Welche Konsequenzen entstehen aus der Entwicklung neuer Medien – konkret: des Computers und des Internets - für die Literatur? Bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage dienen mir einige der wichtigsten Thesen aus Vilem Flussers Essay Die Schrift als Ausgangspunkt. Ich werde mich also zunächst damit beschäftigen, welche Eigenschaften die alphabetische Schrift hat und inwieweit sie unsere Wahrnehmung prägt, um mich dann mit den Möglichkeiten der Schrift im digitalen Zeitalter auseinanderzusetzen. Dann werde ich auf die von Flusser vorhergesagte Substitution der Schrift durch technische Bilder eingehen und anhand von Michael Gieseckes Prozesstheorien versuchen, alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Diese Möglichkeiten der Beziehung zwischen Text und Bild sollen anschließend durch eine Untersuchung von Beispielen aus der digitalen Literatur veranschaulicht und untersucht werden. Davon ausgehend werde ich mich (wiederum bezugnehmend auf den Theorien Michael Gieseckes) mit der Frage auseinandersetzen, ob sich möglicherweise durch die neuen Medien weniger eine Verschiebung von der Schrift zu den Bildern sondern vielmehr von der visuellen hin zur multisensuellen Wahrnehmung vollzieht. Abschließend werde ich noch auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Interaktion zwischen Autor/innen sowie zwischen Mensch und Maschine eingehen, die durch die neuen Medien ermöglicht werden.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kurze Begriffsklärung
Umriss der alphabetischen Schrift
Visuelle Poesie
Übersiedlung ins Reich der technischen Bilder
Digitale Schriftlichkeit
Nicht-Linearität
Ökologische Mediengeschichte
Oszillation als Bestandteil einer neuen Medienästhetik
Die Verbindung von Text und Bild
Zwischen Dekoration und Illustration
Bild-Text Oszillation
Ästhetik der Oberfläche
oder Ästhetik der Sinne
Neues Denken
Interaktivität als literarische Praxis
Interaktion zwischen Autor/in und Maschine
Conclusio
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Sekundärliteratur
Selbständige Literatur:
Unselbständige Literatur:
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
Welche Konsequenzen entstehen aus der Entwicklung neuer Medien – konkret: des Computers und des Internets - für die Literatur? Bei der Auseinandersetzung mit dieser Frage dienen mir einige der wichtigsten Thesen aus Vilem Flussers Essay Die Schrift als Ausgangspunkt. Ich werde mich also zunächst damit beschäftigen, welche Eigenschaften die alphabetische Schrift hat und inwieweit sie unsere Wahrnehmung prägt, um mich dann mit den Möglichkeiten der Schrift im digitalen Zeitalter auseinanderzusetzen. Dann werde ich auf die von Flusser vorhergesagte Substitution der Schrift durch technische Bilder eingehen und anhand von Michael Gieseckes Prozesstheorien versuchen, alternative Entwicklungs-möglichkeiten aufzuzeigen. Diese Möglichkeiten der Beziehung zwischen Text und Bild sollen anschließend durch eine Untersuchung von Beispielen aus der digitalen Literatur veranschaulicht und untersucht werden. Davon ausgehend werde ich mich (wiederum bezugnehmend auf den Theorien Michael Gieseckes) mit der Frage auseinandersetzen, ob sich möglicherweise durch die neuen Medien weniger eine Verschiebung von der Schrift zu den Bildern sondern vielmehr von der visuellen hin zur multisensuellen Wahrnehmung vollzieht. Abschließend werde ich noch auf die unterschiedlichen Möglichkeiten der Interaktion zwischen Autor/innen sowie zwischen Mensch und Maschine eingehen, die durch die neuen Medien ermöglicht werden.
Kurze Begriffsklärung
Ich werde mich in dieser Arbeit nicht eingehender mit den verschiedenen Begriffen, die im Umfeld der digitalen Literatur entstanden sind, auseinandersetzen, da dies bereits vielerorts versucht wurde und selten erfolgreich war, weil diesbezüglich auch unter den Autor/innen der Sekundärliteratur keine Einstimmigkeit herrscht. Um Verwirrung oder Befremdung zu vermeiden werde ich kurz erklären, was ich unter den Begriffen, die ich hier verwende, verstehe. Unter digitale Literatur fasse ich jene Literatur zusammen, die in ihrem Entstehungsprozess auf den Computer angewiesen ist, also Computerliteratur und Netzliteratur. Unter Computerliteratur sind zu verstehen: Hyper-/Multimedia, Hyperfictions, Computerdichtung bzw. Computergenerierte Literatur. Als Netzliteratur hingegen betrachte ich nur jene Projekte, für die die grundlegende Eigenschaft des Netzes (die Vernetzung) konstitutiv ist; darunter fallen beispielsweise kooperative Projekte, auf die ich auch später noch zurückkommen werde.[1]
Umriss der alphabetischen Schrift
In seinem Essay Die Schrift. Hat schreiben Zukunft? setzt Vilém Flusser sich mit den Auswirkungen der neuen Medien auf die Schriftkultur sowie deren geschichtlicher Entwicklung auseinander. Er sieht – im Unterschied zu vorangegangenen und zukünftigen Gesten – als charakteristisch für die Schrift deren Linearität an: „ Bei dieser ersten Betrachtung des Schreibens ist die Zeile, das lineare Laufen der Schriftzeichen, das Beeindruckendste“[2] Er geht also davon aus, dass Schreiben in erster Linie eine ordnende, aneinanderreihende Geste ist. In weiterer Folge ist die Linearität der Schrift auch die Voraussetzung für die Linearität und Ordnung unseres Denkens, denn wenn unser Denken vor Erfindung der Schrift ein mythisches, kreisendes war, so entwickelte sich danach ein logisches, lineares und eindimensionales Denken, das nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass unsere Gedanken mittels Schrift linear ausgerichtet werden.[3] Die Entwicklung der Schrift sowie des logischen Denkens sieht Flusser als konstitutiv für die Entwicklung des historischen und politischen Bewusstseins an, denn:
In der Vorgeschichte (…) konnte nichts geschehen, weil es kein Bewusstsein gab, das Geschehnisse wahrnehmen könnte. (…) Erst mit der Erfindung der Schrift, mit dem Emportauchen des historischen Bewusstseins wurden Geschehnisse möglich. (…) Geschichte ist eine Funktion des Schreibens und des sich im Schreiben ausdrückenden Bewusstseins.[4]
Allerdings zeichnet sich in der Entwicklung der Schrift eine Tendenz weg von der Dauerhaftigkeit hin zu einer immer schnelleren, flüchtigeren Darstellungsweise ab. Während Schriftzeichen zunächst Inschriften waren, die in Steine, dann in Lehmziegel geritzt wurden, stellen die Schriften unserer Zeit nur noch Aufschriften dar, die mittels (Buch-)Druck oder Handschrift auf Papier aufgetragen werden.[5]
Flusser sieht die Schrift und das Bild als zwei Gegenpole an, die nicht miteinander vereinbar sind, denn die Schrift ist eine ikonoklastische Geste, deren Ziel es ist, Bilder in Piktogramme aufzuspalten um sie so erklärbar zu machen und wurde entwickelt, um das Bewusstsein vom bildgebundenen, magischen Denken (der vorschriftlichen Zeit) zu lösen. Dies war allerdings nicht immer so und hat vor allem mit der Kopplung der Schrift an die gesprochene Sprache zu tun. Denn während Buchstaben früher Piktogramme waren, also Bilder einer Kulturszene darstellten, ist unsere heutige Schrift an Laute gebunden, die nichts mehr mit den ursprünglichen Vorstellungen über die Begriffen zu tun haben. Mit der Erfindung des Alphabets wurde also zwischen das Denken und dessen Aufzeichnung (die Schrift) die gesprochene Sprache geschoben.[6]
Es ist weiters möglich, dass diese Bindung der Schrift an die Sprache eine Verkümmerung unseres Abstraktionsvermögens zur Folge hatte, da sie andere Codes - wie beispielsweise Malen oder Mathematik – in den Hintergrund drängte. Möglicherweise hätten diese Ausdrucksformen andere Dimensionen des Denkens ermöglicht, im Gegensatz zur Eindimensionalität der Schrift.[7] Doch auf diese anderen Formen des Denkens werde ich in einem späteren Teil meiner Arbeit eingehen. Zunächst möchte ich mich mit der Frage auseinandersetzen, ob die Schrift in unserer Zeit tatsächlich nur an die Sprache gekoppelt ist.
Visuelle Poesie
Wenn man in die Literaturgeschichte zurückblickt und dabei vor allem die Anfänge bzw. die Entwicklung der visuellen Poesie fokussiert, so zeigt sich, dass es schon lange eine Tradition gibt, die die Beziehung zwischen sichtbarer Form und gedanklicher Substanz der Begriffe thematisiert. Ein frühes Beispiel dafür stellen Labyrinthgedichte und Figurengedichte dar – Simanowski führt dafür ein Beispiel aus dem Jahr 1637 an, ein Gedicht, das in Form eines Pokals gehalten ist. Ähnliche Experimente unternahmen Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Futuristen (beispielsweise Marinetti) und Dadaisten (zum Beispiel Schwitters oder Tzara).[8]
In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde diese Thematik unter dem Namen konkrete Poesie wieder aufgegriffen und auch hier hat die Poesie den Anspruch, das Wort von seiner bloß repräsentativen Form zu befreien. Es wird in diesem Zusammenhang also versucht, auch die physikalische Dimension des Texts zu berücksichtigen und dadurch eine weitere Ebene der Bedeutung miteinzubeziehen. Diese Beispiele deuten darauf hin, dass die graphische Ebene jedem Text schon immer inhärent war, da Lesen nun einmal eine Tätigkeit ist, die erst durch das Sehen möglich wird. Diese graphische Ebene ist aus dem Blickfeld geraten und zwar durch eine Fokussierung auf die Repräsentationsfunktion des Texts. Allerdings ist es wichtig, hervorzuheben, dass es bei der konkreten Poesie nicht darum ging, die repräsentative Funktion des Wortes auszublenden, sondern seine Bedeutung um eine graphische Ebene zu bereichern und so zwei Rezeptionshaltungen zu ermöglichen – zum einen die des Lesens und zum anderen jene des in der bildenden Kunst üblichen Betrachtens.[9]
Diese Tendenzen deuten darauf hin, dass Flusser in seiner Argumentation möglicherweise außer Acht lässt, dass der Schrift immer schon auch eine graphische, visuelle Dimension inne wohnt, und dass der Gegensatz zwischen Schrift und Bild wahrscheinlich nicht so groß ist, wie er annimmt. Die Miteinbeziehung dieser visuellen Ebene bei der Schriftbetrachtung könnte also möglicherweise auch unser ‚verkümmertes’ Denken erweitern.
Übersiedlung ins Reich der technischen Bilder
Angesichts der Tatsache, dass die Schrift und deren Bindung an die gesprochene Sprache dazu beigetragen hat, unsere Welt immer unvorstellbarer und unanschaulicher zu machen, ist es nicht überraschend, dass sich mit dem Aufkommen neuer Medien ein neuer vorrangiger Code entwickeln könnte. Nach Flusser wird sich der für die Gesellschaft vorrangige Code mit der Weiterentwicklung der Informationstechnologie weg von der Schrift, hin zu den technischen Bildern bewegen, es könnte sich sozusagen eine „Übersiedlung ins Universum der technischen Bilder“[10] ereignen.
Unter dem Begriff technische Bilder werden Fotos, Filme, Videos, Fernsehen, Computerspiele etc. zusammengefasst. Ihr Charakteristikum ist, dass sie aus Punktelementen (Pixels) synthetisiert sind, und aus diesem Grund bezeichnet er sie – im Unterschied zu den traditionellen Bildern - als nulldimensional und punktuell. Eben diese Bilder sind im Begriff, die Funktion der Schrift als Trägerin lebenswichtiger Informationen zu übernehmen und ihre Aufgabe ist es, die Welt für den Menschen wieder vorstellbar zu machen (im Gegenteil zur Schrift, die die Welt immer unvorstellbarer machte).[11]
Es stellt sich an diesem Punkt die Frage, inwieweit Schrift, die auf dem Bildschirm eines Computers dargestellt wird, überhaupt noch Schrift ist. Nach Flussers Verständnis wohl kaum, denn es besteht nun die Möglichkeit, Satz- oder Wortteile nach Belieben zu verschieben und Schriftzeichen zu animieren, sodass sie sich auf verschiedenste Art bewegen. Damit kommt der Schrift, ihr, nach Flusser wesentlichstes Kriterium – die Linearität – abhanden. Ich halte diese These allerdings insofern für verkürzt, als dass sie die Schrift im Hinblick auf ihr Trägermedium (bei Flusser zum Beispiel das Papier) und dessen Materialität definiert. Obwohl Flusser die historische Entwicklung der Trägermedien beschreibt, ignoriert er die Möglichkeit einer Übertragung der Schrift in das digitale Medium. Es soll in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Schrift im digitalen Medium großteils immer noch um eine lineare Aneinanderreihung von Buchstaben handelt, die (meistens) ein Wort ergeben, das eine repräsentative Bedeutung hat. Auch die Kopplung der Schrift an die gesprochene Sprache ist nach wie vor gegeben.
Digitale Schriftlichkeit
Die Ansicht, dass es sich bei Schrift im digitalen Medium immer noch um Schrift handelt, soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Materialität dieser Schrift und der zu ihrer Erzeugung notwendige Apparat grundsätzlich geändert hat. Bedeutsam ist zunächst einmal die Speicherung, die nicht mehr auf Papier, sonder auf magnetisierten Platten in Form von Spuren erfolgt und dazu führt, dass der Text immateriell ist. Der alphabetische Text ist also an sich nicht vorhanden, sondern nur in Form einer Bit-Kodierung und wird erst bei seinem Aufrufen von Computerprogrammen in eine alphanumerische Zeichenfolge übersetzt.[12]
Durch seine Digitalität wird der Text nicht nur immateriell, sondern auch exteriorisiert und unkontrollierbar. Dem auf der Oberfläche sichtbaren Text liegen für die meisten User undurchschaubare Prozesse zugrunde, die sich im Hintergrund abspielen. Zur Erzeugung eines Texts sind davon abgesehen Schnittstellen wie Tastatur, Maus und Bildschirm notwendig. Ein weiteres grundlegendes Charakteristikum des digitalen Texts habe ich oben bereits erwähnt – er wird nicht nur immateriell sondern auch veränderbar, da er aus seiner Fixierung auf das Material gelöst wurde. Diese Veränderbarkeit zeigt sich nicht nur darin, dass er frei verschiebbar ist, sondern eben auch darin, dass er animiert und in Bewegung versetzt werden kann.[13]
Ein weiteres Kennzeichen für den digitalen Text ist, dass er eigentlich aus 2 Texten besteht – jenem, der vom Programm ausgegeben wird und dem Quelltext (zum Beispiel HTML-Text), der den eigentlichen Text und die Anweisungen in der jeweiligen Programmiersprache enthält, die für die Formatierung, Anordnung und Animation des Texts etc. notwendig sind.[14]
Nicht-Linearität
Besonders im Hinblick auf Texte im Internet (Hypertexte) ist auffallend, dass diese häufig durch Hyperlinks miteinander verbunden und somit nicht linear sind. Der Rezeptionsvorgang ist also zumeist nicht wie im gedruckten Text sukzessiv ansteigend, sondern es wird dem/der Leser/in ermöglicht, die Reihenfolge der Textteile selbst zu bestimmen beziehungsweise selbst durch das Text-Angebot zu navigieren. Trotzdem besteht innerhalb der Textteile in Hinblick auf die Zeichenfolge und Satzfolge immer noch Linearität. Es ist also zu jedem Zeitpunkt immer nur die Auswahl eines Textteiles möglich, der sequentiell gelesen wird. Da der Hypertext wie das Internet eine rhizomatische Struktur aufweist, ist er potentiell immer erweiterbar. Es ist allerdings grundsätzlich anzumerken, dass für einen Hypertext das Internet nicht notwendig ist, sondern eine solche Struktur auch auf einem einzelnen nicht vernetzten PC funktioniert. Dennoch ist dieses Konzept auch für die Literatur bedeutend, weil daraus die größte Gruppe der digitalen Literatur, das Genre der Hyperfiction entstanden ist.[15]
Ökologische Mediengeschichte
Doch zunächst möchte ich noch einmal auf Flussers These von der „Übersiedlung ins Universum der technischen Bilder“[16] zurückkommen. Obwohl Flusser sich in anderen Aspekten durchaus an die Theorien der Kybernetik anlehnt (er prognostiziert, dass die Gesellschaft in Zukunft sich selbst steuern wird wie ein kybernetisches System[17] ), nimmt er im Hinblick auf die Entwicklung von Schrift und technischen Bildern einen (zukünftigen) Paradigmenwechsel beziehungsweise ein Substitutionsmodell an, bei dem das eine das andere verdrängt.
Dieser Ansicht möchte ich das Modell von Michael Giesecke entgegensetzen, dessen Grundgedanke ist, „die Geschichte als dynamische Beziehung nicht nur zwischen artverschiedenen Systemen, sondern auch zwischen artverschiedenen Prozessen zu begreifen“[18] Er geht davon aus, dass die verschiedenen Wissenschaften oder Bereiche (Kommunikation, Kultur, Geschichte, Ökologie, Information) unterschiedliche Prozesstypen und -theorien hervorgebracht haben. In diesem Zusammenhang ist es notwendig, bei der Betrachtung und Beschreibung verschiedenster Prozesse von einer synchronen Betrachtungsweise (aus Sicht einer Prozesstheorie) zu einer diachronen überzugehen (aus der Perspektive von zwei oder mehreren Prozesstheorien), um eine möglichst vollständige Beschreibung zu ermöglichen.
Als Alternative zur herkömmlichen (Medien-)Geschichtsschreibung entwickelt er das Modell der ökologischen Mediengeschichte, deren Besonderheit darin besteht, dass sie unterschiedliche Typen von Informationssystemen mit unterschiedliche Typen von Medien in Beziehung setzt.[19] Er versucht also hier, mediengeschichtliche Prozesstheorien mit ökologischen zu verbinden. Besonders relevant für die Kultur- und Kommunikations-geschichte sind jene Grundprinzipien ökologischer Prozesse, die er mit Balancieren, Koevolution und Oszillieren bezeichnet. Balancieren ist eine Leistung eines jeden (ökologischen) Systems, die dafür sorgt, dass Abweichungen vom Normalzustand ausgeglichen und so ein (Fließ-)Gleichgewicht hergestellt wird. Dieser Gedanke liegt auch den kybernetischen Theorien über sich selbst steuernde Systeme zugrunde.[20]
Das Koevolutionsmodell beschäftigt sich mit der Entwicklung der verschiedenen Arten in Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen. Ziel ist es, diese Austauschprozesse zwischen Umwelt und Lebewesen zu beobachten, dabei aber nicht die Entwicklung des Individuums sondern eben die Interaktion zwischen Individuum und anderen ins Zentrum zu rücken. Denn beide müssen sich auf passende Weise verändern, sodass sie einander ergänzen und dies erfordert häufig Oszillation. In Hinblick auf Mediengeschichte kann beispielsweise die Koevolution zwischen unterschiedlichen Kommunikatoren, unterschiedlichen Medien, unterschiedlichen Medien- und Informationssystemen etc. untersucht werden.[21]
Im Zusammenhang mit meiner Arbeit halte ich aber das Phänomen des Oszillierens für besonders relevant. Mit Oszillieren wird der Prozess des Tauschens von Rollen und Funktionen bezeichnet, so kann beispielsweise ein Medium in einer Situation ein Leitmedium sein, in einer anderen Situation nur Folgemedium. Die Möglichkeit zur Oszillation ergibt sich aus der Multimedialität und Multifunktionalität der Kulturen und deren Elementen. Auch der Mensch kann oszillieren und zwischen verschiedenen Rezeptionshaltungen wechseln, wie im vorigen Abschnitt im Zusammenhang mit der visuellen Poesie bereits gezeigt geworden ist.[22]
Oszillation als Bestandteil einer neuen Medienästhetik
In ihrer Beschäftigung mit einer Ästhetik digitaler Literatur greift auch Christiane Heibach auf Gieseckes Begriff zurück und definiert ihn folgendermaßen:
’Oszillation’ bedeutet ganz konkret einen kulturellen Prozess, der es ermöglicht, die Vielfalt von Phänomenen und Praktiken gleichermaßen zu nutzen, ohne eines oder eine zu prämieren und andere in den Hintergrund zu drängen.[23]
Oszillation kann im Zusammenhang mit digitaler Literatur zwischen mehreren Ebenen und in verschiedenen Richtungen erfolgen. Eine horizontale Oszillation erfolgt auf nur einer Ebene, während im Gegensatz dazu bei der vertikalen Oszillation mehrere Ebenen miteinbezogen werden. Als mögliche Ebenen sieht Heibach in diesem Zusammenhang Technik, Ästhetik sowie das Soziale, die auch mit den Begriffen tech (Programmier- und Prozessebene), desk (Bildschirmoberfläche) und soz (Interaktion der Nutzer) bezeichnet werden können. Relevant im Zusammenhang mit der Frage nach der Beziehung zwischen Text und Bild in den neuen Medien ist, dass besonders auf der semiotischen Ebene bei vielen Netzkunst-Projekten eine horizontale Oszillation zwischen den traditionell getrennten Systemen festzustellen ist.[24]
Die Verbindung von Text und Bild
Da der Computer ein inklusives Medium ist, das es ermöglicht, verschiedenste Medien zu bearbeiten und miteinander zu verbinden, wird oft von Multimedialität als Eigenschaft digitaler Projekte gesprochen. Häufig werden Projekte, die Text, Bild und/oder Ton miteinander verbinden, als Multimedia- oder Hypermedia–Projekte bezeichnet. Worum es mir aber in der folgenden Analyse geht, ist zu zeigen, welche unterschiedlichen Funktionen Bild und Text in den verschiedenen Projekten einnehmen um damit anzudeuten, dass sich möglicherweise im Gesamtzusammenhang der Projekte die Oszillationsphänomene erst richtig erfassen lassen.
Besonders im Zusammenhang mit Flussers Ausführungen erscheint es mir relevant, mich zunächst im Besonderen mit den grundsätzlichen Möglichkeiten der Text-Bild Beziehungen auseinanderzusetzen. Obwohl es auch andere Möglichkeiten für die Verbindung von Text und Bild gibt, erscheint mir für meine Untersuchung die Ebene der Vereinigung von Wort und Bild in einem einzelnen Artefakt am relevantesten.
Hier kann also einerseits auf der äußeren Ebene der Anteil zwischen Bild und Text untersucht werden, das heißt beispielsweise, ob die verbale Äußerung in die ikonische eingebettet wurde (wie z.B. bei einem Comic) oder die ikonische in die verbale. In Hinblick auf die inhaltliche Ebene kann das Augenmerk darauf gelegt werden, welches Medium die Vorlage für den Stoff bietet, beziehungsweise welches Medium dem Rezipient als Leitfaden dient. Auf dieser (der inhaltlichen) Ebene können die beiden Medien den Stoff mit ihren jeweils eigenen Mitteln auslegen, einander kommentieren oder sich den Stoff untereinander aufteilen.[25]
Was die innere Faktur betrifft, so kann das Wort vom anschaulichen Reden entlastet werden, beziehungsweise das Bild von der Entfaltung der Bedeutungszusammenhänge. Andererseits können aber auch die Bedeutungsstrukturen des Bildes verstärkt werden, um die Anknüpfungspunkte für die Interpretation des Wortes zu erhöhen.[26]
Es soll also an den folgenden Beispielen digitaler Literatur untersucht werden, wie sich die Text-Bild-Beziehungen gestalten können und die verschiedenen Oszillationsphänomene dargestellt werden.
Zwischen Dekoration und Illustration
Das Projekt Quadrego wurde von Stefan Maskiewicz zwischen 1997 und 1998 entwickelt und 2001 in einer überarbeiteten Fassung zum Wettbewerb „Literatur.digital 2001“ eingereicht, bei dem es den 1. Platz erreichte. Es handelt sich um eine „Liebes-, Mord-- und eine bewusstseinserweiternde Geschichte“[27], die, wie der Titel Quadr-ego bereits indiziert, von einer in vier Persönlichkeiten gespaltenen Frau erzählt.[28] Am Beginn steht eine Einstiegsseite, das Zentrum, wo die verschiedenen Personen vorgestellt und Einstiegsmöglichkeiten zu den 3 Bereichen (Quadrego, Flucht, Labyrinth) von Quadrego geboten werden. Über Links kann der/die Leser/in innerhalb der Geschichte und zwischen den verschiedenen Bereichen navigieren. Im Zentrum befinden sich neben den Links zu den verschiedenen Texten (aus Sicht der jeweiligen Person) auch Bilder, die auf die Personen verweisen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Quadrego. Zentrum [29]
Da die Bilder alle sehr verschwommen und pixelig sind, kann man darauf nicht viel erkennen, außer dass es einen männlichen und einen weiblichen Pol gibt. Möglicherweise handelt es sich um ein Morphing von Bild 1 zu Bild 4 (v. links n. rechts), möglicherweise um 4 unterschiedliche Bilder. Sollte es sich um ein Morphing handeln, so signalisiert dies wahrscheinlich eine Entwicklung in Richtung des weiblichen Pols (Iris). Die Bilder im Bereich Flucht (2 Fotos: Gesichter einer Frau (Iris) und eines Mannes (Georg)) verweisen auf die sprechende Person und verändern sich im Lauf des Gesprächs (Georg bewegt seine Augen; Iris wechselt die Augenfarbe). Diese Veränderung hat jedoch nichts mit der Handlung, dem Gespräch zu tun und hat so nicht einmall illustrativen, sondern rein dekorativen Charakter.
Im Bereich Quadrego und Labyrinth findet man dieselben Bilder wie im Zentrum wieder der jeweiligen Person zugeordnet, nur sind sie in Form eines Quadrats nebeneinander angeordnet, in unterschiedlichen Farben (rot, blau, gelb, weiß) gehalten und verändern sich nicht. Rechts, links und unterhalb des Quadrats befindet sich ein Muster (Mosaik) aus kleinen Quadraten, das zufällige Bilder enthält. Diese kleinen (Muster-)Bilder verändern sich zufällig und nicht aufgrund eines nachvollziehbaren Zusammenhangs zum Text. Im Gesamten ergibt sich aus dieser Analyse, dass auf der äußeren, sichtbaren Ebene die Bilder im Vordergrund stehen, auf der inhaltlichen aber der Text dominiert und es keinen durchgängigen Zusammenhang zwischen Text und Bild gibt, die Funktion des Bildes also weder eine den Text entlastende, noch eine Bedeutungsstrukturen verstärkende, sondern großteils – wie gesagt - eine rein dekorative ist. Davon abgesehen wirkt auch die Rollenverteilung und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Egos relativ statisch und undifferenziert.
Im Gegensatz dazu ist das Projekt Trost der Bilder [30] von Jürgen Daiber und Jochen Metzger, einer der Preisträger des Wettbewerbs Pegasus 1998, eher dem Bereich der illustrativen Funktion der Bilder zuzuordnen. Es handelt sich dabei um Texte, die verschiedenen Persönlichkeits-Typen (Liebe, Sport, Drogen etc.) zugeordnet sind und nach einem (fiktiven) Psychotest die psychische Disposition des/der Leser/in verbessern sollen. Die damit verbundenen Bilder haben meist keinen tieferen semantischen Bezug zum Text, sondern illustrieren lediglich das im Text Dargestellte.
Bild-Text Oszillation
Bei dem Projekt Die Aaleskorte der Ölig [31] von Dirk Günther und Frank Klötgen, das 1998 auch einer der Preisträger des Pegasus Wettbewerbs war, handelt es sich, wie von den Autoren (unter anderem) mittels Vorspann suggeriert wird, um einen Film:
„DIE AALESKORTE DER ÖLIG ist ein komplexes Drama - eine Sammlung zufälliger Zutaten nach Ihrem eigenem Drehbuch." TV TOMORROW[32]
Im ersten Teil hat der/die Betrachter/in dann die Möglichkeit, das Drehbuch zusammenzustellen und zwischen den verschiedenen Erzählperspektiven (Ölig, Hohlmann, Aal, Erzähler, Kinder) auszuwählen. Dann startet der Film, der, wie sich herausstellt, aus stehenden Einzelbildern in Kombination mit Text besteht, das Fortschreiten zu den folgenden ‚Szenen’ (Bildern) erfolgt mittels Mausklick. Die Handlung ist relativ simpel: eine gewisse Ölig kauft Aal bei Fischhändler Hohlmann, obwohl sie weiß, dass er nicht gut für ihre Gesundheit ist. Bei den Bildern handelt es sich teilweise um Photographien, teilweise um bearbeitete Photographien, expressionistische Zeichnungen und um Skizzen aus Storyboards. Die äußerliche Präsenz zwischen Text und Bild ist relativ ausgeglichen. Auf der inhaltlichen Ebene scheint der Text zwar das Fortschreiten der Handlung zu motivieren, einige Bilder aber verstärken die Bedeutungsstrukturen des teilweise sehr undurchsichtigen Textes und vervielfältigen so die möglichen Anknüpfungspunkte für die Interpretation. Andere Bilder hingegen dienen nur zur Illustration und zur Verstärkung der Wirkung. In Hinblick auf Ersteres ergibt sich erst durch ein genaues Betrachten der Bilder in Kombination mit dem Text eine tiefere Interpretationsebene.
Einmal noch den Aal so unschuldig genießen, wie wir es hier als Kinder getan haben, als uns keiner was von Blutwerten und kranken Gedärmen erzählen konnte… Einmal noch die Vergangenheit zum Tischnachbarn haben und den Aal schmerzfrei verzehren…[33]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2. Die Aaleskorte der Ölig Szene 16[34]
Dem Text, der eine glückliche Kindheit heraufbeschwört, wird das befremdende Bild entgegengesetzt. So deutet dieses Bild, in Verbindung mit dem begleitenden Text und dem vorangehenden Textteilen, in denen der Aal durchwegs sexuell konnotiert wurde, eine Anspielung auf einen Kindesmissbrauch an. Dieses traumatische Erlebnis könnte dann mittels einer Freudschen Transferleistung auf gesundheitliche Probleme übertragen worden sein und somit erklären, warum die Ölig keinen Aal essen darf. In diesem Zusammenhang erhält auch die Tatsache, dass Ölig immer eines der Kinder auswählt, um sie nach ihrem Aalkauf nach Hause zu begleiten, einen bedrohlichen Unterton. So erschließt sich der Subtext dieser Erzählung erst durch genaues Lesen und Betrachten und verlangt somit von dem/der Leser/in eine Oszillation zwischen diesen beiden Rezeptionshaltungen.[35]
Ästhetik der Oberfläche …
Einen völlig anderen Zugang zur Verbindung von Text und Bild stellen die Arbeiten Künstlergruppe Squid Soup[36] – ein loser Zusammenschluss mehrer Musiker und Medienkünstler - dar.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3. Ghosts 1[37]
In der Literatur wird häufig auf das Projekt Remedi oder untitled aus 2000 verwiesen, das derzeit leider nicht online verfügbar ist, deshalb werde ich das Projekt Ghosts [38] untersuchen, das im Zeitraum von 2002 bis 2004 entstanden ist. Die Künstler selbst sehen dieses Projekt als digitale Skulptur an, die sich mit den Gegebenheiten medialer Kommunikation auseinandersetzt. Ziel dieses Projekts, das auf Texten aus Chatrooms basiert, ist es, diese flüchtigen, fragilen Texte und Gedankensplitter in einer dauerhaften Skulptur zu verarbeiten und ihnen so einen neuen Kontext und Sinn zu geben. Der/die Leser/in beziehungsweise Betrachter/in kann mittels interaktiver, dynamischer Kamera durch dieses Universum aus Text navigieren. Während bei Remedi noch zusätzlich mit Ton gearbeitet wurde, beschränkt sich dieses Projekt auf die visuelle Wahrnehmung.[39] Ein Sinn oder Inhalt lässt sich aus diesen zufällig zusammengesetzten Satzfetzen nur schwer (re-)konstruieren, doch das Projekt beeindruckt auf der visuellen beziehungsweise sinnlichen Ebene, da die virtuelle Kamerafahrt eine unheimliche Sogwirkung ausübt.
… oder Ästhetik der Sinne
Da dieses Projekt gar nicht den Anspruch hat, einen Sinn oder eine Bedeutung zu vermitteln, entzieht es sich den bekannten Interpretationsmustern. Doch wie kann die Literaturwissenschaft mit solchen Arbeiten umgehen? Leicht werden solche Projekte in der Ecke des digitalen Kitsches abgelegt. Denn der Begriff Kitsch ist durchaus zutreffend, wenn man davon ausgeht, dass dabei die Fernstellung zwischen Rezipient (Ich) und Text (Gegenstand) zugunsten eines intensiveren Erlebnisses aufgegeben wird. Besteht hier also eine Tendenz zu einer Ästhetik des Spektakels?[40] Dies würde der Ansicht Andrew Darleys entsprechen, der davon ausgeht, dass sich in der digitalen Kultur eine Verschiebung von einer bedeutungsschweren, symbolischen Ästhetik zu einer Ästhetik des Sinnlichen oder einer „culture of the depthless image“[41] vollzieht. Es stellt sich zwangsläufig die von Darley formulierte Frage: “Is an aesthetic without depth necessarily an impoverished aesthetic, or is it rather, another kind of aesthetic - misunderstood and undervalued as such?”[42]
In Hinblick auf Zweiteres kann an Susan Sontags Forderung nach einer Erotik statt einer Hermeneutik der Kunst angeknüpft werden. Denn die zwanghafte Suche nach Interpretation auf Basis des Intellekts passiert auf Kosten der sensuellen Begabung des Menschen. Es muss also möglicherweise, um solchen Arbeiten gerecht zu werden, eine neue Form der Kunst-/Literaturbetrachtung entwickelt werden. Bezeichnend ist allerdings, dass sich die Tendenz zu einer Ästhetik der Sinne nicht nur in Hinblick auf die Literatur, sondern eben auch auf die visuelle Seite, die bildende Kunst (sofern man digitale Kunst hier hinzurechnen will) vollzieht.[43] “The key feature of this horizon which cuts across the genres in question, ist hat recipients expect certain intensities (Hervorhebung AD)of direct sensual stimulation.“[44]
Vollzieht sich mit der Tendenz zu gesteigerter sinnlicher Wahrnehmung möglicherweise eine Gegentendenz zur „Mystifikation der sichtbaren äußeren Welt“, die wir laut Michael Giesecke der Buchkultur zu verdanken haben?
Ent- Mystifikation der sichtbaren Welt
Giesecke geht davon aus, dass die typographische Kultur Jahrhunderte lang in Europa als die einzige ausschließliche Wirklichkeit galt, während alle anderen Welten als subjektive abgewertet wurden. Darin zeigt sich eine Tendenz zur Hierarchisierung von Informationen, die die visuell wahrnehmbaren an die Spitze der Hierarchie stellt und unter anderem wenig Raum lässt für leibliche Innenwelten.[45]
Nach Gieseckes 3-Stufen Modell des Generationenwechsels in der Mediengeschichte befinden wir uns derzeit in einer Phase der Gegenabhängigkeit. Diese ist gekennzeichnet durch eine Tendenz weg von der visuellen Wahrnehmung und einer Aufwertung der anderen Sinne. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass die Qualität vieler medialer Formen (zum Beispiel Musikvideos) nicht mehr allein durch das Auge wahrnehmbar ist, sondern diese vielmehr eine affektive, unterbewusste Wirkung auslösen. Es vollzieht sich also eine Entwicklung hin zu einer taktilen Qualität, von der man jedoch noch nicht genau sagen kann, wie sie sich entwickeln wird. Klar ist derzeit, dass wir uns in einer Kultur befinden, in der die affektiven und assoziativen Gestaltungsformen an Bedeutung gewinnen. Damit, welche Auswirkungen diese Entwicklungen möglicherweise auf unser Denken haben können, werde ich mich im folgenden auseinandersetzten.[46]
Neues Denken
Wie bereits eingangs erwähnt, ist Flusser der Ansicht, dass das logische Denken sich erst durch die Entstehung der Schrift entwickeln konnte und die Linearität der Schrift unser Denken somit wesentlich geprägt hat. Die informatische Revolution allerdings ist aus einem Nachdenken über das Denken entstanden, denn Computer simulieren mit ihrer digitalen Bauweise die Nervenströme unseres Gehirns. Er stellt in diesem Zusammenhang fest, dass unsere Wahrnehmungen eigentlich im Gehirn komputierte Bilder sind, also dass wir eigentlich gar nicht in Begriffen, sondern in Bildern denken.[47] Außerdem rückt durch das Programmieren, das nach Flusser auf der Annahme basiert, dass alles menschliche Verhalten auf Wenn/Dann Propositionen rückführbar ist und somit programmierbar wird, eine neue Denkart in den Vordergrund – ein Denken in „kybernetische[n], komputierende[n], funktionelle[n] Kategorien.“[48] Dies ist insofern widersprüchlich, als dass wenn/dann Formulierungen trotz allem immer noch eine lineare, monokausale Denkweise zugrunde liegt.
Giesecke stimmt mit Flusser zwar darin überein, dass das Denken der Schriftkultur linear und monokausal ist, bringt dies allerdings in Zusammenhang mit dem Verfahren des Buchdrucks, dessen Ziel es ist, Rückkopplungseffekte auszublenden und zu minimieren. Da die Minimierung von Wechselwirkung aber auf Dauer nicht sinnvoll ist, sieht Giesecke es auch für unsere Denken als notwendig an, Rückkopplungsmöglichkeiten einzubauen. Dies bedeutet beispielsweise, sich darüber bewusst zu werden, dass nicht nur der Mensch die Maschine beeinflusst, sondern dieser Vorgang auch auf umgekehrte Weise wirkt. Deshalb, und hier ist Gieseckes Ansatz jenem von Flusser entgegengesetzt, ist es notwendig, dass sich das Denken in Zukunft weg von monokausalen wenn/dann bzw. entweder/oder Propositionen hin zu Sowohl-als-auch Relationen und somit zu einem spiegelnden Denken entwickelt. Es ist dabei relativ gleichgültig, ob man nun von kybernetischem, systemischen oder vernetztem Denken sprechen will, ausschlaggebend ist für ihn letztendlich die Interaktivität: der Dialog zwischen Mensch und Maschine.[49]
Interaktivität als literarische Praxis
Dass der Aspekt der Interaktivität jedoch nicht nur im Hinblick auf unser Denken sondern auch auf die literarische Praxis relevant ist, zeigt sich an vielen Beispielen der Netzliteratur. Bereits Flusser geht davon aus, dass sich mit den neuen Medien das Verhältnis zwischen Autor/in und Rezipient/in verändern wird:
„Der neue Dichter wendet sich nicht an derartige Empfänger. Die Modelle, die er baut, wollen empfangen werden, um verändert und dann weitergesandt zu werden. Er ist an einem Permutationsspiel beteiligt, das er von vorangegangenen Dichtern empfing, und er gibt es an künftige Dichter weiter“[50]
In diesem Zusammenhang möchte ich wieder auf Christiane Heibach zurückkommen, die in kooperativen Netzliteratur-Projekten eine Form der Oszillation zwischen den Ebenen desk (Bildschirmoberfläche) und soz (Soziales Netzwerk) sieht.[51] Solche kooperativen Projekte bezeichne ich, wie gesagt, als Netzliteratur, denn sie sind letztendlich auch die einzig wirklich netzspezifischen, wenn man davon ausgeht, dass das essentielle Charakteristikum des Internets eben die Möglichkeit zur Vernetzung ist. Häufig wird dem Navigieren über Hyperlinks bereits eine Form von Interaktivität zugeschrieben, da der/die User/in entscheiden kann, welchen Pfaden er/sie folgen will und so subversiv agiert, indem er/sie seinen/ihren eigenen Text zusammenstellt.[52] Da diese Tatsache aber leider nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es sich letztendlich immer noch um ein von dem/r Autor/in zusammengestelltes Set von Texten und Möglichkeiten zur Navigation handelt (und der Hypertext das Internet auch nicht benötig), denke ich, dass dies erstens keine Form von Netzliteratur ist und zweitens in Hinblick auf die Interaktivität nicht überbewertet werden sollte.
Christiane Heibach unterscheidet hinsichtlich der kooperativen Projekte folgende Modelle:[53]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Interaktion zwischen Autor/in und Maschine
Doch nicht nur durch die Kooperation zwischen mehreren Autor/innen erfährt das Konzept der Autorschaft eine Veränderung, sondern eben auch durch die Interaktion zwischen Mensch/Autor/in und Maschine. Nach Flusser erfolgt diese Veränderung (in Hinblick auf Dichtung, die er im Gegensatz zur Nachahmung als Sprachspiel ansieht) dahingehend, dass in Zukunft das Schreiben der Maschine überlassen wird und der/die Dichter/in die Funktion hat, aus den vom Computer zufällig errechneten Komputationen die geeignetste auszuwählen.[54]
Als Beispiel aus der gegenwärtigen literarischen Praxis kann hierzu wahrscheinlich das Genre der Computerdichtung herangezogen werden. Darunter ist Literatur zu verstehen, die den Computer nicht nur als Browser-, Grafik- oder Programmoberfläche nutzt, sondern Texte algorithmisch erzeugt und transformiert. Für Cramer ist Computerdichtung Literatur, die
„auch ihren Sprachcode nach programmierten Regeln transformiert oder generiert; Turing-vollständige Computertexte, in der Form autonomer Textautomaten oder von Filtern, die Text beschneiden, vervielfachen und umformen.“[55]
Als gelungenes Beispiel dafür sieht Cramer Perl Poems an, Textgenerierungsprogramme, die ausführbare Perl Scripts sind und deren Quellcode zugleich als Lyrik lesbar ist.[56]
Er weist aber, im Gegensatz zu Flussers Theorie, darauf hin, dass auch jedes Programm etwas vom Menschen gemachtes ist und somit eine Maschine keine eigene Agenda oder Politik hat, sondern nur jene des Autors/der Autorin widerspiegelt, der/die ihn konstruiert und programmiert hat.[57] Die Permutationen Flussers entstehen also nicht zufällig, sondern auf Basis eines Programms, das der/die Autor/in in einer bestimmten Absicht geschrieben hat und somit unterscheidet sich die Absicht des/der digitalen Dichters/Dichterin nicht so sehr von jener des/der alphabetischen, wie er annimmt.
Conclusio
Es ist also deutlich geworden, dass sich nicht nur die Formen, sondern auch die Produktionsbedingungen und –verfahren und die Rezeptionssituation von Literatur durch die neuen Medien verändert haben. Dies alles müsste notwendigerweise zu einer Entwicklung neuer Formen der Analyse von (digitaler) Literatur führen, die auf diese veränderten Bedingungen Rücksicht nimmt und Aspekte wie zum Beispiel Interaktivität, Nicht-Linearität und Multimedialität berücksichtigt. Besonders im Hinblick auf die multimedialen Projekte müsste ein analytisches Instrumentarium entwickelt werden, das der Verbindung der unterschiedlichen semiotischen Systeme gerecht wird.
Auf die allgemeine Entwicklung gesehen ist nicht anzunehmen, dass sich durch die neuen Medien eine Dominanz der technischen Bilder ergeben wird, sondern vielmehr, dass der Sehsinn an Bedeutung verlieren und die anderen Sinne an Relevanz zunehmen werden.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
Daiber, Jürgen/Metzer, Jochen: Trost der Bilder. http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_IV/Germanistik/daiber/pegasus98/index2.htm 12.03.2006
Günther, Dirk/Klötgen, Frank: Die Aaleskorte der Ölig. [1] http://www.aaleskorte.de/ 12.03.2006
Maskiewicz, Stefan: Quadrego. http://www.leeon.de/showroom/Quadrego/start.htm 12.03.2006
Squid Soup (Bushell, Gareth/ Lane, James/Rowe, Anthony): Ghosts 1 http://squidsoup.com/ghosts/3.html 12.03.2006
Sekundärliteratur
Selbständige Literatur:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Unselbständige Literatur:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis:
Titelblatt: Net Art Generator http://nag.iap.de/?
Abbildung 1. Maskiewicz, Stefan: Quadrego. Zentrum.
Abbildung 2. Günther, Dirk/Klötgen, Frank: Die Aaleskorte der Ölig. Szene 16. http://www.aaleskorte.de/start1.htm Szene 16
Abbildung 3. Squid Soup: Ghosts 1. http://squidsoup.com/ghosts/3.html
[...]
[1] Vgl. Sabrina Ortmann: Netz Literatur Projekt. Entwicklung einer neuen Literaturform von 1960 bis heute. 1. Aufl. Berlin: Berlinerzimmer.de 2001, S. 47 - 59
[2] Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Göttingen: European Photography 1990 S. 11
[3] Vgl. ebda. S. 10ff
[4] ebda. S. 12
[5] Vgl. Flusser S. 14 – 25
[6] Vgl. ebda. S. 33f
[7] Vgl. ebda S. 35; S. 65
[8] Vgl. Roberto Simanowski: Lesen, Sehen, Klicken. Die Kinetisierung konkreter Poesie. http://www1.uni-hamburg.de/DigiLit/simanowski/kinetisch_konkret_poesie.html 12.03.2006
[9] Vgl. Simanowski: Lesen, Sehen, Klicken.
[10] Flusser: Schrift S. 25
[11] Vgl. Bernd Rosner: Telematik. Vilém Flusser. in: Kloock, Daniela ua.: Medientheorien. München: Fink 2000 S. 78f
[12] Vgl. Christiane Heibach: Literatur im Internet. Dissertationsschrift Universität Heidelberg 2000 http://www.netzliteratur.net/heibach/heibach_diss.pdf 12.03.2006 S. 200f
[13] Vgl. ebda.
[14] Vgl. Simone Winko: Hyper – Text – Literatur. Digitale Literatur als Herausforderung an die Literaturwissenschaft. http://www1.uni-hamburg.de/DigiLit/winko/hyper_text_literaturwissenschaft.html 12.03.2006
[15] Vgl. ebda.
[16] Flusser: Schrift S. 25
[17] Vgl. ebda. S. 60
[18] Michael Giese>http://www.mythen-der-buchkultur.de/Mythen3D.htm 12.03.2006
[19] Vgl. Michael Giese>
[20] Giese>http://www.mythen-der-buchkultur.de/Mythen3D.htm 12.03.2006
[21] Vgl. Giesecke. Mythen der Buchkultur S. 186
[22] Vgl. Giese>http://www.mythen-der-buchkultur.de/Mythen3D.htm 12.03.2006
[23] Christiane Heibach: Oszillationen // Netzkunst / Netzliteratur. Vortrag in der Reihe "Tell.net" der Stadtbücherei Stuttgart am 10. Oktober 2002 http://www.netzliteratur.net/heibach/oszillationen.html
[24] Christiane Heibach: Creamus, ergo sumus. Ansätze zu einer Netz-Ästhetik http://www.netzliteratur.net/heibach/creamus.htm
[25] Vgl. Roberto Simanowski . Der versteckte Text: Aspekte digitaler Bilder. http://www.dichtung-digital.de/Forum-Kassel-Okt-00/Simanowski/ 12.03.2006, S. 2
[26] Vgl. ebda.
[27] Stefan Maskiewicz: Quadrego. http://www.leeon.de/showroom/Quadrego/start.htm
[28] Vgl. Vgl. Stefan Maskiewicz: Schreiben an der Webkante. http://www1.uni-hamburg.de/DigiLit/maskiewicz/schreiben_web_kante.html#VI
[29] Abbildung 1. Stefan Maskiewicz: Quadrego. Zentrum.
[30] Jürgen Daiber/Jochen Metzger: Trost der Bilder http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/phil_Fak_IV/Germanistik/daiber/pegasus98/index2.htm
[31] Dirk Günther/Frank Klötgen: Die Aaleskorte der Ölig. http://www.aaleskorte.de/
[32] ebda.
[33] Günther/Klötgen http://www.aaleskorte.de/start1.htm
[34] Abbildung 2. ebda. Szene 16
[35] Vgl. Heibach: Literatur im Internet S. 277 - 282
[36] http://www.squidsoup.org/
[37] Abbildung 3. Ghosts. Squid Soup: http://squidsoup.com/ghosts/3.html
[38] Gareth Bushell/James Lane/Anthony Rowe: Ghosts 1. http://squidsoup.com/ghosts/3.html
[39] Vgl. Squid Soup http://www.squidsoup.com/ghosts/2.html
[40] Vgl. Simanowski: Lesen, Sehen, Klicken.
[41] Andrew Darley: Visual Digital Culture. Surface Play and Spectacle in New Media Genres. London, New York 2000, S. 193
[42] ebda. S. 6
[43] Vgl. Simanowski: Lesen, Sehen, Klicken.
[44] Darley: Visual Digital Culture S. 168
[45] Vgl. Giese>
[46] Vgl. Giese>
[47] Flusser: Schrift S. 141f
[48] ebda. S. 60
[49] Vgl. Giese>
[50] Flusser: Schrift S. 78
[51] Vgl. Heibach: Creamus …
[52] Vgl. Thomas: Ballhausen: „… und dann kommt die Flut“. Ein Beispiel österreichischer (Netz-) Literatur im Kontext aktueller Diskussionen. in: Kolik. Zeitschrift für Literatur, Nr. 20, 2002, S. 126f
[53] Vgl. Heibach: Literatur im Internet. S. 320 - 339
[54] Vgl. Flusser: Schrift S. 77
[55] Florian Cramer: Literatur im Internet. http://userpage.fu-berlin.de/%7Ecantsin/homepage/writings/net_literature/general/alg_1999//alg-literatur_im_internet.html#3 12.03.2006
[56] Vgl. Florian Cramer: Warum es zu wenig interessante Computernetzdichtung gibt. http://www.netzliteratur.net/cramer/karlsruher_thesen.html#CITEwall:perl
[57] Vgl. Florian Cramer zit. nach Karina Bauer in: Kriterien digitaler Literatur. http://www.berlinerzimmer.de/eliteratur/karinabauer_kriteriendigitaleliteratur_280503.pdf, S. 75f
- Arbeit zitieren
- Marlies Pöschl (Autor:in), 2006, Umrisse digitaler Texte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110502
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