In Form eines Besprechungsessay werden hier drei aktuelle und thematisch wichtige deutschsprachige Neuerscheinungen aus dem politisch ´linken´ Raum vorgestellt.
Dabei scheut sich der Rezensent, der wie die Imperialismus-Kritikerin Rosa Luxemburg (1871-1919) innerlinke „Selbstkritik“ für so wichtig wie produktiv hält, nicht, in diesem politischen Spektrum vorhandene erhebliche Moral-, Wissens- und Handlungsdefizite zu benennen.
In Form eines Bespchungsessay werden hier drei aktuelle und thematisch wichtige deutschsprachige Neuerscheinungen aus dem politisch ´linken´ Raum vorgestellt. Dabei scheut sich der Rezensent, der wie die Imperialismus-Kritikerin Rosa Luxemburg (1871-1919) innerlinke „Selbstkritik“ für so wichtig wie produktiv hält, nicht, in diesem politischen Spektrum vorhandene erhebliche Moral-, Wissens- und Handlungsdefizite zu benennen.
„Nuremberg“
Der „Nürnberger Prozeß“ gegen die Hauptkriegsverbrecher fand vor dem Internationalen Militärgerichtshof vom 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946 statt und war, rechtshistorisch, neu und einzigartig: Das nur zu diesem einen Zweck eigens geschaffene Gericht wurde von den vier (Sieger-) Mächten des Zweiten Weltkriegs eingerichtet, um dessen Verantwortliche als führende Funktionäre des Deutschen bzw. „Dritten“ Reichs in einem öffentlichen Verfahren anzuklagen, abzuurteilen bzw. freizuspchen.
Die Anklage umfaßte vier Punkte: (i) Verschwörung gegen den Weltfrieden, (ii) Planung, Entfesselung und Durchführung eines Angriffskriegs, (iii) Kriegsverbrechen und (iv) Menschheitsverbrechen - im Deutschen meist als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ so falsch wie schuldvermindernd übersetzt und von Hannah Arendt sarkastisch als „understatement des Jahrhunderts“ charakterisiert. Angeklagt wurden zwei Dutzend Personen und, auch dies ein rechtsgeschichtliches Novum, staatliche Organisationen und politische Verbände: Reichsregierung, Generalstab, OKW, NSDAP, SS, SD, SA und GESTAPO. Am 30.9./1.10.1946 verurteilten die Richter in einem – so der damalige Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch – „fairen Prozeß“ („Politik als Verbrechen. 40 Jahre ´Nürnberger Prozesse´“, hrgg. v. Martin Hirsch u.a.,. VSA-Verlag, 1986, 14; und weiter: „Ich wünschte mir, mancher deutsche Strafprozeß wurde so fair durchgeführt werden heute wie damals der Hauptkriegsverbrecherprozeß“) von den verbliebenen 22 Angeklagten zwölf zum Tode – davon einen in absentia - und sieben zu Haftstrafen –davon vier zwischen zehn und zwanzig Jahren, drei zu lebenslänglichen - und sprachen drei Täter frei. Als „ verbrecherische Organisationen “ wurden SS, SD, GESTAPO und die politischen Führer der NSDAP erklärt, nicht jedoch SA, Reichsregierung, Generalstab und OKW. Diesem ersten großen „Nürnberger Prozeß“ gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ folgten unmittelbar 1946/48 zwölf weitere Nürnberger Folgeprozesse gegen bestimmte Funktionsgruppen und deren führende Funktionäre wie u.a. Ärzte, Juristen, Diplomaten, Großunternehmungen, Generalstabsoffiziere und „Einsatzgruppen“ genannte mobile Massenmordkommandos). Im Gegensatz zu den Folgeprozessen wurde das Gerichtsverfahren gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ umfassend in 42 Bänden auch in amtsdeutscher Sprache 1947/49 dokumentiert. Eine Teildokumentation dieser großen grauen Bände liegt auch als CD-Rom vor („Das Protokoll des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 14. November 1945 - 1. Oktober 1946“; mit einer Einführung von Christian Zentner. Berlin 2004²: Direktmedia [ = Digitale Bibliothek 20], 31505 p.).
Das „Rückspiegel“-Buch von Dr. Kurt Pätzold (*1930), einem bekannten Historiker und, bis 1992, Professor der ehemaligen DDR, kann als journalistische Einführung in den Komplex „Nürnberger Prozeß“ oder „Nuremberg“ angesehen werden. Sie ist aus einer dreizehnteiligen Serie der Berliner Tageszeitung „junge Welt“ (10.10.2005 bis 2.10.2006) entstanden. Auch im Rückgriff auf eigene empirische Forschungen zu Imperialismus und Faschismus, Genozid und (von ihm meist „Judenmord“ genannten) Holocaust („Von der Vertreibung zum Genozid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus“; in: Faschismus-Forschung. Positionen – Probleme, Polemik, Akademie-Verlag 1980²: 181-208; „Verfolgung – Vertreibung – Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942“, Röderberg-Verlag 1984, 364 p.) hat der Autor sie um vier Teile erweitert. Das Buch enthält die im wesentlichen chronologisch angeordneten Zeitungsartikel, dazu noch einen 30-Seiten-Essay zur Rezeption des nun 60 Jahren zurückliegenden Prozesses, als Dokumente das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs mit beiden ihn begründenden öffentlichen politischen Erklärungen (Moskau: 1.11.1943; London: 8. August 1945) sowie eine vom 17.4.1940 bis 2007 reichende Chronik (nebst Anmerkungen und Personenregister) und zwei als Exkurse bezeichnete wissenschaftliche Texte zur „Rolle der Industriellen“ im Dritten Reich und zu „Judenverfolgung und Judenmord vor dem Nürnberger Tribunal“.
Diese beiden Beiträge Pätzolds sind wohldurchdacht und wissenschaftlich anregend. Seine „Echo“ genannte Rezeptionsskizze hingegen ist wie auch der schmale Dokumententeil und seine „Chronik“ so selektiv wie chaotisch: bei allen drei Dokumenten fehlen Quellen, beim IMT-Statut dazu die Datierung; die Auswahlkriterien der Chronik sind nicht nachvollziehbar; darüber hinaus enthält diese wichtige zeitgenössische Literaturhinweise, wohingegen alle bibliographischen Hinweise fehlen. Diese Formalschwächen mindern den Gebrauchswert des Bandes. Und auch inhaltlich hätte Pätzold verdeutlichen sollen, daß es allein im vierten Anklagekomplex um Menschheitsverbrechen ging, daß also, wie jede Durchsicht der „Nuremberg“ vorbereitenden und begleitenden wissenschaftlichen Studien zeigt (etwa Rapahel Lemkin, Axil Rule in Occupied Europe. Laws of Occupation – Analysis of Government – Proposals for Redress […], Carnegy Endowment…, 1944, viii/674 p.; Sheldon Glueck, War Criminals. Their Prosecution & Punishment, Alfred Knopf 1944, viii/250/xii p.; Fritz Bauer, Die Kriegsverbrecher vor Gericht. Europa-Verlag 1945, 237 p.; Nazi Conspiracy Aggression, United States Government Printing Office, 1946, vol. I-VII [and] Suppl. A-B) immer Kriegsverbrechen in doppelter Weise im Vordergrund standen: als neu geschaffener Völkerrechtsstraftatbestand Angriffskrieg/Aggression einerseits und als Verbrechen im Sinne des auch 1945 bestehenden Kriegsrechts seit der Haager Konvention von 1907 andererseits.
Pätzolds 2005 geschriebener fünfzehnseiter Holocaust-Aufsatz dagegen schließt zur internationalen Genoziddiskussion auf und ist vor allem deshalb anregend, weil hier auch, bezogen auf den Holocaust genannten Judeozid (1941-1945), der Quellenwert der IMT-Dokumente (etwa des „Diensttagebuchs“ von Hans Frank aus dem Generalgouvernement als „Schlüsseldokument“) herausgearbeitet wird. Hier polemisiert der Autor gegen die „jämmerlich-verlogenen Auftritte“ der Nazigrößen vor Gericht und belegt, daß das „Judenmorden [...] und namentlich dessen Ausmaß das von allen Angeklagten am meisten gefürchtete Thema“ im Prozeß war. Pätzold skizziert auch die Schwierigkeiten jeder juristischen Beweisführung, der es einmal um Handlungen (Dulden und Unterlassen eingeschlossen) und Taten und nicht um Reden und Gesinnung als Nachweis von „Massenmorden, dessen Opfer Juden, Kriegsgefangene, Geiseln, behinderte und kranke Menschen geworden waren“, gehen mußte, zum anderen um den Nachweis, daß diese faschistische „Ausrottungspolitik“ als „verbrecherisches Projekt zentral ausgelöst und gelenkt war“ und daß drittens die dann fabrikmäßig-industriell vollzogenen Kollektivmorde durch Gas und Verbrennungsöfen in Auschwitz und andernorts unabhängig von Handlungen der Opfer stattfanden, daß also dieser Völkermord als Holocaust „allein aufgrund und als Folge von Plänen der faschistischen Machthaber geschah“ und der „´offen ausgesprochenen Absicht des Nazi-Staates [entsprach], dass, was immer das deutsche Schicksal sein möge, der Jude nicht unter den Überlebenden bleiben sollte´“.
Im von Kurt Pätzold angesprochenen genozidalen Feld des Holocaust ging es auch in Nürnberg 1945/46, wenn auch nicht an erster Stelle, um Genozidprävention oder Völkermordverhinderung. Der in den IMT-Texten nur gelegentlich aufscheinende, auch von Pätzold historisch vernachlässigte Zusammenhang mit dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, dem Armenozid, war gleichwohl bekannt und auch den Anklägern ebenso bewußt wie Franz Werfel, Raphael Lemkin, Fritz Bauer, Robert W. Kempner und überhaupt jedem politikhistorisch Interessierten. Den faschistischen Rassenideologen galten Armenier als Prototyp einer „degenerierten Rasse“. Dieses auch von Hitler selbst zur Begründung des später Holocaust oder Shoah genannten Völkermords an den europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs 1941-1945 vertretene antiarmenische Stereotyp von (ehemals stolzen) abgesunkenen Persern, „die jetzt als Armenier ein klägliches Dasein führten“, wurde den Nazigrößen Göring und v. Ribentrop während ihrer Vernehmungen im Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher (als Dokument GB-283) am 21.3. bzw. 2.4.1946 vorgehalten. Indirekt spielt der Armenozid im Zusammenhang mit Hitlers Rede/n vor den Oberkommandierenden auf dem Obersalzberg am 22. August 1939 zur Rechtsfertigung des Angriffs(krieges) auf den polnischen Staat, der dann schließlich am 1. September 1939 begonnenen wurde, eine wichtige Rolle. Diese tatsächlich aus zwei Teilen bestehende „Ansprache des Führers“ ist in den Nürnberger Prozeßdokumenten L-3, PS-789 und PS-1014 dokumentiert und als eine seiner auf den Angriffskrieg bezogenen „Schlüsselbespchungen“ gewertet worden (in den IMT-Dokumentenbänden finden sich 65 Fundstellen mit Verweis aufs Datum dieser „Dschingis-Khan-Rede“ Hitlers am 22. August 1939). Und auch wenn die Aufgabe des Gerichtshofs nicht die Ahndung des faschistischen „Judenmords“ als „Verbrechen gegen die Menschheit, verübt am jüdischen Volk“ (Hannah Arendt) war, sondern die nationalsozialistischen (Haupt-) Kriegsverbrecher wegen „Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit“ anzuklagen (Manfred Lachs, War Crimes. An Attempt to Difine the Issues, Stevens & Sons, 1945, viii/108 p.) - so kann doch davon ausgegangen werden, daß, ebenso wie Hitler selbst, der US-Anklägerstab um Robert H. Jackson über ausreichendes geschichtliches Wissen zum „Armeniermord“ während des Ersten Weltkriegs verfügte, um sich im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden von Einzelheiten des Völkermord an europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs an den „Armeniermord“ während des Ersten Weltkriegs „hinten in der Türkei“ erinnern zu können.
Dieser Zusammenhang, an den auch Robert W. Kempner („Der Völkermord an den Armeniern“; in: Recht und Politik, 16 [1980] 3: 167-169; gekürzt in: Emuna, 13 [1978] 3, 34-36) eindringlich erinnerte, gehört zur Vorgeschichte des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946/47. Er war auch damals bekannt (Egon Schwelb, „Crimes Against Humanity“; in: British Yearbook of International Law, 23 [1946]: 178-226). Und auch die „Moskauer Erklärung“ vom 1. November 1943 hatte ihren Vorläufer in der an die jungtürkische Führung adressierten Triple-Entente-Erklärung vom 28. Mai 1915, in der öffentlich von „ Verbrechen gegen die Menschheit und Zivilisation “ (crimes against humanity and civilisation; crimes contre l´humanité et civilisation) gesprochen wurde und davon, die politisch Verantwortlichen nach dem Krieg zu bestrafen – was auch die Verträge von Versailles 1919 und Sévres 1920 als Recht der Siegermächte vorsahen, was jedoch nicht praktiziert wurde. Diesen jahrzehntelang von Genozidforschern vernachlässigten Aspekt (es gab Ausnahmen wie Gerd Kormans Edition „Hunter & Hunted. Human History of the Holocaust“, Viking Press, 1973, 320 p.) hat der jüdische Publizist Joseph Guttmann, der auch in diesem Zusammenhang Hitlers Obersalzberger Aggressionskriegsrede vom 22. August 1939 zitierte („The Beginnings of Genocide. A Brief Account on the Armenian Massacres in the World War I“, Armenian National Council of America, 1948, 19 p.; zuerst Yivobleter 28 [1946] 2: 239-253), soweit ich weiß als erster Autor 1946 öffentlich angesprochen. Leider schade, daß Kurt Pätzold auch diesen historischen Kontinuitätsstang zu „Nuremberg“ als eines der Schlüsselereignisse des vergangenen Jahrhunderts vernachlässigt.
„Vertreibung“; „Umsiedlung“
Der Fragezeichenband der beiden promovierten Hamburger Historiker Jörg Berlin und Adrian Klenner ist nach den von mir in „Völkermord(en). Genozidpolitik im 20. Jahrhundert“ (Aachen: Shaker, 2006 [= Berichte aus der Rechtswissenschaft/Allgemeine Rechtswissenschaft], 113-116) zusammenfassend vorgestellten Büchern zum Armenozid von Vahakn N. Dadrian (1996; 1997²) zur reichsdeutschen Mitverantwortlichkeit, Taner Akcam (1996; 2004²), zu den Istanbuler Nachkriegsprozessen 1919 und Wolfgang Gusts (2005) Neuherausgabe von Völkermorddokumenten aus dem „Auswärtigen Amt“ 1915/16 die letzterschienene „große“ dokumentarische Darstellung zum Armenozid. Das Buch enthält nach einer Problemeinführung einen historischen Überblick zum „ Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich “. Dieser überzeugt als „Darstellung“ leider ebensowenig wie der gesamte Band mit seinen insgesamt 259 Dokumenten auf gut 300 Seiten. Zum einen zeigt die etwa fünfzigseitige Überblicksdarstellung der Autoren, daß weder beim Armenozid im speziellen noch beim Genozid im allgemeinen ein zeitgeschichtliches Gutgemeint ausreicht. Zum anderen verdeutlichen die nicht immer aus Primärquellen, Dokumenteneditionen, Erstpublikationen edierten zahlreichen, in sechs historischen Kapiteln gruppierten Dokumente (der „Bewertungsprobleme“ als Ausblickskapitel folgt), daß jede noch so gut gemeinte Dokumentenreihung bestenfalls Facetten veranschaulichen, aber kein Gesamtbild ergeben kann.
Drittens fand ich im Dokumententeil (zu) oft Texte unüberprüft und nicht nach Primärquellen, sondern nach Reprints, Nachdrucken, Sonderausgaben publiziert, etwa Dokument 237: die zuerst in den USA 1921 erschienenen „Posthumous Memoirs of Talaat Pasha“ werden nicht nach der Primärquelle „Current History“, welcher Zeitschriftenjahrgang in der Hamburger ZB Recht unter der Signatur IIA Z 106 vorhanden ist, zitiert; oder Dokument 73: die Verordnung zur „Zwangsumsiedlung“ vom 27. Mai 1915, welche im Buch als „Gesetz“ erscheint, zuerst 1917 in Constantinopel französisch veröffentlicht und so auch in die Lepsius-Aktenedition von 1919 als Dokument 71 übernommen wurde, wird i) sowohl in einer gekürzten Version ii) als auch aus einem englischen Buch und dazu iii) noch falsch rückübersetzt präsentiert: Im entscheidenden Artikel 2 der „Notverordnung“ war nämlich die Rede von „déplacer et installer dans d´autres localités, séparément our conjoinement“. Das aber meint nicht wie im Buchdokument 73 behauptet, Personen „einzeln oder insgesamt fortschaffen oder an anderen Orten ansiedeln“, sondern sie „in Bewegung zu setzen und einzeln oder gemeinsam andernorts unterzubringen.“ Viertens ist die hier dominierende historiographische Sicht keine historische Perspektive, weil im Grunde auf deutsche Geschichte (mit gelegentlicher Parallelsicht auf türkische) bezogen und damit national angelegt. Fünftens fehlt jede „Anstrengung des Begriffs“ (G.W.F. Hegel), etwa in Form hier besonders dringlich erforderlicher Begriffsbestimmung und –differenzierung bei Völkermord [und] Genozid einerseits vs. Umsiedlung [und] Deportation andererseits, weshalb die Autoren in ihrem „historischen Überblick“ auch meinen feststellen zu können, daß bei aller Objektivität und Dichte so vieler zeitgenössischer „von einander unabhängiger und unvoreingenommener Beobachter und Zeitzeugen [...] das Vorhandensein eines Konzepts für einen Völkermord nicht endgültig“ bewiesen wäre. Diese Wertung entwertet, sechstens, sowohl die hier erneut dokumentierten (vor allem diplomatischen) Berichte vor allem deutscher, österreichischer und US-amerikanischer Augen- und Zeitzeugen als Quellen als auch und insbesondere alle Hinweise des bekannten deutschen „Armenierfreunds“ Dr. Johannes Lepsius, der bereits 1916 erkannte, was zeitgenössisch „Ausrottung“ hieß und später als Genozid/Völkermord bezeichnet und geächtet werden sollte und der dies auch 1921 als Gerichtssachverständiger öffentlich aussprach („Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talaat Pascha“, ed. Tessa Hofmann, pogrom-Neuauflage 1980: 56-61). Absurd wird´s, siebtens, wenn die Autoren meinen, die am 15. Juni 2005 einstimmig angenommene Resolution des Deutschen Bundestages (BT-Drucksache 5689) wegen der dort nur indirekt erfolgten Kennzeichnung von „ Vertreibungen und Massakern an den Armeniern 1915 “ als „Völkermord“ kritisieren zu sollen – sie selbst aber im Buchtitel den noch stärker verharmlosenden und vor allem von militanten Völkermordleugnern benützten und im Deutschen ungebräuchlichen Ausdruck „Umsiedlung“ verwenden und in ihren eigenen Texten nicht klipp und klar von Völkermord oder Genozid spchen.
Die Formel „ Umsiedlung “ (türkisch: „tehcir“, auch: “zorunlu göç“ oder „sürgün“) – im britischen Englisch als „resettlement“ im Doppelsinn von Um- u n d Wiederansiedlung, im Französischen als „transfert“, „déplacement de population“, auch „transplantation“ benützt, wobei Zwangsumsiedlung „le transfert forcé“ meint – erinnert mich, achtens, nicht nur an die NS-rassistische Wortschöpfung „Umvolkung“ der Albert Brackmann; Werner Conze und Theodor Schieder, sondern ist, im Gegensatz etwa zu „Vertreibung“, ein in der deutschen Sprache und Literatur des 20. Jahrhunderts höchstungebräuchliches Sprachkonstrukt: Wohl kennen die entspchenden Bände des „vorbraunen“ Meyer-Lexikon (Bibliographisches Institut, 7. Auflage 1929/30) Siedlung/en und Siedlungsformen ebenso wie das von Wolfgang Pfeifer und Mitarbeiter/innen erarbeitete „Etymologische Wörterbuch“ (dtv 3358, 1995³) des Berliner Zentralinstituts für Sprachwissenschaft die Tätigkeit (be/an-) „siedeln“ im Sinne von seßhaft oder ansässig werden, sich niederlassen – nicht aber „umsiedeln“ oder „Umsiedlung“, genauer: auf „Umsiedlung“ heben bis heute vor allem (nicht nur türkische) Armenozidleugner ab, indem auf die entspchende „Notverordnung“ des Osmanischen Staats (27.5.1915) verwiesen wird: „Die Umsiedlung war [...] die aus Sicherheitsgründen vorgenommene Zwangsansiedlung einer bestimmten Gruppe [...] in bestimmten Gebieten zum Zwecke der Verhinderung schädlicher Aktivitäten“, genauer: die „osmanische Regierung [...] siedelte die in der Nähe der Kampfgebiete lebenden Armenier in weiter südlich gelegene osmanische Gebiete und nach Syrien um“ (Institut für Außenpolitik, Das Armenierproblem in neun Fragen und neun Antworten, Ankara 1982: 28-29). Es ist dies die ungebrochene Rechtfertigung von sei´s „Umsiedlung“, seis „Zwangsansiedlung“ genannter und 1915 begonnener Ausrottungs-, Vernichtungs- und Völkermordpolitik des Osmanischen Staates, die bereits die jungtürkische Tätergruppe 1916 und 1917 zur Rechtfertigung ihrer „Maßnahme“ verbreiten ließ. Die entspchenden Broschüren erschienen in der damaligen Diplomatensprache französisch zuerst (die erste am 1. März 1916) als >> Vérité sur le Movement Révolutionnaire arménien et les mesures gouvernementales/Journal de guerre [...]/Notes d´un officier superieur russe [...]<< (Constantinople 1916; 1919², 54 p.) und später als >> Aspirations et agissement révolutionnaires des Comité Arméniens avant et après la proclamation de la Constitution Ottomane << (Istanbul 1917, 290 p.), und wer nachhaltig recherchiert kann auch diese Genozidapologien in öffentlichen Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland auffinden ... Was, neuntens, Armenozidrechtfertigung/en betrifft, so war dies ein ideologisches Operationsfeld ehemaliger prominenter Wissenschaftler und faschistischer Ideologen des „Dritten Reiches“ während des Zweiten Weltkriegs, etwa von Carl Mühlmann, Gotthard Jäschke, Franz Ronneberger. Mühlmann beispielsweise übernahm die damalige jungtürkische Propaganda als „Tatsache, daß ein großer Teil des armenischen Volkes durch die ´Aussiedlung´ zugrunde gegangen ist“ und verwies als „tiefere Ursache des türkischen Armenierhasses“ auf die türkistisch-turanistische Ideologie mit ihrem rassistischen Überwertigkeitsanspruch („Das deutsch-türkische Waffenbündnis im Weltkriege“, Koehler & Amelang 1940: 276/277). Zusammenfassend - und zehntens - verstricken sich auch die Hamburger Historiker namentlich im Umsiedlungskomplex wie vor ihnen alle Historiker, die jede „Vernichtungsabsicht“ und damit die genozidale Tat oder Völkermordhandlung bestreiten, in jene Widersprüche, die Yves Ternand so kennzeichnete: „Die Absurdität [...] läßt sich mit folgender Formel wiedergeben: Nichts ist ihnen [den Armeniern] geschehen, aber sie haben es verdient.“ („Der verbrecherische Staat...“, Hamburger Edition 1996: 152). Im konkreten Armenozid-„Fall“ fallen die Autoren noch hinter unser heutiges lexikalisch geronnenes wissenschaftliches Wissen zurück (Gunnar Heinsohn, „Lexikon der Völkermorde“, rororo-aktuell 22338, 1998: 351):
„Der bekannteste schriftliche Genozidbefehl – erhalten als Telegramm – stammt vom türkischen Innenminister Talat Pascha für die Ausrottung der Armenier im Jahre 1915: ´Ihnen wurde bereits mitgeteilt, daß die Regierung durch Befehl der Versammlung (Jemiet) beschlossen hat, die in der Türkei lebenden Armenier restlos auszurotten. Diejenigen, die sich diesem Befehl widersetzen, können nicht mehr für die Regierung im Amt bleiben. Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke [...] muß ihrer Existenz ein Ende bereitet werden.´“
Es mag sein, daß die aparte Verbindung von fehlender Quellenarbeit, gediegener Recherche, begrifflicher Klarheit und moralischer Indifferenz der Hamburger Historiker wirkungsstrategisch mit Blick auf eine bestimmte, immer noch postosmanisch-kemalistischer Ideologie und Armenozidnegation verpflichtete Klientel, entspchend dem (im Faust I: 1335-1344 beschriebenen) Mephistopheles-Effekt angemessen erscheint. Nur hat diese Methode nichts gemein mit Geschichts wissenschaft als einem systematisch angelegten, methodisch kontrollierten und ideologiekritisch wirkenden intellektuellen Verfahren, das immer auch, hier im Bereich zeitgeschichtlichen Wissens, „selbstloses Streben nach Wahrheit“ (Carl Djerassi) meint...
„ ... die Armenierfrage... “
Das in Istanbul ansässige Türkei-Büro der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlichte im März 2006 einen Sammelband zur Diskussion „der Armenierfrage“ in der Türkei 2005. Die Büroleiterin, Dr. Ulrike Dufner, will wohl „die damaligen tragischen Geschehnisse“ und damit die „Geschichte der Armenier in der Türkei“ angesprochen haben, „dabei jedoch nicht auf die Ereignisse selbst eingehen“. Ihr Anliegen im speziellen ist es, „Stereotypen mit der Realität [zu] konfrontieren“, um zu irritieren und anzuregen. Es ist gut, daß einige Beiträge in diesem Buch über dieses küchenpädagogische Ansinnen und das ihm unterliegende Klippschulbild von „Stereotypen des ´Anderen´“ – vermutlich gemeint: ego/alter ego - hinausgehen. Und es ist noch besser, daß das Buch zweisprachig, deutsch und türkisch, erschien.
Der Band nimmt den ironischen Hinweis eines fiktiven Theater-Direktors: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ (Faust I: 97) beim Wort. Die sechs Aufsätze sind recht heteronom-sujetbezogene Darstellungen, Berichte und Hinweise. Alexander Iskandarian (Eriwan) trägt den heutigen staatsarmenischen Standpunkt zum Armenozid und Hinweise auf einige neuere armenische Publikationen vor. Über seine Ausstellung zur Anregung türkischer Erinnerungsarbeit unter dem Titel „Mein lieber Bruder“ (Sireli Yeghpajrs) von Januar und Oktober 2005 in Instanbul, Oktober/November in München (und nun auch im April 2006 in Köln) berichtet Autor und Organisator Osman Köker („Armenier in der Türkei vor 100 Jahren. Mit Postkarten des Sammlers Orlando Carlo Calumeno“ [Ausstellungskatalog]. Istanbul/Köln: Quer-4to, 2005/06, 399 p.). Diese Beitragsgruppe enthält auch einen lokalgeschichtlichen Beitrag. Es geht um die heutige (kurdische) Halbmillionen(groß)stadt in Anatolien, Diyarbekir. Dr. Talip Atalay, Kirchenhistoriker und Projektleiter „Diyarbekir Vilayeti'nde Mektepleşme“ an dortiger Dicle-Universität, stellt die Stadtzeitung der Jahre 1869-1902 als lokalgeschichtliche Quelle auch für damaliges Leben christlicher Armenier vor. Im Sinn des Vorworts schließlich berichtet einer der Projektleiter einer empirischen Untersuchung über wechselseitige Stereotypen zu „Türkentum“ und „Armeniertum“ in beiden heutigen Gegenwartsgesellschaften, Dr. Ferhat Kentel von der Istanbuler Bilgi-Universität („Armenian & Turkish Citizens' Mutual Perceptions & Dialogue“ http://www.tesev.org.tr/etkinlik/ermeni_turk_diyalog.php). Dabei zeigte sich, daß einmal das wirkliche wechselseitige Wissen über die jeweils andere Gesellschaft gering ist, daß es zum anderen beiderseits ausgeprägte Negativsteoreotypen gibt, die drittens bei armenischen Befragten hinsichtlich der erwarteten Negativität ihrer Wahrnehmung durch Türken ausgeprägter waren als umgekehrt. Viertens war, wie zu erwarten, der Armenozid als ethnohistorisches Schlüsselereignis der Zeitgeschichte, nach dem ohne „das Ereignis“ selbst Völkermord zu nennen speziell gefragt wurde, bei Armeniern ausgeprägter als bei Türken. Fünftens plädiert der Autor für Abbau der Negativstereotypen auf türkischer Seite im Zusammenhang mit fortschreitender Demokratisierung und Pluralisierung der türkischen Gesellschaft.
Der Hauptbeitrag des Bandes umfaßt im deutschen Teil etwa 50 Seiten. Der Autor, Hrank Dink (*1954), ist als Herausgeber der bisher einzigen zweisprachig-armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos einer der prominentesten Intellektuellen (in) der gegenwärtigen Türkei. Er hebt bewußt auf seine Doppelidentität als nichttürkischer Armenier und türkischer (Staats-) Bürger ab. Auch Dink, der nach dem Militärputsch 1980 mehrfach inhaftiert wurde, war, wie andere; im EU-Bereich Solidarität erfahrene prominente Autoren, z.B. der Literaturnobelpisträger (2006) Orhan Pamuk 2005 und zuletzt Elif Shafak, die am 21. September 2006 von einem Istanbuler Bezirksgericht freigesprochen wurde, wegen „Beleidigung des Türkentums“ nach § 301 Strafgesetzbuch öffentlich angeklagt, erhielt aber zunächst „nur“ eine Bewährungsstrafe in der Türkei und im Mai 2006 in Deutschland für sein nachhaltiges und langdauerndes Engagement für Pressefreiheit in der Türkei den Henri-Nannen-Preis. Nun steht Dink seit dem 26. September 2006 erneut vor Gericht wegen „Beleidigung des Türkentums“...
In seinem Beitrag führt Dink seine vermittelnde Position eines „dritten Weges“ zwischen Anerkennung und Leugnung des Armenozid breit aus. Deutlich wird, daß Dink weniger „links vom Möglichen überhaupt“ (Walter Benjamin) steht als vielmehr eher zwischen allen schon besetzten Stühlen Platz zu nehmen versucht. Die Hauptlager strukturiert der Autor, der „die Armenierfrage“ benützt, um die gegenwärtige türkische Gesellschaft unterm Primat der weiteren Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen im „westlichen“ Sinn zu demokratisieren, zu pluralisieren und zu liberalisieren, in doppelten Triaden: Die heute aus etwa acht Millionen Menschen bestehende „armenische Welt“ lebt im seit September 1991 unabhängigen kaukasischen Kleinstaat (etwa drei Millionen), in der von Dink „Anatolien in der Welt“ genannten armenischen „Diaspora“ (gut 5 Millionen) u n d besteht auch noch aus einer kleinen, in der Türkei lebenden armenischen Minderheit, der Dink selbst angehört. Insbesondere „Diaspora-Armenier“ hätten sich, seit zwei Jahrzehnten zunehmend erfolgreich, einerseits für die weltweite „Anerkennung der Wahrheit“ des Armenozids eingesetzt; aber andererseits zugleich ein Negativstereotyp gegenüber Türken und dem türkischen Staat ausgebildet. Die türkische Seite bestünde aus dem autoritären Staat (soweit mir bekannt in der „Armenierfrage“ heuer repräsentiert durch harte Leugner wie den Vorsitzenden der staatlichen Gesellschaft für Türkische Geschichte, Yusuf Halacoglu), der Politik (analog verkörpert durch den Vorsitzenden der Arbeiterpartei der Türkei, Dogu Perincek), und der Zivilgesellschaft (analog vertreten durch Rechtsanwalt Kemal Kerincsik, der die Autorin Elif Shafak wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ anzeigte). Dabei, so Dinks Leitthese zur paradoxen Lage (und abgesehen von seinen Hinweisen zum schwierigen Verhältnis der Staaten Türkei und Armenien), blockierten sich die Hauptantipoden „Diaspora“ einerseits, Staat Türkei andererseits wechselseitig. Diese doppelte Blockade sei unterhalb der Völkermord Ja-Nein-Ebene aufzulösen, wozu der Autor als „ein Armenier aus der Türkei“ beitragen will - und dadurch dem antidemokratisch orientiertem Leugnerkern als „Armenierknecht“ gilt (wie derzeit auch der immer noch prominenteste Kurdenpolitiker in der Türkei öffentlich als „Armenierbastard“ bezeichnet wird).
Hrant Dinks engagiertes Plädoyer argumentiert mit deutlichem Blick auf die türkische Gegenwartsgesellschaft und die von ihr zivilgesellschaftlich zu entwickelnde Toleranz, Pluralität und Demokratisierung. Diese Sicht und „Stimme als Türkei-Armenier“ hat freilich Folgen: erstens wird der Blick verengt, was besonders deutlich am Verhältnis des Autors zu Geschichte und Geschichtsschreibung wird. So sehr Dink zum einen und zutreffend positiv bewertet, daß die zunächst staatlich untersagte Konferenz „Die Armenier in der Phase des Niedergangs des Imperiums“ schließlich doch im September 2005 an der Istanbuler Bilgi-Privatuniversität stattfinden konnte (zur Erinnerung: 1982 durften armenische Wissenschaftler zu einer Genzidkonferenz in Israel nicht einreisen, nachdem die damalige türkische Militärregierung Druck ausübte: „Toward the Understanding & Prevention of Genocide“, ed. Israel W. Charny, Westview Press, 1984, ixx/396 p.) – so zeigt sein Rückbezug auf eine emotional aufgeladene, auch noch die gegenwärtige türkische Mehrheitsgesellschaft auszeichnende Geschichtsschreibung wie sehr auch dieser progressive Intellektuelle (in) der gegenwärtigen Türkei immer noch ins kemalistisch-totalitäre Denken verstrickt ist: es war Mustafa Kemal, der spätere Atatürk, der zur Gründung der Gesellschaft für Türkischen Geschichte 1931 schrieb: „Geschichte schreiben ist genauso wichtig wie Geschichte machen“ („Tarih yazmak, tarih yapmak kadar önemlidir“. Diese Atatürk-Formel mit deutscher Übersetzung bei http://www.yilmaz-biliciler.de/Atam.htm: "Tarih yazmak, tarih yapmak kadar mühimdir. Yazan, yapana sadı k kalmazsa, değ iş meyen hakikat, insanlı ğ ı ş aş ı rtacak bir mahiyet alır" – "Geschichte schreiben, ist genauso wichtig wie Geschichte machen. Auch der Schreiber muß treu und loyal bleiben, ohne diese Eigenschaft wird die Geschichte für den Mensch immer im Zweifel bleiben.") Zweitens trägt Dink auch in sich Widersprüchliches vor: etwa wenn er einerseits „die weltweiten Bestrebungen der ArmenierInnen“ zur Armenozidanerkennung als den innertürkischen Demokratisierungsprozeß fördernd, andererseits eher als Beitrag „zur Zunahme bestehender Spannungen“ wertet. Drittens einvernimmt der Autor manches zu oberflächlich: wenn z.B. das türkische Verfassungsgericht das Verbreitungsverbot eines Genozid-Buch von Vahakn N. Dadrian mit der zynischen Begründung aufhob, „es gäbe nicht mehr viele ArmenierInnen im Land, die man durch das Buch aufhetzen könnte“, kann nicht nur resultathaft das Urteil interessieren, sondern müßte auch die genuin faschistische „Begründung“ der türkischen Richter interessieren und kritisch kommentiert werden. Viertens wirkt Dinks Plädoyer für „den Willen“, der seiner Meinung nach ausreichte, aber beiden Seiten fehlte, historisch naiv und politisch hilflos. Fünftens (und insofern angemessen, daß der Autor sich nicht mit der Bedeutung des Armenozids selbst beschäftigt) ist Dinks Vorstellung vom „Völkermord an den ArmenierInnen“, welcher „in den letzten dreißig Jahren eine universale Dimension gewann“, verkürzt und haltlos, weil jeder Völkermord/Genozid als solcher und an sich (sui generis et per se) immer schon - und völlig unabhängig von jeder „Historikerkommission“ - genau diese „ universale Dimension “ per definitionem hat.
Dem Dinkessay folgt ein Lagebericht zur „Armenierdiskussion in der Türkei 2005“ von Stefan Hibbeler (*1963), dem Herausgeber des wöchentlich erscheinenden deutschsprachigen Internetmagazins Istanbul Post (http://www.istanbulpost.net/Istanbul%20Post/about.htm). Auf 15 Seiten betont Hibbeler, auch im Rückbezug auf Dink, die Bedeutsamkeit der Armenozidanerkennung als „Auseinandersetzung über die Fortsetzung der politischen Liberalisierung in der Türkei“ und konzentriert sich dabei vor allem auf Ereignis und Bewertung (als Völkermord), sodann auf den Stil der öffentlichen Auseinandersetzungen und schließlich auch auf allgemeinere Aspekte türkis(tis)cher Vertreibungspolitik „großer nichtmuslimischer Minderheiten“ aus Anatolien. Hibbelers Beitrag enthält den Wortlaut der Erklärung der türkischen nationalen Versammlung („Türkiye Büyük Millet Meclisi“) vom 13. April 2005, welche von „armenischen Vorwürfen“ sprach und leider verdeutlichte, daß bisher noch alle (auch hier zusammenfassend dokumentierten) zivilgesellschaftlichen Hinweise und Anregungen am Arsch von Staat und Politik der Türkischen Republik vorbeigingen, weil dies alles „bis zum heutigen Tag von der türkischen Regierung namens der Tätergesellschaft geleugnet“ wird (so zutreffend der Berliner Antisemitismusforscher Dr. Wolfgang Benz). Und wenn der deutsch-französische Politikwissenschaftler Dr. Alfred Grosser kürzlich im Berliner „Tagesspiegel“ [12. 10. 2006] kritisierte, daß „die türkischen Machthaber von heute darauf beharren, die historische Realität zu leugnen, die doch akribisch und vermutlich unwiderlegbar in dem detaillierten Werk von Raymond Kévorkian ´Le genocide des Armenien´ [Paris: BiblioMonde, 2006, 1007 p.] dargelegt wird“, weil „die Anerkennung der vergangenen Verbrechen so schwierig ist für die politische Elite der Türkei: Der Aufbau der türkischen Nation war unmittelbar mit dieser ´ethnischen Säuberung´ verbunden, so wie es bei vielen anderen ´Säuberungen´ der Fall war“ und fordert, „daß es im Zusammenhang mit dem möglichen EU-Beitritt der Türkischen Republik darum geht, daß die Türkei vor einem EU-Beitritt eine zentrale Bedingung erfüllen“ muß, nämlich: „ Die Anerkennung des Genozids an den Armeniern 1915/1916 “ – dann halte ich diese Grundforderung für moralisch, politisch und kulturell für so angemessen wie berechtigt.
*) Bespchungsaufsatz zu den Buchneuerscheinungen:
-Kurt Pätzold, Im Rückspiegel: Nürnberg. Der Prozeß gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher
1945/46. Köln: PapyRossa, 2006, 254 p. [ = Neue Kleine Bibliothek 117], ISBN 978-3-89438-355-8
-Völkermord oder Umsiedlung ? Die Armenier im Osmanischen Reich – Darstellung und
Dokumente, hrgg. von Jörg Berlin [und] Adrian Klenner; Köln: Papyrossa Verlag, 2006, 410 p. (und Kartenanhang 10 p.) [ = Hochschulschriften 69]; ISBN 3-89438-346-1
-Ulrike Dufner u.a., Wenn man die Armenierfrage diskutiert ... / Ermeni sorunu tartisilirken ...
Istanbul: Türkeivertretung der Heinrich Böll Stiftung, 2006, 126 p. / 115 p.; ISBN 975-00954-0-5
Autor
Dr.rer.pol.habil. Richard Albrecht, PhD., ist kulturanalytischer Sozialpsychologe, historischer Politikforscher und als free-lancer ein mit wissenschaftlichen Methoden arbeitender Autor, Essayist und Dramatiker. Er ist seit 2002 Editor von rechtskultur.de, dem unabhängigen online-Magazins für Menschen und Bürgerrechte (http://de.geocities.com/earchiv21/rechtskulturaktuell.htm). Richard Albrechts bisher wichtigster fachwissenschaftlicher Text erschien 1991: „ The Utopian Paradigm – A Futurist Perspective “, gekürzte Netzfassung: http://www.grin.com/en/fulltext/phg/25119.html. - Die aktuellen Buchveröffentlichungen des Autors sind StaatsRache. Texte gegen die Dummheit im deutschen Recht(ssystem) (München: GRIN Verlag für akademische Texte, 2005, iii/149 p.; e-Buch), das Vorwort ist kostenlos zugänglich: http://www.wissen24.de/vorschau/36391.html, und Völkermord(en). Genozidpolitik im 20. Jahrhundert (Aachen: Shaker, 2006, 184 p. [= Beiträge zur Rechtswissenschaft/Allgemeine Rechtswissenschaft]); das gekürzte englische Postscript ist auch copyleft: http://de.geocities.com/earchiv21/murdering.people.htm - Richard Albrecht ist Mitglied der VG Wort und der FG Sozialpsychologie; e-Post bitte an/please, mail to: dr.richard.albrecht@gmx.net
- Quote paper
- Dr. Richard Albrecht (Author), 2006, Armenozid - Es war Völkermord. Aktuelle Hinweise auf Menschheitsverbrechen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110419
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