. Ethnizität ist – dies wird im neueren Diskurs deutlich – eine Ressource, auf welche situativ und kontextgebunden zurückgegriffen werden kann, um Interessen zu bündeln und zu artikulieren (Wicker 1999, Kap. 10).
Solche objektiven und subjektiven Identifikationen einer Gruppe sind jedoch lediglich Mittel, sich abzugrenzen und Ethnizität herbeizuführen, stellen aber meist nicht zugleich Interessen oder Ziel dar. Ethnizität kann als eine Neuklassifizierung des „Wir” in Konfrontation mit dem Fremden, dem „Sie“ definiert werden (vgl. Stienen 1991, S. 123ff.). Ethnizität wird als Abgrenzungsstrategie eingesetzt, um Interessen zu artikulieren oder Ziele zu erreichen. Politische Rechte, territoriale Ansprüche oder die Stärkung der gesellschaftlichen Position – um nur einige Beispiele zu nennen – können über das Herstellen einer gemeinsamen Basisidentität geltend gemacht werden.
Ethnizität kann beispielsweise dort als Mittel eingesetzt werden, wo nationalstaatliche Strukturen die von der Gruppe vertretenen Interessen unterbinden.
In Praxis- und Forschungsfeldern der Interkulturellen Pädagogik scheint es von Bedeutung zu sein, die Möglichkeiten des Umgangs mit essentialistischen kulturellen Zuordnungen in Betracht zu ziehen. Ein essentialisierender Gebrauch von Kultur wird nicht nur von „NichtmigrantInnen“ auf Zuwanderer angewendet. Auch Zuwanderer können in essentialistischen Kulturkonstruktionen einen Nutzen sehen, um persönliche Interessen zu legitimieren. Das Wiederbeleben von Folklore zum Beispiel, kann Mittel sein, sich gegenüber anderen abzugrenzen und die “Mitglieder” der “ethnischen Gruppe” einzubinden. Migrantinnen und Migranten können sich in der Interaktion mit der Aufnahmegesellschaft eine „primordiale Basisidentität“ verschaffen, die im Herkunftsland gar nicht existiert oder existent war. Zum Beispiel besinnen sich gewisse lateinamerikanische MigrantInnen im Aufnahmeland eines “gemeinsamen” indianischen Erbes, dessen sie sich im Herkunftsland selbst geschämt haben und welches ihr Verhalten dort weniger prägte, als der “american” oder „european way of life“. Hier entdecken die MigrantInnen den „exotischen“ Wert „ihres“ indianischen Erbes, welches von der Aufnahmegesellschaft in sie hineinprojiziert wird und ihnen stabilere Abgrenzungskategorien verschafft (Stienen, Wolf 1991, S. 147).
2.2.2 Kritik am Ethnizitätskonzept
Ethnizität begründet sich sowohl durch Selbst- wie auch Fremdethnisierung. Die Autoren Wolf-Dietrich Bukow und Roberto Llaryora kritisieren, dass solche Ausgrenzungs- und Einbindungsprozesse mit einem ethnischen Bezugsrahmen begründet werden. Nach ihrer Ansicht entstehen nämlich ethnische Merkmale und Differenzen durch soziale Zuschreibung, durch eine vom Alltagsdenken nahegelegte und von der Politik bewusst betriebene “Ethnisierung” von Minderheiten. Diese Zuschreibungen hätten mit den betroffenen Menschen oft gar nichts zu tun. Individuen würden von "aussen" bloss zu einer Gruppe zusammengefügt, um sie anschliessend mit einer gewissen Überzeugungskraft abzuwerten und auszugrenzen (1998, S. 14).
"Einwandererminoritäten werden zunächst durch Ausländerrecht etc. entmündigt und diszipliniert und damit in eine soziale Lage gebracht, die wiederum eine Etikettierung ermöglicht" (Bukow/Llaryora 1998).
Nicht nur die strategisch kollektiven Selbstzuschreibungen von Zuwanderergruppen können als Ethnizität bezeichnet werden. Diehm und Radtke zeigen auf, dass Ethnizität von aussen zugeschrieben werden kann „und zum Gegenstand von Bewunderung, aber auch zur Begründung von Diskriminierung, Integrationsverweigerung oder Ausgrenzung gemacht werden“ (1999, S. 84). Ethnizität kann jedoch gerade durch solche starren Fremdzuschreibungen und Etikettierungen wirksam werden.
2.2.3 Annäherungen an einen modernen Kulturbegriff
[Es] ist zu akzeptieren, dass sowohl Kulturen als auch ethnische Gruppen im Sinne von fassbaren, autonomen Totalitäten nicht – oder wenigstens nicht mehr – existerien. Begriffe wie schweizerische, türkische oder chinesische Kultur sind zu diffus, als dass sie auf kohärente und historisch eigenständige Kulturmuster und –grammatiken verweisen könnten (Wicker 1996, S. 381).
Hans Rudolf Wicker kritisiert das Verständnis von Kultur als ein komplexes Ganzes. Kulturelle Essenzen können nicht als passive Kräfte betrachtet werden, sondern müssen im Zusammenhang mit Ethnizitätsstrategien verstanden werden. Weiter wird argumentiert, dass die globale Migration und Globalisierung die Suche nach der jeweiligen „wahren“ Kultur obsolet mache. Transnationale Begegnungen bewirken Modifikation und Wandel von kulturellen Orientierungsmustern. Aufgrund dieser Kritik kommen verschiedene Autorinnen und Autoren zu einer Neukonzeption des Kulturbegriffs, welche den Wandel, die Dynamik von Kultur mit einschliesst. Wicker spricht dabei von einer „fliessenden kulturellen Komplexität, welche die Definition des „komplexen Ganzen“ ablöst (1996, S. 384). Kultur ist nach dieser Sichtweise nicht an sich gemeinschaftsbildend. Das Kollektiv, die Gruppe wird nicht durch die Bande einer passiven gemeinsamen Kultur zusammengehalten, sondern die Vergemeinschaftung muss als sozialer Prozess erklärt werden. Aufgrund dieser Loslösung von Kultur von sozialer Praxis muss dem Begriff eine neue Bedeutung zugeschrieben werden:
Kultur ist das Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrung interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten (Geertz 1983, S. 99).
Dabei wird Kultur verstanden als „Orientierungs- und Deutungsmatrix“ für die Mitglieder einer Gesellschaft (vgl. Gogolin 1998). Zu einem ähnlichen Verständnis kommt Wicker. Er versteht unter Kultur die „von Individuen im Lebensprozess erworbenen spezifischen Dispositionen, welche zu intersubjektiver Bedeutungsbildung und sinnhaftem Handeln befähigen“ (Wicker 1996, S. 385ff.). Auch die Erziehungswissenschafterin Annedore Prengel (2006, S. 65-95) weist darauf hin, dass sich eine Gesellschaft, eine scheinbar kulturell geschlossene Einheit, in höchst unterschiedliche Subkulturen horizontaler und vertikaler Art aufteilt. Diese Stratifizierungen finden statt zwischen sozialen Klassen und Schichten, Arbeiter- und Angestelltenkulturen, Mittelschichtkulturen und der Oberschicht, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die hier dargelegten Sichtweisen auf Kultur zeichnen sich aus durch eine dynamische, heterogene und nicht auf künstlerische Ausdruckformen und Traditionen tradierte Ausprägung. Ein solches Verständnis von Kultur entzieht dem Multikulturalismus seine Legitimation. Trotzdem ist „Kultur“ bis heute zentrale Kategorie der Konfliktdeutung. Der Politikwissenschaftler Samuel Huntington mit seiner These vom „Kampf der Kulturen“ (2002) ist ein Beispiel für die zunehmende Bedeutung kultureller Interpretationsstrategien. Auch Huntington geht in seiner Analyse von Kulturen als geschlossene Einheiten aus, indem er die Welt in sieben abgrenzbare „Kulturkreise“ unterteilt. Annette Sprung erachtet eine Vorstellung von klar abgrenzbaren kulturellen Einheiten, die nach innen homogen ausgestaltet sind, als „höchst fragwürdig“ (Sprung 2002, S. 73ff.). In der Ethnologie wurde bereits Anfangs des zwangzigsten Jahrhunderts der Begriff der „Kulturkreise“ in die Diskussion gebracht: Fritz Graebner stellte seine Kulturkreislehre dem Evolutionismus entgegen und bezeichnete mit „Kulturkreis“ einen für ein bestimmtes Gebiet charakteristischen Komplex von Kulturelementen wie Religiöse Vorstellungen, Wohnverhältnisse, usw. Die Vorstellung von Kulturkreisen wurde in der Folge stark kritisiert und gilt heute als „ein Stück Wissenschaftsgeschichte“ (Hirschberg 1998, S. 271ff.). Die Kulturkreislehre scheiterte u.a. an der wissenschaftlich nicht haltbaren Methodik zur Bestimmung von Kulturkreisen. Ausserdem wurde die Sichtweise einer homogenen „reinen“ Kultur kritisiert (vgl. Kronsteiner 2005, S. 2ff.).
Auch aufgrund der Kritik der in diesem Kapitel erläuterten Konzeption eines dynamischen Verständnisses von Kultur, muss Huntingtons Konfliktthese als problematisch betrachtet werden. Gleichsam müssen auch jene Kulturkonzepte der Interkulturellen Pädagogik hinterfragt werden, welche sich am traditionellen Kulturbegriff orientieren: Wenn die interkulturelle Erziehung postuliert, dass den unterschiedlichen „Kulturen“ gegenüber mit Anerkennung begegnet werden soll, so orientiert sich diese Sichtweise an einer essentialistischen Kulturdefinition. Wird Kultur als prozesshaftes System des Aushandelns von Bedeutungen verstanden, lässt sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht eine Pädagogik der „Vielfalt der Kulturen“ nicht weiter rechtfertigen und aufrechterhalten.
2.3 Kritik an der Interkulturellen Pädagogik
Als sich Ende der Siebziger- und Anfangs der Achtzigerjahre aus der Ausländerpädagogik das Paradigma der Interkulturellen Pädagogik entwickelte, wähnten sich die Erziehungswissenschaften im Glauben, „die erste Phase der kritischen Selbstreflektion überwunden zu haben“ (Steiner-Khamsi 1996, S. 358ff.). Währenddem sich die Interkulturelle Pädagogik an Bildungsinstitutionen breit etablierte, wurde das neue Paradigma von verschiedenen Autorinnen und Autoren scharf kritisiert. Diehm und Radtke nennen zwei Kernpunkte, unter deren Blickwinkel die Interkulturelle Pädagogik kritisch hinterfragt werden muss: Zum einen werfen sie dem Programm vor, Differenz zu essentialisieren und Migrantinnen und Migranten zu kulturalisieren. Zum anderen sehen sie – analog zur Ausländerpädagogik– Tendenzen zu einer Pädagogisierung und Curricularisierung sozialer Probleme (vgl. Diehm/Radtke. 1999, S. 146ff.). Im Folgenden sollen die beiden von den Autoren zur Diskussion gestellten Kritikpunkte vertieft werden.
Diehm und Radtke kritisieren, in der Interkulturellen Pädagogik die bereits in der Ausländerpädagogik vorgefundene Praxis der Unterscheidung von „Kulturen“ als Beobachtungs- und Beschreibungskategorie fortzuführen. Die Fortsetzung geschehe zwar unter neuen Vorzeichen: Der Wandel von Kulturen werde anerkannt, aber trotzdem werden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund als TrägerInnen von Kultur wahrgenommen.
Aus der Sicht der “Interkulturellen Pädagogik“ soll die Kategorie „Kultur“ zwar vom „Defizit“ entkoppelt und stattdessen positiv konnotiert, als anerkennenswerte „Differenz“ behandelt werden, aber sie bleibt die dominante Unterscheidung. Nun geht es darum, die anderen/Fremden zu verstehen und mit ihnen auszukommen (Diehm/Radtke. 1999, S. 146ff.).
Diehm und Radtke kritisieren die in einem vorhergehenden Kapitel dargelegte kulturrelativistische Sichtweise auf das Fremde. Kulturen werden in ihrer Verschiedenheit anerkannt und positiv bewertet. Eine Herangehensweise, welche verbunden ist mit dem Risiko der Essentialisierung von „Kulturen“ und der Projektion, dass Zugewanderte Träger sind einer abgrenzbaren Herkunftskultur.
Diehm und Radtke stellen fest, dass die Interkulturelle Pädagogik „Kultur“ als massgebende Kategorie zur Erklärung von sozialen Konflikten nicht hinterfragt hat. Diesem Einwand folgt Mecheril (2004, S. 81ff.): Er kritisiert, dass die Verwendung von Kultur als Erklärungsansatz nicht grundlegend relativiert wird. Die Folge einer starken Akzentuierung von Kultur sowie der Verschiebung von sozialen Problemen auf kulturelle Differenz wird in der Wissenschaft mit „Kulturalisierung“ bezeichnet. Doron Kiesel (1999, S. 149ff.) erläutert, dass mit einem kulturalistischen Blick auf die Migranten sowohl die systemische als auch die soziale Integration der Zuwanderer als Mitglieder einer Gesellschaft ignoriert werde. Die Konstruktion von Kultur konstruiere ein Bild, welches Migranten ausserhalb zeitlicher und räumlicher Entwicklungen stehen lasse. Aus der Kritik kommt hervor, dass kulturalisierende Prozesse gesellschaftliche sowie strukturelle Zusammenhänge nicht mit berücksichtigen oder mit dem Konstrukt der fremden Kultur akzentuieren. Albert Scherr legt unter Verweis auf weitere Autorinnen und Autoren dar, dass die wesentliche Ursache von gesellschaftlichen Konflikten nicht kulturelle Differenzen und mangelndes Verstehen zwischen den Kulturen sind: Ursachen liegen vielmehr in Strukturen und Praktiken der ökonomischen, politischen und rechtlichen Ungleichbehandlung, der sozialen Benachteiligung und Ausgrenuzng von MigrantInnen (Scherr 1998, S. 50ff.). Radtke weist auf die Risiken von Kulturalisierungen in der Bildungspraxis hin. Er fragt, ob durch die Anerkennung der „kulturellen Identität“ sich die Lernerfolge von Schülerinnen und Schülern auch tatsächlich verbessern.
Oder führt [das Programm der „Interkulturellen Erziehung“] durch Thematisierung und Curriculairisierung in der Schule Unterscheidungen ein, die von der Organisation wie von den Schülern als zusätzliche Ressource der Differenzmarkierung und bei Bedarf zur Diskriminierung benutzt werden können? Dann wird „Kulturdifferenz“ zur wohlfeilen Erklärung für Schwierigkeiten aller Art [...] (Radtke 1995, S. 853ff.).
Die Institutionalisierung der Interkulturellen Erziehung erweist sich auch deshalb als problematisch, weil durch die Thematisierung von Kultur Differenz hergestellt wird. Lehrpersonen beabsichtigen mit einem Austausch über kulturelle Verschiedenheit ein grösseres Verständnis für Differenzen unter den Mitschülerinnen und -schülern zu erreichen. Dabei bleibt jedoch oft unberücksichtigt, dass Differenzen erst durch deren Thematisierung für die Schüler als solche erkannt werden können. Weiter besteht die Gefahr, dass durch die wohlwollende Auseinandersetzung mit der Herkunftskultur von Schulkindern, diese von ihren Mitschülern dadurch verstärkt mit vermeintlichen kulturellen Eigenheiten in Verbindung gebracht werden. Kulturelle Unterschiede werden im Unterricht mit der Absicht thematisiert, eine grössere Sensibilisierung und verstärkte Toleranz in einem heterogenen sozialen Umfeld zu erreichen. Differenzen zwischen Mitschülerinnen und –schülern können jedoch nicht nur im Kontext der Toleranz, sondern auch als Legitimation von Abgrenzung wirksam gemacht werden. Zwei Beispiele können dies illustrieren:
In der Tageszeitung „Der Bund“ vom 20. September 2006 wird von einem Strafverfahren gegen die rechtsradikale Rockband „Indiziert“ berichtet. Während der Gerichtsverhandlung werden die Bandmitglieder zu ihrer Gesinnung gegenüber der eigenen Gesellschaft und dem „Fremden“ befragt. Folgende Äusserungen werden im Zeitungsartikel wiedergegeben:
Das „Schweizervolk“ sei „nicht unbedingt mehr wert als andere – aber es ist etwas Schönes und etwas Gutes“. Nicht alles Fremde sei „eine Brut und „kriminell“, fügte ein anderer hinzu (...). Alle Rassen seien „selbstverständlich gleichwertig“, sagte Lüthard. „Jedes Volk hat das Recht zu leben – aber jedes an seinem Platz“ (der Bund 20.9.2006, S. 19).
Die Sänger argumentieren kulturrelativistisch, indem sie jede „Kultur“ in ihrer besonderen Ausprägung als gleichberechtigt anerkennen. Im letzten Satz wird jedoch als Konsequenz dieser Sichtweise abgeleitet, dass (gerade wegen diesen Unterschieden), sich die Gesellschaften voneinander abgrenzen sollen. Hier wird ersichtlich, wie kulturrelativistische Gesellschaftskonzepte sowohl als Argument für ein „bereicherndes“ soziales Zusammenleben, wie auch als Abgrenzungslegitimation verwendet werden können.
Die Islamwissenschaftlerin Priska Furrer und der Pädagoge Romano Müller beschreiben in ihrem 1992 erschienenen Buch „Kinder aus der Türkei“ die Lebenswelt von türkischen Kindern und deren Familien (S. 21). Der Leitfaden richtet sich an AusbildnerInnen, die in ihrer Berufspraxis mit türkischen Kindern zu tun haben. Das Buch soll „zum Verständnis vieler Verhaltensweisen der türkischen Kinder und deren Familien“ beitragen (Furrer; Müller 1992, S. 7). Die Autoren gehen davon aus, dass erst durch das Verständnis der Situation der türkischen Kinder in der Schweiz angemessenes Handeln hervorgehen kann. Problematisch erweist sich meiner Ansicht nach vor allem der Versuch, die Herkunftskultur der türkischen Kinder zu beschreiben. Im Folgenden sollen Auszüge aus dem Kapitel „Aufwachsen der Kinder in der Türkei“ einer näheren Betrachtung unterzogen werden:
Das Säuglingsalter
Die Geburt eines Jungen wird meist mit grösserer Freude und Stolz begrüsst als die eines Mädchens. Jede Familie muss mindestens einen Sohn haben, da er für sie Existenzsicherung im Alter bedeutet. Beide, Junge und Mädchen, erfahren aber die gleiche liebevolle Pflege in den ersten Monaten und Jahren ihres Lebens. [...].
Auf dem Land werden die Säuglinge während der ersten 40 Tage bis 6 Monate fest eingebunden (kundaklama) [...].
Auch die traditionellen Wiegen sind so gebaut, dass der Säugling darin festgebunden werden muss, damit er nicht herausfällt. Die Kinder liegen jedoch meist nur in der Nacht in diesen Wiegen [...].
Die Kinder tragen kurze Kittelchen, so dass sie ihr Geschäft ohne Aufsehen zu erregen verrichten können. In der heissen Zeit bewegen sich die Kinder ohnehin hauptsächlich im Freien. Und nasse Höschen trocknen rasch (Furrer; Müller 1992, S. 21).
Im Auszug dieses Kapitels werden zahlreiche (kulturelle) Zuschreibungen transportiert. Das Kapitel enthält nicht weiter erläuterte Aussagen über das Geschlechterverständnis; weiter wird über den Umgang mit Kleinkindern berichtet, es werden Hygieneverhältnisse angesprochen sowie auf Clichés der Neigung zu Gewaltausübung sowie Rückständigkeit zurückgegriffen. Wie bereits erwähnt, beabsichtigen die Autoren ein besseres Verständnis gegenüber den in die Schweiz migrierten türkischen Familien. Deren Ausführungen suggerieren jedoch zahlreiche Zuschreibungen, welche sich für den Einsatz im Unterricht als höchst problematisch erweisen könnten. In Anlehnung an die in vorangehenden Abschnitten dargelegte Kritik zur Kulturalisierung von Migrantinnen, können an den zitierten Textauszügen folgende kritische Anmerkungen gemacht werden:
1. Die AutorInnen gehen ohne nähere Begründung von der Tatsache aus, dass der kulturelle Hintergrund von Migrantinnen und Migranten zentrales Thema der Interkulturellen Pädagogik ist.
2. Die beschriebenen kulturellen Praxen werden dargestellt, als würden sie für die gesamte türkische Gesellschaft sowie die MigrantInnen türkischer Herkunft eine gängige Praxis repräsentieren. Kulturelle Praxis erscheint als statisches Handlungsfeld, welches einem traditionellen Muster folgt und keine Möglichkeiten der Veränderung und Diversifizierung zulässt.
3. Mit der Beschreibung der kulturellen Praxen beabsichtigen die AutorInnen ein besseres Verständnis und mehr Toleranz gegenüber türkischen Migrantinnen. Bei ihrer Herangehensweise wird jedoch nicht mit berücksichtigt, dass die Konstruktion von kultureller Differenz zur Legitimation von Abgrenzung und Ächtung verwendet werden kann. Die Einsicht: „Türken sind anders, dies soll toleriert werden“, kann leicht verkehrt werden in die Folgerung „Türken sind anders, deshalb grenzen wir uns ab“.
Diese Ausführungen lassen Radtkes Warnung nachvollziehbar erscheinen, dass die Institutionalisierung von interkultureller Erziehung Differenz ontologisieren kann. Franz Hamburger (zit. in: Mecheril 2004, S. 96) stimmt dieser Kritik zu, weist aber darauf hin, dass Radtke die Bedeutung von Kulturen für die Selbstdefinitionen von Menschen und Gesellschaften unberücksichtigt lasse. Damit meint er, dass Individuen ihre eigene Identität mitunter auch kulturell begründen und ihr Handeln kulturell legitimieren. Damit sei auf das in einem vorangehenden Kapitel erläuterte Konstrukt der Ethnizität verwiesen. Kultur kann als Selbst- oder Fremdzuschreibung von Gruppen und Gesellschaften dienen und als Identitätskonstrukt verwendet werden, um Handlungsstrategien zu legitimieren. Auch in modernen Gesellschaften bleibt Kultur demnach eine identitätsstiftende Kategorie, welche zumindest unter diesem Gesichtspunkt reflektiert werden kann. 3 Perspektiven für den Umgang mit Diversität in den Erziehungswissenschaften
In welche Richtung kann und soll sich die Interkulturelle Pädagogik weiterentwickeln, ohne weiterhin der Kulturalismuskritik ausgesetzt zu sein? Inwiefern sind Stimmen ernst zu nehmen, die sich gar für eine Abschaffung der Disziplin aussprechen? In den folgenden Kapiteln soll ein kurzer Ausblick auf Perspektiven des Fachs gemacht werden:
3.1 Strukturelle Massnahmen
Die Erziehungswissenschafterin Gita Steiner-Khamsi (1996, S. 362-364) stellt rückblickend fest, dass mit der „kulturellen Bereicherungsdoktrin“ der Interkulturellen Pädagogik versucht wurde, das Verständnis für fremde Kulturen zu fördern und kulturelle Diffrerenz als Bereicherung zu konstituieren. Dabei sei Interkulturalität lediglich auf der Interaktionsebene umgesetzt worden. Auf der institutionellen Ebene gelte weiterhin ein universalistischer Anspruch, der mit den Leitgedanken Gleichheit und Gleichberechtigung realisiert werde. Steiner-Khamsi stellt fest, dass in kanadischen und US-amerikanische Erziehungsprogrammen die Interventionsebenen vertauscht sind:
Differenz wird vor allem im institutionellen Bereich hergestellt und Gleichheit auf der Interaktionsebene, d. h. im Klassenhzimmer verfolgt (Steiner-Khamsi 1996, S. 362ff.).
Steiner-Khamsi verweist auf Massnahmen in Toronto, wo die Unterrichtszeit täglich um eine halbe Stunde verlängert wird, damit Schülerinnen und Schüler den Unterricht in 33 Minderheitensprachen besuchen können. Auch wird die Anstellung von LehrerInnen und SchulleiterInnen aus ethischen Minderheiten gefördert. Im Klassenzimmer werde die Thematik der kulturellen Differenz nicht explizit angesprochen, da alle SchülerInnen als KanadierInnen gelten, egal welcher Herkunft sie sind (Steiner-Khamsi 1996, S. 362ff.).
Auch zehn Jahre nach der Publikation von Steiner-Khamsis Artikel über den Umgang mit Differenz, haben ihre Feststellungen noch Gültigkeit. Währenddem Grosskonzerne wie beispielsweise das Telekommunikationsunternehmen „Orange“ unter dem Schlagwort „Diversity Management“[1] bemüht sind, die diversifizierten gesellschaftlichen Ressourcen ihrer Arbeitnehmer wirtschaftlich gewinnbringend einzusetzen, sind an Schweizer Schulen kaum Bestrebungen sichtbar, Diplome von ausländischen Lehrerinnen und Lehrern zu anzuerkennen und deren Anstellung, Ausbildung und Weiterbildung voranzutreiben. Der gesellschaftlichen Diversität wird an Schweizer Schulen nach wie vor in Form von Zusatzangeboten begegnet, welche die traditionelle Oraganisationsstruktur der Bildungseinrichtungen nicht tangieren. Der „Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur“ ist in den meisten Schweizer Kantonen nach wie vor ein Nischenprodukt, von welchem nur wenige Kinder profitieren. Steiner Khamsis Analyse verortet die Legitimation einer Interkulturellen Pädagogik in einem Ansatz, welcher jene für das öffentliche Leben und den Arbeitsmarkt relevanten Ressourcen von Migrantinnen und Migranten stärker berücksichtigt. Die bisherige Ausgestaltung der Interkulturellen Pädagogik könne keinen Beitrag zu einer interkulturell orientierten Qualifikationsvermittlung leisten.
Die gezielte Förderung der Erstsprache von Migrantinnen sowie der Einbezug von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund wären Ansätze, welche die interkulturelle Arbeit im Schweizer Bildungswesen auch institutionell wirksame und letztendlich wohl gewinnbringende Anteile bringen könnte.
3.2 Globales Lernen
In den vergangenen Jahren wird im Zusammenhang mit dem früher bezeichneten Unterricht über „Entwicklungsländer“ und die „Dritte Welt“ zunehmend von „Globalem Lernen“ gesprochen. „Globales Lernen“ kombiniert Themenbereiche wie die Friedenspädagogik, die Menschenrechte, die Interkulturelle Pädagogik, die Umweltbildung und die Entwicklungspolitische Bildung und betrachtet diese unter der Perspektive der Globalisierung. Aus den zahlreichen Publikationen ist abzuleiten, dass unter dem Themenfeld des Gobalen Lernens die interkulturelle Erziehung weder abgeschafft noch inhaltlich vollumfänglich neu gestaltet werden muss. Das Globale Lernen berücksichtigt die Interkulturelle Pädaogik als Teilaspekt, der nicht gesondert behandelt, sondern unter einer multiperspektivischen Sichtweise diskutiert wird. Die Publikationen über das Globale Lernen lassen jedoch zur Zeit inhaltlich und konzeptuell noch keine klare Linie erkennen. Die Thematik wird von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren oft ideologisch und wenig fundiert verfochten. Es ist aber denkbar, dass das Globale Lernen als Perspektive über die Reflexion des Fremden im Unterricht durchsetzten könnte (Behörde Bildung und Sport (BBS) 2006). Schluss
In der vorliegenden Arbeit wird der Kulturbegriff unter den Paradigmen der Ausländerpädagogik und der Interkulturellen Pädagogik näher betrachtet.
In der Ausländerpädagogik der 1970er- und 1980er-Jahren wurden die Ursachen von Schwierigkeiten mit ausländischen Kindern darin gesehen, dass diese durch ihre Migration mit zwei „Kulturen“ konfrontiert waren, ihrer „Herkunftskultur“ und der „Kultur“ des Aufnahmelandes. Kultur wurde gleichgesetzt mit „Nationalkultur“ und wurde aufgefasst als ein statisches homogenes System. Ausländerinnen und Ausländer wurden als TrägerInnen ihrer nationalen „Herkunftskultur“ gesehen. Die Ausländerpädagogik richtete ihren Blick auf die fremde Kultur im Sinn eines Defizits, welches durch gezielte pädagogische Massnahmen kompensiert werden sollte. Dabei galt die Kultur des Aufnahmelandes als Referenzkultur. Unter dem Begriff der Assimilation wurden jene Massnahmen gefasst, welche Migrantenkinder an das Referenzsystem der dominanten Kultur anzupassen beabsichtigten.
Die Unterrichtsliteratur für die Lehrpersonen zielte u.a. darauf ab, die soziokulturellen Systeme der Herkunftsländer von MigrantInnen besser zu verstehen. Das Verständnis sollte letztendlich ermöglichen, den Assimilationsprozess der Schülerinnen und Schüler effizienter zu gestalten.
Erst im Zuge der Kritik an der Ausländerpädagogik wurden deren Inhalte und Ziele zu einer analytisch ausgewiesenen Kategorie gefasst. Drei Punkte werden als massgebende Kritik an der Ausländerpädagogik herausgearbeitet:
1. Verschiedene Autorinnen und Autoren sehen die Argumentationslinie von Kultur als Ursache von Konflikten als ein soziales Konstrukt. Es wird argumentiert, dass Fremdheit konstruiert werden kann, um Probleme im Zusammenhang mit Zugewanderten einseitig zu legitimieren. Kultur erweist sich dieser Auffassung folgend als Ersatzargument für Probleme in der pädagogischen Praxis, welche mit politischen oder strukturellen Mitteln angegangen werden müssten. Es wird argumentiert, dass gesellschaftliche Probleme an das Erziehungssystem „delegiert“ werden, weil sie auf politischem und strukturellem Weg nicht gelöst werden können oder wollen. Verschiedene Autorinnen und Autoren sprachen in diesem Zusammenhang von der Pädagogisierung eines gesellschaftlichen Problems.
2. Weiter wurde kritisiert, dass sich die Ausländerpädagogik einseitig am Referenzsystem der „Aufnahmekultur“ orientiere. Diese hierarchische Sichtweise auf kulturelle Systeme ist ethnozentrisch, weil andere gesellschaftliche Wertmassstäbe aus dem Standpunkt der eigenen kulturellen Orientierung beurteilt werden. Die Auffassung stand im Widerspruch zur damals zunehmend akzeptierten Sichtweise, dass alle „Kulturen“ gleichwertig seien.
3. Ein weiterer Kritikpunkt richtete sich auf die Ansicht, dass Zugewanderte zwischen zwei Kulturen stehen und sich dadurch quasi notgedrungen ein Identitätsproblem ergebe. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass kulturelle Orientierungen sich prozesshaft und dynamisch ausgestalten und einer ständigen Veränderung ausgesetzt sind. Das Konzept einer homogenen „Aufnahmekultur“ gegenüber einer Fremdkultur entbehrte einer analytischen Grundlage. Kritiker konnten darlegen, dass Migrantinnen und Migranten durchaus über soziale Handlungsstrategien verfügen und in sich verändernden gesellschaftlichen Kontexten neue kulturelle Referenzsysteme herausbilden.
Die breite Kritik an der Ausländerpädagogik brachte das Paradigma der Interkulturellen Pädagogik hervor. Der Defizitkonstruktion der Ausländerpädagogik wurde eine relativistische Konzeption von Kultur entgegengesetzt. Kulturelle Differenz wurde als eine Ressource verstanden, welche in der pädagogischen Praxis nutzbringend eingesetzt werden konnte. Es wurde appelliert an Toleranz und Solidarität um den Umgang mit Differenzen zu erlernen.
Der Paradigmenwechsel in der Pädagogik wurde von der Diskussion über den Kulturbegriff in den Sozialwissenschaften beeinflusst. Lewis Henry Morgan sprach Ende des 19. Jhd. von einer linearen Entwicklung der Gesellschaften, welche sich von der Stufe der „Barbarei“ bis hin zur „Zivilisation“ entwickelt. Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Kultur in der Ethnologie definiert als ein „komplexes Ganzes“. Diese Konzeption wurde von Ruth Benedict in den 1920er-Jahren aufgenommen und mit der Beschreibung von so genannten „Nationalcharakteren“ weitergeführt. Dabei wurde die Sichtweise vertreten, dass „Kulturen“ mit ihren individuellen Typisierungen als gleichwertig zu betrachten und zu anerkennen sind.
Die Definition von Kultur der Ausländerpädagogik enthält ideelle Ansätze der Kulturkonzeption von Ruth Benedict: Die Ausländerpädagogik definierte Kultur als Nationalkultur und betrachtete Zugewanderte als Träger ihrer jeweiligen „nationalen Kultur“.
Jedoch wurden die „Nationalkulturen“ von Zugewanderten nicht als gleichwertig im Sinne von Benedict, sondern als defizitär bewertet. Eine kritische Betrachtung lässt hierbei einen Zusammenhang zwischen Morgans evolutionistischem Ansatz und der Ausländerpädagogik zu: Die Ausländerpädagogik verstand die Aufnahmekultur als ein dominantes Referenzsystem, an welches sich die Zugewanderten anzupassen hatten.
Mit dem Begriff der „Ethnizität“ wurde die Einsicht eingebracht, dass kulturelle Selbstzuschreibungen und Fremdabgrenzungen als Legitimation zur Geltendmachung von Strategien und Interessen herangezogen werden. Dabei kann sich eine Gruppe oder eine Gesellschaft eine kulturelle „Basisidentität“ konstruieren, welche sich durch zugeschriebene „immer schon da gewesene“ Eigenschaften auszeichnet. Diese Vergemeinschaftung aufgrund von kulturellen Gemeinsamkeiten ist Mittel zur Abgrenzung, stellt aber nicht zugleich Interessen oder Ziel dar. Sie ist vielmehr Strategie um Interessen zu artikulieren.
Heutige ethnologische Konzeptionen des Kulturbegriffs betonen den dynamischen Charakter kultureller Systeme und negieren das Verständnis von Kultur als ein komplexes Ganzes. Kultur wird definiert als „ein Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrung interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten“ (Geertz 1983, S. 99). Diese Definition entzieht dem Paradigma dem Multikulturalismus seine Legitimation: Der Multikulturalismus muss Kulturen als eigenständige und eingrenzbare Gebilde verstehen. Wird Kultur als prozesshaftes System des Aushandelns von Bedeutungen verstanden, lässt sich die Sichtweise einer „Vielfalt der Kulturen“ nicht weiter aufrecht erhalten.
Die Interkulturelle Pädagogik wurde und wird gerade wegen ihrer Gebrauchsweise von Kultur kritisiert. Die Kritikpunkte lauten, dass Differenz essentialisiert und Zugewanderte kulturalisiert würden. Ausserdem wird der Einwand erhoben, die Interkulturelle Pädagogik habe „Kultur“ als massgebende Kategorie zur Erklärung von sozialen Konflikten nicht hinterfragt.
Zwei Perspektiven zeigen Ansätze für eine Neukonzeption der Interkulturellen Pädagogik:
- Gita Steiner Khamsi stellt fest, dass Interkulturelle Pädagogik vor allem auf der Interaktionsebene ausgetragen wird, der gesellschaftlichen Diversität jedoch nicht durch strukturelle Massnahmen Rechnung getragen würde. Denkbar wäre eine breite Einführung des HSK-Unterrichts sowie die Förderung von Anstellungen von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund.
- Unter der Bezeichnung „Globales Lernen“ werden unterschiedliche gesellschaftliche Themen im Kontext der Globalisierung bearbeitet. Die Interkulturelle Pädagogik gerät unter diesem Themenfeld zu einem Teilaspekt, dessen Inhalte ihren isolierenden und unter Umständen auch ihren Differenzkonstituierenden Charakter abschwächen.
Die Anfangs dieser Arbeit aufgeführten Zitate müssen unter Berücksichtigung der Kritik an der Interkulturellen Pädagogik sowie der Konzeption eines modernen Kulturbegriffs kritisch betrachtet werden:
- „Multikulturelle Klassen sind eine Realität“ (Kübler, Stricker, Winterberger 1997, p. 8)
- [...] Interkulturelle Erziehung bezieht sich auf die Aufgabe eines [...] Kulturfortschritts des Kulturwesens Mensch (Löwisch 1989)
- Tatsächlich kann interkulturelle Erziehung nur solange sinnvoll sein, wenn die Betroffenen an Besonderheiten ihrer Kultur [...] festhalten möchten (Nieke 1995, S. 197).
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff hat in der Pädagogik seit längerer Zeit eingesetzt. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, den Gebrauchswert von „Kultur“ als analytische Kategorie der Erziehungswissenschaften weiter zu hinterfragen und die Sensibilisierung auf jene Handlungsfelder zu lenken, die für den Umgang mit gesellschaftlicher Diversität wirksame und sinnvolle Instrumente bereitstellen.
Literatur
1. Arn, Brigitte: Öffnung von Institutionen der Zivilgesellschaft. Bern: Schweizerisches Rotes Kreuz (SRK) 1994.
2. Auernheimer, Georg: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003.
3. Barth, Frederik: Ethnic Groups and boundaries. The Social Organization of Cultural Difference. Oslo: Universitetsforlaget 1969.
4. Behörde Bildung und Sport (BBS) Hamburg: 2006 (Internet: Stand 11. September 2006) www.hh.schule.de/ifl/globlern
5. Benedict, Ruth: Patterns of culture. Boston: Houghton Mifflin 1989.
6. Boos-Nünning, Ursula; Hohmann Manfred: Ausländische Kinder. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1977.
7. Bukow, Wolf-Dietrich; Llaryora, Roberto: Mitbürger aus der Fremde. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998.
8. Bund (der), Rechtsrocker versuchen sich herauszureden. Stefan von Below. Bern
9. 20. September 2006
10. Czock, Heidrun: Der Fall Ausländerpädagogik: erziehungswissenschaftliche und bildungspolitische Codierungen der Arbeitsmigration. Frankfurt a.M.: Cooperative-Verlag, 1993.
11. Diehm, I.; Radtke F.-O.: Erziehung und Migration. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 1999.
12. Furrer, P.; Müller, R., et al.: Kinder aus der Türkei. Ein Handbuch für die Arbeit mit türkischen Kindern und Jugendlichen und deren Eltern. Münchenbuchsee: Interkantonale Arbeitsgruppe "Interkulturelle Erziehung - Türkisches Kind" 1992.
13. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983.
14. Gogolin, I. (Hrsg.): „Kultur“ als Thema der Pädagogik: Das Beispiel Interkulturelle Pädagogik. Erziehungswissenschaft, Nachbardiskziplinen und Öffentlichkeit. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1998.
15. Gogolin, I.; M. Krüger-Potratz: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2006.
16. Hamburger, F.: Pädagogik der Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt a.M: Cooperative-Verlag 1994.
17. Kronsteiner, Ruth: „Kulturkreis“ oder Rassismus/Sexismus im neuen Gewand?– zur
18. Konstruktion „alter“ und „neuer“ Unterschiede. ISOP-Veranstaltung am 20.4.2005. (Internet, Stand 09. September 2006) www.isop.at/veranstaltungen/KronsteinerVortrag20_4_20051.pdf
19. Hirschberg, Walter (Hrsg.): Neues Wörterbuch der Völkerkunde. Berlin: Dietrich Reimer 1988.
20. Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Goldmann 2002.
21. Kiesel, Doron: Das Dilemma der Differenz: zur Kritik des Kulturalismus in der Interkulturellen Pädagogik. Frankfurt a.M.:Cooperative Verlag 1996.
22. Kiesel, Doron: „Jung, fremd, defizitär und bereichernd“. Zum Interkulturellen Diskurs in den Erziehungswissenschaften. (Internet, Stand 11. September 2006) http://www.lvr.de/FachDez/Jugend/Fachthemen/Querschnittsthemen
23. Krüger-Potratz, M: "Erziehungswissenschaft und kulturelle Differenz." In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Nr. 2, 1999, S. 149-165.
24. Kübler, Georges: Lernen in einer neuen Kultur und Sprache: didaktisches Konzept der modulartigen Fortbildung in Interkultureller Pädagogik. Bern: Schweizerisches Institut für Berufspädagogik 1998.
25. Löwisch, Dieter-Jürgen: Kultur und Pädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989.
26. Mecheril, P.: Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz Verlag 2004.
27. Nieke, Wolfgang: Interkulturelle Erziehung und Bildung: Wertorientierungen im Alltag. Opladen: Leske und Budrich 1995.
28. Prengel, Annedore:Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006.
29. Radtke, F.-O.: Interkulturelle Erziehung. Über die Gefahr eines pädagogisch halbierten Anti-Rassismus. In: Zeitschrift f. Pädagogik 41, 1995, S.853-864
30. Scherr, Albert: Die Konstruktion von Fremdheit in sozialen Prozessen. Überlegungen zur Kritik und Weiterentwicklung Interkultureller Pädagogik. In: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. 1/98, 1998, S. 49-58.
31. Sprung, Annette: Interkulturalität - eine pädagogische Irritation? Pluralisierung und Differenz als Herausforderung für die Weiterbildung. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2002.
32. Steiner-Khamsi, Gita: Universalismus vor Partikularismus? Gleichheit vor Differenz? In: Wicker, Hans-Rudolf (et al.) (Hrsg.): Das Fremde in der Gesellschaft: Migration, Ethnizität und Staat. Zürich: Seismo 1996, S. 353-372.
33. Stienen, Angela; Manuela, Wolf.: Integration – Emanzipation: Ein Widerspruch: kritische Analyse sozialwissenschaftlicher Konzepte zur "Flüchtlingsproblematik". Saarbrücken: Breitenbach Publishers 1991.
34. Tylor, Edward Burnett: Primitive culture: researches into the development of mythology, philosophy, religion, language, art and custom. London: John Murray 1903.
35. Webner, Pnina 1998: in: Wicker, Hans-Rudolf (Hg.): Nationalismus, Multikulturalismus und Ethnizität. Beiträge zur Deutung von sozialer und politischer Einbindung und Ausgrenzung. Bern: Haupt 1998.
36. Wicker, Hans-Rudolf: Von der komplexen Kultur zur kulturellen Komplexität. In: Hans-Rudolf Wicker (Hrsg.): Das Fremde in der Gesellschaft. Zürich: Seismo 1996, S.373-392.
37. Wicker, Hans-Rudolf: Ethnizität und Ethnizitätstheorien. In: Textsammlung zur Geschichte der ethnologischen Theorien. Manuskript. Bern: Institut für Ethnologie der Universität Bern 1999.
[1] Konzepte zu Diversity Management und zur Öffnung von Institutionen beschreiben Strategien für den Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt in Institutionen. Die theoretischen Grundlagen berücksichtigen
a) Diversity Management der Human Ressources: Personalentwicklung und Diversität in privatwirtschaftlicen Unternehmen
b) Öffnung der sozialen Regeldienste und der öffentlichen Verwaltung: Zugang für MigrantInnen als NutzerInnen von Dienstleistungen und als ArbeitnehmerInnen (Arn 2004, S. 6)
- Arbeit zitieren
- Martin Wälchli (Autor:in), 2006, Der Kulturbegriff in der Interkulturellen Pädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110684
-
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