Wem nützt die Erkenntnis einer perfekt gelösten mathematischen Gleichung, wenn ein basaler, lebensbedeutsamer Lösungsansatz, der Umgang mit anderen und sich selbst, als „Unbekannte“ in der schüler- und lehrereigenen emotionalen Lebensrechnung vernachlässigt wird, oder nur unzureichend unterrichtlichen Platz einnehmen darf? Was nützt dem Schüler eine sehr gute Beurteilung in Mathematik, wenn er sich schulisch und außerschulisch emotional und sozial „ungebildet“ bewegt? Wie viel Zeit-, Personal- und andere Ressourcen setzt Schule ein, um die oben beschriebenen Lernfelder anzubieten? Welche Chancen verpassen wir als Lehrkräfte, welche Chancen verpasst die Schule insgesamt, wenn es für die Möglichkeit des Erlernens der gegenseitigen Empathie kein Übungs-, Erprobungs- und Trainingsfeld gibt, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht als elementare Schlüsselqualifikation wahrgenommen wird und als eigenständiges und integriertes Unterrichtsangebot stattfindet?
Zurecht wurde der amerikanische Spielfilm „Groundhog Day“ (USA, 1992) mit Bill Murray, Andie McDowell und Stephen Tobolowsky in den Hauptrollen und unter der Regie von Harold Raimis mit einem OSCAR für das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Der oft gehörte Satz, ein Tag sei wie der andere, wurde hier zur wunderbaren Filmidee umgesetzt.
Was muss passieren, damit ein griesgrämiger Pessimist wirklich den Tag nutzt?
Wie ändert sich ein Mensch, wenn er seine selbstinszenierten Verantwortungen über den Haufen werfen darf?
Jedes Jahr muss der zynische Wetterfrosch Phil (Bill Murray) zum sog. „Groundhog-Day“ nach Punxsatawney zum Murmeltierfest fahren; die Prognose des Nagers zeigt nämlich den weiteren Verlauf des Winters an. Aber in diesem Jahr ist etwas anders als sonst. Am nächsten Morgen wacht Phil nämlich wieder am Murmeltiertag auf und am anderen Morgen wieder und dann wieder und wieder. Alles, was er am Vortag gemacht hat, bleibt ohne Konsequenzen. Er ist in einer Zeitschleife gefangen, die er erst durchbrechen kann, wenn er ein anderer Mensch geworden ist. Zunächst kostet Phil die neu gewonnene Freiheit aus und treibt allerlei Schabernack und zynischen Unsinn. Irgendwann jedoch hat er auch davon genug und möchte sich entnervt und deprimiert das Leben nehmen. Da die vielen Selbstmordversuche allerdings auch nichts nutzen und Phil nach wie vor wieder am Morgen des Murmeltiertages aufwacht, versucht der Griesgram sich ernsthaft zu ändern und erlangt nach einigen Turbolenzen am Ende dabei sogar die Liebe seiner schönen Produzentin Rita (Andie McDowell) (www.film.de).
Der Protagonist des Films hat es letztendlich relativ einfach. Er kann den immer selben, identischen Tag erleben und an sich arbeiten, sein Verhalten ausprobieren und variieren, bis ihm die optimale, intrinsische Verhaltensvariante gelingt, er sich von Grund auf ändert und schließlich an das Ziel seiner Wünsche kommt, nämlich von anderen Menschen akzeptiert und geschätzt zu werden.
Die Wirklichkeit ist leider, oder Pestalozzi-sei-Dank, anders.
Allerdings, kaum ein Jugendlicher und Erwachsener begreift annähernd umfassend die soziale Komplexität und die sich darin permanent ändernden Wirkungszusammenhänge und –gefüge des schulischen Alltags. Hinzu kommt, dass emotionale Sicherheiten und Stabilitäten in diesen Zeiten emotionaler Beliebigkeiten und/oder Skurrilitäten/Absurditäten (siehe z.B. Medienangebot an Verhaltensmodellen) häufig nur schwer auszumachen sind.
Jugendliche leben im schulischen Kontext in einer schier unübersehbaren Fülle an ständig variierenden und sich verändernden Beziehungsrechnungen, die abhängig sind von unüberschaubaren Variablen und Optionen. Diese bestimmen jedoch, offen oder verdeckt, hoch wirksam über schulischen Erfolg oder Misserfolg.
Die scheinbare Rettung („Oh, Narrenschiff, mein Rettungsboot!“) liegt in der Vereinfachung, in der Simplifizierung, in der Schwarz-Weiß-Überzeichnung, in der Reduktion der Fremd- und Selbstwahrnehmung, in der Vernachlässigung, bis hin zur psycho-emotionaler Versteinerung auf allen Seiten.
In der Schule gefrieren Sachanforderungen und -strukturen häufig zu Scheinanforderungen und -strukturen, weil die herausfordernden, standardisierten und institutionalisierten Lern- und Übungsfelder für soziales/emotionales Lernen fehlen, bzw., mit allem Respekt vor dem Fach und den Lehrenden, „nur“ in „Werte und Normen“ thematisiert werden, so mal zwischendurch bearbeitet werden, oder in sog. „Verfügungsstunden“ verlagert werden.
Wem nützt die Erkenntnis einer perfekt gelösten mathematischen Gleichung, wenn ein basaler, lebensbedeutsamer Lösungsansatz, der Umgang mit anderen und sich selbst, als „Unbekannte“ in der schüler- und lehrereigenen emotionalen Lebensrechnung vernachlässigt wird, oder nur unzureichend unterrichtlichen Platz einnehmen darf? Was nützt dem Schüler eine sehr gute Beurteilung in Mathematik, wenn er sich schulisch und außerschulisch emotional und sozial „ungebildet“ bewegt? Wie viel Zeit-, Personal- und andere Ressourcen setzt Schule ein, um die oben beschriebenen Lernfelder anzubieten? Welche Chancen verpassen wir als Lehrkräfte, welche Chancen verpasst die Schule insgesamt, wenn es für die Möglichkeit des Erlernens der gegenseitigen Empathie kein Übungs-, Erprobungs- und Trainingsfeld gibt, wenn Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht als elementare Schlüsselqualifikation wahrgenommen und als eigenständiges und integriertes Unterrichtsangebot stattfindet?
Mangels Zeit, mangels Kompetenz und mangels pädagogischem Selbstbild erschöpfen sich im Unterricht pädagogische Interventionen häufig in einer „brillanten“ erwachsenenzentrierten, rückschauenden und rückwärtsgewandten „Würdigung“ und Bewertung des Schüler-Fehlverhaltens mit anschließendem Erziehungs- und Ordnungsmittel als scheinbar einzig maßgebende Konsequenz. „Was war los?“ „Was hast du gemacht?“ „Das war schlecht, als Konsequenz musst du“ Kaum zu glauben, wie häufig dieser rückwärtsgewandte Satz in allen Schulformen täglich von Lehrerinnen und Lehrern in verschiedenen intervenierenden Kontexten benutzt wird. Kaum, dass eine Schülerin oder ein Schüler dieser Interventionsstrategie widerspricht. Warum auch, das war immer so: wenn – dann! Das ist im Prinzip eine wirksame und altbewährte Methode (nebenbei: „Auge um Auge“ macht auf Dauer alle blind!).
Nichts erscheint mit der Zeit für Schülerinnen und Schüler und für uns Lehrpersonen jedoch ermüdender und ist nur scheinbar sicher, als die immer währende Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Interventionsstrategien. Es ist offensichtlich, dass ein immanenter Zusammenhang zwischen Lehrerpersönlichkeit und Wahl der Interventionsmethode existiert; häufig jedoch wächst lehrerseits der Energieaufwand zur Durchsetzung und schülerseits zur Erduldung einer „manifesten“, statischen, weil ritualisierten, wenig schülerorientierten, kopfgesteuerten Intervention unmerklich, aber stetig. So erschöpft sich die Alltagsintervention nicht selten in langen oder kurzen Gesprächen („...ich habe dir schon 100 Mal gesagt, noch einmal und dann...“).
Im pädagogischen FEEDBACK sind wir ziemlich gut - im FEEDFORWARD
(Dennett, u.a.) ziemlich miserabel!
Wie wäre eine Ergänzung durch: „Was wirst du morgen in einer ähnlichen Situation tun?“ „Kannst du dir vorstellen, anders zu handeln?“ „Was kannst du an dir verändern, dass es morgen anders läuft?“ „Was kann ich tun, dass es morgen anders läuft?“
Was ich nahe legen möchte, hat mit der Antizipation von Jugendlichen zu tun, unterstützt durch Lehrerinnen und Lehrer, also mit einer Sichtweise, die stark geprägt ist vom „Zukunftsauge“ - auch wenn das „Gegenwartsauge“ und „Vergangenheitsauge“gleichzeitig wahrnimmt, was im Moment passiert.
Dieses eigentliche Schielen können wir bei den meisten Pädagogen beobachten, denn in der Schule sind Interventionsstrategien meistens auf ein Früher oder Später angelegt – auch wenn sich die Gegenwart möglicherweise dazu quer stellt und ebenfalls nach ihrem Recht verlangt (Fries).
"the cause lies in the future" (www.anticipation.org), die Ursache für Verhaltensänderung liegt in der Zukunft – auf diese griffige Formulierung lässt sich Antizipation hinsichtlich einer Verhaltensänderung reduzieren und sonderpädagogisch neu besetzen.
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- Arbeit zitieren
- Frieda Fredeweß Hagemann (Autor:in), 2003, Antizipationstraining für Jugendliche, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110579
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