Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge hatten im Jahr 2001 21,9 % der in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Kinder mindestens einen ausländischen Elternteil.
Den größten Anteil stellen türkischsprachige Eltern, gefolgt von solchen mit Serbokroatisch und solchen mit Italienisch als Erstsprache. Diese Daten zeigen seit 1991 einen stetigen Aufwärtstrend.
Längst ist Deutschland zu einem mehrsprachigen Land geworden, auch wenn die Realitäten im Bildungswesen darauf nur im Schneckentempo reagieren und Deutschland hinter den Standards zurückbleibt, die im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen festgeschrieben sind.
Gleichzeitig werden die Mittel für zusätzlichen Unterricht in der Erstsprache Mehrsprachiger (z. B. Türkisch) drastisch eingeschränkt.
Nicht ohne Grund wird immer wieder der monolinguale und monokulturelle Habitus des Bildungswesens beklagt.
Der Aufbau der Arbeit geht aus von allgemeinen Reifungsprozessen und dem Einfluss der sozialen Umwelt auf den Fremdsprachenerwerb, um anschließend die wichtigsten Einflussfaktoren im Spracherwerbsprozess und ihre Gewichtung zueinander darzustellen.
Schließlich wird der Fokus mit der Diskussion über den Aufbau des mentalen Lexikons erweitert, um die Arbeit dann mit Handlungsempfehlungen zum Fremdsprachenerwerb abzuschließen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Individuelle Mehrsprachigkeit
2.1 Definition der Mehrsprachigkeit
2.2 Genetische, umweltspezifische und emotionale Einflussfaktoren
2.2.1 Altersabhängige Selbstorganisationsprozesse im Gehirn
2.2.2 Frühkindliche Gehirndifferenzierung und sozialer Kontakt
3 Lernpsychologische Dimensionen der Mehrsprachigkeit
3.1 Einflussfaktoren des Sprachverhältnisses zwischen L1 und weiteren Fremdsprachen
3.2 Die Rolle des mehrsprachigen Lexikons beim Verstehen und bei der Sprachproduktion
3.2.1 Modulare Stufenmodelle
3.2.2 Interaktive Netzwerkmodelle
3.2.3 Einflussfaktoren des Sprachverhältnisses zwischen L1 und L2 als Mischsystem im mentalen Lexikon
4 Handlungsempfehlungen
5 Zusammenfassung
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge hatten im Jahr 2001 21,9 % der in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Kinder mindestens einen ausländischen Elternteil. Den größten Anteil stellen türkischsprachige Eltern, gefolgt von solchen mit Serbokroatisch und solchen mit Italienisch als Erstsprache. Diese Daten zeigen seit 1991 einen stetigen Aufwärtstrend. Längst ist Deutschland zu einem mehrsprachigen Land geworden, auch wenn die Realitäten im Bildungswesen darauf nur im Schneckentempo reagieren und Deutschland hinter den Standards zurückbleibt, die im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen festgeschrieben sind. Gleichzeitig werden die Mittel für zusätzlichen Unterricht in der Erstsprache Mehrsprachiger (z. B. Türkisch) drastisch eingeschränkt. Nicht ohne Grund wird immer wieder der monolinguale und monokulturelle Habitus des Bildungswesens beklagt.
Der Aufbau der Arbeit geht aus von allgemeinen Reifungsprozessen und dem Einfluss der sozialen Umwelt auf den Fremdsprachenerwerb, um anschließend die wichtigsten Einflussfaktoren im Spracherwerbsprozess und ihre Gewichtung zueinander darzustellen. Schließlich wird der Fokus mit der Diskussion über den Aufbau des mentalen Lexikons erweitert, um die Arbeit dann mit Handlungsempfehlungen zum Fremdsprachenerwerb abzuschließen.
2 Individuelle Mehrsprachigkeit
2.1 Definition der Mehrsprachigkeit
Der Europäische Referenzrahmen umkreist das Thema „Mehrsprachigkeit“ aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Leitgedanke besteht darin, dass eine weit verbreitete Mehrsprachigkeit der Schlüssel für eine europäische Integration ist (vgl. Königs 2001). Vor diesem Hintergrund soll der Ausgangspunkt der Definition der Mehrsprachigkeit in dieser Arbeit der Begriff Bilingualismus sein, weil in diesem Forschungsbereich viele nützliche Erkenntnisse zur Mehrsprachigkeit erarbeitet worden sind: Die Debatte über die Vor- und Nachteile der Zweisprachigkeit bei Kindern ist weitgehend abgeschlossen. Es gibt bereits umfangreiche Untersuchungen zur Methodik, den Chancen und den Konsequenzen der bilingualen Erziehung in den verschiedensten Sprachkombinationen und Situationen. Der Begriff Bilingualismus ist dabei so großzügig definiert, dass er auf alle Formen der Zweisprachigkeit anwendbar ist. Er darf im Fall einer bilingualen Erziehung jedoch nur dann angewendet werden; wenn beide Elternteile bzw. die Bezugspersonen oder auch Lehrer eine Muttersprachler-Kompetenz in den jeweiligen Sprachen aufweisen, außerdem sollte der intensive, natürliche Kontakt mit beiden Sprachen gewährleistet sein (vgl. Bialystok 1994).
Mehrsprachigkeit betont darüber hinaus die Tatsache, dass sich die Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten erweitert, von der Sprache im Elternhaus über die Sprache der ganzen Gesellschaft bis zu den Sprachen anderer Völker (die er entweder in der Schule oder auf der Universität lernt oder durch direkte Erfahrung erwirbt). Diese Sprachen und Kulturen werden dabei aber nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert, sondern bilden dem europäischen Referenzrahmen zufolge gemeinsam eine kommunikative Kompetenz. Aus dieser Perspektive ändert sich das Ziel des Sprachunterrichts ganz grundsätzlich. Man kann es nicht mehr in der Beherrschung einer, zweier oder vielleicht dreier Sprachen sehen, wobei jede isoliert gelernt und dabei der „ideale Muttersprachler“ als höchstes Vorbild betrachtet wird. Es wird also nicht mehr die gleiche Beherrschung der Fremdsprache(n) und der Muttersprache verstanden, sondern vielmehr ein möglichst weit reichendes sprachliches Repertoire in der bzw. den Fremdsprachen, das es den Lernenden erlaubt, in dem für sie relevanten situationellen Rahmen fremdsprachlich erfolgreich zu handeln (vgl. Königs 2001).
2.2 Genetische, umweltspezifische und emotionale Einflussfaktoren
Die Erforschung von Mehrsprachigkeit, meist beschränkt auf den überschaubaren Fall des Bilingualismus, ist im europäischen Forschungskontext in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkt in der Sprachpsychologie, der Kognitions- und neuerdings auch der Neurowissenschaft geworden. Als gemeinsamer Nenner aller Spracherwerbstheorien kann die Hypothese gelten, dass jegliche Form des Spracherwerbs von folgenden genetischen, umweltspezifischen und emotionalen Faktoren abhängt: Einer vom Alter abhängigen neuronalen Vernetzung, den kognitiven Fähigkeiten, dem System der jeweiligen Sprache(n), Art, Intensität und Dauer des Kontakts mit der sprachlichen Umwelt, Motivation, soziale Integration. Die Einflussfaktoren werden ausführlich im Unterpunkt 2.1 dargestellt. Erkenntnisleitend ist dabei die Frage, welche Variationen sich aus der unterschiedlichen Gewichtung dieser Faktoren ergeben (vgl. Lightbown/Spada 1994). Der Erst- und Fremdsprachenerwerb ist ein Wechselspiel zwischen dem Gehirn des Kindes und seiner sprachlichen Umwelt bzw. dem sozialen Kontakt. Es ist wichtig festzuhalten, dass sich Sprache, wie alle natürlichen Systeme, selbst organisiert. Wie Karpf (1990) empirisch feststellen konnte, sind die Prinzipien dieses komplizierten Wechselspiels auch beim Erwerb weiterer Sprache(n) gültig.
2.2.1 Altersabhängige Selbstorganisationsprozesse im Gehirn
Lenneberg (1967) zufolge gibt es infolge von Reifungsprozessen im Gehirn eine kritische Periode für einen muttersprachenähnlichen L2-Spracherwerb, wobei zunächst die Pubertät als Scheidepunkt angesetzt wurde. Spätere Untersuchungen legten nahe, diese kritische Schwelle erheblich nach vorne zu verlegen, da es schon bei einem L2-Erwerb nach dem 6. bis 9. Lebensjahr zu unvollkommener Beherrschung sowohl der Grammatik als auch der Lexik kommt. Für viele gilt entsprechend das sechste bis neunte Lebensjahr als der Endpunkt so genannter früher Bilingualität. Auch in der Phase von der Geburt bis zu diesem Zeitpunkt sind interessante neuronale Differenzierungen in Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Einsetzens des Spracherwerbs zu beobachten. Insbesondere scheint aus neurowissenschaftlicher Sicht das dritte Lebensjahr einen weiteren Wendepunkt zu markieren (vgl. Perani et al. 2003).
Die Annahme kritischer Phasen zeigt deutlich die Bedeutung des Alters beim Erwerb der Mehrsprachigkeit: Sprachen entwickeln sich zwar immer nach bestimmten Grundmustern und in regelmäßiger Reihenfolge (wenn auch in individuell unterschiedlicher Geschwindigkeit), es gibt jedoch einen wesentlichen Faktor, der Kindern mehr Erfolg bei weniger Anstrengung garantiert: die mit dem Alter abnehmende neuronale Plastizität (vgl. Peltzer-Karpf 1994). Vor der Geburt entwickeln sich nicht nur alle Neuronen und Schaltstellen (40.000 Neuronen und 600 Millionen Synapsen/mm), sondern auch hochspezialisierte Filter, die nach der Geburt die von der Umwelt dargebotenen Reize verarbeiten (vgl. dazu weiter unten den Selektionsmechanismus). Die erste Phase ist durch synaptische Proliferation gekennzeichnet, d. h., neuronale Verbindungen werden (um allen Eventualitäten zu genügen) im Überfluss angelegt. In weiterer Folge werden relevante Kontakte nach und nach zu neuronalen Netzen stabilisiert, während entbehrliche Verbindungen wieder gelöst werden. Die drastische Reduktion der synaptischen Proliferation in Zahlen ausgedrückt: ab dem 8. Monat bis zum 11. Lebensjahr erfolgt ein Abbau von ca. 40% der überflüssigen Kontaktstellen. Daraus lässt sich schließen, dass mit fortschreitendem Alter die Möglichkeit weiterer physiologischer Veränderungen eingeschränkt ist, obwohl Synapsen und Dendriten auch im Alter neu aufgebaut werden. Diese Reduktion läuft jedoch zeitlich gestaffelt ab. Jedes System hat folglich seine eigene kritische Phase, in der es besonders sensibel für die Aufnahme von Information ist. Unter den verschiedenen sprachlichen Systemen wird das Lautsystem als erstes stabil und erlaubt dann nur noch bedingt den akzentfreien Erwerb eines neuen Lautsystems.
Die Reifungsprozesse des Gehirns aufgreifend und diese aus systemtheoretischer Sicht analysierend hat Locke (1999) aus evolutionsbiologischer Perspektive zu erklären versucht, welche Mechanismen das Entstehen einer so komplexen Fähigkeit wie Sprache begünstigen. Dabei handelt es sich um Mechanismen, deren Entstehen nicht dadurch erklärt werden kann, dass sie mit bestimmter Absicht angelegt wurden – die Evolution verfolgt keine Ziele. Ebenso warnt Locke davor, beim Beobachten des Kleinkindes vorschnell Absichten hinter bestimmten Verhaltensformen zu unterstellen: Das Kleinkind brabbelt nicht mit dem Ziel vor sich hin, später das Lautsystem seiner Sprache zu beherrschen. Folgerichtig will das Kind keine „Gedanken mitteilen", weil das Kind erst weit nach dem zweiten Lebensjahr überhaupt ein Konzept der psychologischen Funktionen anderer Personen entwickelt (Locke 1999, S. 377). Bis dahin zeigt das Kind bereits sprachliches Verhalten, aber eben nicht, um im eigentlichen Sinn des Wortes zu kommunizieren. Es sind also bestimmte Mechanismen am Werk, die für sich besehen selbstverständlich nicht dem Ziel dienen, verschiedene Verhaltensweisen zur Sprachfähigkeit zusammenzuführen, die aber trotzdem ab einem bestimmten Punkt in ihrem gleichzeitigen Auftreten normalerweise Sprachfähigkeit herausbilden. Lockes Erklärungstyp erinnert an den von Keller (1990) vorgeschlagenen Typus der „invisible-hand-explanation“ für Phänomene des Sprachwandels. In einer Analogie ausgedrückt: Es gibt Gründe und Motive für bestimmte Verhaltensweisen, die insgesamt zum Entstehen eines Trampelpfades in einem Park führen, aber niemand läuft mit der gezielten Absicht quer über den Rasen, diesen Pfad anzulegen.
Interessant sind die grundlegenden Mechanismen des Dialogs zwischen Organismus und Umwelt, die der Spracherwerbsforschung neue Perspektiven eröffnen können. Unberücksichtigt bleibt dabei vorerst die Frage, ob und wie die Wortbedeutungen im mentalen Lexikon gespeichert werden, weil die altersbedingten Selbstorganisationsprozesse zunächst unabhängig von dieser Frage diskutiert werden können und um die wichtige Rolle des Alters beim Fremdsprachenerwerb hervorzuheben: Erstens gilt, dass der Organismus eine Auswahl aus den ihm gebotenen Input vornimmt, d. h. nicht alle Daten, die an ein Kind oder an einen Lerner herangetragen werden, haben eine Chance auch verarbeitet zu werden. Dies hängt damit zusammen, dass der jeweilige Systemzustand die Selektionsmechanismen bestimmt und erweitert, d. h., je weiter entwickelt ein Kind/Lerner ist, desto mehr Informationen können in das jeweilige System aufgenommen und weiterverarbeitet werden. Diese ständige Ansammlung von Information hat dann verständlicherweise zur Folge, dass das zunächst noch rudimentäre System sehr komplex und schwer organisierbar wird. Hier tritt nun, zweitens, ein Prozess ein, der (Informatikern nicht unvertraut) als Modularisierung bezeichnet wird. Dieses Entstehen von autonomen Untersystemen hat den Vorteil der besseren (neuronalen) Organisation und der geringeren Störungsanfälligkeit. Diese Tendenz der funktionellen Arbeitsteilung zeigt sich unter anderem sehr deutlich im unterschiedlichen Tempo, in dem sich sprachliche Systeme entwickeln oder in gut voneinander abgrenzbaren Störungsmustern. Ein interessanter Nebeneffekt der Modularisierung ist, dass das jeweils betroffene System sehr stark in Bewegung (katastrophentheoretisch ausgedrückt: in einen chaotischen Zustand) gerät, was sich jeweils an Überproduktivität, Fluktuationen und großer Fehlerhäufigkeit erkennen lässt (vgl. Peters 1983).
Auf die spezielle Situation von bilingualen Kindern angewandt, sollten diese beiden Prinzipien folgende Aktivitäten auslösen: (1) die Selektion von Eingangsdaten aus zwei Sprachsystemen, die in Abhängigkeit von der Ähnlichkeit und der Komplexität simultan oder sukzessiv erfolgen kann und dementsprechend den zeitlichen Verlauf des Erwerbs bestimmt und (2) die Differenzierung von Systemen, nicht nur innerhalb einer Sprache, sondern parallel dazu auch zwischen den Sprachen. Die Aufnahme und Verarbeitung sprachlicher Information erfolgt in allen Erwerbsformen konform; offensichtlich haben alle Kinder/Lerner eine Vorliebe für kognitiv einfache, leicht wahrnehm- und verarbeitbare Muster, die schrittweise verarbeitet werden. Eine sich daraus ergebende stärker prozessorientierte natürliche Reihenfolge sieht dann so aus: In der ersten Phase versuchen Kinder/Lerner, verschieden große Ketten (= chunks) aus dem auf sie einströmenden Informationsfluss herauszulösen: Interessant ist dabei die Beobachtung, dass Eltern beim frühen Dialog mit ihrem Kind eine ganz spezielle Sprache verwenden, um den Spracherwerb zu fördern (= child directed speech (CDS) oder motherese („Ammensprache“), analog dazu teacher talk). Weltweite Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Sprache gekennzeichnet ist durch eine stärkere Betonung der Schlüsselwörter, die Verwendung unmarkierter (= regelmäßiger) Formen, langsames Sprechtempo, häufigen Blickkontakt, lebendige Mimik und Wiederholungen. Diese chunks werden zunächst nur kopiert und erst allmählich zerlegt und nach Regeln untersucht. Durch den Vergleich häufig vorkommender Formen und Kombinationen werden Regeln entdeckt, die besonders in der Anfangsphase zu häufig angewendet (= übergeneralisiert) werden, d.h. Segmentierungsfehler und die Überanwendung von Regeln signalisieren Fortschritte im Spracherwerb (vgl. Peters 1983).
2.2.2 Frühkindliche Gehirndifferenzierung und sozialer Kontakt
Im Vergleich zu anderen Primaten ist die Schwangerschaft beim Menschen relativ kurz, und die Gehirndifferenzierung ist daher bei der Geburt nicht sehr weit fortgeschritten. Entsprechend hilflos und sozial abhängig kommt der menschliche Säugling zur Welt. Dies birgt indes die Chance, dass die frühen Lernprozesse immer bereits soziale Lernprozesse sind. Die frühe Hirnentwicklung vollzieht sich so in einer Periode, in der Säuglinge im Normalfall den ständigen Stimulationen durch Gesichter, Mimik, Stimmen ausgesetzt sind. Gleichzeitig sind Säuglinge ihrerseits schon mit der Fähigkeit zu ausgeprägter Mimik (z.B. zum Lächeln) ausgestattet, die sichert, dass die (von den Gesichtsausdrücken begeisterten) Bezugspersonen in ihrer Nähe bleiben und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Grundsätzlich ist der Säugling aus nahe liegenden Gründen – Sicherung des Wohlwollens von Bezugspersonen – mit einem „appetite for social stimulation“ (Locke 1999, S. 367) ausgestattet, der interaktive Verhaltensweisen in der Umgebung auslöst, die der beschützten Entwicklung des Kindes dienlich sind. – Eine Reihe solcher Mechanismen werden jeweils phasenweise während der frühkindlichen Entwicklung aktiv. Im Einzelnen dienen sie jeweils anderen Primärzielen als dem Sprechenlernen, doch als sekundärer Effekt tritt schließlich Sprachvermögen auf: Locke (1999, S. 379) spricht daher von „precursors to language“. Weder die Sprachwahrnehmung noch die ersten Stufen des Sprechens dienen in dieser frühen Phase der Kommunikation (im Sinne von „Mitteilen von Gedanken“), sondern neben der Freude am Plappern und Sprechen signalisieren erste Äußerungen, dass man dazu gehört, und sie lenken Aufmerksamkeit auf das Kind. Insgesamt zielen die unterschiedlichen Mechanismen in dieser Phase darauf ab, ein soziales Netzwerk aufzubauen und zu erhalten.
Bereits von Geburt an zeigt das Kind erhöhte Aufmerksamkeit für Sprachlaute, insbesondere für die der Mutter. Es ist in der Lage, prosodische und emotionale Stimmqualitäten zu differenzieren und zu erinnern (Jusczyk et al. 1993); auch wird zwischen der Stimme der Mutter und der fremder Personen unterschieden. Schon mit 6 Monaten beginnen Kinder, Äußerungen als Ganzes zu speichern und zu erinnern, und sie nutzen die gespeicherten Lautmuster zur Wiedererkennung von Personen und zur Antizipation der Verhaltensweisen von Bezugspersonen. Während das Kleinkind in den nächsten Monaten mobiler wird, entwickelt sich parallel eine differenziertere Sprachwahrnehmung; vertraute Stimmen reduzieren dabei Unsicherheit und Angst. Weil die frühen Sprachwahrnehmungen und auch die ersten Äußerungen des Kindes im wesentlichen prosodisch organisiert sind, werden sie vorzugsweise in der rechten Hemisphäre prozessiert. In dieser ganzheitlichen, noch nicht in Phoneme oder andere linguistische Kategorien zerlegten Form wird sehr viel Speicherkapazität benötigt, wodurch das System bei kontinuierlich anwachsender Datenmenge belastet wird (vgl. Elsen 1999).
Sekundär geht damit ganz früh die Entwicklung der Fähigkeit einher, Laute und Stimmführungen zu differenzieren, prosodische Einheiten, darunter auch Wörter und formelhafte Sprachausschnitte, zu speichern und erste Vokalisationen vorzunehmen. Auch erste Wortverwendungen mit unmittelbar referentieller Funktion treten auf. Psycholinguistisch gesehen ist dies der Beginn des Aufbaus eines rezeptiven und produktiven mentalen Lexikons. Die Gesamtheit der Mechanismen, die dies bewirken und die eng mit affektiven Bereichen im Gehirn zusammenhängen, nennt Locke social cognition network, im Gegensatz zu einem grammatical network, das zum Aufbau grammatischer Fähigkeiten führt. Im Zusammenhang mit dem Phänomen der Wortschatzexplosion – einem bei allen Kindern im Alter von ungefähr eineinhalb bis zwei Jahren auftretenden sprunghaften Anstieg des Wortschatzes (vocabulary spurt) – scheint eine Reanalyse der vorliegenden Daten in kleinere Einheiten und eine Kategorisierung zu erfolgen, die eine Entlastung und Beschleunigung der beanspruchten Speicherprozesse ermöglicht. Dafür spricht, wie Bates et al. bereits 1988 feststellen, dass eine hohe Korrelation zwischen dem gespeicherten Wortschatz im Lexikon und der Grammatik besteht. Elsen (1999) weist auf enge Zusammenhänge zwischen Wortschatzexplosion und der Entwicklung des phonologischen Analysesystems hin. Dessen Fortentwicklung wiederum steht offenbar in enger Wechselwirkung mit der Entwicklung der Aussprachekompetenz, also phonetisch-artikulatorischen Fähigkeiten.
Aus der (monolingualen) Spracherwerbsforschung ist zudem bekannt (vgl. Tomasello 1998), dass der Aufbau grammatischer Fähigkeiten durch die sukzessive Identifizierung von bestimmten syntaktischen Mustern erfolgt, die als Vorbild zur Konstruktion abstrakterer grammatikalischer Schemata führen. Tomasellos Daten deuten ferner darauf hin, dass der Übergang von längeren prosodischen Sequenzen zu ersten grammatischen Musterbildungen das Stadium der Holophrasen durchläuft, die insbesondere durch Analyse von Intonationskurven reanalysiert und gruppiert werden (in Aussagen, Fragen, Aufforderungen). In diesem Stadium treten zudem erste syntaktische Muster zur Darstellung von für das Kind existentiell grundlegenden Szenarien in der Umwelt auf, Muster, die bereits ein rudimentäres Verständnis des Wortbegriffs erfordern. Die Herausbildung eines mentalen Lexikons entsteht also im Wechselspiel mit grammatischen Strukturmustern, in denen die lexikalischen Einheiten vorkommen. Insofern ist auch nicht erstaunlich, dass auch bei der Sprachwahrnehmung Erwachsener die syntaktische Analyse der semantischen vorauseilt, zudem wird der Sinn der Wörter auch vor der Graphemfolge erkannt (vgl. Friederici et al. 2000). Besonders hervorzuheben ist in diesem Abschnitt also die Rolle des sozialen Umfeldes für die Wortschatzexplosion und in der Folge die in Abschnitt 1.2.1 erörterte Modularisierung, die – wie oben dargestellt – mit dem Lautsystem beginnt.
3 Lernpsychologische Dimensionen der Mehrsprachigkeit
3.1 Einflussfaktoren des Sprachverhältnisses zwischen L1 und weiteren Fremdsprachen
Die Bilingualismusforschung hat sich in diesem Zusammenhang immer wieder der bereits von Weinreich (1953) aufgeworfenen Frage zugewendet, inwiefern die Sprachenpaare Bilingualer getrennt oder zusammenhängend im Gehirn repräsentiert sind bzw. verarbeitet werden. Bestimmte Phänomene wie Codeswitching, wo sich eine Sprache beim Gebrauch einer anderen plötzlich in den Vordergrund schiebt, deuten auf komplexe Beziehungen zwischen den erworbenen Sprachen hin. Weinreich (1953) hatte angenommen, dass das mentale Lexikon Bilingualer in einer kombinierten und einer koordinierten Form der Zweisprachigkeit besteht. Bei der kombinierten Form wird angenommen, dass zwei Sprachen im Gedächtnis gemeinsam repräsentiert sind. Dies wird als typisches Ergebnis des gesteuerten Fremdspracherwerbs betrachtet (vgl. Baetens Beardsmore 1982, S. 22). Ein solches System dürfte den Transfer fördern. Bei der koordinierten Repräsentationsform wird von getrennten Systemen ausgegangen. Weinreich schlug noch eine dritte Form vor, die subordinierte Zweisprachigkeit, bei der die Fremdsprache über die Erstsprache verarbeitet wird (1967, S. 9 ff, und vgl. hierzu die Arbeiten von J. Kroll).
Der Frage, ob zwei erworbene Sprachen in unterschiedlicher Form repräsentiert sind, führt derzeit zur Analyse der Wirkung der folgenden Faktoren auf Syntax und Semantik: age of acquisition (Spracherwerbsalter), proficiency (Grad der Sprachkompetenz) – hier ist auch an die eingangs erwähnte „kommunikative Kompetenz“ im Europäischen Referenzrahmen zu erinnern – , frequency (Auftretenshäufigkeit einer sprachlichen Einheit), language usage (Umfang der Sprachpraxis) oder exposure (Häufigkeit des Sprachkontakts). Untersucht wird, welche Areale in welcher Reihenfolge und Geschwindigkeit bei der Sprachverarbeitung beteiligt sind. In einer jüngst erschienen Studie, in der zahlreiche Faktoren ausgesprochen sorgfältig kontrolliert wurden, kommen Perani et al. (2003, S. 180) zu dem Ergebnis, das bilinguale Gehirn "cannot be viewed as the sum of two monolingual language systems, but rather considered as a unique and complex neural system which may differ in individual cases". Als Faktoren für solche individuellen Differenzen kann der Faktor proficiency entscheidend sein, aber auch die Faktoren age of second language acquisition und language usage/exposure (vgl. auch Green 1986). Etwa sind bei der Wortproduktion in einer später erworbenen zweiten Fremdsprache, der die Sprecher seltener ausgesetzt sind, bei gleichem Grad an proficiency mehr Hirnaktivitäten erforderlich als dies bei Bilingualen der Fall ist, die beiden Sprachen sehr häufig ausgesetzt sind. Wesentlich hierfür scheint erneut die (mit bestimmten Hirnbereichen in Verbindung zu bringende) Automatisierung der Abläufe zu sein, die nur bei hinreichend hohem Grad an Kontakt mit der Sprache zustande kommt. Der Faktor exposure übt somit einen besonders nachhaltigen Einfluss auf den L2-Erwerb aus – ungeachtet der Diskussion darum, welches ein günstiger Zeitpunkt für den Beginn von Fremdspracherwerb ist. Auch die Verarbeitungstiefe (vgl. Craik & Lockhart 1972), insbesondere bedingt durch die Involviertheit von Personen beim Erwerb, dürfte den Automatisierungsgrad beeinflussen. Weitere Resultate der Untersuchung von Perani et al. (2003) ergeben zusammen mit früheren Befunden ein ungefähres Bild von den Makrostrukturen und Makroprozessen, die mit dem Erwerb mehrerer Sprachen einhergehen.
Bezug nehmend auf die altersbedingte Selbstorganisation ist Folgendes festzustellen: Werden Kinder sehr früh (im Alter bis zu drei Jahren) mit zwei Sprachen konfrontiert, wird nur ein einziges neuronales Netz formiert, das für die Verarbeitung beider Sprachen zuständig ist. Anders sieht dies bei denjenigen aus, die die zweite Sprache erst zu einem späteren Zeitpunkt erwerben und der zweiten Sprache zudem weniger stark ausgesetzt werden: Hier bilden sich im Hirn zwei komplexe neuronale Netze, die sich zum Teil überlappen, z. T. aber unterschiedliche Areale (vor allem im Bereich des Brocazentrums, aber auch im seitlichen frontalen Kortex) nutzen. Beim Verarbeiten der L2 werden höhere Hirnaktivitäten sichtbar als bei der L1, was aus verschiedenen Gründen als Indiz für unterschiedliche Automatisierungsgrade interpretiert werden kann.
Werden zwei oder mehrere Sprachen sehr früh erworben und entsprechend in einem einzigen Netz verarbeitet, werden auch später hinzutretende Sprachen in dieses Netz integriert. Bei denjenigen Lernern hingegen, die – wie in unseren Bildungssystemen die Regel – die zweite Sprache nach dem dritten Lebensjahr und unter Herausbildung eines eigenen neuronalen Netzes erworben haben, muss auch für alle weiteren Sprachen ein (teilweise) eigenständiges Netz angelegt werden. Untersuchungen mit Versuchspersonen, die mehr als zwei Fremdsprachen beherrschen sind selten. Abunuwara (1992) untersuchte Dreisprachige (L1 Arabisch, L2/3 Hebräisch und Englisch). Dabei spielten die Unterschiede zwischen den Sprachsystemen eine große Rolle: Seine Daten legen für die L1 zu den Fremdsprachen ein kombiniertes Sprachverhältnis nahe, für die zwei Fremdsprachen unter sich ein koordiniertes System. Ob Abunuwaras Befund eines koordinierten Systems für die Fremdsprachen unter sich auch im Falle verwandter Fremdsprachen gelten würde, ist fraglich. Besonders bei verwandten Fremdsprachen, die mit einer Methode wie EuroCom (Klein & Stegmann 2000) erworben werden, wobei das vorhandene fremdsprachliche Wissen systematisch für den Erwerb einer weiteren verwandten Sprache ausgenutzt wird, dürfte ein kombiniertes System wahrscheinlicher sein. Frauenfelder & Schreuder (1992) untersuchen dagegen, ob es einen Unterschied macht, wenn die Sprachenpaare Bilingualer typologisch sehr verschieden sind (z.B. Deutsch als flektierende vs. Türkisch als agglutinierende Sprache). Außerdem deutet mittlerweile vieles darauf hin, dass Bilinguale in einigen ihrer Verarbeitungsprozesse eher Monolingualen ähneln, in anderen hingegen gesonderte Strategien herausbilden (vgl. Tomasello 1998, S. 250, s.a. die grundlegenden Untersuchungen von J. Kroll im Abschnitt 3.2.3).
Hinsichtlich Trennung etwa von Syntax und Lexik liegen neuere Befunde Wartenburger et al. (2003) vor. Sie weisen grundsätzlich getrennte zeitliche Abläufe beim Prozessieren für Syntax und Semantik mit Vorauseilen der Syntax bei Monolingualen nach. Beim Fremdsprachenerwerb ergeben sich zudem unterschiedliche Einflüsse der Faktoren age of acquisition und level of proficiency auf die Entwicklung von Syntax einerseits und Lexik andererseits. Je später der L2-Erwerb beginnt, desto höher fallen – vorzugsweise im Bereich grammatikalischer Aufgaben – die Fehlerraten aus. Dabei sind bereits im Alter von 1‑3 Jahren bei bestimmten Aufgabenstellungen Veränderungen der Hirnaktivitäten nachweisbar, die auf eine aufwendigere neuronale Verarbeitung deuten, ohne dass dies im „äußeren" Sprachverhalten des Kindes auffällt. Grundsätzlich werden für den Erwerb grammatischer Prozesse mit zunehmendem Erwerbsalter erhöhte Hirnaktivitäten erforderlich, selbst wenn das beobachtbare Verhalten einen hohen Grad an proficiency aufweist. – Der Faktor proficiency wiederum korreliert vornehmlich mit der Aktivität für semantische Verarbeitung: Je höher der Grad an proficiency, desto niedriger ist hier die entsprechende Verarbeitungsaktivität. Der Faktor proficiency, der wiederum eng mit den Faktoren frequency und exposure zusammenhängt, ist schließlich verantwortlich dafür, ob sich L1 und L2 gegenseitig beeinflussen, bzw. ob in der Verarbeitung Asymmetrien auftreten. Grundsätzlich zeichnet sich ab, dass sowohl im Verstehens- wie auch im Produktionsprozess Effekte der L1 auf die L2 auftreten, die stärker werden, je geringer die Flüssigkeit in der L2 ist; umgekehrte Effekte treten nicht auf. Erwerbsalter und proficiency kristallisieren sich auch in diesen Versuchen als entscheidende, aber unbedingt zu trennende Faktoren im L2-Erwerb heraus.
3.2 Die Rolle des mehrsprachigen Lexikons beim Verstehen und bei der Sprachproduktion
Bei der Erforschung der mentalen Repräsentation von Sprache im Schnittbereich zwischen Linguistik, Kognitionspsychologie und Psycholinguistik sucht man Aufschluss darüber, welche mentalen Strukturen anzunehmen sind, um im Sprachverhalten beobachtbare Verarbeitungsprozesse und die Feinarchitektur deklarativen und prozeduralen sprachlichen Wissens im Gehirn zu erklären. Das mentale Lexikon ist ein aktiver Speicher, in dem wir lexikalische Einheiten sammeln und organisieren. Der Begriff lexikalische Einheit soll verdeutlichen, dass in vielen Lexikonmodellen nicht nur Wörter oder Lexeme (d.h. abstrakte Worteinheiten) als Speichereinheiten im Lexikon angenommen werden, sondern auch Affixe und Flexive. Aus linguistischer Sicht gibt es eine Reihe lexikalischer Informationen, die mit einem Lexem gespeichert sein müssen, die also seinen lexikalischen Eintrag ausmachen, und zwar unabhängig davon, wie diese Informationen in einem psycholinguistischen Lexikonmodell repräsentiert werden. Dazu gehören zumindest die folgenden fünf Aspekte (exemplarisch und vereinfacht an dem Nomen HAUSTÜR demonstriert): Die semantische Repräsentation (= Bedeutung und Referenz) Bsp.: [+konkret], [-belebt], ... (referiert auf eine Unterkategorie von TÜR); lexikalische Kategorie (Wortart), Bsp.: Nomen / Konkretum; syntaktische Eigenschaften, Bsp.: (Genus = f); morphologische Eigenschaften und interne Struktur, Bsp.: komplexes Wort / Kompositum N + N / Plural = (+en); phonetisch-phonologische Form, Silbenzahl, Wortakzent (vgl. Meibauer & Rothweiler 1999). Grundsätzlich lassen sich zwei Typen von Lexikonmodellen unterscheiden: modulare Stufenmodelle wie das von Levelt (1989) und interaktive Netzwerkmodelle (z.B. Herrmann 1992).
3.2.1 Modulare Stufenmodelle
Vorherrschend ist die Computermetapher, die es nahe legt, das Gehirn als ein symbolverarbeitendes System zu begreifen, Verarbeitungsprozesse laufen darin regelbasiert ab, und es besteht eine gewisse Tendenz, für einzelne Prozesse klar abgrenzbare, spezifische Module anzunehmen – vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen zur Modularisierung im Abschnitt 1.2.1 – , zu denen Korrelate im Gehirn vermutet werden. Typische Exponenten dieser Phase sind z.B. die in dem von Schreuder & Weltens 1993 herausgegebenen Sammelband The Bilingual Lexicon vereinten Aufsätze. Modulare Modelle unterscheiden zwischen Verarbeitung lexikalischer Einheiten, speziell dem lexikalischen Zugriff bei Worterkennung und Wortproduktion einerseits und der lexikalischen Repräsentation in semantischen und phonologischen Sublexika andererseits. Diesen Sublexika liegt die Vorstellung von getrennten Verarbeitungsstufen zugrunde, d.h. dass die Aktivierung semantischer vor phonologischer Information im Produktionsprozess zeitlich geordnet verstanden wird (vgl. Meibauer & Rothweiler 1999).
Hinweise darauf, wie Wörter gespeichert oder repräsentiert sind, liefern vor allem Sprachverarbeitungsdaten (z.B. Fehlertypen). Es gibt Hinweise darauf, dass die lautliche Seite des Wortes, seine Klanggestalt, von seiner Bedeutungsseite getrennt gespeichert wird (was sowohl in Netzwerken als auch in modularen Modellen erfassbar ist), dabei werden alle Informationen berücksichtigt, die mit der lexikalischen Einheit gespeichert sind: Levelt (1989) entwirft ein Modell, das der psycholinguistischen Tradition entstammt und in dessen Architektur sehr detaillierte Strukturannahmen eingehen: Ziel ist es, die Sprachenwahl und vor allem die Wortauswahl in Sprachproduktionsprozessen zu erklären. Nachdem die Prozessannahmen dieses Modells bereits für eine einzige Sprache recht komplex ausfallen, ist es ausgesprochen schwierig, die bei Bilingualen beteiligten Teilprozesse zu identifizieren und in ihrem zeitlichen Ablauf zu verfolgen. Das Leveltsche Modell sieht einen conceptualizer vor, in dem Äußerungen hinsichtlich ihrer konzeptuellen Struktur vorsprachlich auf Makroebene und auf Mikroebene für den formulator vorbereitet werden. In diesem werden lexikalische Einheiten, grammatische und phonologische Regeln für die spätere phonetische Struktur (eine Art Sprechplan) ausgewählt, die dem artuculator, der dritten Komponente, als Input dient. Die lexikalischen Einheiten liegen zweigeteilt vor: In Levelts Zwei‑Stufen-Model sind die lexikalischen Informationen über Syntax (Wortart, syntaktische Selektionseigenschaften) und Bedeutung eines Wortes (inklusive pragmatischer Information) als Lemma im semantischen oder Lemma-Lexikon. repräsentiert. Die morphologischen, metrischen und phonologisch-segmentalen Eigenschaften des so genannten Lexems werden im phonologischen oder Lexem-Lexikon gespeichert. Zu den morphologischen Informationen eines Lexikoneintrags gehören neben der morphologischen Struktur alle idiosynkratischen Eigenschaften wie Zugehörigkeit zu Flexionsklassen und irreguläre Flexionsformen (Spencer 1991). Lemma und Wortform werden miteinander erworben und sind eng aufeinander bezogen (vgl. Meibauer & Rothweiler 1999).
3.2.2 Interaktive Netzwerkmodelle
In den Neurowissenschaften herrscht die Auffassung vor, das Gehirn sei konnektionistisch organisiert; der Auffassung des Gehirns als einem regelbasierten Symbolverarbeitungssystem begegnet man eher skeptisch. Konnektionisten nehmen an, dass Prozesse weder regelgeleitet, noch Schritt für Schritt ablaufen, sondern dass eine parallele Verarbeitung netzwerkförmig über das ganze Gehirn verteilt stattfindet. Bestimmte Aufgaben, so die Grundannahme, gehen mit charakteristischen Aktivitätsmustern einher. In reinen Netzwerktheorien wird nicht zwischen Speicherung und Verarbeitung unterschieden. Die Verarbeitungsnetze selbst sind die Speicher, und Verarbeitung ist nichts anderes als die Aktivierung von Teilen des Netzwerkes. Grundsätzlich beinhalten Netzwerktheorien die Annahme interaktiver und paralleler Verarbeitung (vgl. Meibauer & Rothweiler 1999).
Aus neurowissenschaftlicher Sicht interessieren vor allem die funktionalen Spezialisierungen und Differenzierungen im Gehirn bei mit Mehrsprachigkeit verbundenen Aufgabenstellungen. Man erwartet sich ein differenziertes Makro-Bild von den Aktivitätsmustern, die das Gehirn bei der Verarbeitung einer oder mehrerer Sprachen erzeugt. Typische Methoden sind hier bildgebende Verfahren (positron emission tomography: PET; functional magnetic resonance imaging: fMRI). Diese Verfahren können aber auch eingesetzt werden, um spezielle Modellannahmen oder Architekturen aus dem Bereich des symbolverarbeitenden Paradigmas zu stützen oder zu widerlegen. So ist es möglich, die bei bestimmten Aufgabenstellungen ausgelösten neuronalen Aktivitäten in verschiedenen Hirnarealen direkt sichtbar zu machen. Damit können die Struktur- und Prozessannahmen, die sich aus den Modellen der Psycholinguistik ergeben, mit Mustern der funktionalen Differenzierung der Hirntätigkeit bei verschiedenen Aufgabenstellungen ins Verhältnis gesetzt werden.
Zum Teil lösen die Methoden der Neurowissenschaften die bisherigen Untersuchungsmethoden ab, aber es gibt auch Hybridmodelle, die diese Falsifikationsfunktion erfüllend von Netzwerkrepräsentationen ausgehen, aber zugleich einen hierarchisch geordneten Verarbeitungsablauf annehmen (z.B. Levelt 1992). In sie gehen die in der Psycholinguistik und Kognitionspsychologie noch vorherrschende Vorstellung des Gehirns als eines symbolverarbeitenden Systems ebenso ein wie das in den Neurowissenschaften dominante Bild vom Gehirn als konnektionistischem System. Interessanterweise lassen sich in den modularen Stufenmodellen ebenfalls Netzwerkstrukturen darstellen: In Levelts Modell (1992) gibt es zwischen den lexikalischen Informationen auf verschiedenen Ebenen interne Relationen, die zu einer Strukturierung des Lexikons führen, die wir als Netzwerk(e) verstehen können. So sind Beziehungen auf der Bedeutungsebene einerseits Relationen wie Über- und Unterordnung (Ober- und Unterbegriffe, z.B. Spielzeug - Ball - Fußball) und Koordination (z.B. Fußball und Handball) und andererseits assoziative Relationen die nicht unmittelbar auf semantischen Eigenschaften basieren, sondern darauf, dass Items besonders häufig miteinander vorkommen (Kollokationen) wie z.B. Wüste und heiß (vgl. Meibauer & Rothweiler 1999).
So haben Friederici et al. (2000) auf diesem Weg ausgesprochen komplexe Interaktionen zwischen semantischen, syntaktischen und prosodischen Informationen beim Einfügen lexikalischer Einheiten in Wortphrasen bei der auditiven Sprachverarbeitung nachweisen können. Insbesondere zeigen sie, dass semantisch-lexikalische Prozesse mit Aktivitätsmustern einhergehen, die sich deutlich von den Mustern syntaktischer Prozesse abgrenzen. Ferner kann ein zeitliches Muster in den z. T. seriell, z. T. parallel ablaufenden Prozessen erkannt werden. Demzufolge eilen syntaktisches Kategorisieren und andere eher syntaktische Entscheidungen den semantischen und prosodischen Prozessen voraus. Charakteristikum prosodischer Prozesse wiederum ist, dass sie vorzugsweise in der rechten Hemisphäre lokalisiert sind.
3.2.3 Einflussfaktoren des Sprachverhältnisses zwischen L1 und L2 als Mischsystem im mentalen Lexikon
Die Hauptfrage in Bezug auf das mehrsprachige mentale Lexikon ist also die, ob im Falle der Mehrsprachigkeit gemeinsame oder getrennte Speicherung, bzw. sprachspezifische oder parallele Aktivierung wahrscheinlicher ist. Sprachspezifische Aktivierung entspräche einem modularen Modell, parallele Aktivierung einem konnektionistischen. Die neueren experimentellen Daten lassen eher eine gemeinsame Repräsentation oder jedenfalls eine parallele Aktivierung der Sprachen vermuten als ein Sprachwechselmechanismus oder einen seriellen Suchprozess (vgl. Harley 2001, S. 133 f). Dabei kann der Grad der Aktivierung der verschiedenen Sprachen beim lexikalischen Zugriff situationsabhängig sein (vgl. Li 1996, S. 772).
Es könnte sein, dass abhängig von Worteigenschaften und Sprachbeherrschung im Falle der Mehrsprachigkeit mehrere Organisationsformen vorkommen, denn viele Faktoren können den Grad und die Art der Aktivierung eines Wortes beeinflussen. So wird die (wahrgenommene) Sprachverwandtschaft den Einsatz von Transfermöglichkeiten bedingen. Wortfrequenz ist ein wichtiger Faktor bei der Aktivierung. Das Niveau und die Art der Sprachbeherrschung könnte man als eine Art subjektive Wortfrequenz betrachten, da sie bestimmen, welche Wörter in welchem Maße erworben wurden. Vorherige Aktivierung beschleunigt spätere Aktivierungen. Worteigenschaften wie die Art der Morpheme oder die Wortartzugehörigkeit beeinflussen die Art der Aktivierung (vgl. Jiang & Forster 2001, S. 320). Auch die Art der Sprachverwendung und individuelle Lernstile könnten den lexikalischen Zugriff beeinflussen, beispielsweise wie stark fremdsprachliche Wörter mit muttersprachlichen Wörtern verbunden sind. Alle diese Faktoren, die in dieser Arbeit mehr oder weniger ausführlich dargestellt worden sind, interagieren.
Ein Mischsystem je nach Worttyp scheint dabei nicht ausgeschlossen zu sein. Neueren Studien zufolge gibt es Unterschiede der Sprachverarbeitung zwischen fließend und weniger fließend sprechenden Bilingualen: Es ist möglich, dass auf frühen Stufen des Zweitsprachenerwerbs Bilinguale ähnliche Strategien benutzen, wie im Wortvereinigungsprotokoll beschrieben. D.h. sie vereinigen jedes neue zweitsprachige Wort mit der erstsprachigen Übersetzung. Je erfahrener Bilinguale mit der zweiten Sprache sind, desto unabhängiger sind ihre beiden Lexika voneinander geworden, wie es durch das Konzeptvermittlungsmodell vorausgesagt wird. Passend zu ihrem Modell fanden Kroll und Stewart (1990) heraus, dass Bilinguale schneller von ihrer zweiten in ihre erste Sprache übersetzen konnten als von ihrer ersten in ihre zweite Sprache (zit. nach Heredia 1997, S. 35). Diese Übersetzungsasymmetrie gilt sowohl für den Anfänger wie auch für fortgeschrittene Bilinguale. Dieses Ergebnismuster konnte nicht durch die hierarchischen Modelle erklärt werden (vgl. Heredia 1997, S. 35 ‑ 36).
Ausgehend von der Annahme, dass die zweisprachige Speicherdarstellung eine Funktion zweitsprachiger Kenntnisse und der Übersetzungsrichtung ist, vereinigten Kroll und Stewart (1994) sowohl das Vereinigungsmodell als auch das Konzeptvermittlungsmodell in ein allgemeines Modell der zweisprachigen Speicherorganisation. Der Hauptunterschied zwischen dem revidierten hierarchischen Modell von Kroll und Stewart (RHM) und den früheren Modellen ist, dass es Unterschiede in der Verbindungsstärke zwischen den beiden Lexika des Bilingualen und zwischen den Lexika und dem Begriffsgedächtnis gibt. Vermutlich ist die lexikalische Verbindung von der Zweitsprache zur Erstsprache eine starke Verbindung, die schnell und automatisch funktioniert und die assoziative Natur des Lernprozesses beim Zweitsprachenerwerb widerspiegelt. Stärkere lexikalische Verbindungen von der Zweit- zur Erstsprache führen zu Übersetzungsvorteilen des Bilingualen. Die Verbindung vom erst- zum zweitsprachigen Lexikon ist wahrscheinlich wegen des Praxismangels in Übersetzungen schwächer (vgl. Heredia 1997, S. 35 ‑ 36).
Zusätzlich zu den zwei Lexika des Bilingualen, die miteinander verbunden sind, wird jedes Lexikon mit dem Begriffsgedächtnis verbunden. Im RHM ist die Verbindung vom erstsprachigen Lexikon zum Begriffsgedächtnis stärker als die Verbindung vom zweitsprachigen Lexikon zum Begriffsgedächtnis. Theoretisch könnten fortgeschrittene Bilinguale mit genügend Sprachpraxis in der Zweitsprache eine starke Verbindung zwischen dem Begriffsgedächtnis und ihrem zweitsprachigen Lexikon entwickeln. Jedoch scheinen sogar bei einem hohen Sprachniveau die Verbindungen zwischen dem erst- und zweitsprachigen Lexikon aktiv zu bleiben (vgl. Dufour & Kroll 1995).
Beschreibt das RHM das zweisprachige Gedächtnis wirklich akkurat? Tatsächlich scheint dieses Modell eher frühe Stufen der Zweisprachigkeit zu beschreiben. Die meisten Beweise, die dieses Modell unterstützen, kommen aus Studien, die frühe Bilingualität betreffen oder Bilinguale, deren Zweitsprache nicht ihre aktive Sprache ist (z.B. Kroll & Stewart, 1994). Außerdem ist es schwierig, das Sprachniveau der Zweitsprache der Probanden objektiv zu bewerten. Zum Beispiel beschreiben einige Forscher ihre zweisprachigen Probanden als „mehr oder weniger fließend“, „etwas fließender“ oder „unausgewogen“. Ohne ein objektives Maß, um Bilinguale gemäß ihrer zweitsprachigen Kompetenz oder Kenntnisse klassifizieren zu können, kann es schwierig werden, ein Modell zu bewerten, dass erklären will, wie die Sprachen im Gedächtnis organisiert sind (vgl. Heredia 1997, S. 37).
Bei Kognaten, d.h. Prädikatausdrücken, bei denen Verb und direktes Objekt denselben Wortstamm haben bzw. semantisch sehr ähnlich sind, z.B. „einen Kampf kämpfen“, ist eine gemeinsame Speicherung sehr wahrscheinlich (vgl. de Groot 1993). De Groot (1993) nimmt an, dass konkrete Wörter kulturübergreifend viele Eigenschaften gemeinsam haben, während Wörter für abstrakte Begriffe, bei denen kulturelle Aspekte oft wichtiger sind, sprachspezifischer organisiert sein dürften. Wörter für konkrete Begriffe werden schneller verarbeitet als Bezeichnungen für abstrakte Begriffe, vielleicht weil Wörter für konkrete Begriffe nicht nur mit einem sprachbedingten semantischen Gedächtnis, sondern auch mit einem bildlichen Gedächtnis verbunden sind. Solche Vokabeln werden schneller erworben als die für abstrakte Begriffe (vgl. Ellis & Beaton 1993).
Viele experimentelle Daten zeigen, dass das L1-Übersetzungsäquivalent bei der Erkennung fremdsprachlicher Wörter mit aktiviert wird. Beim Anfang des Fremdsprachenerwerbs wird ein fremdsprachliches Wort oft erst über eine Aktivierung des muttersprachlichen Übersetzungsäquivalents mit dem Begriff verbunden (Chen et al. 1997, J. Kroll 1994) ein Phänomen, dass bei zunehmender Sprachbeherrschung verschwinden dürfte, aber auch dann bleibt die Verbindung zwischen L1‑Wort und Begriff stärker als die zwischen L2‑Wort und Begriff (Chen et al. 1997, S. 279 ff). Grainger & Frenck-Mestre (1998) konnten mit zweisprachigen Versuchspersonen zeigen, dass Übersetzungs-Priming-Effekte (masked priming) früher auftreten als phonologische Priming-Effekte. Dies zeigt, dass der Einfluss der anderen Sprache beim lexikalischen Zugriff auf das Lemma mitspielt, nicht (nur) auf der Ebene der In- und Outputsysteme. Mehrere Sprachen könnten im mentalen Lexikon gemeinsam repräsentiert sein, d.h. dass der lexikalische Zugriff anfänglich nicht sprachspezifisch ist oder dass eine parallele Aktivierung von Wörtern mehrerer Sprachen erfolgt. Aber Sprachbeherrschung und Frequenz des Zugriffs auf das Wort könnten die Art der Verbindung beeinflussen. Auch die Fertigkeit kann die Art des lexikalischen Zugriffs auf fremdsprachliche Wörter bestimmen. Beim Sprechen ist die Sprachwahl unter Kontrolle, beim Lesen ist die Kontrolle über die Sprachwahl viel schwächer und kann der nicht anvisierte Sprachkode nicht unterdrückt werden. Vielleicht ist das auditive In- und Outputsystem getrennt, das visuelle hingegen nur über die phonologische Rekodierung, während die verschiedenen Sprachen in einem gemeinsamen Lexikon repräsentiert sind (vgl. Thomas & Allport 2000, S. 60 ff). Eine Art Sprachkode oder Sprachkennzeichnung wäre dann eine von vielen Repräsentationsebenen im Lexikon, die hemmend oder aktivierend wirken könnte.
4 Handlungsempfehlungen
Die Vielzahl der Befunde aus den kognitions- und neurowissenschaftlichen Arbeiten wird wohl kaum in absehbarer Zeit zu detaillierten Trainingsprogrammen für den Fremdsprachunterricht zusammengeführt werden, trotzdem sollen hier bereits einige lernpsychologische Handlungsempfehlungen genannt werden: In der Kognitionspsychologie werden in der Regel soziale Umwelt, Motivation, Attitüden und Emotionen nicht berücksichtigt, d.h. wie sie den lexikalischen Zugriff beeinflussen ist weitgehend unbekannt. Allerdings wird angenommen, dass schon im sensorischen Speicher die Eindrücke unbewusst nach diesen Kriterien bewertet werden, die die Aufmerksamkeit beeinflussen (Fulcher 2002, S. 76). Interessant ist in diesem Zusammenhang die von Locke vorgeschlagene Zweiteilung in ein social cognition network und in ein grammatical network, die Argumente dafür liefert, künftig der soziokulturellen Perspektive einen stärkeren Stellenwert in der Forschung einzuräumen. Beide Mechanismen verlieren im späteren Erwerbsalter ihre Funktion und müssen entsprechend durch strukturierende Verfahren, die sowohl soziale als auch kognitive Erwerbsfaktoren umfassen, kompensiert werden. Vorrangiges bildungspolitisches Ziel muss allerdings sein, den Erwerb von Mehrsprachigkeit sehr früh in der kindlichen Entwicklung zu ermöglichen. In allen Studien kommt dem Faktor age of acquisition eine herausragende Rolle zu. Der bislang nicht widerlegten Empfehlung, pro Sprache eine Bezugsperson zu wählen, wird durch die hier vorgelegten Einsichten in den Spracherwerb bekräftigt. Das social cognition network ist eng mit affektiven Faktoren verschränkt, weshalb das Prestige, das die Umgebung der Sprache subtil zuweist, den Spracherwerb beeinflusst. Nach dem Lockeschen Erklärungsmodell entscheidet zudem das Alter des Spracherwerbs darüber, ob L1 und L2 gemeinsam in einem neuronalen Netz oder aber in verschiedenen Netzen angelegt werden.
Die im fortgeschrittenen Alter abhanden gekommene Leichtigkeit, mit der linguistische Kategorien gebildet und Reanalyseprozesse durchgeführt werden, kann z. T. durch strukturierende methodisch-didaktische Verfahren kompensiert werden. Dazu konnte Riemer (1997) im Zuge ihrer Einzelgänger-Hypothese den empirischen Nachweis erbringen, dass der fremdsprachliche Aneignungsvorgang einer Vielzahl von individuellen Prozessen und Erfahrungen unterliegt, selbst wenn die Sprachproduktion bei mehreren Lernern zunächst vergleichbar erscheint. Fremdsprachenunterricht muss also individuelle Lernvorgänge fördern und auf unterschiedlichen Ebenen bewusst machen. Dies sollte nicht andauernd, aber gleichwohl systematisch und kontinuierlich geschehen (Königs 2001).
Wie bereits oben referiert, hängen die sprunghafte Zunahme der verfügbaren lexikalischen Einheiten und die Herausbildung grammatischer Strukturmuster eng miteinander zusammen. Die Wortschatzexplosion muss im späten Fremdsprachenerwerb durch intensive Wortschatzarbeit ersetzt werden.
Die Auswahl des Anfangswortschatzes spielt dabei eine große Rolle. So scheint den Verben im Prozess der grammatischen Strukturbildung eine herausgehobene Rolle zuzukommen, wie Tomasello (1992) gezeigt hat. Obwohl bekannt ist, dass andere Wortarten zunächst leichter zu lernen sind (Substantive und Adjektive), sollten zum Wortschatzerwerb Verben im Unterricht besonders gefördert und in typischen Satzmustern präsentiert werden. Das der methodisch-didaktischen Darbietung zugrunde liegende grammatiktheoretische Modell sollte die strukturbildende Rolle des Verbs im Satz sichtbar machen (wie dies etwa bei der Verbvalenzgrammatik der Fall ist).
Ferner zeigt Tomasello, dass die Identifikation sprachlicher Strukturmuster im Gespräch mit ihren dem Sprechhandlungstyp entsprechenden Intonationsverläufen erfolgt. Dies unterstützt eine betont kommunikative, gesprächs- und textbasierte Einbettung der Wortschatz- und Grammatikarbeit im fremdsprachlichen Unterricht. Immer wieder wird in jüngeren Untersuchungen die besondere Rolle von Prosodie und Intonation, aber auch des Artikulationsvermögens beim sprunghaften Anstieg des Wortschatzes im Erstspracherwerb betont. Es kann vermutet werden, dass auch im späteren Erwerb durch phonetisch-phonologische Arbeit Segmentierungen erleichtert werden können. Ferner werden alle Formen der Wortschatzarbeit unterstützt, die die vielfältigen Beziehungen lexikalischer Einheiten auf allen Ebenen linguistischer Analyse untereinander methodisch fördern (vgl. Wolff 2000, S. 103).
Ein wichtiges Prinzip beim Lernen ist die Verbindung neuer Kenntnisse mit schon vorhandenem Wissen, der so genannte konstruktivistische Lernansatz. Zumindest beim Anfang des Spracherwerbs können vorhandene Sprachkenntnisse – der Muttersprache oder anderer erworbener Sprachen – die Rolle des vorherigen Wissens übernehmen. Es ist ziemlich sicher, dass die Muttersprache bei der Verwendung einer noch nicht sehr gut beherrschten Fremdsprache beim lexikalischen Zugriff mit aktiviert wird. Es ist daher sinnvoll, die Muttersprache als Lernhilfe zu benutzen (vgl. Green 1993). Da das semantische Gedächtnis nicht sprachspezifisch ist, ermöglicht die Übersetzung in L1 einen schnellen Zugriff auf die Bedeutungsrepräsentation, auch wenn der semantische Inhalt des L1‑Übersetzungsäquivalentes gelegentlich zu Missverständnissen führen kann. Die unterstützende Rolle schon erworbener Sprachkenntnisse ist dabei aber viel wichtiger als mögliche interferierende Einflüsse. Die Bedeutung der Muttersprache für den Fremdsprachenerwerb ist heute weitgehend akzeptiert. Dies gilt auch für schon erworbene Fremdsprachenkenntnisse (EuroCom-Methode, vgl. Hufeisen & Lindenmann 1998).
Beim Wortschatzerwerb werden also – wie bereits in Unterkapitel 2.2 erläutert – die verschiedenen Repräsentationsebenen eines neuen Wortes mittels L1‑Übersetzungsäquivalent übertragen (vgl. Chen et al. 1997). Da ein Wort viele Repräsentationsebenen hat, ist der Einsatz aller vier Fertigkeiten beim Wortschatzerwerb wichtig. Das gilt sogar dann, wenn nur eine Fertigkeit, wie Leseverständnis angestrebt wird. Die akustische Wortform ist erforderlich für das Aufrechterhalten von Informationen im Arbeitsgedächtnis, beispielsweise bei der Bedeutungssuche im Wörterbuch oder beim Memorieren. Zudem könnte es sein, dass eine phonologische Rekodierung für das Verstehen visuell präsentierter Sprache unumgänglich ist. Für mehrere andere Sprachen wurden phonologische Effekte beim Lesen gefunden, doch schlüssige Beweise für oder gegen eine phonologische Rekodierung als Vorstufe zum lexikalischen Zugriff beim Lesen gibt es nicht, nur starke Hinweise. Schwache Lesende subvokalisieren stärker, vor allem bei schwierigen Textvorlagen, was mit der für komplexe Aufgaben erforderlichen Speicherkapazität des phonologischen Arbeitsgedächtnisses zusammenhängt. Für den Wortschatzerwerb sind Schreiben und Aussprechen des Wortes eine große Hilfe, da ein mehrkanaliges Angebot den Erwerb unterstützt, denn so findet ein lexikalischer Zugriff auf mehreren Repräsentationsebenen statt (vgl. Meißner 2000, S. 14).
5 Zusammenfassung
Das Ziel der Arbeit besteht darin, die wesentlichen Merkmale der Mehrsprachigkeit darzustellen. Ausgehend vom Begriff der Mehrsprachigkeit wurden zuerst die altersbedingten Selbstorganisationsprozesse dargestellt. Wichtigster Punkt war in diesem Zusammenhang der Prozess der Modularisierung, in der Regel mit dem Lautsystem beginnend. Als nächstes wurde die Rolle der sozialen Umwelt ausführlich diskutiert. Bisher wurde dieser Aspekt eher vernachlässigt, tatsächlich wirkt sich aber das social cognition network maßgeblich auf den späteren Fremdsprachenerwerb aus, insofern ist von einem oder verschiedenen Netzwerken auszugehen, die das mentale Lexikon bilden. Im nächsten Schritt wurden die wichtigsten Einflussfaktoren dargestellt, die je nach Gewichtung ein integratives Netzwerk befördern oder behindern können. Schließlich wurde der Aufbau der mentalen Lexikons diskutiert, wichtigstes Ergebnis war hier der Gedanke, dass Netzwerkmodelle eine Falsifikationsfunktion gegenüber modularen Stufenmodellen haben. Abschließend wurden aus den dargestellten Befunden Handlungsempfehlungen für den Fremdsprachenerwerb abgeleitet.
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