Vom (Irr-) Glauben, durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen eine Chance zu erhalten Sabrina Böhmer
Welche neuen biographischen Muster treten bei Weiterbildungsteilnehmern in den neuen Bundesländern an die Stelle ihrer früheren „sozialistischen Normalbiographie“?
Läßt sich eine Typologie der Weiterbildungsteilnahme in heutigen, diskontinuierlichen Erwerbsbiographien aufstellen, und kommt es zu biographischer Unsicherheit infolge der gravierenden sozialen Veränderungen und damit erschütterter gesellschaftlich normierter Erwartungshaltungen seit der politischen Wende 1989/90; oder greifen jetzt andere Kategorien (und wenn ja, welche?), die eine Kontinuität zur Berufsbiographie vor 1989 wiederherstellen?
Vor allem diese Fragen beschäftigten uns während der Auswertung 29 narrativ-focussierter Interviews mit Weiterbildungsteilnehmern aus den neuen Bundesländern im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Humboldt-Universität zu Berlin.[1]
Der folgende Beitrag soll einen Einblick in den qualitativen Auswertungsteil dieses Forschungsprojektes geben, das bisher die Effekte während der laufenden Kurse ermittelte, in ein Verhältnis zu den Intentionen der Weiterbildungsakteure setzte und sich hierbei vornehmlich an den Erfahrungen der Teilnehmer selbst orientierte.[2]
Nach Abschluß des größten Teils der Auswertung der biographischen Interviews möchte ich hier eingehend zeigen, wie die Betroffenen mit der Situation der Arbeitslosigkeit umgehen, in welcher Weise die Weiterbildung bei der Bewältigung der krisenhaften Situation eine Hilfe sein konnte und inwieweit sich daraus allgemeine Aussagen für die Effekte von beruflicher Fortbildung oder Umschulung ableiten lassen. Mit anderen Worten: Ich werde versuchen darzustellen, welche lebensgeschichtlichen Erfahrungen welche Bewertung von beruflicher Weiterbildung evozieren.[3]
Wir gingen zu Beginn der Untersuchung davon aus, daß die Teilnehmer um so häufiger eine sogenannte Weiterbildungskarriere für sich etablieren, statt ihre berufliche Normalbiographie aufrechterhalten zu können, je mehr sie in ihren Erwerbsverläufen von längerfristigen Unterbrechungen betroffen sind. Immer dann, wenn Teilnehmer Zeiten von Arbeitslosigkeit oder sogenannte arbeitsmarkt - entlastende Maßnahmen oft und regelmäßig durchmachen müssen, schien für uns die Wahrscheinlichkeit groß, daß aus der Weiterbildung als möglichem
Reintegrationsfaktor eine Art erzwungene „Dauerlösung“ werden könnte, die dann mit Desintegrationstendenzen einherginge.
Ausgangspunkt war der Tatbestand, daß die Situation in Bezug auf den Umgang mit Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, verglichen mit den Altbundesländern, um einiges problematischer ist. Bis zur Wiedervereinigung 1989/90 gab es dort keine Arbeitslosigkeit im heute gebräuchlichen Sinne. Erst durch die Umwandlung von der Plan- zur Marktwirtschaft stellte sich für die Bürger der ehemaligen DDR das Problem, sich neue Orientierungsmuster aneignen zu müssen, um so dem entstandenen Handlungsbedarf vor allem im Bereich der Berufsbiographie begegnen zu können. Doch die sozialpolitische Reaktion auf massenhafte Entlassungen und das Fehlen von Stellen, die AFG-geförderte Weiterbildung[4] Arbeitsuchender, ist - soziologisch gesehen - weitgehend unerforscht. Soweit die Untersuchungen über derartige Bildungsmaßnahmen - vorwiegend für Arbeitslose - auf der empirischen Ebene angesiedelt sind, sind sie, ohne daß ihr Wert damit gemindert werden soll, fast ausnahmslos sozial- bzw. arbeitsmarktpolitisch und dominant bildungsökonomisch angelegt.
Sie dienen offenkundig - auch bei einem kritischen Zuschnitt - vornehmlich der so notwendigen wissenschaftlichen Legitimation den von der Bundesanstalt für Arbeit finanziell geförderten Veranstaltungen. Eine Ausnahme unter mehr soziologischen Gesichtspunkten zeichnet sich demgegenüber in den Fallstudien der Gruppe um Bolder (1994, 1995) ab, die auch theoretisch ambitioniert “beschäftigungsnahe Weiterbildung” empirisch mit einer Mehrebenenanalyse untersucht, freilich programmatisch unter dem Stichwort der Weiterbildungs- abstinenz. Neben der problematischen Beziehung von Bildung und Arbeit / Beschäftigung tritt mit der Elementargewalt eines Massen- phänomens das in dieser Weise gänzlich neue Verhältnis von Bildung und Nichtarbeit / Erwerbslosigkeit, das seine theoretische und empirische Erforschung durch verschiedene Wissenschaftsdisziplinen wahrhaftig herausfordert.
Bei der Auswertung der biographischen Interviews konnten wir feststellen, daß es nicht unbedingt zu einem Motivationsverlust infolge geringer Wiedereingliederungs-chancen kommen muß. Es ist auch häufig der Fall, daß sich motivationsfördernde Ziele verschieben und nicht mehr im Bereich der Hoffnung auf eine neue Stelle liegen. Oftmals verlagern vor allem Frauen in beruflicher Weiterbildung ihre Intentionen in den Bereich der qualitativ unabhängigen Bewertungen; nicht mehr die Chance auf einen Arbeitsplatz, sondern das Bestehen der Prüfung oder der Kontakt zu anderen scheint dann die Teilnahme für die Einzelne zu legitimieren.
Insgesamt wurden 29 Interviews geführt; hiervon 9 in Erfurt, 9 in Neubrandenburg und 11 in Lauchhammer[5].
Von den Befragten sind 17 weiblich, 12 männlich, das Alter lag zwischen
30 und 40 Jahren. Knapp ein Drittel (neun Interviewpartner) befanden sich bereits in der zweiten Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahme. Die Aufteilung Fortbildung oder Umschulung ist nahezu paritätisch: 14 der Teilnehmer befanden sich bei der Befragung in einer Fortbildung, 15 in einer Umschulung.
Betrachtet man den Inhalt der Weiterbildungskurse, waren sowohl gewerblich-technische, als auch kaufmännische Kurse vertreten. So interviewten wir bspw. Teilnehmer, die einen Fortbildungskurs zum integrierten Umweltschutz, zum Kaufmann oder in der Bekleidungsbranche besuchten. Bei den Umschülern waren unter anderem Heizungsbauer, Hotelfachleute, Installateure, Fliesenleger und Grundstücks- und Wohnungswarte vertreten.
Die Auswertung ist zwar noch nicht völlig abgeschlossen, trotzdem lassen sich bereits jetzt interessante Ergebnisse in bezug auf die Bewertung der Weiterbildungsmaßnahme von Seiten der Teilnehmer und ihren Umgang mit der momentanen Situation vorstellen.
Unsere Hypothese nach Abschluß der Analyse der biographischen Daten hat sich nicht bestätigt. Wir vermuteten, daß vor allem diejenigen gut mit der momentanen Situation zurechtkommen würden, die auch schon vor der Wiedervereinigung in hohem Maße flexibel und mobil waren, womöglich auch in der DDR schon mehrere Arbeitsstellen angenommen hatten.
Alle Interviewpartner betonten zwar, wie positiv die Weiterbildungsmaßnahme vom fachlichen Aspekt her zu beurteilen sei und waren sich auch einig, jederzeit erneut eine solche Maßnahme zu besuchen. Auffällig war allerdings der erhebliche Unterschied zwischen diesem manifesten und dem dahinter verborgenen latenten Sinngehalt, der bei der thematischen Feldanalyse rekonstruiert werden konnte.
Bei der Betrachtung der textlichen Abfolge der Themen im Interview zeigt sich ein extremer Legitimationsdruck der Betroffenen, der sich von ihrer eigenen Überzeugung mitunter außerordentlich unterscheidet. Nicht immer ist die positive Bewertung der Weiterbildungsmaßnahme auch Ausdruck echter Überzeugung. Gerade bei Teilnehmern, die bereits länger arbeitslos sind, konnten wir eruieren, wie groß das Bedürfnis ist, die Sinnhaftigkeit der Teilnahme vor sich und anderen zu legitimieren. Stellen einige Weiterbildungsteilnehmer die Bewertung der Maßnahme in den Kontext: “Andere Möglichkeiten gibt es nicht”, sprechen andere von ihrer Umschulung oder Fortbildung im thematischen Feld “Angst und Hilflosigkeit”. Einmal mehr kann man hier erkennen, welch enormer Druck durch das gesellschaftliche Muster “Integration in die Gesellschaft durch Arbeit” entsteht.
Das bedeutet, daß kaum jemand offen sich und anderen zugestehen “darf”, daß die Intention der besuchten beruflichen Weiterbildung - nämlich die Wiedereingliederung in das Berufsleben - nicht erfüllbar zu sein scheint. Wer davon ausgeht, nur über die Erwerbstätigkeit einen Platz in der Gesellschaft zu finden, muß alles tun, um integrierbar zu sein. Mit anderen Worten: Alle gesellschaftlich akzeptierten Angebote von “außen” wie eben bspw. Fortbildungen oder Umschulungen und alle eigenständigen Versuche, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, müssen den Betroffenen als jemanden erscheinen lassen, der vom Erfolg der momentan besuchten Weiterbildung überzeugt wirkt und sich mit dem berufsorientierten gesellschaftlichen Muster identifiziert.
Man könnte aus dieser Überlegung heraus vermuten, daß sich besonders bei Befragten, die sich bereits in der zweiten Weiterbildungsmaßnahme befinden, diese Darstellung rekonstruieren läßt. Unsere Analysen zeigen jedoch etwas anderes:
Befragte, die bereits eine berufliche Weiterbildung hinter sich haben, begründen ihre Teilnahme latent nicht mehr mit der Chance auf Reintegration. Ihre Bewertung des Kurses und ihr Relevanzsystem orientieren sich an zwei völlig anderen Aspekten: Sozialer “Kontakt” und “Erfolg durch Bestehen der Prüfung”. Bei den weiblichen Befragten läßt sich sogar zeigen, daß die Weiterbildungsmaßnahme häufig bereits als “berufliche Tätigkeit” verstanden wird und ihre eigentliche Funktion der Überbrückung bzw. Weiterqualifizierung verloren hat.
Im folgenden möchte ich den Versuch einer Typenbildung wagen und auffällige Unterschiede beschreiben.
1. Die Motivation von Teilnehmern einer AFG-geförderten Weiterbildung
Sind noch ein Viertel aller Interviewpartner davon überzeugt, daß ihnen die Teilnahme an einer AFG-geförderten Maßnahme den Wiedereinstieg in irgendeiner Weise in den Arbeitsmarkt ermöglicht, lassen sich bei den restlichen Gesprächspartnern bereits erhebliche Desillusionierungen eruieren, die sich bei manchen Teilnehmern bereits in schweren psychischen Belastungen zeigen. Die Typenbildung erfolgte aufgrund der Arbeitsschritte einer hermeneutischen Interviewauswertung und soll hier nicht in Gänze nachvollzogen werden. Betonen möchte ich an dieser Stelle jedoch, daß wir nicht subsumtionslogisch vorgegangen sind, sondern rekonstruktiv.
Insgesamt geht es um drei Typen, wobei sich der letzte womöglich noch differenzieren läßt - was jedoch zu diesem Zeitpunkt der Auswertung noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden kann. Diese seien im Folgenden näher erläutert:
1.1 Weiterbildung als berufliche Chance
Diese, von der Rangfolge her, optimistischste Gruppe von Teilnehmern hat ein ausgeprägtes Selbstvertrauen und ist von ihren beruflichen Fähigkeiten überzeugt. Ihr Verhalten ist geprägt durch ein hohes Maß an Eigeninitiative und Anpassungsfähigkeit an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse. Bei allen Befragten in dieser Gruppe fällt weiterhin auf, daß sie die Zukunft positiv sehen und ihre Lage mehr der momentanen Umwälzung der Gesellschaft als der eigenen (fehlenden)
Qualifikation zuschreiben. Sowohl der jeweilige Weiterbildungsträger als auch der von ihnen besuchte Kurs werden positiv bewertet. Mit dem Hinweis auf erwartete erforderliche Eigeninitiative geben diese Interviewpartner an, daß ihnen keinerlei Probleme in Erinnerung geblieben seien und betonen die gute Atmosphäre innerhalb der Einrichtung und zwischen den Teilnehmern. Die Beurteilung der Arbeitsämter fällt bei diesem Typus relativ sachlich aus. Alle Gesprächspartner betonen, vom Arbeitsamt nicht enttäuscht worden zu sein und begründen dies mit einer geringen Erwartungshaltung. Vor allem in der Region Neuruppin wurde die fehlende Betreuung mit der völligen Überlastung der Ämter entschuldigt. Hinzuweisen bleibt hierbei darauf, daß alle Interviewpartner erwähnten, vom Arbeitsamt nicht betreut worden zu sein. Dies ist nicht nur für den ersten Typus zutreffend. Unterschiede lassen sich aber in der Bewertung dieser fehlenden Unterstützung bei der thematischen Feldanalyse rekonstruieren.
Interessant erscheint auch, daß wir es hier nicht nur mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen zu tun haben, deren Berufsbiographie bereits vor der Arbeitslosigkeit durch Flexibilität, Eigeninitiative und Mobilität geprägt war - wir erinnern an die Hypothesen nach Beendigung der Analyse der biographischen Daten, in der optimistischen Gruppe seien gerade diese Teilnehmer vertreten. Aber die Auswertung zeigt das Gegenteil, viele der Interviewten blicken auf ein stetiges Arbeitsleben; sie blieben nach der Ausbildung direkt im Betrieb und schieden erst durch Kündigung oder Konkurs der Firma aus. Allerdings waren gerade diese Weiterbildungsteilnehmer erst spät von Arbeitslosigkeit betroffen und auch nach der Wende 1989 noch einige Jahre im alten Betrieb berufstätig. Wir vermuten, daß die Tatsache, die politischen Umbrüche zunächst ohne drohende Arbeitslosigkeit erlebt zu haben, positive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl der Betroffenen und ihre Handlungskompetenz hatte. Sie waren in der Situation, sich den neuen gesellschaftlichen Erwartungen stellen zu können und ihr eigenes Gleichmaß im “vereinten Deutschland” zu finden, ohne zusätzlich Veränderungen im beruflichen Umfeld hinnehmen und sich auf den veränderten Arbeitsmarkt einstellen zu müssen. Im Gegensatz zu anderen Gruppierungen konnten wir keinen Zusammenhang zur Art der Erwerbstätigkeit vor 1989 oder in bezug auf gesellschaftliche Anerkennung herstellen. Gemeinsam hingegen ist allen, daß sie in einer familiären Situation leben, die Sicherheit und Schutz bietet. Keiner der hier Befragten ist alleinlebend oder in einer krisenhaft zu bezeichnenden privaten Situation[6], was bei anderen Befragten nicht der Fall ist.
Auffällig ist auch, daß hier die “Wende” nicht als Thema im Interview zutage tritt bzw. nicht als Start- oder Wendepunkt der Biographie eingeführt wird. Dies hängt zum einen sicherlich damit zusammen, daß die Arbeitslosigkeit häufig erst 1992 oder 1993 einsetzte. Andererseits haben wir auch bei anderen Typisierungen Interviewpartner, die erst zu diesem Zeitpunkt die Arbeitsstelle verloren und trotzdem stark Bezug zum Jahr 1989 nehmen, was dafür spricht, daß das Kriterium des Stellenverlustes nicht allein für diese Art der Präsentation der Berufsbiographie verantwortlich sein kann. Die Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme erfolgte bei dieser Gruppe laut Aussage der Interviewten ausschließlich auf eigenes Bestreben, nicht durch Vermittlung. Die Betroffenen kommen aus allen interviewrelevanten Regionen und weisen darüber hinaus keine fach- oder schichtspezifischen Gemeinsamkeiten auf.
Sie empfinden die besuchten Fortbildungen und Umschulungen als Voraussetzung zu Reintegration in den Arbeitsmarkt und sind von deren intendierten Effekten überzeugt. Für sie ist Arbeitslosigkeit nur eine zeitlich begrenzte Durststrecke und keine existentielle Krise. Vor allem drei Arten, die momentane Situation zu beschreiben, konnten von uns immer wieder rekonstruiert werden:
1. “Mit der Situation umgehen, heißt Hilfe zur Selbsthilfe finden”.
2. Um etwas zu erreichen, “muß man dann eben doch mal etwas riskieren”
3. “Ich weiß was ich kann und sehe es eigentlich noch nicht so schlimm”
1.2 Weiterbildung als erzwungene Übergangslösung
Im Gegensatz zur ersten Teilgruppe wird die Weiterbildung hier vor allem als Schutz gesehen. Dieser Schutz kann sowohl in finanzieller oder sozialer als auch in temporaler Hinsicht rekonstruiert werden. Die Arbeitslosigkeit wird als Statusverlust interpretiert, wobei vor allem der gesellschaftliche Umbruch die Funktion eines “Auslösers” übernimmt. Oft wurde die Lebensplanung durch die politischen Umbrüche in einer Phase der Veränderung “blockiert”, die so nicht beendet werden konnte (Erziehungsurlaub, berufliche Veränderung durch Lehrgänge usw.). Alle Interviewpartner, die bisher zu diesem Typus gezählt werden konnten, zeichnen sich durch Passivität und eine eher depressive Grundhaltung aus.
Die Weiterbildung erfolgte fast immer auf Bestreben des Arbeitsamtes und ohne aktive Beteiligung der Betroffenen hinsichtlich des Inhalts des Lehrganges. Ihren Werdegang präsentieren diese Menschen als beklagenswert, die Teilnahme an einer Weiterbildungs-maßnahme als Herabsetzung ihrer Persönlichkeit. Gemeinsam konnten sich alle in hohem Maße mit der sozialistischen Gesellschaftsform identifizieren. Auch hier ist vor allem die Familie Anker und Stütze; die Befragten haben schon viel ihrer anfänglichen Zuversicht, die sie im Interview betrauern, verloren, glauben aber noch immer, daß die Arbeitslosigkeit kein Dauerzustand sein kann. Die relative Gelassenheit, zunächst die Geschehnisse abwarten zu können - wobei sich dieses Abwarten mitunter inzwischen über einen Zeitraum von fünf Jahren erstreckt - erklärt sich interessanter Weise bei den Betroffenen in ländlichen Regionen vor allem durch den Besitz eines Grundstückes oder einer Eigentumswohnung, bei Befragten in Städten hingegen durch die Erwerbstätigkeit des Partners.
1.3 Weiterbildung als zeitliche Unterbrechung einer insgesamt aussichtslosen Situation
In dieser Gruppe sehen wir am stärksten das Problem der Überforderung des einzelnen, mit der Arbeitslosigkeit fertig zu werden. Verteilt über alle Regionen zeichnen sich diese Befragten vor allem durch eine extreme Resignation aus. Die Zukunftsaussichten werden in den düstersten Farben geschildert, das Selbstwertgefühl ist häufig am Boden. Unserer Ansicht nach spiegeln sich in der Intensität der Ängste und Frustrationen hauptsächlich unterschiedliche Stadien wider, die von “Arbeitslosigkeit bedeutet persönliche Inkompetenz” über “Arbeitslosigkeit bedeutet Isolation” hin zur Bewertung “Arbeitslosigkeit bedeutet in allen Bereichen eine existentielle Krise” verlaufen. Besonders auffällig ist hier die einseitige Schuldzuweisung an den geschichtlichen Umbruch. Dieser wird zum “Schreckgespenst”, ohne das es die drastischen Lebensveränderungen nie gegeben hätte. Hier scheint deutlich erkennbar, welche Auswirkungen die Übernahme westlicher “Standards” in der ehemaligen DDR haben kann. Arbeitsplatzsicherung galt in der DDR als gesellschaftlicher Wert, und der Verlust dieses Wertes ist für viele Betroffene gleichbedeutend mit dem Verlust der sozialen Identität. Für sie wird mit dem Verlust der Stelle die bisherige Lebensleistung massiv in Frage gestellt und sie geraten in inneren Zwiespalt, der dazu führt, daß sie sich als Opfer empfinden. “Ich bin das Opfer der Wende” ist eine Formulierung, die wir so oder abgeschwächt in allen Interviews dieses dritten Typus finden.
Gerade hier zeigt sich, wie problematisch die Zuweisung von Verantwortung durch den Staat an den einzelnen sein kann. Handlungsspielräume werden durch das gesellschaftliche System erheblich eingeschränkt, doch trotz der fehlenden Optionen wird den Betroffenen suggeriert, sie seien an der persönlichen Situation der Arbeitslosigkeit selbst schuld. Viele empfinden die momentane Situation als erniedrigend und beschämend, müssen sie doch jetzt ihren Unterhalt durch Zahlungen vom Arbeitsamt finanzieren, statt durch eigene Arbeit. Weiterbildungsteilnehmer, die sich mit der DDR und ihrer Politik identifizieren konnten, sind weitaus weniger bereit, die ihnen jetzt von Seiten des Staates zugemuteten Verantwortungen zu übernehmen. In den Interviews wird deutlich, wie sehr sich viele der Befragten betrogen und allein gelassen fühlen, doch die Art mit dieser Enttäuschung umzugehen, unterscheidet sich - wie die verschiedenen Typen zeigen, erheblich.
Während wir zuvor rekonstruieren konnten, wie Weiterbildungs- teilnehmer mit Optimismus und Zuversicht eine Verbesserung der beruflichen Aussichten erwarten, wird bei diesem Typ deutlich, wie es zum Verlust des Selbstwertgefühls bis hin zur Selbstaufgabe kommen kann. Neben dem Verlust der Arbeit mußten die hier beschriebenen Teilnehmer auch mit anderen lebensgeschichtlichen Krisen fertig werden. Bei allen kommen starke gesundheitliche und/oder private Probleme hinzu: Trennung, Scheidung, Tod naher Angehöriger, schwere Operationen, hohe Schulden usw. Hier können wir davon ausgehen, daß diese weiteren Probleme vorhandene Spielräume erneut reduzierten und die Teilnehmer keinen Halt finden konnten, um eine optimistische Einschätzung angesichts der fehlenden Arbeitsmarktchancen für die Zukunft zu entwickeln. Dies ist aber auch ein Hinweis darauf, daß die Intention der Weiterbildungsmaßnahme, die Teilnehmer auf die veränderte wirtschaftliche Situationen vorzubereiten, nicht gegriffen hat - jedenfalls nicht bei denjenigen, die kein soziales Umfeld hatten, das sie in irgendeiner Weise auffangen konnte. Vor allem Frauen finden sich in dieser Gruppe und vor allem sie betonen, wie wichtig ihnen die Weiterbildung im Hinblick auf soziale Kontakte und ein gewisses Sicherheitsgefühl sei. Die männlichen Betroffenen dieser Gruppe verstehen die Maßnahme als Unterbrechung der deprimierenden Situation - an eine Chance auf Wiedereinstellung glaubt hier keiner der Interviewten.
Es deutet sich an, daß es hier eine negative Verlaufskurve (Schütze 1984, 1995) gibt, die in Abhängigkeit zur Dauer der Arbeitslosigkeit und der Anzahl der bereits in Anspruch genommenen Weiterbildungskurse steht.
Die Teilnahme an einer Maßnahme wird dann entweder damit begründet, daß es keine andere Möglichkeit mehr gebe oder es zeigt sich das Phänomen, daß sich der berufsbiographische Verlauf völlig verselbständigt hat und nicht mehr hinterfragt wird. Hier muß die noch ausstehende Feinanalyse zeigen, inwieweit sich Orientierungsmuster identifizieren lassen und ob diese in Abhängigkeit zur beruflichen Tätigkeit und der damit verbundenen Sozialisation vor 1989 stehen.
2. Zusammenfassung
Bei einer vertieften Auswertung der Erwerbsbiographien differenzieren sich die Intentionen ebenso wie die Erfahrungen der Teilnehmer an AFG-geförderten Bildungsmaßnahmen weiter. So zeichnen sich vorläufig drei Typen ab: Weiterbildung als offensiv genutzte Chance zur Reintegration, als mehr defensiv wahrgenommene Übergangslösung oder aber als resignativ erduldete Form von Beschäftigungslosigkeit, die womöglich mit sozialer Desintegration endet.
Zum gegenwärtigen Stand der Auswertung dieses Untersuchungsteils wäre es noch verfrüht zu sagen, ob es sich hier schon um “Weiterbildungskarrieren” oder gar Verlaufskurven für einen bestimmten Teilnehmerkreis handelt. Vieles deutet allerdings darauf hin. Ebenfalls interessant bleibt das Resultat der positiven Begleiteffekte der laufende Weiterbildungsmaßnahmen, die sich evident daraus erklären, daß die Teilnehmer die Folgen nicht mehr einfach an ihren Arbeitsmarktchancen, sondern nach anderen Kriterien abzuschätzen beginnen.
Hier könnte sich eventuell beweisen lassen, daß sowohl eine deutliche Funktionsverschiebung dieser Art von Weiterbildung zugunsten einer verstärkten Eigenlogik der beruflichen Bildungsmaßnahme gegenüber dem Beschäftigungssystem im gesellschaftlichen Wirkungszusammen- hang im Gange ist, als auch der Eigensinn von beruflicher Weiterbildung im individuellen Lebenszusammenhang einen stärkeren Stellenwert erfährt. Weitreichende Schlüsse dieser Art, die einen neuen Akzent in der wissenschaftlichen ebenso wie in der bildungspolitischen Debatte setzen könnten, sind jedoch erst dann vertretbar, wenn die jetzige Untersuchung der intendierten und nicht-intendierten Folgen hinsichtlich der vorübergehenden Begleiteffekte abgeschlossen und durch eine ergänzende Untersuchung der tatsächlichen sozialen und individuellen Nachwirkungen vollendet werden kann.
Doch die Analyse der biographischen Interviews hat schon jetzt deutlich gezeigt, daß vor allem drei Aspekte ausschlaggebend für die Bewertung der besuchten Weiterbildung sind: Zum einen helfen die unmittelbaren sozialen und familialen Beziehungen dem Betroffenen, die Situation der Arbeitslosigkeit in den Kontext der Berufsbiographie zu integrieren und die Weiterbildungsmaßnahme als Möglichkeit der Verbesserung der Reintegrationschancen zu betrachten. Ein weiterer Aspekt sind die vorhandenen Qualifikationen und das Vertrauen darauf, durch sie auch in einem neuen Arbeitsfeld Bestätigung zu erlangen. Schließlich ist aber auch die Eigeninitiative maßgeblich am Gelingen einer Wiedereingliederung beteiligt, zumal die Auswahl der angebotenen Kurse von Seiten der Institutionen nicht an den Bedürfnissen der Betroffenen ausgerichtet ist. Mit anderen Worten: Wer sich nicht selbst aktiv darum bemüht, seinen Interessen entsprechend fort- oder umgeschult zu werden, erhält durch das Arbeitsamt vermittelt, was gerade frei ist.
Fehlen diese unterstützenden Komponenten, kommt es offenbar zu einem regelrechten negativen Verlauf der Biographie, der damit beginnt, daß die erhofften Effekte der Kurse auf andere Bereiche verlagert werden, und der damit endet, daß die Teilnahme an berufsfördernden Maßnahmen in keiner Weise mehr legitimiert und statt dessen einfach hingenommen wird.
„Der soziale und biographische Prozeß der Verlaufskurve ist durch Erfahrungen immer schmerzhafter und auswegloser werdenden Erleidens gekennzeichnet: die Betroffenen vermögen nicht mehr aktiv zu handeln, sondern sie sind durch als übermächtig erlebte Ereignisse und deren Rahmenbedingungen getrieben und zu rein reaktiven Verhaltensweisen gezwungen. Das Vertrauen in die Tragfähigkeit der ... Lebensarrangements und in die ... Zukunft geht verloren.“ (Schütze 1995, S. 126).
Dieser Prozeß, den Schütze hier beschreibt, ließ sich vor allem bei der qualitativen Analyse eindrücklich herausarbeiten.
Es hat sich bisher gezeigt, daß Weiterbildung keine Perspektiven von sich heraus bietet oder gar Existenzängste auffangen könnte. Orientierungsmuster und Handlungsstrategien der Betroffenen müssen bereits auf eine neue berufliche Perspektive ausgerichtet sein, um durch AFG-geförderte Maßnahmen eine Unterstützung in der Veränderung der Situation zu erfahren. Ist diese nötige Handlungskompetenz bei Eintritt in die Arbeitslosigkeit (noch) nicht vorhanden und kommt hinzu, daß das Mikromilieu eher die biographische Lage be- statt entlastet, nimmt die lebensgeschichtliche Krise, arbeitslos zu sein, einen „quasi- automatischen“ Verlauf.
Nach einer Phase der Hoffnung auf eine neue Stelle und der sich daran anschließenden Orientierung auf die besuchte Fortbildung oder Umschulung folgt die Ernüchterung, auch mit Hilfe einer Fortbildungsoder Umschulungsmaßnahme nicht ohne weiteres integriert werden zu können. Es wird für den Betroffenen immer weniger vorstellbar, daß der Gang der Ereignisse von ihm beeinflußbar oder kontrollierbar sei. Wie wir bei der Analyse sehen konnten, führt dies häufig dazu, daß die Befragten in ihrer Lebensorientierung immer mutloser und in ihren Lebensaktivitäten immer passiver werden.
Alle Biographen hatten ihre sehr persönlichen Erfahrungen mit den Themen Arbeitslosigkeit und Weiterbildung, und doch gab es bestimmte Orientierungsmuster, die wir bei einigen Befragten immer wieder rekonstruieren konnten und die, nebeneinander betrachtet, darauf hindeuten, daß es sich hier nicht um zufällig positive und negative Bewertungen der Weiterbildung handelt, sondern daß eine anfänglich zustimmende und von den intendierten Effekten überzeugte Haltung unter bestimmten Voraussetzungen in das Gegenteil umschlägt bzw. umschlagen kann.
Völlige Gewißheit diesbezüglich kann allerdings erst eine erneute Befragung der Betroffenen bringen. Handelt es sich tatsächlich um Verlaufskurven, müßte ein „Verlaufsmodell für Verlaufskurvenprozesse“ (ebd., S. 129) rekonstruierbar sein. Es müßte sich zeigen, daß die rekonstruierten Orientierungsmuster der Interviewten einem Prozeß unterliegen, der sich, je nach Veränderung der familialen und berufsrelevanten Umstände, hin zu einer Entstabilisierung oder aber zur Reduzierung der „Verlaufskurvenpotentiale“ (ebd., S. 129) entwickelt hat.
Erst dann könnte mit völliger Sicherheit konstatiert werden, ob auch das Problemfeld des Erleidens von Arbeitslosigkeit unter Umständen einen Mechanismus in Gang setzt, der den Betroffenen mehr und mehr handlungsunfähig und der aktuellen Lebenssituation gegenüber hilflos macht. Weiterbildung wäre in diesem Sinne nur eine Hilfe für denjenigen, der die intendierten oder aber die selbst definierten Effekte von Fortbildung und Umschulung für sich aktiv handelnd umsetzen kann und der darüber hinaus durch ein funktionierendes Mikromilieu psychisch abgesichert ist. Im anderen Fall verstärkten der Ablauf der Weiterbildung und die Unsicherheit in bezug auf Zukünftiges die Zweifel des Betroffenen und würden ihn mit der für ihn neuen Situation der Arbeitslosigkeit völlig allein lassen. Bei Langzeitarbeitslosen könnte es darüber hinaus eventuell zu verstärkter Absonderung und Isolierung kommen und somit die Reintegration in den Arbeitsmarkt verhindern, da die willkürlich bewilligten und oftmals nicht bedarfsgerechten Maßnahmen den Betroffenen immer mehr von der arbeitsmarkt- politischen Realität entfernen und ihn dadurch mitunter sogar dequali- fizieren.
Aus der Notwendigkeit heraus, die arbeitslosen Massen aufzufangen, werden in den neuen Bundesländern Muster übernommen, die sich in den alten Ländern etabliert, wenn auch nicht unbedingt bewährt haben. Es stellt sich die Frage, ob diese, aus Handlungsdruck entstandene Vorgehensweise, nicht die Gefahr in sich birgt, auf Besonderheiten nicht reagieren zu können und somit den Leidensdruck der Betroffenen womöglich noch verstärkt.
Literatur:
Alemann, von Heine, Vogel, Annette (1996): Soziologische Beratung. Praxisfelder und Perspektiven, IX. Tagung für angewandte Soziologie. Opladen, 207-222
Alheit, Peter (1990): Biographizität als Projekt. Der "biographische Ansatz" in der Erwachsenenbildung. Bremen
Bolder, Axel et al. (1994, 1995): Weiterbildungsabstinenz. Bd.1 und Bd. 2 hrg. vom Verein zur Förderung de Instituts zur Erforschung sozialer Chancen (Berufsforschungsinstitut). Köln
Fischer-Rosenthal, Wolfram, Alheit, Peter (1995): Biographien in Deutschland. Opladen
Heinemeier, Siegfried (1991): Zeitstrukturkrisen: biographische Interviews mit Arbeitslosen. (Biographie und Gesellschaft Bd.12). Opladen
Hoffmann-Riem, Christa (1980): Die Sozialforschung einer interpretativen Soziologie. Der Datengewinn, In: KZfS 32
Meier, Artur, Rabe-Kleberg, Ursula (Hrsg.) (1993): Weiterbildung, Lebenslauf, sozialer Wandel. Neuwied
Schütze, Fritz (1984): Kognitive Figuren des autobiographischen
Stehgreiferzählens. In: Kohli / Robert (Hg.): Biographie und Soziale Wirklichkeit. Stuttgart
Schütze, Fritz (1995): Verlaufskurven des Erleidens als
Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger / Marotzki (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen
[...]
[1] Dieses Projekt, von der DFG finanziert und unter der Leitung von Prof. Dr. Artur Meier, wurde bereits während der IX. Tagung für angewandte Soziologie in Köln 1996 vorgestellt. Es handelt sich um eine Untersuchung der intendierten und nicht-intendierten Effekte von Weiterbildung nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in den neuen Bundesländern sowohl mit Hilfe einer schriftlichen quantitativen Befragung als auch einem qualitativen Erhebungsteil (vgl. von Alemann 1996)
[2] Eine Nachbefragung ist in Vorbereitung, die eine Längsschnittuntersuchung ermöglichen soll und die Teilnehmer ½ Jahr nach Beendigung der Weiterbildung erneut zu ihren Erfahrungen befragt.
[3] Der Abschlußbericht des Forschungsprojektes wird der DFG in den ersten Februarwochen dieses Jahres vorgelegt und ist bei Interesse über die Humboldt-Universität, Institut für Soziologie zu beziehen
[4] gemeint sind hier Fortbildungen, Umschulungen oder sogenannte Übungsfirmen, die im Rahmen des Arbeits-Förderungs-Gesetzes (AFG) durchgeführt und vom jeweiligen Arbeitsamt finanziert werden. Diese Bildungsmaßnahmen richten sich an Erwerbslose, die mindestens ein Jahr als arbeitslos gemeldet sind und aufgrund ihrer Qualifikation wenig Aussicht auf eine Wiederbeschäftigung haben. Die Kurse sollen die Qualifikation verbessern oder zumindest erhalten.
[5] Diese Auswahl ergab sich aus dem Gesamtkonzept des Projektes und kann hier nicht weiter erläutert werden.
[6] Gemeint sind hier laufende Scheidungsverfahren, in Trennung lebende Paare oder erst kurze Zeit Verwitwete.
- Quote paper
- Dr. Sabrina Böhmer (Author), 1997, Vom (Irr-) Glauben, durch arbeitspolitische Maßnahmen eine Chance zu erhalten, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110346
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