Bei der Interpretation von Literatur, die sich bekanntlich verschiedener Methoden bedient, erlaubt das Analysieren von psychologischen bzw. psychopathologischen Motiven und Themenfeldern interessante Rückschlüsse auf die „Mentalität“ der Literatur und ihre AutorInnen.
Im Falle der lateinamerikanischen Literatur lässt sich feststellen, dass sich bestimmte psychologische Muster in unterschiedlichen Texten wiederholen. Freud spricht von der Depression als Ursprung der Kultur. Wie konnte er zu dieser Annahme gelangen? Gehen wir davon aus, dass der Kulturbegriff sich in diesem Kontext auf künstlerische (literarische) Themen bezieht, entstammen diese folglich gewissen psychologischen Prozessen. Beweggründe für die literarische Produktion sind häufig Ergebnis bestimmter seelischer Zustände und spiegeln sich zum Beispiel in den fiktiven Figuren eines Romans oder in der Thematik eines Theaterstücks.
Indem man die Psychologie oder die Psychopathologie bei der Interpretation von Literatur anwendet, ergibt sich unweigerlich ein erstes Grundproblem: Wie wird Pathologie in der Psychologie definiert? Was gilt als pathologisch, was nicht? Welche Abgrenzungen gibt es in den unterschiedlichen Disziplinen der Psychoanalyse?
“La diferencia entre un novelista y un loco, es que el novelista puede ir hasta la locura y volver.“ Ernesto Sábato
Einleitung
Bei der Interpretation von Literatur, die sich bekanntlich verschiedener Methoden bedient, erlaubt das Analysieren von psychologischen bzw. psychopathologischen Motiven und Themenfeldern interessante Rückschlüsse auf die „Mentalität“ der Literatur und ihre AutorInnen.
Im Falle der lateinamerikanischen Literatur lässt sich feststellen, dass sich bestimmte psychologische Muster in unterschiedlichen Texten wiederholen.[1]
Freud spricht von der Depression als Ursprung der Kultur. Wie konnte er zu dieser Annahme gelangen?
Gehen wir davon aus, dass der Kulturbegriff sich in diesem Kontext auf künstlerische (literarische) Themen bezieht, entstammen diese folglich gewissen psychologischen Prozessen. Beweggründe für die literarische Produktion sind häufig Ergebnis bestimmter seelischer Zustände und spiegeln sich zum Beispiel in den fiktiven Figuren eines Romans oder in der Thematik eines Theaterstücks.
Indem man die Psychologie oder die Psychopathologie bei der Interpretation von Literatur anwendet, ergibt sich unweigerlich ein erstes Grundproblem: Wie wird Pathologie in der Psychologie definiert? Was gilt als pathologisch, was nicht? Welche Abgrenzungen gibt es in den unterschiedlichen Disziplinen der Psychoanalyse?
Diese Fragen, die sicherlich nicht ohne weiteres beantwortet werden können, denn dies würde den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen, sollen als Leitfaden dienen.
Hierbei muss davon ausgegangen werden, dass sich Psychoanalyse und Psychopathologie unterscheiden. Die Psychoanalyse, durch Freud salonfähig gemacht, hat sich seit ihrer Entstehung und Einordnung in die medizinischen Wissenschaften weiterentwickelt. Einige Grundfragen und Leitgedanken der freudschen Psychoanalyse wurden revidiert und neu bewertet.
Die Psychopathologie hingegen, deren Begründer und wichtigster Vertreter bis heute der Philosoph Karl Jaspers zu sein scheint, bedient sich der phänomenologischen Herangehensweise. Denn die eigentliche Aufgabe der Psychopathologie ist es zusammenzuführen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehörig scheint. Außerdem klärt die Psychopathologie Begrifflichkeiten und Grundregeln der Psychiatrie.[2]
Des Weiteren ist sie in der Lage, den Gesundzustand zu postulieren, indem durch verschiedene Methoden festgelegt wird, was pathologisch ist. Nur der Existenz der Pathologisierung verdanken wir die Bestimmung des Nicht-Pathologischen.
Inwieweit psychopathologische Inhalte in lateinamerikanischer Literatur zu finden sind, soll in dieser Arbeit anhand des Romans El túnel von Ernesto Sábato deutlich gemacht werden. Zunächst soll sehr kurz der Plot des Buches geschildert werden, hierbei will ich auf Erzählperspektive und narrative Strukturen eingehen. Mein Augenmerk ist aber auf die psychologischen und psychopathologischen Eigenschaften des Protagonisten gerichtet. Die Formen der psychischen Krankheit und ihr theoretischer Hintergrund sollen hierbei erörtert werden.
I.
Inhalt: El túnel
Der 1948 erschienene Kurzroman El túnel des argentinischen Schriftstellers Ernesto Sábato ist schwer einzuordnen. Kritiker bezeichnen ihn als Kriminalroman (novela policial), aber auch als psychologische Studie eines Mörders.
Aus der Ich-Perspektive des Protagonisten Juan Pablo Castel wird dem Leser die Geschichte eines Verbrechens präsentiert:
Castel, ein Künstler aus Buenos Aires trifft bei einer Ausstellung auf María Iribarne, die eine Szene seines Bildes Maternidad betrachtet.
“Pero arriba, a la izquierda, a través de una ventanita, se veía una escena pequeña y remota: una playa solitaria y una mujer que miraba el mar. Era una mujer que miraba como esperando algo, quizá algún llamado apagado y distante.”[3]
Diese Szene des Bildes wird zur Schlüsselszene für den weiteren Handlungsverlauf. Castel geht davon aus, dass María die einzige Person ist, die diese Szene realisiert hat und sucht sie daraufhin in der ganzen Stadt, nachdem er monatelang an sie gedacht hat. Schließlich treffen sie sich und ihre Beziehung beginnt mit allerlei Unsicherheiten.
“Desde ese momento, su manía de analizar todas las posibles implicaciones de cada acto se centra en María.”[4]
Eine Möglichkeit, die Castel nicht bedacht hat, ist die, dass María verheiratet ist. Ihr Ehemann Allende wird zum Übermittler eines Briefes, den María nach ihrem ersten Rendezvous mit Castel hinterlässt.
„Yo también pienso en usted.“ [5] , ist der einzige Satz, den der Brief enthält. Das Zusammentreffen mit Allende lässt Castel an Marías Integrität zweifeln. Dazu kommt, dass Allende blind ist, einen Zustand den Castel nicht ertragen kann.
María ist derweil auf der estancia ihres Cousins Luis Hunter. Dieser Ort wird schliesslich auch zum Tatort. Aus der Liebe zwischen Castel und María wird Obsession, eine unverhältnismäßige Eifersucht bedrängt den Maler. Er unterzieht seine Freundin immer wieder verletzenden Verhören (interrogatorios), um ihre mögliche Untreue festzustellen. Nachdem er glaubt, genügend Beweise für eine Liebschaft zwischen María und Hunter gesammelt zu haben und er sich bereits tief in einer psychotischen Krise befindet, ersticht er María in regelrechtem Wahn.
Damit endet der Bericht Castels über die Tatumstände. Der Leser erfährt noch, dass Castel sich freiwillig nach dem Mord gestellt hat und sich nun in einer psychiatrischen Anstalt befindet.
Literarische Besonderheiten des Romans Wie bereits angekündigt lässt sich El túnel nicht eindeutig einem literarischen Genre zuordnen. Der Roman erinnert in seiner chronologischen Erzählweise und der konzentrierten Spannung an einen Kriminalroman. Allerdings wird bereits auf den ersten Seiten der Mörder benannt, worin der Roman sich von den meisten Krimis unterscheidet.[6]
Die Spannung wird folglich nicht durch die Frage nach dem Täter erzeugt, sondern durch die Schilderung der Motive die Castel zu dem Mord an María treiben.
Durch die Wahl der Erzählperspektive und einer konstanten Innenansicht des Protagonisten kommt es zu einer „reducción intensificadora de la perspectiva“.[7] Die Geschichte des Verbrechens wird dem Leser einzig durch die Augen des Protagonisten vermittelt.[8]
Insofern steht der Titel El túnel nicht nur für den seelischen Zustand Castels (darauf werde ich im zweiten Teil zurückkommen), sondern auch für die Stimmung, die beim Lesen erzeugt wird. Gleichsam wird man durch häufige innere Monologe und die erwähnte „reduzierte Erzählperspektive“ in eine Art Tunnel hineingezogen. Dieser Tunneleffekt verstärkt sich durch die kontinuierliche Spannung und die sprachlichen Mittel, die Sábato verwendet. Die Sprache ist nüchtern beschreibend und die wenigen Landschafts- und Ortsbeschreibungen werden aus der Sicht des Protagonisten gemacht.[9]
Seguí kommt durch den Vergleich der unterschiedlichen Kritiken von El túnel richtigerweise zu dem Schluss, dass es sich um keinen Krimi im klassischen Sinn handelt:
“Sin pretender negar totalmente la presencia de una cierta dosis de suspenso semejante al de las novelas policiales, lo cierto es que el suspenso psicológico es mucho mayor.”[10]
Sicherlich lässt sich aus psychologischer Perspektive von einer pathologischen Entwicklung des Protagonisten sprechen. Inwiefern das wirklich zutrifft und welche „psychopathologischen Typen“ vorhanden sind, soll im Folgenden erörtert werden.
II.
Formen der Psychopathologie in El túnel Juan Pablo Castel leidet an einer psychotischen Persönlichkeitsveränderung, die sich im Verlauf des Romans steigert und sich in unterschiedlichen Symptomen bemerkbar macht. Seine Wahrnehmung wird durch paranoide Wahnvorstellungen verändert und sein Liebesleben ist von Obsession und krankhafter Eifersucht bestimmt.
Um die einzelnen Punkte besser zu strukturieren und einen genaueren Überblick über die Symptome zu erhalten, will ich zunächst alle auszumachenden psychopathologischen Phänomene nennen:
1. Paranoia / Wahnvorstellungen
2. fehlendes Sozialvermögen: incomunicación
3. Obsession / Eifersucht
4. Depression / Melancholie
5. (latente) Aggressivität
Hierbei ist festzuhalten, dass es sich bei der gewählten Einteilung um eine rudimentäre Angelegenheit handelt, denn wie Jaspers feststellt, können psychopathologische Phänomene nicht ohne weiteres getrennt voneinander betrachtet werden:
„Das bewusste Seelenleben ist also nicht ein Agglomerat isolierbarer Einzelphänomene, sondern ein in ständiger Bewegung befindliches Beziehungsganzes, aus dem wir beschreibend Einzeltatbestände herausheben. Dieses Beziehungsganze ist veränderbar durch den Bewußtseinszustand, in dem sich die Seele jeweils befindet. Alle Unterscheidungen, die wir machen, gelten vorübergehend und müssen irgendwo zwar nicht preisgegeben, aber überwunden werden.“[11]
Vor allem der letzte Satz impliziert das vage Feld, indem sich die Psychopathologie bewegt. Übertragen wir psychopathologische Phänomene nun auf die Literatur, verstärkt sich das Problem der Abgrenzung, denn es handelt sich um fiktive Fälle, die literarisch „aufgewertet“ werden.
Dennoch soll hier nun der Versuch unternommen werden, mit Hilfe von Auszügen aus dem Text, psycho-(patho)logische Phänomene in El túnel aufzudecken.
1. Paranoia
“El doctor Prato tiene mucho talento y lo creía un verdadero amigo, hasta tal punto que sufrí un terrible desengaño cuando todos empezaron a perseguirme y él se unió a esa gentuza.”[12]
“Me ha sucedido a veces darme vuelta de pronto con la sensación de que me espiaban, no encontrar a nadie y sin embargo sentir que la soledad que me rodeaba era reciente y que algo fugaz había desaparecido, como si un leve temblor quedara vibrando en el ambiente.”[13]
Diese beiden Beispiele machen deutlich in welcher Weise sich Castel verfolgt und beobachtet fühlt.
Der so genannte Verfolgungswahn ist Teil eines komplexen Systems von Wahnvorstellungen, die symptomatisch für die psychotische Erkrankung (Paranoia) sind. Dabei ist der Begriff Vorstellung irreführend, denn genau genommen handelt es sich um Realitätsverschiebungen bzw. falsche Überzeugungen:
„Con todo, el rasgo saliente de una ilusión psicótica es que está inspirada por una convicción absoluta e incontrovertible de la verdad de una proposición. En consecuencia, una ilusión psicótica, en último término, debe ser considerada como una convicción falsa.”[14]
Ein weiteres Symptom der Paranoia ist der Beziehungszwang. Dieser zeichnet sich unter anderem durch das zwanghafte Verhalten aus, jegliche Form sozialer Kommunikation auf die eigene Person zu beziehen. Hierbei gibt es Überschneidungen mit dem Verfolgungswahn, da der Betroffene sich durch den Beziehungszwang ebenfalls beobachtet und hintergangen fühlt.[15]
Beispiele für dieses Symptom finden sich an zahlreichen Stellen des Buches, ich will mich auf eines beschränken:
In einem Traum befindet sich Castel in einem ihm vertrauten Haus. Dennoch fühlt er sich dort nicht wohl:
“Pero a veces me encontraba perdido en la oscuridad o tenía la impresión de enemigos escondidos que podían asaltarme por detrás o de gentes que cuchicheaban y se burlaban de mí, de mi ingenuidad. ¿Quiénes eran esas gentes y qué querían?”[16]
Ein verwandter Typus von Wahnvorstellung, der im Zusammenhang mit El túnel relevant ist, ist der Interpretationszwang oder Reflexionszwang.[17]
Bei Jaspers wird dieser als Bedeutungswahn bezeichnet, wobei die Betroffenen in allem eine Bedeutung suchen (und finden), wobei diese Bedeutung nicht bestimmbar ist.[18]
Castel selbst erläutert diese Manie zu Anfang seines Berichts:
“¿Por qué esa manía de querer encontrar explicación a todos los actos de la vida?”[19]
Daher interpretiert Castel im Verlauf des Romans ständig die Gespräche mit María, fixiert sich auf die unwichtigen Details. Ausserdem überlegt er sich in konstanter Abfolge mögliche Konsequenzen der Begegnungen mit ihr. Besonders deutlich wird dies am Anfang des Romans, als er sie nach der ersten flüchtigen Begegnung in der Galerie versucht ausfindig zu machen.[20]
Nach tagelangen Überlegungen, wie ihr Wiedersehen verlaufen könnte, kommt er zu dem Schluss:
“No recuerdo ahora todas las variantes que pensé. Sólo recuerdo que había algunas tan complicadas que eran prácticamente inservibles.[...]Y también resultaba a menudo que reemplazaba frases de una variante con frases de otra, con resultados ridículos o desalentadores.[...]
Cuando llegaba a esta situación descansaba por varios días de barajar combinaciones.”[21]
An diesem Beispiel wird deutlich, dass Castel sich einer gewissen Ungewöhnlichkeit der Angewohnheit, jede Begebenheit zwischen sich und seinem Umfeld bewusst zu machen, um diese für seinen Zweck auszulegen, durchaus im Klaren ist. Er ist einerseits überzeugt davon, dass diese Eigenschaft die Beziehung zu María begünstigt, um keine voreiligen Entscheidungen zu fällen oder in unangenehme Situationen zu kommen. Andererseits kann er sich jedoch den tieferen Sinn seiner zwanghaften Überlegungen nicht erschließen.[22]
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich drei Wahnvorstellungen bei Castel manifestieren, wobei diese Auswahl eingeschränkt bleibt, da es weitaus mehr Formen der paranoiden Täuschungen gibt.[23]
2. fehlendes Sozialvermögen: incomunicación
Carmen Quiroga de Cebollero gibt ihrer Analyse von El túnel eine passende Unterüberschrift: El túnel: novela de incomunicación.
Das ist nicht verwunderlich, da bereits am Anfang des Romans deutlich wird, dass Castel nicht fähig und oftmals nicht willig ist, mit anderen Menschen zu kommunizieren:
“Piensen lo que quieran: me importa un bledo; hace rato que me importan un bledo la opinión y la justicia de los hombres.”
“[...]siempre he mirado con antipatía y hasta con asco a la gente.[...]pero, en general, la humanidad me pareció siempre detestable. ”
“Generalmente, esa sensación de estar solo en el mundo aparece mezclada a un orgulloso sentimiento de superioridad: desprecio a los hombres, los veo sucios, feos, incapaces, ávidos, groseros, mezquinos; mi soledad no me asusta, es casi olímpica.”[24]
Diese Textbeispiele zeigen, wie sich Castel von seiner Umwelt abkapselt. Er wird durch seine Abneigung gegen Menschenmassen und Vereinigungen aller Art zum Misanthropen.[25]
Dadurch fühlt er sich anderen überlegen, jedoch in destruktiver Weise, denn es zeichnet sich ab, dass dieses Gefühl der Überlegenheit mit grenzenloser Einsamkeit einhergeht. Gleichzeitig wechselt sich die vermeintliche Exklusivität je nach Stimmungslage mit dem Gefühl der Unterlegenheit und des Nicht-Verstanden-Werdens ab.
In der psychoanalytischen Terminologie wird dieser Zustand mit der „Unfähigkeit zur sozialen Anpassung“ beschrieben. Folge davon ist eine „Störung der Kommunikationsfähigkeit“.[26]
Damit einher geht oftmals der so genannte Größen- oder auch Kleinheitswahn, welche sich wiederum gegeneinander bedingen.[27]
Die einzige Person, von der sich Castel verstanden fühlt und mit der er glaubt eine „echte“ Beziehung eingehen zu können, ist María.
Wie sich diese Ausschließlichkeit bemerkbar macht und letztendlich pathologische Züge annimmt, soll im nächsten Punkt behandelt werden.
3. Obsession/Eifersucht
Die wohl augenscheinlichsten Themen des Romans, die sich psychopathologisch verwerten lassen, sind übertriebene Eifersucht und die damit verbundene Obsession. Inhaltlich kann man von Leitmotiven sprechen, welche den Verlauf der Geschichte bestimmen.
Immer wieder spricht Castel davon, wie sehr er María braucht.[28] Aus einer starken Zuneigung wird obsessives Verhalten:
“Esa simplicidad [de la firma “María”] me daba una vaga idea de pertenencia, una vaga idea de que la muchacha estaba ya en mi vida y de que, en cierto modo, me pertenecía.”
“Ese estremecimiento de orgullo, ese deseo creciente de posesión exclusiva debían haberme revelado que iba por mal camino, aconsejado por la vanidad y la soberbia.”[29]
Die Obsession gegenüber María drückt sich also in erster Linie durch Besitzansprüche aus. Jedoch werden auch andere Personen, wie etwa Mimi und Hunter, zur Zielscheibe seiner obsessiven Reaktionen. Zugespitzt könnte man Castels gesamtes Verhalten (das Abwägen der Konsequenzen und Gesprächssituationen, die Stimmungsschwankungen und schließlich der Mord an María) als obsessiv betrachten.
Eng verbunden mit der Obsession ist die Eifersucht. Diese ist, wie bereits erwähnt, bei Castel im pathologischen Bereich anzusiedeln.
Jaspers ordnet die Eifersucht der Gruppe der „echten Wahnideen“ zu, welche wiederum Teil des „primären Wahnerlebnisses“ sind.
„Die Richtigkeit [der Wahnideen] ist zufällig und kommt faktisch höchst selten vor (am häufigsten wohl beim Eifersuchtswahn). Ein normaler richtiger Gedanke wird aus normalen Erfahrungen begründet und dadurch für andere gültig, eine Wahnidee hat ihre Quelle im primären, der allgemeinen Erfahrung fremden Erleben, nicht in Begründungen. […]So kann ein Eifersuchtswahn an typischen Merkmalen erkannt werden, ohne zu wissen, ob der Betroffene zur Eifersucht Grund hat oder nicht.“[30]
Die Eifersucht Castels drückt sich in den erbarmungslosen interrogatorios, die er mit María führt, aus:
“Te he preguntado si ahora lo querés a Allende y me has dicho que sí. Me parece recordar en que otra oportunidad, en el puerto, me dijiste que yo era la primera persona que habías querido.”
”El fondo es que sos capaz de engañar a tu marido durante años, no sólo acerca de tus sentimientos sino también de tus sensaciones. La conclusión podría inferirla un aprendiz: ¿por qué no has de engañarme a mí también?”[31]
Dabei gilt nicht nur Allende als Grund für die Eifersucht Castels, sondern sämtliche hypothetische Liebhaber Marías:
“Eran las personas desconocidas, las sombras que jamás mencionó y que sin embargo yo sentía moverse silenciosa y oscuramente en su vida.Las peores cosas de María las imaginaba precisamente con esas sombras anónimas.”[32]
4. Depression / Aggression
Um die Erläuterung der oben genannten psychopathologischen Phänomene zu vervollständigen, möchte ich kurz auf die beiden letzten Punkte eingehen. Sie entsprechen jedoch im Allgemeinen mehr der Psyche des Protagonisten, als dass sie charakteristisch für psychopathologische Phänomene wären, die Sábato in seinem Roman darstellt.
Die Depression, verbunden mit tief gehender Verzweiflung, ist Grundstimmung des Romans und prägt das Leben Castels. Durch sich wiederholende Enttäuschungen und negative Erfahrungen wird er zum Sinnbild des Pessimisten. Inwiefern diese psychische Verfassung mit der oben konstatierten Psychose zusammenhängt bleibt unklar, obgleich anzunehmen ist, dass es zwischen beiden eine Verbindung gibt.
Im Umgang mit María zeigt Castel sich des Öfteren aggressiv; meist in Konfliktsituationen, die sich durch die fortschreitende Obsession wiederholen und an Intensität gewinnen. In diesen Momenten wird klar, dass die Probleme, die sich in der Beziehung entfalten, ihre Ursache in fehlender oder missgerichteter Kommunikation haben.
In Anbetracht einer psychologischen Erklärung kann aggressives Verhalten bei Psychotikern Folge der veränderten Realitätswahrnehmung sein.
Bei der Untersuchung der psychopathologischen Phänomene in El túnel wird deutlich, dass die einzelnen Elemente Teil der psychischen Krankheit des Protagonisten sind. Verfolgungs- und Beziehungswahn sind Merkmale einer psychotischen Deformation. Die krankhafte Eifersucht, letzten Endes Ursache für den Mord, muss mit dieser in Zusammenhang gebracht werden. Daraus entstehende falsche Realitätsurteile werden in der Psychopathologie als Wahnideen bezeichnet.[33]
Der Eindruck, der von María entsteht, wird maßgeblich durch die Beschreibungen Castels geprägt. Diese fallen, wie bereits festgestellt wurde, durch die fortschreitende Psychose des Protagonisten einseitig aus. Um den subjektiven Charakter des Romans zu gewährleisten, bildet Sábato María durch die verzerrte Wahrnehmung Castels ab. Somit umgibt sie eine mythische Aura; sie erscheint melancholisch und pessimistisch.[34]
Ihre Warnung zu Anfang des Romans lässt sich als dunkle Vorausschau auf das Geschehen interpretieren, wobei sich Täter- und Opferrolle umkehren:
“Pero no sé qué ganará con verme. Hago mal a todos los que se me acercan.”[35]
Dieser im Roman nicht näher kommentierte Ausspruch Marías könnte auch als Umkehrschluss der Überzeugung Castels gesehen werden, ein weiteres Indiz für die gestörte Kommunikation, die die Beziehung charakterisiert. Je obsessiver Castels Ausschließlichkeitsanspruch gegenüber María wird, desto vehementer entzieht diese sich ihm.
Inwiefern María die psychotische Störung Castels bemerkt, wird nicht thematisiert. Ihre Reaktionen auf die Verhöre Castels sind verhalten. Sie lehnt seine vermeintlich logischen Schlussfolgerungen ab, ohne sie direkt zu widerlegen.
Dadurch wird ihr widersprüchliches Wesen, welches auch durch die Darstellungen Castels gezeichnet wird, deutlich.
Dass es hierbei durchaus Überschneidungen zwischen psychotischen und nicht-psychotischen Merkmalen gibt, stellt ein Grundproblem nicht nur für die psychoanalytische Diagnose, sondern auch bei der literarischen Interpretation dar. Im abschließenden Teil möchte ich daher auf diese Ambivalenzen eingehen.
III.
Zur Unterscheidung zwischen Pathologie und Gesundzustand
Wie bereits angedeutet, ist ein Grundproblem der Psychopathologie die Abgrenzung zwischen pathologischen und nicht-pathologischen Symptomen.
Diese Abgrenzung ist zusätzlich für die inhaltliche Interpretation des Romans von Bedeutung, da viele Handlungen des Protagonisten durch seine Psychose erklärt werden können.
Im Folgenden soll, unter Berücksichtigung der psychopathologischen Grenzfälle, das allgemeine Gefälle der Psychopathologie zur Psychologie beschrieben werden.
Jaspers beschreibt das Zusammenspiel von Psychopathologie und Psychologie als notwendig, allerdings als oftmals nicht ausreichend:
„Die offizielle Psychologie beschäftigt sich in allzu strikter Beschränkung fast nur mit so elementaren Vorgängen, wie sie bei eigentlichen Geisteskrankheiten fast nie gestört werden, sondern nur bei neurologischen, organischen Hirnschädigungen. Der Psychiater bedarf einer Psychologie von weiterem Horizont, die ihm aus dem psychologischen Denken der Jahrtausende vermittelt wird und die sich auch im offiziellen Betriebe wieder Bahn zu brechen beginnt.“[36]
Jedoch soll mit dieser Einschätzung der Psychologie nicht jeglicher Zusammenhang mit der Psychopathologie abgesprochen werden. Vielmehr handelt es sich um eine Wechselwirkung, ähnlich der Verbindung zwischen Physiologie und Pathologie in der somatischen Medizin. Es kann „keine scharfe Grenze zwischen ihnen“ gezogen werden, und „viele Fragen werden sowohl von Psychologen wie von Psychopathologen bearbeitet.“[37]
Jaspers sieht die Ursache hierfür in den unterschiedlichen Krankheitsbegriffen. Diese könnten zwar „prinzipiell scharf gefaßt werden“, seien in der Praxis aber „Grenzfällen und Übergängen“ unterworfen.[38]
Insgesamt kann wohl festgestellt werden, dass keine kohärente Trennungslinie zwischen Psychologie und Psychopathologie gezogen werden kann, ja sogar eine „saubere“ Unterscheidung der beiden Disziplinen in den meisten Fällen nicht sinnvoll erscheint.
Von besonderem Interesse für die psycho(patho-)logische Interpretation von El túnel ist folgende Feststellung Jaspers’:
„Manchmal kommt es vor, daß nicht […]die Paranoia ihre Fühler gleichsam in alle Richtungen ausstreckt, sondern daß im Zentrum des Wahns eine Person, eine Sache, ein Zweck steht, daß mit anderen Worten der Inhalt systematisiert und mit dem System auch erschöpft ist.“[39]
In diesem Falle, so fährt Jaspers fort, handele es sich weniger um die „echten paranoiden Symptomenkomplexe“, als vielmehr um „überwertige und wahnhafte Ideen“.
Es fällt schwer, keinen Vergleich zwischen oben stehender Beschreibung und den Charaktereigenschaften Juan Pablo Castels anzustellen. So bildet María das „Zentrum des Wahns“, um den herum sich die wahnhaften Ideen (Eifersucht, Verschwörung María-Hunter etc.) entspinnen. In diesem Sinne scheint es evident, eine Psychose des Protagonisten zu diagnostizieren, wobei sich ein behandelnder Psychologe, gemäß Jaspers an die Ermittlung der wahnhaften Ideen, halten würde.[40]
Da es sich aber um literarische Fiktion handelt, erübrigt sich die Suche nach einer korrekten Diagnose. Vielmehr war mein Anliegen, den Übereinstimmungen zwischen beiden Wissenschaftsrichtungen nachzuspüren.
Für die vorliegende Arbeit ist folglich die Frage nach dem Pathologischen insofern relevant, als das sie andere Interpretationsansätze für den Roman (beispielsweise den philosophischen Existenzialismus[41] ) in Frage stellt oder ersetzt.
Die meisten Kritiker interpretieren El túnel als Spiegel für die charakteristischen Themenkomplexe der Moderne, wie etwa Weltschmerz, Isolation, Subjektivismus oder Fragmentierung.[42]
Überwiegend wird die Möglichkeit einer psychopathologischen Ursache für das Verhalten Castels allerdings am Rande genannt, so bei Asensio, der die Romane Dostojewskis und Sábatos vergleicht.[43] Bei den Charakteren ermittelt er Formen der Persönlichkeitsspaltung. Dazu ist folgendes Bekenntnis Castels aufschlussreich:
“¡Cuántas veces esta maldita división de mi conciencia ha sido la culpable de echos atroces!“[44]
Über die Richtigkeit der oben angestellten Überlegungen und die Legitimation der einzelnen Interpretationsansätze lässt sich schwer richten, schließlich fließen in einer Textanalyse mehrere Gedankengänge und Diskursstränge ein, genauso wie bei den zu untersuchenden Werken. Als wegweisend kann wohl Sábatos eigene Erklärung des Seelenzustands seines Protagonisten gesehen werden. Er spricht in diesem Kontext von Paranoia.[45]
Fazit
“… en todo caso había un solo túnel, oscuro y solitario: el mío, el túnel en que había transcurrido mi infancia, mi juventud, toda mi vida.” [46]
Sábatos Roman El túnel ist ein Paradebeispiel für den starken Einfluss, den die Entwicklung der Psychoanalyse auf die lateinamerikanische Literatur ausübt. Der Titel El túnel steht paradigmatisch für den Handlungsablauf und die seelische Entwicklung des Protagonisten. Er beschreibt die fortschreitende Psychose, ein Zustand auf den wohl kaum eine andere Metapher, als die des Tunnels treffender wäre. Denn Castel ist sowohl Täter, als auch Opfer seiner Umstände. Die genauen Ursachen seiner Psychose bleiben im Dunklen. Dem Leser bleibt das Spekulieren um die Gründe für den Mord an María Iribarne, welche gleichsam den Spannungsbogen des Romans bilden.
Verschiedene Formen der psychotischen Wahnbildung können im Leben des Malers ausgemacht werden, vorausgesetzt man nimmt Phänomene der Psychopathologie als Interpretationsvorlage für den Roman. Dabei ergeben sich Definitionsschwierigkeiten des Pathologischen, welche auf die Anfechtbarkeit der Psychopathologie verweisen.
Dennoch profitiert die Analyse des Romans von der psychoanalytischen Herangehensweise, indem die interpretatorische Perspektive erweitert wird.
Bibliografie
Primärtext:
Sábato, Ernesto: El túnel. 3°ed.,Booket. Buenos Aires, 2004
Sekundärtexte:
Asensio, Juan: “El túnel” de Ernesto Sábato. In: Aleph N° 116, año XXXV. Manizales (Colombia), 2001
Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Neunte Auflage. Springer-Verlag. Berlin, Heidelberg, New York, 1973
Köhler, Rudolf: En el vértigo de una metafísica desesperada: aproximación a “El túnel” de Ernesto Sábato. In: Iberoromania. München, 1970
Seguí, Agustín Francisco: Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. Verlag Peter Lang. Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris, 1988
Quiroga de Cebollero, Carmen: Entrando a „El túnel” de Ernesto Sábato. Análisis e interpretación. Ed. Universitaria. Río Piedras (Puerto Rico), 1971
[...]
[1] So sind zum Beispiel Tod, Trauer, Helden- und Märtyrergeschichten Gegenstände der (lateinamerikanischen) Literatur.
[2] vgl. Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie. Neunte Auflage. Springer-Verlag. Berlin, Heidelberg, New York 1973. Vorwort und Einführung (S. 1-6)
[3] Ich verwende die Booket-Ausgabe: Sábato, Ernesto: El túnel. Buenos Aires, 2004. S.12. Im Folgenden mit ET abgekürzt.
[4] vgl. Seguí, Agustín Francisco: Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. Verlag Peter Lang. Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris, 1988. S. 11
[5] ET, S.53
[6] Quiroga de Cebollero, Carmen: Entrando a „ El túnel” de Ernesto Sábato. Análisis e interpretación. Río Piedras (Puerto Rico), Ed. Universitaria 1971. S.11
[7] Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S. 34
[8] Entrando a „ El túnel” de Ernesto Sábato. S. 48
[9] Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S.32
[10] ebd., S. 35
[11] Allgemeine Psychopathologie. S.50
[12] ET, S. 17
[13] ebd., S.69
[14] Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S. 58
[15] Zum Beziehungszwang, vgl. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. S.83/84. Jaspers spricht vom Beziehungs wahn.
[16] ET, S.61/62
[17] vgl. Entrando a „ El túnel” de Ernesto Sábato. S. 37-40
[18] Allgemeine Psychopathologie. S.83/84
[19] ebd., S.11
[20] vgl. ET, Kapitel V-VII
[21] ET, S.24/25
[22] ebd., S.40
[23] vgl. Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S. 65 ff
[24] ET, S. 9/48/91
[25] ebd., S. 16
[26] Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S. 53/54
[27] vgl. Allgemeine Psychopathologie. S. 343
[28] z. Bsp.: ET, S. 38
[29] ebd., S. 57/112
[30] Allgemeine Psychopathologie. S. 88/89. In eine ähnliche Richtung der Beurteilung von Eifersucht geht Emilio Mira y López, der verschiedene „Verhaltensformen der Eifersucht“ unterscheidet. vgl. Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S. 205
[31] ET, S. 84/87
[32] ebd., S. 82
[33] vgl. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie. S. 80
[34] vgl. Entrando a „ El túnel” de Ernesto Sábato. S. 49/50
[35] ET, S.44
[36] Allgemeine Psychopathologie. S. 3
[37] ebd., S.2
[38] ebd., S.2; Seguí nennt mehrere Stellen bei Jaspers, wo auf diese auf diese Grenzfälle eingegangen wird. vgl. Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S. 63 /64
[39] Allgemeine Psychopathologie. S.503 [Hervorhebung von mir]
[40] ebd., Kapitel zur Methodologie, Einführung.
[41] zu finden u.a. bei Quiroga de Cebollero.
[42] vgl. Köhler, Rudolf: En el vértigo de una metafísica desesperada: aproximación a “El túnel” de Ernesto Sábato. In: Iberoromania, München 1970. S. 216-30
[43] Asensio, Juan: “El túnel” de Ernesto Sábato. In: Aleph N° 116, año XXXV. Manizales 2001. S.49-50
[44] ET, S.88 /89
[45] vgl. Lo psicopatológico en las novelas de Ernesto Sábato. S. 50
[46] ET, S. 150
- Quote paper
- Sonja Schmidt (Author), 2005, Ernesto Sábatos "El túnel" im Blickwinkel der Psychopathologie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110289
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