Der Reader soll dazu dienen, sich einen kurzen Überblick über die Grundlagen systemischer Therapie zu verschaffen. Er ist nicht als komplexe Darstellung der Therapie zu verstehen, sondern soll eher Anregungen geben, als Nachschlagewerk fungieren und den Horizont der täglichen Arbeit erweitern helfen. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, einige - und für so manchen nicht unwesentlichen Dinge - fehlen; also, macht Euch daran, ihn mit Euren eigenen Gedanken fortzuschreiben. Die Literaturhinweise beziehen sich auf die schon vorlie-gende Bibliographie und sind nur z. T. ergänzt worden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitende Bemerkungen
2. System
3. Rolle
4. Soziales System
5. Autopoiese
6. Epistemologie
7. Externalisierung
8. positive Konnotation
9. Kybernetik
9.1 Kybernetik 1. Ordnung:
9.2 Kybernetik 2. Ordnung
10. sozialer (radikaler) Konstruktivismus
11. sozialer Konstruktionismus
12. Postmoderne Theorien
13. paradoxe Intervention
14. Kohärenz
15. Refraiming
16. Homöostase
17. Synergetik
18. Mythos
19. Frageformen
19.1 Verflüssigungsfragen
19.2 Externalisierungsfragen
19.3 Kontextualisierungsfragen
19.4 hypothetische Fragen
19.5 Zukunftsfragen
19.6 Fragen nach Zielen
19.7 Wunder-Frage
19.8 Fragen nach Träumen, Visionen, Utopien
19.9 Verschlimmerungsfragen
19.10 Rückfallfragen
19.11 Ausnahmefragen
19.12 Skalafragen
19.13 Metapherfragen
19.14 Bewältigungsfragen / Ressourcenfrage
19.15 Klassifikationsfragen
19.16 Übereinstimmungsfragen
19.17 Subsystemvergleiche
20. Delegation
21. Triangulation
22. Grenzen
22.1 Systemgrenzen
23. Kausalitäten
23.1 lineare Kausalität
23.2 zirkuläre Kaulsalität
24. Joining
25. Kommunikationstheorie
26. Lösungsorientierte Kurzzeittherapie
27. Reflecting Team
28. Unterschiede zwischen psychodynamischem und strategisch-systemischen Ansatz
29. Geschichte der Psychotherapie
29.1 globale Entwicklung
29.2 Psychoanalyse
29.3 Individualpsychologie (Adler)
29.4 Analytische Psychologie (Jung)
29.5 Verhaltenstherapie
29.6 Humanistische Therapien
30. Geschichte der Systemischen oder Familientherapie und ihre „Schulen“
30.1 Das Jahrzehnt der Gründung der Familientherapiebewegung 1952-1961:
30.2 Die Palo Alto Gruppe und das Mental Research Institute (MRI)
30.3 Das Mailänder Modell, die Mailänder Schule (Systemische Familientherapie)
31. Erfahrungszentrierte Familientherapie (Kriz) oder Erlebnisorientierte Familientherapie (Schlippe)
32. Die Strukturelle Familientherapie
33. Psychoanalytisch orientierte Familientherapie
34. Familientherapie in Deutschland
34.1 Horst-Eberhard Richter: Rollentheorie
34.2 Helm Stierlin: Dynamische Familientherapie
35. Die strategisch-konstruktivistische Therapie (lösungsorientierte Kurzzeittherapie)
36. Die Entwicklung der Familientherapie/systemischen Therapie in den 80er und 90er Jahren
37. Familientherapie oder Systemische Therapie - Anerkennung als Verfahren
Literaturverzeichnis
1. Einleitende Bemerkungen
Der Reader soll dazu dienen, sich einen kurzen Überblick über die Grundlagen systemischer Therapie zu verschaffen. Er ist nicht als komplexe Darstellung der Therapie zu verstehen, sondern soll eher Anregungen geben, als Nachschlagewerk fungieren und den Horizont der täglichen Arbeit erweitern helfen. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, einige - und für so manchen nicht unwesentlichen Dinge - fehlen; also, macht Euch daran, ihn mit Euren eigenen Gedanken fortzuschreiben. Die Literaturhinweise beziehen sich auf die schon vorliegende Bibliographie und sind nur z.T. ergänzt worden. Viel Spaß!
2. System
Der Begriff konnte bisher nicht einheitlich definiert werden. Altgriechische Wurzel deutet auf zwei Aspekte hin, die Systeme kennzeichnen und theoretische Probleme bereiten. System ist ein komplexes Gebilde, das von anderem abgrenzbar ist. Wer Systeme erforscht, muß ihre Elemente und Relationen sowie ihre Grenzen bestimmen.
„“Systeme“ sind Einheiten, die ein Beobachter durch Unterscheidung als zusammengesetzt und abgegrenzt konstituiert. Ist einmal das System ... entstanden, kann es für alle weiteren Belange als selbstreferentiell betrachtet und wie folgt beschrieben werden: Die Systemgrenzen erweisen sich als Funktion, die das Gebilde zugleich von seiner Umwelt trennt und an diese bindet. System, Komponenten, Relationen und ihre Umwelt sind wechselseitig bedingt. Die Relationen der Komponenten konstituieren diese durch Selektion. Systemspezifische Merkmale entstehen gemeinsam mit den emergierenden Komponenten. Komponenten, Relationen und Grenze entstehen gleichzeitig und begründen die selbstreferentielle Organisation des Systems. Systeme verarbeiten...nur Eigenzustände; Veränderungen werden also nicht kausal von außen bewirkt, sondern folgen auf Prozesse in den Relationen zwischen den Komponenten.“[1] Da sich nach Maturana Systeme nur in Übereinstimmung mit ihrer Struktur verhalten können, kann von sog. „pathologischen“ Systemen nicht gesprochen werden.
„Systemtherapeuten begehen den ...Fehler, „System“ zu ontologisieren und mittels tautologischer Definitionen seine „Eigenschaften“ auf Familien zu übertragen. Aus einem theoretischen Modell wird zwanglos auf die Beschaffenheit der konkreten Familie geschlossen. Verbunden mit der Hochschätzung des „Systems“ ist die zwangsweise Unterordnung (Funktionalisierung) des zu Variablen im familiären Regelkreis degradierten Familien-Menschen. Die dem System zugeschriebenen Eigenschaften sind ziemlich beliebig, Das Homöostase-Konzept wurde nicht gerade zufällig in die Familientherapie eingeführt zu einer Zeit, als der Stabilität der Familie Priorität eingeräumt wurde. In jüngster Zeit ist freilich das Interesse der Familientherapeuten an den Veränderungen in Familien gewachsen, daher gilt das Homöostase-Konzept inzwischen als obsolet und wird von „Kohärenz“ und „Autopoiese“ infragegestellt bzw. abgelöst.“[2]
3. Rolle
Parsons unterscheidet zwischen instrumentalen und expressiven Rollen. Im Sozialisationsprozeß wirken die Eltern im Sinne eines psychoanalytischen Modells auf ihre Kinder ein; sie handeln als Angehörige einer Gesellschaft modellhaft und belohnen bzw. bestrafen ihre Kinder für das gesellschaftlich erwartete Verhalten. Entsprechend müssen die einzelnen Entwicklungsstufen durchlaufen werden.
Unterscheidung auch in formelle und informelle Rolle. Die informelle Rolle führt zu Rollenverschiebungen und zu Systemveränderungen. Wichtig wurde die Untersuchung der Veränderung. Zu betrachten waren Veränderungen innerhalb eines Systems und des Systems. Watzlawick (1967) u.a. entwickelten ihre Theorie der Veränderung 1. und 2. Ordnung aus den Arbeiten Batesons (1956) und Ericksons (1967). 1. Ordnung ist linear, 2. Ordnung zirkulär, d.h. aus einer Meta-Perspektive kann eine Sicht außerhalb des betreffenden Systems gewonnen werden. Aus dieser Sicht lassen sich auch Rollen neu erfahren und dauerhaft verändern. Aus einer dysfunktionalen Rollenverteilung entstehen Triangulation, Parentifikation, starre Triade, Koalition, Delegation usw.
4. Soziales System
Darunter wird eine sinnhaft identifizierte Ganzheit verstanden, die die Weltkomplexität selektiv reduziert, indem eine Innen/Außendifferenz geschaffen wird. Luhmann definiert die Grenzen des Systems als die Grenzen dessen, was in Sinnzusammenhängen relevant ist. Soziale Systeme können als sinnvoll abgrenzbare, geordnete Organisationen betrachtet werden.[3]
5. Autopoiese
Autopoietische Systeme lassen sich wie folgt verstehen:
1. die jeweils aktuelle Struktur bestimmt die Grenzen der Veränderbarkeit
2. sie dienen allein ihrer eigenen Reproduktion
3. das System ist auf sich selbst bezogen, es korrespondiert wesentlich nur mit sich selbst und kann nur bedingt Informationen von außen aufnehmen
„Autopoiese beschreibt eine biologische Einheit nicht als materielle Entität, die Stoffe und Energie mit ihrer Umgebung austauscht (was sie auch ist), sondern als ein Informationssystem, das operational abgeschlossen ist und rekursiv auf sich selbst zurückfällt[4]. Bezieht sich diese Theorie von ihrem Denkansatz auf biologische Systeme, so hat vor allem Varela sie auf lebende Systeme insgesamt übertragen. Dabei spielt die Frage der Autonomie eine entscheidende Rolle. „Lebende Systeme erzeugen, regulieren und erhalten sich selbst, sind also von außen nicht determinierbar“[5].
Dazu Varela: „Der Akt des Verstehens ist tatsächlich jenseits unseres Willens, weil die Autonomie der sozialen und biologischen Systeme, in denen wir sind, über unseren Schädel hinaus geht, weil unsere Evolution uns zu einem Teil eines sozialen und eines natürlichen Aggregats macht, die eine Autonomie haben, die mit unserer Autonomie als biologische Individuen kompatibel, aber nicht auf diese reduzierbar ist. Eben deshalb habe ich so sehr darauf bestanden, über die Gemeinschaft der Beobachter, anstatt über einen Beobachter zu reden; der Wissende ist nicht das biologische Individuum. Die Epistemologie der Partizipation sieht daher die Menschen in Kontinuität mit der natürliche Welt“[6].
6. Epistemologie
Erkenntnistheoretisches Wissenschaftsverständnis, das untersucht, auf welche Art und Weise und auf welcher Grundlage Organismen erkennen, denken und verhaltensbestimmte Entscheidungen treffen. Es wird in diesem Zusammenhang von „innerer Landkarte“ gesprochen. Die Entwicklung derartiger Strukturen ist als ein dialektischer Prozeß der Innen- und Außenanpassung zu verstehen. Im Kommunikationsprozeß mit der Umwelt entsteht für jede Person ein Modell der Welt. Therapeutisch muß die innere Landkarte erfaßt und verändert bzw. umgedeutet werden.
Bateson brachte eine kybernetische Epistemologie in die Forschung ein. Allerdings galt sein Interesse nicht in erster Linie der Familientherapie, sondern allgemein der Frage, in welcher Art und Weise sich Geist und Natur aufeinander beziehen.
7. Externalisierung
Der australische Familientherapeut Michael White hat diese Technik entwickelt. Die Sprache spielt dabei eine besondere Rolle. Mit ihr wird versucht, die Identität der Klienten und sein Problem differenziert zu betrachten. Da nach dem gängigen medizinischen Verständnis das Problem in der Person ist, wird hier das Problem externalisiert. Im Verständnis systemischer Problemdefinition wird dabei das Problem einseitig negativ bewertet, es muß beseitigt werden, da es hinderlich ist. Im Gegensatz zu der Annahme, daß Probleme eine Sinnstruktur haben und für die Selbstorganisation des Systems entsprechend eine Bedeutung besitzen, wird bei der Externalisierung dieser Aspekt ausgeschlossen.
8. positive Konnotation
Die positive Konnotation geht auf die sprachphilosophischen Überlegungen der Mailänder Schule zurück. In der Sprache liegt eine Linearität, die zu moralisierenden Bewertungsmustern führt. Der Therapeut oder auch andere Personen aus dem Beziehungskontext setzen das Symptom in eine lineare Beziehung zu anderen Personen - oder Dingen - und interpretieren es psychopathologisch (die Tochter verhält sich so, weil der Vater so oder so ist). Indiz für ein lineares Verhalten des Therapeuten ist das Aufkommen von Ärger oder Empörung gegenüber einem Mitglied der Familie.
Durch die positive Konnotation wird der systemische Zusammenhang konsequent verfolgt und jedes Verhalten als konstruktiv gedeutet.
9. Kybernetik
Zu unterscheiden sind Kybernetik 1. und Kybernetik 2. Ordnung.
9.1 Kybernetik 1. Ordnung:
Grundsätzlich ist Kybernetik als die wissenschaftliche Untersuchung der Regelung und Steuerung von Verhalten in Systemen unterschiedlichster materieller Beschaffenheit. Steuerung, Regelung, Informationsverarbeitung und -austausch folgen bei lebenden Systemen, sozialen Gebilden und Maschinen dem gleichen Prinzip.
Man nahm an, daß es möglich sei, das beobachtete System vom beobachtenden System zu trennen. Die Kybernetik ging von Kontrollmechanismen aus (Wiener 1963) und war auf das Konzept der negativen Rückmeldung auf Prozesse der Abweichung und Gegenwirkung konzentriert. Man behauptete, daß Systeme ihre Stabilität aufrechterhielten, wenn Abweichungen durch rückwirkende Mechanismen (Homöostase oder Morphostase) kompensiert würden.
Die ersten Untersuchungen zur Kybernetik gehen Ende der 40er Jahre auf Mathematiker zurück. Komplexe Systeme werden gesteuert und reguliert. Der Begriff und damit auch die Forschung fanden nicht nur Anwendung in der Biologie, sondern auch in der Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaften.
Die Kybernetik 1. Ordnung versteht sich als ein allopoietisches System, d.h. es ist von außen programmiert und kann auch von außen kontrolliert werden. Der frühen Kybernetik bzw. Systemtheorie liegt so gesehen primär die Vorstellung von Macht und Kontrolle über das Subjekt oder das Zusammenspiel der Subjekte zugrunde. Weitere wichtige Themen sind die Einhaltung von Regeln und Grenzen. Es wird angenommen, daß alle Prozesse einer bestimmten Steuerung unterliegen. Wird diese erkannt, so kann das System entsprechend beeinflußt bzw. unter Kontrolle gebracht werden. In diesem Denkmodell existiert die Vorstellung, daß es ein Abbild einer realen Wahrheit gibt, die durch entsprechende Analyse von außen zu erfassen ist, sofern an den geeigneten Stellen interveniert wird.
Die ersten familientherapeutisch orientierten Forscher begründeten ihre theoretischen Annahmen mit der Wiederherstellung einer Funktionalität des Familiensystems, das von außen - durch die TherapeutInnen dirigiert - beeinflußt wird. So ist die strukturelle Familientherapie durch Minuchin und die strategische Familientherapie durch Haley und Selvini Palazzoli stark durch die Intervention der TherapeutIn gekennzeichnet.
Zu Beginn der 70er Jahre vollziehen sich erste theoretische Veränderungen. Von Foerster (sein Onkel war übrigens der Philosoph Wittgenstein) und dann auch von Glasersfeld wie Bateson verstehen die Kybernetik auf eine andere Weise. Die Ergebnisse sowohl der Forschung wie auch der praktischen Anwendungen der Kybernetik ließen viele Fragen offen. Die Annahme der therapeutischen Wahrheit und Allmacht hatte zu einem Diskurs des normativen Bildes von Objektivität geführt. Wie konnte sich der Therapeut sicher sein, daß er alle systemimmanten Möglichkeiten und Wege erforscht und die Lösung des Problems erkannt hatte? Diese Annahme von Totalität ließ Therapeut und Klient einander unversöhnlich gegenüberstehen.
In den 50er Jahren wurde erstmals das homöostatische Konzept auf die Familie bezogen. Von Schlippe und Schweitzer unterscheiden in 2 Kategorien, in negatives und positives Feedback. Negatives Feedback reguliert das System insoweit, daß es den alten Zustand wiederherstellt; positives läuft auf eine Eskalation hinaus, das ursprüngliche Gleichgewicht wird nicht zurückgewonnen, sondern es wird eine neue Stufe erreicht, die als unzufriedenstellend erlebt wird, so daß es zu einer weitere Veränderung kommt, die dann wiederum verändert werden muß, da sie nicht dem alten Gleichgewicht entspricht etc.
Grundsätzlich besteht in dieser Theorie die Annahme eines Idealzustands. Der Homöostase liegt eine Stabilität zugrunde, die als Norm verstanden werden muß. Jede Abweichung muß daher mit einer Gegenbewegung ausgeglichen werden, die wieder zur Norm zurückführt. Daraus ergeben sich 2 Hauptprobleme:
1. die TherapeutIn entwickelt ein normatives Familienideal von außen
2. dem Familiensystem werden keine eigendynamischen, kreativen Prozesse zugestanden.
Definitorische und methodische Unzulänglichkeiten haben das homöostatische Konzept für alle wissenschaftlichen Disziplinen unbrauchbar gemacht. Es wurde sukzessive durch die Hypothese sich selbstorganisierender Systeme ersetzt. Die Entwicklung solcher autopoietischer Systeme geht wesentlich auf die chilenischen. Biologen Maturana und Varela zurück, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre grundlegende Aufsätze zur Autopoiese veröffentlichten.
9.2 Kybernetik 2. Ordnung
Bateson und Varela entwickelten in den 70er Jahren erstmals Vorstellungen einer Kybernetik 2. Ordnung. Es lassen sich mit dem philosophischen Modell der Kybernetik 2. Ordnung nicht ohne weiteres praktische Handlungsmethoden aufzeigen, da die Beziehung von TherapeutIn und KlientIn nicht mehr in den festen Bahnen verläuft, sondern Planung und Steuerung des Systems weitgehend aufgegeben werden. „Eine Möglichkeit, aus dieser Schwierigkeit herauszukommen, liegt darin, über Therapie in Begriffen eines konversationellen Bereichs zu sprechen. In diesem Fall würde man sich nicht länger auf den Klienten als Einheit konzentrieren, sondern die ganze Gruppe, Familie plus berufliche Helfer, als ein kleines, evolierendes Bedeutungssystem auffassen“[7].
Kybernetik 2. Ordnung ließ sich besser auf lebende Systeme anwenden, weil es darauf fokussiert war, in welcher Weise lebende Systeme ihre Organisation über einen Prozeß der Abweichung und Verstärkung hinweg und folglich mit Hilfe positiver Rückmeldung oder Vorwärtskopplung (Mophogenese) modifizieren.
Von Foerster hat diese Theorie hauptsächlich weiterentwickelt. Der Schwerpunkt wechselt von der Ätiologie des Problems zu den Bedeutungen, die dem Problem zugeschrieben werden. Von Foerster behauptet, daß wir die Außenwelt nicht entdecken, sondern sie erfinden. Erkenntnis und Wissen reflektieren tatsächlich nur die Koppelung zwischen Organismus und Umgebung, die seine Lebensfähigkeit sichert. Aus diesem Grunde ist es nicht wichtig, daß unsere Konstrukte mit den Gegebenheiten der Umgebung übereinstimmen, denn es reicht für das (Über)Leben, daß sie passen.
10. sozialer (radikaler) Konstruktivismus
Konstruktivismus ist die Bezeichnung für eine Vielfalt von ähnlichen Ansätzen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie menschliche Erfahrung zustande kommt, wie eigentlich das entsteht, was wir gewohnt sind als Realität zu bezeichnen. In dieser Theorie, und noch deutlicher in der (dem Konstruktivismus verwandten) Theorie des "Sozialen Konstruktionismus" wird viel Gewicht darauf gelegt, daß Realität nicht das ist, was sie uns zu sein scheint, sondern eine soziale Konstruktion sozialer Akteure. Wenn das korrekt ist, dann gibt es keine Basis, auf der der Therapeut das Recht hätte, der Familie zu sagen, wie sie sein sollte: denn er erlebt das als "wirklich", was er in seinem sozialen Bezugssystem als wirklich zu sehen gelernt hat, die Familie kommt von einem anderen Bezugsrahmen her, doch eine Entscheidung über "besser" oder "schlechter" kann wiederum nur eine neue soziale Übereinkunft sein. Die Art wie ein soziales System seine Realität konstruiert, kann zwar hinterfragt werden, kann vielleicht auch verstört werden, aber sie kann nicht zielgerichtet in eine Richtung verändert werden, die ihrerseits nur wieder eine andere Art sozialer Konstruktion ist (als ein Beispiel für die zahlreichen Bücher über diese Debatte empfehlen wir hier den Sammelband von Watzlawick und Krieg 1991).
Diese Diskussion führte zu einer veränderten Sichtweise davon, was Systeme "sind". Systeme wurden nicht mehr gesehen als objektiv existierend, sondern ihrerseits selbst als eine Art von Konstruktion, von Beschreibung: Ein System ist nicht ein Etwas, das sich einem Beobachter präsentiert, es ist ein Etwas, das von ihm erkannt wird (Maturana). Nun rückt damit die Sprache in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Rolle der Sprache für die Konstruktion sozialer Wirklichkeiten, "Multiversen" (anstelle eines Universums) wurde fokussiert. Und man sprach über die Frage, wie bestimmte Sprachspiele in einer Weise herausgefordert werden könnten, ohne daß man seinerseits gewaltsam ein System zwingen würde, ein anderes Sprachspiel zu übernehmen (Boscolo et al. 1993). Therapie wurde weniger als eine Möglichkeit gesehen, Menschen zu verändern, sondern vielmehr als ein Rahmen, der es ermöglicht einen Kontext zu schaffen, in dem Veränderung auftreten kann.
Besonders sind hier zu nennen Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin, zwei Mitglieder des Teams von Selvini Palazzoli, die nach der Trennung der Mailänder Gruppe Anfang der 80er Jahre ihre Konzepte veränderten. Beide hatten begonnen, verstärkt in die Ausbildung zu gehen (anders als Selvini Palazzoli, die sich Forschungsfragen widmete). Sie bemerkten in der Auseinandersetzung mit ihren Schülern, daß an privilegierten Instituten entwickelte Modelle nicht ohne weiteres auf jeden beliebigen Kontext übertragbar waren. Dieses, so sagen sie, half ihnen, die invasiven und interventionistischen Teile ihres Modells mehr und mehr loszulassen. Konsequent machten sie Schritte in Richtung auf ein Modell der hilfreichen und sinnvollen Konversationen. Die meisten der jetzt folgenden Modelle bauen auf diesen Gedanken auf (Boscolo et al. 1988).
Leitsätze nach L. Hoffman:
- es gibt keinen Glauben an eine objektive Wahrheit
- es gibt eine Verlagerung vom Verhalten zu Ideen
- das Problem erschafft ein System
(wenn Therapie erfolgreich ist, endet die Konversation als eine, in der kein Problem diskutiert wird. Therapie ist in diesem Sinne ein Narrativ oder ein Text)
- es gibt nicht so etwas wie eine absolute Macht
- der Therapeut ergreift Partei für jeden
(im Gegensatz zu der Mailänder Schule, in welcher der Therapeut neutral ist - für keinen Partei ergreift - soll er hier für jeden Partei ergreifen, um zu versuchen, die Bedeutung sogar hinter den widersprüchlichsten Handlungen oder Ereignissen zu finden).
- es besteht eine relative Abwesenheit der Hierarchie
- Macht und Kontrolle werden viel weniger betont
(es muß nicht mehr - wie bei den frühen Mailändern - mit der Familie um Macht gerungen werden. Wenn eine Familie zum Beispiel eine Sitzung absagt oder nur einige Mitglieder kommen, so wird dies nicht länger als ein Manöver verstanden, dem entgegengewirkt werden muß, sondern es gilt zu versuchen, die Logik, die hinter dieser Handlung steht, zu verstehen.
- das Konzept der Position
- die Tendenz, Intentionalität zu verhindern
(Veränderungen geschehen mit der Familie)
11. sozialer Konstruktionismus
Ken Gergen gilt als der Hauptvertreter des sozialen Konstruktionismus. Im Vordergrund des Modells steht der Mensch als soziale Konstruktion, dessen Handeln in einer komplizierten Weise mit den gesellschaftlichen Prozessen verwoben ist. Ähnlich wie der Konstruktivismus geht der Konstruktionismus von der prinzipiellen Unerfaßbarkeit einer objektiven Realität aus. Im Gegensatz zum Konstruktivismus, der das Individuum mit seinen Fähigkeiten, sich ein Bild der Welt zu konstruieren, in den Mittelpunkt stellt, betont der Konstruktionismus die Koordination der Personen untereinander. Menschliche Realität wird in Prozessen menschlicher Kommunikation in einem jeweils spezifischen historischen Kontext gesellschaftlich konstruiert.
Der Sprache kommt eine besondere Bedeutung zu. Bilder, Ideen, Erinnerungen entstehen durch den sozialen Austausch und werden durch Sprache vermittelt. Der Konstruktionismus bildet die Grundlage des narrativen Ansatzes in der systemischen Therapie.
Da ein Problem aus verschiedenen Perspektiven beschrieben und unterschiedlich betrachtet werden kann und daraus resultierend verschiedene Perspektiven eingenommen werden können, verliert das Problem an Bedeutung und das Interesse verlagert sich auf die Art und Weise, wie soziale Gruppen das Problem benennen, beschreiben und kategorisieren.
Der Konstruktivismus tendiert dazu, das Nervensystem als eine Art in sich geschlossener Maschine zu betrachten. Dieser Sichtweise zufolge gewinnen Konstrukte und Wahrnehmungen ihre Form durch das Anstoßen des Organismus an seine Umwelt. Demgegenüber sehen die Theoretiker der sozialen Konstruktionen (des sozialen Konstruktionismus) Ideen, Bilder und Erinnerungen als etwas, das durch sozialen Austausch hervorgebracht und durch Sprache vermittelt wird. Während also der Konstruktivismus den Beobachter und seine geistigen Konstrukte betont, lebt der soziale Konstruktionismus vom Konzept der Beziehungen. Dabei sind Beziehungen nicht mehr Ausdruck von Verhaltensstrukturen oder -mustern, sondern sie sind Sprach- und Bedeutungssysteme.
Einige Therapeuten fragten, ob die Systemtheorie überhaupt nötig und angemessen sei, um menschliche, vor allem soziale Systeme, zu verstehen und zu modellieren. So begannen einige Therapeuten eher auf die Art und Weise der Erzählungen ("Narrationen") zu achten, die soziale Systeme konstituieren. Nicht nur die Sprache allein, sondern die Bedeutungsmuster, die durch diese Sprache vermittelt würden - und dies sind in sozialen Systemen eben Geschichten - bauen Realitäten in Systemen auf. Wirklichkeit besteht aus nichts anderem als Geschichten. Wenn man diesen Vorstellungen folgt, dann kann man fragen, von welcher Art die Geschichten sind, die jemand sich und seiner Umgebung über sich selbst erzählt. Oder es kann, z.B. mit dem australischen Therapeuten Michael White (1989), gefragt werden: Welchen Geschichten erlaubst Du Dein Leben zu regieren? Willst Du, daß diese Geschichten Dein Leben regieren? Und wenn nicht: Wie kann man diese Geschichtensysteme "dekonstruieren", indem man alternatives Wissen findet, z.B. durch die Suche nach Ausnahmen: Wann hast Du Dich zum letzten Mal erfolgreich geweigert, der Geschichte zu glauben, daß Du immer der Verlierer bist? Wie hast Du das gemacht, diese Geschichte zurückzuweisen? Was war die Einladung und wie hast Du "nein" dazu gesagt? Und wer von all den Menschen, die Dich als Kind gekannt haben, würde am wenigsten erstaunt sein zu hören, daß Du das geschafft hast? Dieses Vorgehen führt direkt zu den Ressourcen einer Person und konzentriert sich überhaupt nicht auf Defizite.
Anderson und Goolishian entwarfen Interviewfrageformen:
1. der Therapeut hält seine Fragen im Rahmen des Problems, wie es von den Klienten beschrieben wird, und weitet den Raum für das augenblickliche Verständnis langsam aus
2. der Therapeut geht gleichzeitig auf viele und widersprüchliche Ideen mit dem gleichen Respekt ein und schafft so Gelegenheit, über bekannte Ideen hinaus zu breiteren Deutungen zu kommen
3. der Therapeut bemüht sich um eine kooperative Sprache, mit der das Gesagte respektiert und nicht beurteilt wird
4. der Therapeut lernt, versteht und redet die Sprache des Klienten
5. der Therapeut ist ein respektvoller Zuhörer, der nicht zu schnell - falls überhaupt - begreift. Zu schnelles Verstehen birgt die Gefahr, die Entwicklung neuer Bedeutungen abzublocken und die Entfaltung eines Dialogs zu verhindern
6. der Therapeut stellt Fragen, deren Beantwortung Anlaß zu neuen Fragen gibt. Fragen werden nicht als Intervention, als Suche nach vorgewählten Antworten oder Mittel zur Überprüfung von Hypothesen gesehen, sondern als Werkzeug zur Ausrichtung des Gesprächs auf ein neues Verständnis
7. der Therapeut übernimmt die Verantwortung für die Schaffung von Gesprächsbedingungen, die der gegenseitigen Zusammenarbeit im Prozeß der Problemdefinition förderlich sind. Er versucht nicht, das Problem zu definieren, sondern erleichtert das Herausnehmen der vielfältigen Realitäten hinsichtlich des Problems
8. der Therapeut hält das dialogische Gespräch mit sich selbst aufrecht und ist bereit, auch seine Ideen zu verhandeln und zu verändern
Für die Autoren des sozialen Konstruktionismus war die konstruktivistische Revolution nicht ausreichen revolutionär, weil die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt nicht aufgehoben wurde. Das poststrukturalistische Denken versteht die Welt, den sozialen Kontext als Sprache, geschaffen durch Wörter. So gesehen ist auch von Glasersfelds radikaler Konstruktivismus nicht radikal genug.
12. Postmoderne Theorien
Aus dieser - primär französischen Philosophieschule - stammen vor allem sprachphilosophische Ideen. Als Vertreter dieser Richtung sind Foucault und Derrida zu nennen. Die Postmoderne versteht sich weniger als eine neue Wissenschaft als vielmehr als eine Epoche, welche nicht mehr den großen theoretischen Erkenntnissen nachforscht. Sie stellt verschiedene Entwürfe nebeneinander und arbeitet mit ihnen. Für die systemische Theorie bedeutet dieses Verständnis, daß nicht allein ein Denkmodell als richtig betrachtet werden kann, sondern die Wirklichkeit sich immer sehr facettenreich präsentiert, da sie aus vielen verschiedenen Perspektiven zu sehen ist. Es ist schwer, die Postmoderne als Theoriemodell zu beschreiben, da sie sich durch ihre Vieldeutigkeit gerade nicht exakt festlegen läßt. Dies zeigt sich auch anhand von Derridas Dekonstruktion. Es bleibt offen, was er unter diesem Begriff verstanden haben will; nur soviel läßt sich vermuten, Dekonstruktion bedeutet die Einnahme einer kritischen Distanz zu jeglicher Fixierung auf eine Beschreibung. „Dekonstruktion erlaubt, darüber nachzudenken, welche Geschichte sich hinter einer dominierenden Erzählung verbirgt.“[8]
13. paradoxe Intervention
Kommunikationstheoretische Strategie, um einen Klienten, der sich den therapeutischen Änderungsaktivitäten widersetzt, mit „kontradiktorischen Handlungsanweisungen“[9] zur Aufgabe seines Symptoms zu zwingen. „Er kann Widerstand gegen die Therapie nur leisten, wenn er sein Symptom aufgibt und kann das Symptom nur behalten, wenn er den Widerstand aufgibt.“[10] Selbst wenn er das Symptomverhalten weiterhin zeigt, ist es kein spontanes Verhalten mehr, sondern ein vom Therapeuten verschriebenes, also mehr oder weniger bewußt. Die Bestandteile paradoxer Intervention werden von Fisher, Anderson und Jones wie folgt zusammengestellt:
„Symptomdefinition, indem dem Verhalten eine andere Bedeutung gegeben wird;
Symptomeskalation, indem die Auftretenshäufigkeit erhöht oder eine Krise herbeigeführt wird;
Umlenkung, indem ein Aspekt des Symptoms geändert wird.
Ebenso wurde deutlich, daß
Einsicht nicht erforderlich war, obwohl sie sich oft als spontane Folge der Intervention einstellte;
im Bestreben, den Widerstand der Familie nicht herauszufordern, die Symptombeseitigung nicht als primäres Ziel angegangen worden war;
das Verhalten des Therapeuten oft unerwartet war und nicht in die bestehende, kognitive oder emotionale Struktur des Patienten paßte.“[11]
Die paradoxe Intervention wird immer wieder kritisiert. (Symptomexorzismus, Taschenspielertricks). Sie werde oft in unangemessener Weise als Ersatz für wirksames Verstehen der Familiendynamik oder als vorschnelle Scheinlösung komplexer therapeutischer Probleme eingesetzt.[12] Sie seien das größte Risiko für Abbruch der Therapie.
Achim Kowalczyk hat dazu folgende Liste aufgestellt:
- Umdeuten (Refraiming)
- Umetikettieren (Veränderung des Etikett einer Person ohne Veränderung des Bezugsrahmens)
- Verschreibung (häufig: Symptomverschreibung. ritualisierte Verschreibung [Symptom an bestimmten Tagen, zu bestimmten Zeiten oder an Orten zeigen], Vortäuschen eines Symptoms etc.)
- Fixierung (mit dem Ziel, einen Wandel zu „verhindern“. Durch Widerstand soll das Problem verändert werden)
- negative Folgen (Warnung vor den negativen Folgen bei einem Verschwinden des Symptoms)
- Wandel verzögern oder untersagen
- Eingeständnis der Hoffnungslosigkeit (konsequent skeptischen Klienten die Unmöglichkeit eines Wandels eröffnen)
- Vorhersage bzw. Verschreibung eines Rückfalls
- indirekte und rätselhafte Paradoxien (bei therapieerfahrenen und intellektualisierenden Klienten anwenden, um sie eine Lösung finden zu lassen)
14. Kohärenz
Kohärenz wurde von Dell (1982) eingeführt. Der Begriff erlaubt es, das System ohne Rückgriff auf Kausalität oder Finalität zu beschreiben. „Kohärenz ist die kongruente, zusammenpassende Funktionsinterdependenz aller Aspekte eines Systems. Sie bezeichnet die Organisationsweise des Systems. Kohärenz ist insofern ein prinzipiell systemischer Begriff, weil er die Darstellung von Veränderung und Stabilität umgreifend, ganzheitlich ermöglicht, im Gegensatz etwa zum Homöostasebegriff...oder zum Dualismuspostulat zweier Systemkräfte...Denn wenn alles Verhalten der Kohärenz des Systems entspringt und zugleich darauf zurückwirkt, so ist jedes Verhalten eine irreversible Veränderung des Systems. „Ein System kann sich nicht verhalten, ohne sich zu verändern“ (Dell).Und da ein menschliches System in seiner lebendigen Kohärenz sich zu verhalten nicht aufhören kann, so ist das System in unaufhörlicher Evolution begriffen.
Aus dieser evolutiven Sicht ist die Feststellung konstanter bzw. variierender Zustände eines Systems eine vom Beobachter infolge seiner Beurteilungskriterien und seiner Beobachtungsebene dem System zugeführte Unterscheidung. Homöostatischer Stillstand bzw. Transformationen des Systems sind keine Eigenschaften desselben, sondern eine Beurteilungsleistung des Beobachters. ... Für die Belange der Therapie folgt... . daß es allenfalls möglich ist, die Kohärenz eines Systems von innen heraus zu verstören. Konsequenz für den Therapeuten ist, daß er, um den therapeutischen Prozeß günstig zu beeinflussen, allein sein Verhalten optimieren und die Rahmenbedingungen der Therapie bestimmen kann, jedoch die Familie nicht gezielt zu verändern vermag.“[13]
15. Refraiming
Die Umdeutung, die Personen zu einer Reflexion des sozialen Sinns ihrer Kommunikation bewegen sollen. Wird dem Sinn ein anderer Rahmen (frame) gegeben, so kann die Bedeutung einer Kommunikation anders verstanden werden. Durch die positive Symptombewertung lassen sich die familiären Beziehungen neu definieren. „So kann z.B. in einem einfachen Fall das negativ herausfordernde Verhalten eines Kindes als Demonstration seiner Launen gesehen werden, in einem bestimmten familiären Rahmen kann ein solches Verhalten jedoch den Zweck haben, die auseinanderdriftenden Eltern zusammenzuhalten.“[14] Die wichtigste Funktion ist die Verstörung. Umdeutung beinhaltet so „die Verstörung der kausalen Erklärungsmodi der Familienmitglieder über ihr Verhalten“[15]
Dem Refraiming liegen folgende Prämissen des systemischen Modells zugrunde:
- jedes Verhalten macht Sinn, wenn man den Kontext kennt
- es gibt keine vom Kontext losgelösten Eigenschaften einer Person
- jedes Verhalten hat eine sinnvolle Bedeutung für die Köhärenz des Gesamtsystems
- es gibt nur Fähigkeiten. Probleme entstehen aus der Disharmonie von Kontext und Fähigkeiten.
- jedes scheinbare Manko in einem Teil des Systems zeigt sich an anderer Stelle als möglicher Vorteil
16. Homöostase
Jackson, ein Mitglied der Bateson-Gruppe, führte in seiner Arbeit „The Question of Homeostasis“ (1957) den Begriff in den psychotherapeutischen Bereich ein. Homöostase ist eine Metapher oder ein Modell, um die Funktionsweise eines Systems zu beschreiben. Homöostase ist nichts Konkretes, sondern ein Konzept über eine Art von Verhalten. Es ist eine Beschreibung, eine Fiktion mit Erklärungswert. Das Konzept Homöostase ist der Versuch, mit der erkennbaren Stabilität eines Systems klarzukommen. Wiederum wird diese Stabilität als Ergebnis eines Prozesses der Selbstregulierung beschrieben. Das Problem liegt darin, daß Selbst-Regulierung eine epistemologisch schwache Annahme ist.
„Nachdem Jackson 1957 dieses Denkmodell in die Familientherapie eingeführt hat, hat sich seine Nützlichkeit zur Erhaltung der Familienstabilität in der familientherapeutischen Praxis hinlänglich bewährt. Wenn Stabilität eine Systemeigenschaft ist, so folgert der Familientherapeut, dann muß alles getan werden, um die Stabilität des Familiensystems zu erhalten. Es stört ihn dabei wenig, daß sich das Homöostase-Konzept theoretisch nicht gut mit dem Modell des offenen Systems verträgt, das gleichermaßen auf Familien übertragen wird...Gilt die systemische Eigenart, das ganze Universum zu hierarchisieren ... modernen Systemtheoretikern als kritikabel ..., so bleibt der harte Kern systemischer Hierarchisierung unverändert: “Alle Humansysteme weisen eine hierarchische Strukturierung auf. Entscheidungen, Autorität, Kompetenz, Rechte und Pflichten sind unterschiedlich verteilt“[16] Systemtherapie sorgt in ihrem Zuständigkeitsbereich, den sie ständig erweitert, dafür, daß es so bleibt; denn Veränderungen können in ihrem Verständnis nur mit dem Einverständnis der Hierarchie geschehen...“[17]
17. Synergetik
Synergetik geht zurück aus den dt. Physiker Haken. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Entstehung von Ordnung und die Frage nach allgemeingültigen Prinzipien der Selbstorganisation. Untersucht wird das Zusammenspiel von einzelnen Teilen in einem Feld und wie daraus deren Verhalten selbstorganisiert wird, so daß sich eine Ordnung für das gesamte System ergibt. Haken spricht von Ordnern, die bestimmte Strukturen erzeugen. Dabei „versklaven“ langlebige, langsam veränderliche Größen kurzlebige, schnell veränderliche Größen. Ein wichtiger Ordner ist die Sprache, die als langlebige Größe andere Größen unterordnet.
18. Mythos
Familienmythen sind Geschichten, die Familien sich über sich selbst als Ganzes, über Untergruppen oder einzelne Mitglieder erzählen. Sie sind mehrfach determiniert, erfüllen Abwehrfunktionen (nach innen), Schutzfunktionen (nach außen) und sollen gleichzeitig die Integrität der Gruppe sichern, da sie den einzelnen Mitgliedern das Gefühl geben, in den Zusammenhang des „Clans“ und seiner Mitglieder eingebettet zu sein.
Über Mythen werden Selbstbilder, Normen, Ideale und Werte der Familie transportiert. Sie regulieren das Selbstgefühl und das Selbstwertgefühl.
Stierlin (1973) unterscheidet drei Formen:
1. Harmoniemythen (die Wahrnehmung von internen Konflikten wird abgewehrt und den Einflüssen der Außenwelt zugeschrieben)
2. Entschuldigungs- und Wiedergutmachungsmythen (Verdienst- oder Schuldkonten werden eröffnet bzw. verfälscht, meist wird ein Sündenbock verantwortlich gemacht)
3. Rettungsmythen (Familienmitgliedern wird die Rolle des Retters zugeschrieben)
Daneben „nennen Boszormenyi-Nagy und Spark noch:
den Adoptionsmythos: An seine Schwiegereltern stellt ein Partner kindliche Ansprüche, als ob er um die Teilhabe an diesen „neuen“ Eltern mit seinem Partner rivalisiert. Dies dient u.U. der Abwehr von unaufgearbeiteten Konflikten mit den eigenen Eltern.
den Mythos von der hoffnungslosen Unerreichbarkeit der Ursprungsfamilie; er basiert auf einer durch „negative Loyalität“ gekennzeichneten Bindung der Eltern an ihre Eltern („Meine Eltern waren und sind nie für mich da“).
den Mythos, daß die eigene Kernfamilie isoliert und gänzlich unabhängig sei
19. Frageformen
Ausgehend von der Entwicklung systemischen Fragens durch die Mailänder Schule wurden verschiedene Fragetechniken entwickelt. Fragen bedeuten grundsätzlich Informationsgewinnung und Informationsaussage. Fragen haben somit auch eine Aussagekraft, welche die bisherige Sichtweise verstören kann. Durch Fragen werden Botschaften vermittelt.
Das zirkuläre Fragen dient der Suche nach neuen Verhaltensmöglichkeiten. Diese Informationssammlung fragt nach (Beziehungs-)Mustern, nicht nach Dingen. Es werden sowohl Informationen gesammelt, als auch sichtbar gemacht. Zirkuläre Fragen erlauben das Einnehmen einer Außenperspektive auf das eigene soziale System. Das Verändern durch Fragen führt zu einer dekonstruierenden Auflösung des Problems.
Dieser Technik liegt eine Sichtweise zugrunde, nach der alles gezeigte Verhalten in einem sozialen System immer (auch) als kommunikatives Angebot verstanden werden kann: Bestimmte Verhaltensweisen, Symptome, aber auch die unterschiedlichen Formen von Gefühlsausdruck können zum einen als im Menschen ablaufende Ereignisse angesehen werden, darüber hinaus haben sie jedoch immer auch kommunikative Funktion und Bedeutung.
Die Klienten werden zu Experten der Problemlösung gemacht, da sie die Antworten selbst liefern. Goolishan betont, daß Klienten sich nach einer Sitzung eher an die eigenen Worte als an die des Therapeuten erinnern.
Tomm, der die Fragen der Mailänder zu einen intervenierenden Interview weiterentwickelt hat, unterscheidet in 4 Techniken:
1. lineale Fragen (problemklärende, problemdefinierende Fragen. Wirkung: investigatorische Absicht: Frageform führt zur Problemerhaltung bei der Familie; Therapeut gibt eine Wertung ab)
2. zirkuläre Fragen (Fragen zur Auswirkung von Verhalten; Fragen nach Unterschieden. Wirkung: exploratorische Absicht: akzeptierende Wirkung beim Therapeuten, befreiende Wirkung bei der Familie)
3. strategische Fragen (richtungsgebende, konfrontative Fragen. Wirkung: korrigierende Absicht: einschränkende Wirkung bei der Familie, oppositionelle Wirkung beim Therapeuten)
4. reflexive Fragen (hypothetische Fragen zur Zukunft, Fragen zur Beobachterperspektive. Wirkung: kreative Wirkung beim Therapeuten, produktive Wirkung bei der Familie)
Nach Kowalczyk[18] lassen sich folgende Fragearten unterscheiden:
19.1 Verflüssigungsfragen
Entwickelt von der Heidelberger Schule um Stierlin und Simon, soll der Eigenschaftsbegriff, der unveränderliche und dauerhafte Merkmale einer Person suggeriert, in Verhaltensbegriffe zurückübersetzt werden, um sie dann verflüssigen zu können.
Wann hat sich Ihre Tochter entschlossen, es sich nicht mehr gut gehen zu lassen?
Als Sie die Auseinandersetzung mit Ihren Eltern hatten, nahmen Sie sich das Magengeschwür. Würden Sie beim nächsten Ärger wieder das Magengeschwür wählen oder etwas anderes?
19.2 Externalisierungsfragen
Das Problem wird absichtlich erhärtet und zu einem Objekt verdinglicht, mit dem der Klient in Beziehung treten und interagieren kann. Die Störung wird nach außen als etwas Drittes verlagert und nicht mehr ganz zum Klienten zugehörig beschrieben. In der Externalisierung geht es hauptsächlich darum, problematische Attribute, Ideen, Annahmen, Glaubenssätze, Gewohnheiten, Haltungen und Lebensstile systematisch von der vorherrschenden Identität des Patienten zu trennen.
Können Sie sich vorstellen, mal zu verreisen und Ihre Psychose nicht mitzunehmen?
Hat das Magengeschwür bei Ihnen eine Vollzeit- oder eine Teilzeitstelle? Geben Sie ihm auch mal Urlaub, können Sie ihm kündigen oder ist es unkündbar?
19.3 Kontextualisierungsfragen
Symptomatisches Verhalten wird als Teil eines Interaktionskontextes verdeutlicht. Dadurch soll das Verhalten von anderen Personen im Beziehungsgefüge beleuchtet werden.
Was tut der Vater, wenn der Sohn morgens im Bett bleibt, statt zur Schule zu gehen?
Wie verhält sich Ihre Frau, wenn Sie Beschwerden haben?
19.4 hypothetische Fragen
Hypothetische Fragen eignen sich zur Thematisierung nicht gegenwärtiger oder auch nicht möglicher Fragen bzw. Ereignisse. Durch die „existentiellen Fragen“ (Boscolo 1988) werden Tabuthemen und verdeckte Phantasien in den Mittelpunkt gestellt.
Wenn Sie sich vorstellen, Sie wären als Junge und nicht als Mädchen geboren, was glauben Sie, wie wäre Ihre Beziehung zu Ihren Vater verlaufen?
19.5 Zukunftsfragen
Der Klient soll die Wirklichkeit interaktionell konstruieren lernen. Es wird dabei mit der Variablen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung gearbeitet. Die günstige Verknüpfung zwischen der hypothetischen Frage und der Zukunft liegt darin, daß die Zukunft nie exakt feststeht, es lassen sich somit immer neue Möglichkeiten konstruieren.
Wie wird Ihr Leben wohl in drei Jahren aussehen, wenn sich nichts ändert? Falls sich doch etwas ändert, was könnte das sein?
19.6 Fragen nach Zielen
Ziele sollten in der Therapie klar und konkret formuliert werden. Der Klient soll dadurch Ideen entwickeln, die er sich selbst steckt.
Was wollen Sie mit Hilfe unsere Gespräche erreichen? Wenn am Ende unsere Gespräche erfolgreich sind, wie würden Sie sich dann verhalten? Was müßten Sie tun, um diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen?
19.7 Wunder-Frage
Die Wunder-Frage wurde von De Shazer entwickelt. Sie operiert mit dem spielerischen und schöpferischen Denken des Klienten, der sich das Eintreten einer plötzlich veränderten Lebenssituation ohne eigenes Zutun vorstellen soll. Wunder-Fragen sind auch Ziel-Fragen
Angenommen, das Problem würde in einer der nächsten Nächte durch ein Wunder gelöst, woran merken Sie am nächsten Morgen, daß eine Wunder geschehen ist? Was würden Sie dann anderes tun? Woran würde Ihr Partner etc. es merken?
19.8 Fragen nach Träumen, Visionen, Utopien
Es geht primär um das Wiederentdecken verdeckter und verschütteter Lebensbereiche. Es ist gerade bei Personen mit rigiden Wirklichkeitskonstruktionen anzuwenden.
Welches Leben würden Sie leben, wenn es Ihnen gelänge, die Welt Ihren Wünschen anzupassen?
19.9 Verschlimmerungsfragen
Dadurch wird die Sicht des Klienten darauf gerichtet, daß er nicht nur Opfer der Probleme ist, sondern auch aktiv an ihnen etwas zu ändern vermag. Durch das Antizipieren der Probleme können positive Entwicklungsschritte möglich werden.
Angenommen, Sie wollten Ihre Ängste vergrößern, was müßten Sie tun?
19.10 Rückfallfragen
Gegen Ende einer Therapie sind Rückfallfragen sinnvoll.
Angenommen, Sie müßten Ihr Problem in einem Monat wieder bemühen, was müßten Sie tun, um dies zu bewerkstelligen?
19.11 Ausnahmefragen
Nach de Shazer. Da jeder Klient nicht durchgängig mit seinem Problem in der gleichen Art und Weise konfrontiert ist, wird nach den Zeit von Nichtvorhandensein gefragt.
Wann zuletzt hat Ihr Problem Sie in Ruhe gelassen? Wie waren die Umstände, was hat dazu geführt, daß Sie unbehelligt geblieben sind?
19.12 Skalafragen
Von Berg und De Shazer entwickelt. Der Klient soll auf einer Skala von 1 bis 10 seine Befindlichkeit einschätzen. Mit Skalafragen kann auch nach Veränderungen gefragt werden.
Wie hoch auf der Skala ist Ihr Wunsch, das Problem zu lösen. Ab welcher Ziffer können Sie die Gespräche beenden.
19.13 Metapherfragen
Mit der symbolischen Darstellung gibt man dem Klienten eine handhabbare Form der Zusammenhänge mit. Die Problemstruktur wird visualisiert.
19.14 Bewältigungsfragen / Ressourcenfrage
Die Fragen zielen auf die vorhandenen und nicht bewußten Fähigkeiten und Ressourcen des Klienten.
Wie konnten Sie bei den vielen Problemen es schaffen, so viel Energie für Ihren beruflichen Erfolg aufzubringen?
19.15 Klassifikationsfragen
Unterschiede werden in eine Rangfolge gebracht.
Wer ist heute mit den größten Optimismus hierhergekommen, wer mit dem geringsten?
19.16 Übereinstimmungsfragen
Fragt nach Koalitionen und Kartellen.
Sehen Sie das ebenso wie Ihre Frau oder würden Sie ihr da widersprechen?
19.17 Subsystemvergleiche
Eine dritte Person wird eingeladen, die Intensität verschiedener dyadischer oder triadischer Beziehungen miteinander zu vergleichen.
Wie sehen Sie das als Sohn: Hat Ihr Vater eine engere Beziehung zu seiner Frau oder zu Ihrer Schwester?
20. Delegation
Der Delegierte wird hinausgesandt, aber gleichzeitig an der langen Leine der Loyalität gehalten. Er beweist seine Loyalität dadurch, daß er seine Aufträge gewissenhaft erledigt. Die Auftragserfüllung wird somit zur Quelle seines Selbstwertes. Aufträge werden zumeist verdeckt erteilt, finden im analogen statt im digitalen Kommunikationsmodus statt. Zu unterscheiden ist in gebundene und ausgestoßene Delegierte. Gebundene bleiben im familiären Umfeld und erfüllt so direkt eine Aufgabe; ausgestoßene haben früh elterliche Kälte oder Abwehr kennengelernt und sind einer distanzierten Aufgabe verpflichtet, um deren Erwartungen gerecht zu werden.
Delegationen können therapeutisch umgedeutet werden, da mit dem Auftrag eine zumeist sehr große Anstrengung verbunden ist.
21. Triangulation
Erweiterung einer konflikthaften Zweierbeziehung um eine dritte Person (Kind, Therapeut), die den Konflikt verdeckt und / oder entschärft.
Eine „Niederlage“ wird durch ein Geheimbündnis mit einem Dritten kompensiert und dadurch wird innerhalb der Zweierbeziehung das Gleichgewicht wiederhergestellt (perverses Dreieck (Haley)). Dabei sind vor allem die Generationsgrenzen nicht gewahrt. Eine dritte Person kann auch zum Sündenbock werden, welcher das gemeinsame Problem liefert. Minuchin spricht von starren Triaden.
22. Grenzen
Grenzen sind vor allem in der Kybernetik 1. Ordnung von Bedeutung gewesen. Grenzen werden nach innen gezogen, die Familie wird in Subsysteme unterteilt (Mikroebene: Eltern, Kinder, männlich, weiblich) und sie werden nach außen (Mesoebene: Schule, Wohnumfeld etc. oder Makroebene: Großeinrichtungen, Stadt, Land etc.).
„Der Kontakt mit der Umwelt, in der Begegnung mit dem „Du“, aber auch mit sich selbst, ist eng mit dem Begriff „Grenze“ verwoben: Nur da, wo eine Grenze ist, kann auch Kontakt stattfinden, denn ohne eine solche Grenze würde nur ein undifferenzierte Verschmelzung stattfinden... Grenze ist gleichzeitig der Ort der Begegnung und der Trennung.“[19]
22.1 Systemgrenzen
Abgrenzungen eine Person oder Personengruppe gegenüber der jeweiligen „Umwelt“. Innerhalb der familientherapeutischen Ansätze werden Funktion und Struktur von Grenzen im „strukturellen Ansatz“ besonders hervorgehoben. Der Begriff Struktur bezieht sich auf die Gliederung der Familie in Subsysteme, auf die Starrheit/Flexibilität dieser Subsysteme, auf Transaktionen zwischen ihnen sowie auf Aspekte der Abgrenzung und der Durchlässigkeit solcher Grenzen, wobei es relativ klare, normative Vorstellungen gibt, wie diese Struktur und die Grenzen beschaffen sein sollen.
Vor allem bei Minuchin findet der Begriff Grenzen Verwendung, Stierlin spricht von Parentifikation, Haley vom perversen Dreieck. Grenzen haben nach Minuchin die Funktion, die Differenzierung des Systems in Subsysteme zu bewahren. Grenzen dürfen weder unangemessen starr sein noch diffus. Es werden drei Subsysteme hervorgehoben: Das eheliche, das elterliche und das geschwisterliche Subsystem.
23. Kausalitäten
23.1 lineare Kausalität
Ein kausaler Ablauf läßt sich geradlinig nenne, wenn keine Rückkopplung vorliegt, d.h. die Ursache-Wirkungs-Sequenz nicht zum Ausgangspunkt zurückführt. Das begriffliche Gegenstück ist die Zirkularität.
23.2 zirkuläre Kaulsalität
Zirkuläre Kausalität ist als eine Folge von Ursachen und Wirkungen zu beschreiben, die zur Ausgangsursache zurückführt und diese bestätigt oder verändert.
Zirkuläre Prozesse, bei denen sich verschiedene Elemente eines Systems in ihrem Verhalten auf komplizierte Art und Weise gegenseitig bedingen, sind das wesentliche Gebiet der Kybernetik. Das Hauptinstrument der kybernetischen Analyse ist das Abstrahieren von der Dimension Zeit. Aufgrund der Nichtumkehrbarkeit der Zeit läßt sich die Vergangenheit nicht rückwirkend verändern. Wo die Vergangenheit jedoch eine Bedeutung in persönlichen oder familiären Strukturen, Erinnerungen, Regeln usw. gefunden hat, kommt Zirkularität zum Zuge. Eine in der Vergangenheit gebildete Regel bspw. wird auf die Gegenwart angewandt und für die Zukunft bestätigt oder verändert. Voraussetzung dafür ist ein Abstraktionsschritt, bei dem Situationen als ähnlich klassifiziert und Kontexte als identisch erkannt werden. Erst dort, wo ein inneres Modell der Welt erstellt und konkrete Ereignisse, Verhaltensweisen oder Erlebnisse auf irgendeine Art und Weise in Zeichen übersetzt wurden, kann Zirkularität in der Regelung menschlichen Verhaltens entstehen.
In einem solchen Wechselwirkungsprozeß hat jede Handlung Rückwirkungen auf die handelnde Person selbst, ein Aspekt, der als Selbstreferenz bezeichnet wird.
Gleichwohl ist Kausalität nur in unserem Kopf existent, es gibt sie nicht „da draußen“. Damit wird die Verwendung des Begriffes auf eine pragmatische Dimension beschränkt und beantwortet nicht die Frage von richtig und falsch. Der Therapeut wird so Teil eines Systems, eines komplexen Wechselwirkungsgefüges, ohne jedoch dabei die Wirkung seines Handelns im Voraus berechnen zu können.
Im Verständnis der systemischen Erkenntnistheorie wird die Frage nach der Ursache der Störung bedeutungslos. Daher leistet die Systemtheorie weder eine Behandlung der Ursachen, noch eine der Symptome, sondern sie gibt lebenden Systemen Anstöße, die ihnen helfen, neue Muster miteinander zu entwickeln, eine neue Organisationsgestalt anzunehmen, die Wachstum ermöglicht.
24. Joining
Joining ist als ein therapeutisches Bündnis zwischen Familienmitgliedern und Therapeut zu verstehen. In der strukturellen Familientherapie hat es vor allem Anwendung gefunden. Der Therapeut verschafft sich Eintritt in die Familie, indem er deren Stärken anerkennt und fördert, geltende Hierarchien und Wertvorstellungen respektiert, bestehende Subsysteme stützt und die Familienmitglieder in ihrem Selbstwertgefühl bestätigt. So macht er sich zum Teil der Familie, er schließt sich ihr quasi an. Joining ist grundsätzlich in allen Gesprächen erforderlich, um ein Arbeitsbündnis herzustellen.
25. Kommunikationstheorie
1967 haben Watzlawick, Beavin und Jackson aus der Palo-Alto-Gruppe ein Buch zur Kommunikationstheorie veröffentlicht. Wichtiger Grundbegriff ist die Pragmatik. Dargestellt werden 5 Axiome / Grundeigenschaften menschlicher Kommunikation. Sie bilden quasi die nachträglich formulierte Grundlage der "double-bind-Theorie", die Schizophrenie als eine Kommunikationsstörung erklärt.
1. Axiom: Man kann nicht nicht kommunizieren
Jedes Verhalten ist Kommunikation, es hat kein Gegenteil. Kommunikationsstörungen, die durch dieses Axiom gekennzeichnet werden, finden sich besonders im Bereich der Schizophrenie
1. Axiom: Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Bedeutungsaspekt, derart, daß letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist
Sprache teilt sich nicht nur durch Sachverhalte mit, sondern ist zuallererst Beziehungsstifter. Aussagen sind nie eindeutig. Kommunikationsstörungen im Hinblick auf dieses Axiom ergeben sich oft aus einer Vermengung von Inhalts- und Beziehungsebene. Um z.B. eine sachliche Kontroverse austragen zu können, muß man sich auf der Beziehungsebene weitgehend einig sein, d.h. man muß sich einig sein, uneins zu sein.
1. Axiom: Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktionsabläufe seitens der Partner bedingt
Durch die Kontinuität des Faktors Zeit gibt es vorhergehende und nachfolgende Situationen. So gibt es auf jedes Verhalten ein folgendes Verhalten. Dieses kann unterschiedlich interpretiert werden
1. Axiom: Menschliche Kommunikation bedient sich digitaler und analoger Modalitäten. Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kommunikationen dagegen besitzen dieses semantische Potential, ermangeln aber die für eindeutige Kommunikationen erforderliche logische Syntax.
Mit digital ist die künstliche, per Konvention erlernte, Zuordnung von Zeichen zu Inhalten gemeint. Aus der Zeichenfolge K a t z e wird der Inhalt Katze. Analog hingegen ist eine Zuordnung dann, wenn eine grundsätzliche Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem Inhalt und dem (Kenn-) Zeichen besteht (z.B. zwischen dem Bild einer Katze und dem Tier Katze). Sie findet statt in Form von nonverbalen bzw. paraverbalem Verhalten, Mimik, Gestik, Tonfall, Redetempo usw.
Dieses Axiom steht in Zusammenhang mit der double-bind-Theorie und beschreibt, was geschieht, wenn sich verbalen und nonverbale Äußerungen widersprechen.
1. Axiom: Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht.
26. Lösungsorientierte Kurzzeittherapie
Die theoretischen Grundlagen bildet der soziale Konstruktivismus. Soziale Realität wird durch Kommunikation konstruiert.
De Shazer unterscheidet drei Typen:
1. Besucher
2. Klagende
3. Kundin
Walter und Peller nennen 12 Grundannahmen für einen lösungsorientierten Ansatz:
1. Vorteil eines positiven Fokus: eine Ausrichtung auf das Positive, auf die Lösung und auf die Zukunft erleichtert eine Veränderung in die gewünschte Richtung. Deshalb soll man sich auf lösungs-orientiertes und nicht auf problem-orientiertes Sprechen konzentrieren.
2. Ausnahmen verweisen auf Lösungen: Ausnahmen zu jedem Problem können von Therapeuten und Klienten erschaffen und zur Konstruktion von Lösungen benutzt werden.
3. Nichts ist immer dasselbe. Änderung tritt immer auf.
4. Kleine Änderungen sind notwendig: Kleine Änderungen führen zu großen Änderungen.
5. Kooperieren ist unvermeidlich. Klienten sind immer kooperativ. Sie zeigen uns ihre Überzeugung, wie Änderung eintreten kann. Wenn wir ihr Denken und Handeln zutreffend verstehen, ist Kooperieren unvermeidlich.
6. Menschen haben Ressourcen: Menschen haben alles, was sie brauchen, um ihr Problem zu lösen.
7. Bedeutung und Erfahrung sind interaktional konstruiert: Bedeutung ist die Welt (bzw. das Medium), in der wir leben. Wir verleihen unserer Erfahrung eine Bedeutung, und im selben Moment ist Bedeutung auch Teil unserer Erfahrung. Bedeutung wird uns nicht von außen aufgezwungen oder bestimmt. Wir informieren unsere Welt durch Interaktion.
8. Rekursivität: Handlungen und Beschreibungen sind zirkulär.
9. Die Bedeutung liegt in der Reaktion: Die Bedeutung einer Botschaft ist die Antwort, die Sie erhalten.
10. Der Klient ist der Experte: Therapie ist ein ziel- oder lösungs-orientiertes Vorhaben - mit der Klientin als Expertin.
11. Ganzheitlichkeit: Jede Änderung, wie Klienten ein Ziel (eine Lösung) beschreiben und / oder was sie tun, beeinflußt zukünftige Interaktionen aller Beteiligten.
12. Mitgliedschaft in einer Behandlungsgruppe: Die Mitglieder einer Behandlungsgruppe sind diejenigen, die ein gemeinsames Ziel teilen und den Wunsch ausdrücken, etwas zu tun, damit es eintritt.
27. Reflecting Team
Das Reflecting Team geht auf Tom Andersen zurück. Er begann durch eine zufällige Begebenheit im März 1985 in Norwegen mit dem Reflecting Team. Rückblickend betont Andersen, daß es schwer zu bestimmen sei, was zuerst vorhanden war, Theorie oder Praxis. Der theoretische wissenschaftliche Ansatz der Norweger sei aber keinesfalls neu gewesen, sondern beruht auf bekannten Theorien. Beeinflußt ist das Reflecting Team vor allem von Bateson und seiner Idee der Unterschiede. Ebenfalls sind die Ideen Maturanas und Varelas in die Arbeit eingeflossen. Weitere Anregungen erhielt Andersen durch den Austausch mit Harry Goolishian und Harlene Anderson.
Auch Boscolo und Cecchin wie Hoffman und Penn arbeiteten mit dem besonderen Fokus auf Sprache und Kommunikation. Postmoderne Semantik, Erzählkunst und Linguistik sind Kernelemente dieses Ansatzes. Diese Haltung stellt eine Abkehr von der biologisch-kybernetischen Metapher dar, die eine Familie mit einem Organismus oder einer Maschine vergleicht. Begriffe wie Homöostase, Zirkularität und Autopoiese sind räumliche Metaphern, die erklären, wie Einheiten sich gleich bleiben. Zeitliche Analogien wie Erzählungen, Geschichte und Fluß gehen davon aus, daß Einheiten einem ständigen Wandlungsprozeß unterworfen sind.
In der Diskussion um die Systemtheorie wird auch die Frage gestellt, ob diese überhaupt nötig und angemessen ist, um lebende, soziale Systeme zu modellieren. Statt dessen wird vorgeschlagen, eher auf die Art und Weise der Erzählungen, der Geschichten und Narrationen zu achten, über die in sozialen Systemen Sinn konstruiert wird.
Folgende Regeln gelten für das Reflecting Team:
1. Alles, was gesagt wird, sollte aus einer wertschätzenden Perspektive heraus gesagt werden.
2. Es wird eher vorsichtig, konjunktivisch gesprochen als festlegend und diagnostizierend. Es geht nicht darum, die richtige Erklärung zu finden, vielmehr ist es die aktiv aufrechterhaltende Vielfalt, die dem ratsuchenden System helfen kann, zu sehen, daß mehrere Perspektiven gültig sein und nebeneinander existieren können.
3. Daraus folgt, daß abweichende Meinungen im Reflecting Team nicht als Infragestellung der eigenen Position gesehen, sondern als Möglichkeiten und Anregungen begrüßt werden, weiter nachzudenken, um jeweils neue, integrierende Perspektiven zu finden.
4. Die Reflexion sollte nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen und nicht durch zu viele Ideen verwirren.
28. Unterschiede zwischen psychodynamischem und strategisch-systemischen Ansatz
(nach Boscolo 1997) frühe Mailänder Schule
1.
psychodynamisches Modell:
das primäre Therapieziel ist die Lösung des Konflikts und nicht das Verschwinden des Symptoms.
strategisch-systemisches Modell:
Betrachten des Symptoms und dessen Auswirkungen im sozialen Kontext. Aufbrechen der rigiden Muster, in die das Symptom eingebettet ist und Entwicklung neuer funktionaler Muster. 2.
psychodynamisches Modell:
die Psychoanalyse beschäftigt sich mit semantischen Aspekten der Kommunikation, mit Bedeutungen, Metaphern, Symbolen; ist grundsätzlich eher auf Denken als auf Handeln ausgerichtet. Das therapeutische Instrumentarium ist die Einsicht bzw. Erkenntnis des Klienten.
strategisch-systemisches Modell:
Ausrichtung auf pragmatischen und verhaltensbezogenen Aspekten; im Vordergrund steht das Handeln des Klienten. Die Verschreibung neuer Verhaltensweisen ist ein wichtiges therapeutisches Instrumentarium.
3. psychodynamisches Modell:
Ziel der Therapie ist es, unbewußte Konflikte der Vergangenheit zu lösen, die als Übertragungsverzerrung in den gegenwärtigen Beziehungen zum Ausdruck kommen und eine Quelle der Angst, des Leidens und der Symptomentwicklung darstellen. Der Therapeut achtet primär darauf, wie der Klient sich zu sich, zu anderen Personen und vor allem zum Therapeuten in Beziehung setzt (Übertragung).
strategisch-systemisches Modell:
Erste Therapieaufgabe ist die Definition der Probleme durch den Klienten und die Auswahl der angestrebten Lösungsziele. Es folgt die Exploration der erfolglosen Lösungsversuche, die sowohl der Klient als auch die signifikanten Personen des Beziehungskontextes bislang unternommen haben.
nach Kowalczyk (1994)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Definition des Begriffs System ist nicht leicht, da es verschiedene Ansätze gibt.
Die allgemeine Systemtheorie ist von von Bertalanffy entwickelt worden, die Informationstheorie von Shannon, die Kybernetik von Wiener und die systemische Kulturanthropologie von Bateson. Kriz verweist auf ungenaue und z.T. gar widersprüchliche Definitionen bzw. Gebrauchsarten des Begriffs System.
Systemische Arbeitsansätze hat es bereits vor den eigentlichen familientherapeutischen Schulen gegeben. Reich die Vernetzung von Konflikten und Kommunikationsmustern detailliert beschrieben. In der Transaktionsanalyse finden sich systemische Ansätze bei der Spielanalyse "Opfer - Verfolger - Retter". Freud hat im Neurosenverständnis der Psychoanalyse das Symptom in Kontext früher Eltern-Kind-Interaktionen gesehen, Adler hat z.T. bereits Familiensysteme in sein Setting geholt. Auch in dem Psychodrama wird mit gestellten Familiensystemen gearbeitet.
Die Familientherapeuten begannen ca. ab 1951 mit Nathan Ackermann mit Familien zu arbeiten. Murray Bowen, später zusammen mit Lyman Wynne, Boszormenyi-Nagy, James Framo und Theodore Lidz können als Pioniere der Familientherapie angesehen werden.
Ebenfalls ab 1951 begann Satir mit Familien zu arbeiten. Die wissenschaftliche Arbeit leisteten ihre männlichen Kollegen Watzlawick, Haley und Bandler. 1959 wurde das MRI in Palo Alto von Satir, Don Jackson und Jules Ruskin gegründet. in den 60er Jahren kamen Watzlawick, Haley, Weakland und Bell hinzu. Bateson war von 1961 - 63 dort tätig. Vor allem Bateson und Haley vertraten unterschiedliche Standpunkte. Während Haley auf die Notwendigkeit der Macht und Einflußnahme des Therapeuten setzte und strategisch genau geplante Interventionen für unabdingbar hielt, um therapeutische Veränderungen zu indizieren, setzte sich Bateson zeitlebens dafür ein, nicht in Selbstorganisationsdynamiken einzugreifen, weil jede Form von Eingriff sich über kurz oder lang als schädlich für die Ökologie des Systems herausstellen würde.
Von Ackerman beeinflußt, begann Minuchin Anfang der 60er Jahre in New York, ab 1965 in Philadelphia, die strukturelle Familientherapie zu entwickeln. Von 1967 - 76 arbeitete dort auch Haley, der den Ansatz zur strategischen Familientherapie weiterentwickelte.
29. Geschichte der Psychotherapie
29.1 globale Entwicklung
„Es herrscht Übereinstimmung, daß die Einrichtung, die wir „Therapie“ nennen, in der einen oder anderen Form in jeder differenzierten Gesellschaft bestanden hat, die uns bekannt ist. Die Therapeuten von heute sind die Erben der Priesterklasse, Schamanen in neuem professionellem Gewande (obwohl sie manchmal durchaus zu den alten Kostümen zurückkehren).“[20]
„Die Geschichte der Therapien in der Moderne war ein beständiges Ringen, bei dem der Irrsinn entweder als dämonisch anerkannt oder der Versuch unternommen wurde, das Irrationale unter wissenschaftlich objektive „zivilisierte“ Kontrolle zu bringen. Wo die organisierte Gesellschaft nicht in der Lage war, die Dämonen zu assimilieren, entstanden kultische Bewegungen, Sekten und „Schulen“ der Therapie, die eine Weile einflußreich blieben und dann wieder verschwanden.“[21]
Erster „prominenter“ Psychotherapeut: Anton Mesmer (1734-1815), entdeckte die Hypnose, erreichte kurzlebige Verhaltensänderungen durch Suggestion. Eine Wiederaufnahme der Methode findet durch Jean-Martin Charcot und Hyppolyte Bernheim Ende des 19. Jahrhunderts statt. Die Anfänge professioneller Psychotherapie begannen am Ende des 19.Jahrhunderts. Freuds „Traumdeutung“ und seine „Studien über Hysterie“ dokumentieren den Beginn eines psychotherapeutischen Handlungsansatzes, der als „Psychoanalyse“ bekannt wurde. Freuds Lehre hatte und hat einen gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung der gesamten Psychotherapie. Praktisch alle wichtigen psychotherapeutischen Ansätze gehen in ihrer Entstehungsgeschichte auf psychoanalytische Ansätze zurück, mit Ausnahme der Verhaltenstherapie und ihrer Abkömmlinge.
29.2 Psychoanalyse
Wesentlicher Aspekt der Analyse: Der Therapeut verbündet sich mit dem durch ES und ÜBER-ICH geschwächten ICH des Patienten, um Verdrängtes freizulegen. Das führt zu einem Vertrag mit dem Therapeuten, der die Forderung beinhaltet, daß der Patient alles, wie es ihm in den Sinn kommt äußert. Eine besondere Rolle spielt Material aus Träumen. Neben den Deutungen sind die wichtigsten Interventionen des Therapeuten Instruktionen über das analytische Verfahren, Konfrontationen, Klärungen, Durcharbeiten und Rekonstruktionen.
Aus der Dynamik, die der Symptombildung zugrundeliegt, ist verständlich, daß der Patient der Aufdeckungsarbeit des Therapeuten Widerstände entgegensetzen muß. Als stärksten Widerstand hat Freud die Übertragung bezeichnet. Damit werden Gefühle des Patienten dem Analytiker gegenüber gekennzeichnet, die nicht aus der realen Situation begründet sind, sondern von früheren Situationen herstammen.
Komplementär zur Übertragung ist die sog. Gegenübertragung zu sehen. Auf der Basis der vom Therapeuten geforderten Haltung (grundsätzliche Passivität, wohlwollende Zugewandtheit, gleichbleibende Aufmerksamkeit) werden beim Therapeuten als nicht-neurotische Reaktion Gefühle ausgelöst, die für den therapeutischen Prozeß nutzbar gemacht werden.
29.3 Individualpsychologie (Adler)
Diese Richtung betont die sozialpsychologischen Aspekte der Entwicklung und Veränderung psychischer Störungen. Mit der Bezeichnung wollte sich Adler gegen Betrachtungsweisen abgrenzen, in denen die Persönlichkeit in einzelne Elemente (Triebe, Instanzen) zerlegt wird. Die unteilbare Einheit und Ganzheit der Person wird hervorgehoben. Adler trennte sich 1911 endgültig von Freud. Adler unterstreicht die Fähigkeit des Organismus zu Wachstum und Entfaltung zur Überwindung von Mängeln.
Ermutigung ist zentrales therapeutisches Interventionsprinzip, Aufdeckung und Bewußtmachung des falschen Lebensplanes (falsch leitet sich aus dem normativen Standpunkt her, daß die Evolution des Menschen zur idealen Gemeinschaft strebt). Zur Erforschung des Lebensplans gehört die Erhebung der Familienkonstellation, Registrierung aktueller Probleme und Verhaltensweisen und die Schilderung früher Erlebnisse. Heilung nur auf intellektuellem Wege.
29.4 Analytische Psychologie (Jung)
1913 Trennung von Freud. Unbewußtes ist kollektives Unbewußtes, dessen Inhalte Urbilder und Archetypen sind. Die Jungsche Psychotherapie wird ebenfalls als Analyse bezeichnet. Traumarbeit ist zentrales Mittel. Die Arbeit mit Symbolen steht im Vordergrund. Therapeut als hilfreicher Begleiter auf dem Weg der Individuation.
29.5 Verhaltenstherapie
Das wesentliche gemeinsame Moment der Verhaltenstherapie ist ein lerntheoretisches Verständnis für die Genese und Therapie von Störungen. Die Bezeichnung wurde in den Jahren 1953 bis 1959 durch drei Forschergruppen relativ unabhängig von einander eingeführt und verwendet: durch Burrhus F. Skinner (Harvard), Joseph Wolpe (Johannesburg), Hans-Jürgen Eysenck (London). Wolpe und Eysenck legten den Schwerpunkt auf den Abbau von Ängsten und Neurosen mittels Techniken, die in der Tradition der klassischen Konditionierung standen. Skinner legte den Schwerpunkt auf den Aufbau bestimmter Fertigkeiten und erwünschter Verhaltensweisen (operante Konditionierung). Die Position des Behaviorismus war nicht durchzuhalten. Selbst in Tierexperimenten traten Phänomene wie das „latente Lernen“ auf. Nach und nach entstanden kognitiv bereicherte Modifikationen verhaltenstherapeutischer Ansätze.
Kognitive Therapie von Aron T. Beck:
Ziel der Therapie ist es, den Patienten sensibler zu machen gegenüber seinen automatisch ablaufenden Gedanken und den dabei auftretenden selbstzerstörerischen Bewertungen und Denkfehlern.
Vier Phasen des therapeutischen Vorgehens:
1. Beobachten: Klient lernt, sich selbst zu beobachten und seine Gedanken zu notieren
2. Identifizieren: Anhand des Materials Analyse der inneren Selbstgespräche
3. Hypothesenüberprüfung: Patient lernt, seine mit den automatischen Gedanken verbundenen Hypothesen über sich selbst und seine Umwelt differenziert wahrzunehmen und auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.
4. Training alternativer Erklärungen.
29.6 Humanistische Therapien
Kennzeichnet einen lockeren Verbund unterschiedlicher Ansätze, die eher durch ein gleichartiges Menschenbild und grundsätzliche Übereinstimmung in den Prinzipien der therapeutischen Arbeit als durch eine gemeinsame Theorie zusammengehalten werden.
Hauptrichtungen: Gestalttherapie von Fritz Perls, Gesprächspsychotherapie von Rogers, Psychodrama von Moreno und Logotherapie von Viktor Frankl.
Zentrale Grundgedanken:
- Autonomie und soziale Interdependenz
- Selbstverwirklichung
- Ziel- und Sinnorientierung
- Ganzheit
Gestalttherapie:
9 Kern-Gebote:
1. Lebe jetzt, kümmere dich um die Gegenwart
2. Lebe hier, beschäftige dich mit den Anwesenden
3. Erfahre die Realität
4. Experimentiere mit dir
5. Drücke dich aus
6. Laß dich auf Unerfreuliches und Erfreuliches ein
7. Bete keine Götzenbilder an
8. Übernimm die Verantwortung
9. Akzeptiere dich und die anderen wie du jetzt bist, wie sie jetzt sind.
Gestalttherapie ist im Kern eine Widerstandsanalyse, wobei der Widerstand nicht gedeutet oder beseitigt wird, sondern als Gestalt prägnant und für den Klienten erfahrbar gemacht wird. Im verhalten hier und jetzt, in den Bewältigungsstrategien, in der Art des Umwelt-Selbst-Kontaktes zeigen sich unvollendete, nicht geschlossene Gestalten. Der Therapeut nutzt die Kraft der Selbstregulation und bringt sich selbst als Partner für die Begegnung in die Beziehung ein. (Was tust du? - was fühlst du? - was möchtest du? - was vermeidest du? - was erwartest du?). Der Konfrontation und Frustration des Klienten wird auf der Basis einer tragfähigen Beziehung große Bedeutung beigemessen.
30. Geschichte der Systemischen oder Familientherapie und ihre „Schulen“
Systemische Therapie wird im engeren Sinne in ersten Anfängen etwa seit den 50er Jahren betrieben, wobei der Begriff „systemisch“ unterschiedlich gebraucht wird. Fast alle Therapieansätze enthalten ansatzweise systemische Aspekte. (Hinweis auf Reich, Transaktionsanalyse, sogar Freud: Symptom kann nur im Kontext der Rekonstruktion früher Eltern-Kind-Interaktion verstanden werden).
Adler hat in den 20er Jahren ganze Familien in seine Erziehungsberatung mit einbezogen. Die sog. Neofreudianer Horney, Fromm und Harry Stack Sullivan betonen den Zusammenhang der Symptome mit soziokulturellen Faktoren. Insbesondere Sullivan vertrat ein ökologisches Modell, das mit heutigen systemischen Vorstellungen weitgehend übereinstimmt. Auch bei Victor Frankl finden sich systemische Aspekte und seine Interventionsform der „paradoxen Intention“ findet sich in systemischen Ansätzen wieder.
In der klinischen Forschung zur Schizophrenie gab es schon sehr früh zahlreiche Ansätze, die eine Einbeziehung des sozialen Umfeldes der Schizophrenen nahelegte. Die Familienstudien der 40er Jahre folgten diesem Muster und machten vor allem die „pathogene“ Mutter als Ursache aus. In dieser Zeit gab es erste Versuche, den Rahmen des durch die Psychoanalyse vorgegebenen Settings zu sprengen und die Familie mit einzubeziehen. Da sich die Psychotherapie am Individuum ausrichtete, reichte der theoretische Überbau nicht aus, um das komplexe Geschehen in Familien zu verstehen. In den 50er Jahren begann die Entwicklung spezifischer Konzepte und Interventionstechniken sowie eine systematische Arbeit mit Patienten. Die familientherapeutische Arbeit konzentrierte sich zunächst auf Familien von Schizophrenen, was auch daran lag, daß Neurotiker in der Regel von Analytikern behandelt wurden und die neuen Ansätze der Familientherapeuten an den „unheilbaren“ Schizophrenen erprobt werden mußten.
Für die neue Praxis fehlten theoretische Konzepte. Wichtige Anregungen kamen von Gregory Bateson, der seine Kenntnisse aus Ethnologie, Kybernetik, System- und Informationstheorie hineintrug. In der Folge setzte sich die Systemtheorie in der Psychotherapie durch.
30.1 Das Jahrzehnt der Gründung der Familientherapiebewegung 1952-1961:
In den 50er Jahren fingen unabhängig von einander verschiedene amerikanische Therapeuten an, ganze Familien zu therapieren. Ende der 50er Jahre war bereits eine Bewegung entstanden und 1962 erschien die erste gemeinsame Zeitschrift „Family Process“.
Im „Handbook of Family Therapy“ werden als „Väter der Familientherapie“ genannt:
John Bell, der das erste Buch über Familientherapie schrieb und später Direktor des MRI wurde, Nathan W. Ackerman, der stark von Moreno beeinflußt war, gründete 1960 das Family Institute in New York, das später Ackerman-Institute genannt wurde; Christian F. Midlefort, der isoliert blieb von der sich entwickelnden Bewegung und 1957 das Buch: „The Family in Psychotherapy“ herausgab; Theodore Lidz, der sich auf die Erforschung und Behandlung von Schizophrenie beschränkte; Lyman C.Wynne, der am National Institute for Mental Health arbeitete und später zur University of Rochester wechselte, wo er weiter über Schizophrenie forschte. Er war einer der ersten Mitherausgeber von „Family Process“; Murray Brown, der psychotische Kinder behandelte und mit Wynne am NIMH arbeitete. Er führte ein Projekt mit durch, in dem die Eltern schizophrener Kinder mit diesen zusammen stationär aufgenommen wurden. Carl A. Whitacker, war der erste, der auch Großeltern mit einbezog.
In den 50er und 60er Jahren gab es drei Institute in den USA, die die Arbeiten zur Schizo-phrenieforschung vorantrieben: In Washington am National Institute for Mental Health (NIMH) forschten Lyman Wynne und Mitarbeiter, an der Yale-University ein Team um Theodore Lidz und in Palo Alto entstand das Mental Research Institute.
30.2 Die Palo Alto Gruppe und das Mental Research Institute (MRI)
Von 1952-1962 führte Gregory Bateson in Palo Alto sein Forschungsprojekt über Kommunikation, Schizophrenie und Therapietheorie durch. Er war Anthropologe und Philosoph an der Stanford University. Er hatte Feldstudien im Südpazifik betrieben und das soziale System der Ottern erforscht und war fasziniert von paradoxen Aussagen. An diesen Forschungen waren Jay Haley, John Weakland und William Fry beteiligt.
1954, auf der Suche nach Forschungsgeldern, fingen auch sie an, sich mit Schizophrenieforschung zu befassen. Es begann eine Zusammenarbeit mit Don Jackson. 1956 veröffentlichten Bateson, Jackson, Haley und Weakland das Konzept des „double-bind“ als wesentliche familiale Determinante bei Schizophrenie von Kindern. (Die double-bind-Theorie entstand aufgrund der Arbeit mit einer einzigen Familie).
1959 wurde in Palo Alto das Mental Research Institute (MRI) gegründet. Anfangs bestand es nur aus drei Leuten. Don Jackson holte aus Chicago Virginia Satir dazu, der dritte im Bunde war John Riskin. Das MRI begann als eine Abteilung der Palo Alto Medical Research Foundation (PAMRF). Im selben Jahr erhielt das Bateson-Projekt ebenfalls Forschungsgelder vom National Institute of Mental Health für Untersuchungen an Schizophrenen und ihren Familien. In den 60er Jahren kamen Paul Watzlawick, Jay Haley, John Weakland und John Bell dazu. Das technisch Neue an ihrer Arbeit war, daß sie alle Therapiesitzungen und Forschungsinterviews aufzeichneten, anfangs mit Kassettenrecordern, dann filmten sie alles, später wurden Videorecorder eingesetzt.1963 war das MRI groß genug, um unabhängig zu arbeiten. Die Forschungen wurden auf andere Gebiete ausgedehnt (Wie beeinflußt die Interaktion in Familien colitis ulcerosa, Asthma und die intellektuelle Entwicklung von Kindern?).
1967 wurde unter der Leitung von Richard Fish das Brief Therapy Center (BTC) des MRI eröffnet. Zum ihm gehörten Paul Watzlawick, John Weakland und Arthur Bodin. Untersucht werden sollte, was bei bestimmten spezifischen Problemen therapeutisch in kurzer Zeit erreicht werden könne. Die Therapiedauer wurde auf 10 Sitzungen begrenzt, mit dem Fokus auf das wesentliche Problem, mit sehr aktiven Interventionen.
Im Januar 1968 beging Jackson Selbstmord. John Bell wurde neuer Direktor. Die Arbeit bezog nun den Umgang mit Alten in Familien ein und die Reintegration von hospitalisierten Familienmitgliedern.1973 trat Bell zurück und Riskin wurde neuer MRI-Direktor. Der Fokus galt nun „gesunden“ Familien. Bateson arbeitete von 1961-63 an diesem Institut mit. 61/62 bestanden regelmäßige Kontakte zu Milton Erickson. Bis 1967 leitete Satir Ausbildungsprogramme in Familientherapie.
In den Anfängen des MRI wurden folgende Theorien aufgestellt:
1. Familienhomöostase (hier verstanden als Netz von Verhaltensregeln, mit dem Familien ihr inneres Gleichgewicht wahren)
2. negatives und positives feedback oder deviationsfördernde oder -abschwächende Prozesse zwischen den Familienmitgliedern verstärken oder schwächen eine Dysfunktion
3. die Regel-Hypothese, die auf der Idee basiert, daß Menschen in kontinuierlichen Beziehungen zunehmend auf vorgegebene Weise miteinander interagieren
4. deskriptive und vorschreibende Regeln, die erkennbar werden durch die Sanktionen, die Bruch der Regeln nach sich ziehen, bzw. Regeln über Regeln, also Meta-Regeln
5. die Entwicklung neuer oder erweiterter Regeln als eine Möglichkeit, Veränderungen in Beziehungen zu beeinflussen
6. das quid pro quo als bewußte oder unbewußte Familienregel
7. Zeichensetzung als relativierende Rettungsmöglichkeit für Paare in Konflikt, weil sie die Realität jeweils unterschiedlich wahrnehmen
8. zirkuläre Kausalität oder die Negierung des behavioristischen S-R-Paradigmas.
Den Anteil der Kommunikation bei der Entwicklung dysfunktionaler Beziehungen haben Watzlawick, Beavin und Jackson 1967 in ihrem Buch: Pragmatics of Human Communication dargelegt.
Eines der Prinzipien der Arbeit des MRI formulierten Weakland, Fisch, Watzlawick und Bodin 1970 so: „Wir sind ausgesprochen symptomorientiert im weitesten Sinne. Patienten oder deren Familienmitglieder kommen mit bestimmten Beschwerden und wenn wir sie für eine Behandlung annehmen, dann beinhaltet das eine Verantwortung, diese Beschwerden zu lindern. Da deviantes symptomatisches Verhalten und die es begleitenden Teufelskreise aus Reaktion und Gegenreaktion für sich genommen schon so störend wirken können, glauben wir, daß es keine Eile hat, andere, tiefer liegende Wurzeln der Pathologie zu suchen. Das präsentierte Problem liefert in einem Paket das, woran zu arbeiten der Patient bereit ist, eine konzentrierte Manifestation dessen, was falsch läuft und ein konkreter Index für die Fortschritte, die gemacht werden.“[22]
Gefühle und Gedanken werden als wichtig angesehen, aber das Verhalten ist die Grundlinie der Familientherapie des MRI. Nur durch das Verhalten manifestieren sich die affektiven und kognitiven Erfahrungen und Ereignisse. Dem verbalen und dem non-verbalen Verhalten wird Aufmerksamkeit geschenkt und darauf, wie diese beiden Ausdruckskanäle zueinander passen.
Die interaktive Therapie des MRI ist eine Therapie mit dem Fokus auf Modifikation des Verhaltens ohne eine „verhaltensmodifizierende Therapie“ zu sein. Ihr technisches Instrumentarium ist nicht von der Lerntheorie abgeleitet.
In der Familientherapie des MRI kontrolliert der Therapeut die Sitzung in großem Maße. Sie sind tendenziell aktiv und direktiv und benutzen ein breites Spektrum von Techniken. Dazu gehören Symptomverschreibungen als paradoxe Vorbereitung auf zukünftige Veränderungen, Nutzung von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, reframing eines unverständlichen Verhaltens, um so durch Normalisierung des Erscheinungsbildes einen Prozeß der Neubewertung zu einzuleiten, Unterminierung eines bestehenden Verdachtes durch Einführung eines neuen, erwünschten Verdachtes etc.
Die frühen Arbeiten des MRI werden von Ludewig unter der Bezeichnung „Strategische Familientherapie“ (der Name stammt von J. Haley) zusammengefaßt und wie folgt charakterisiert: „Therapeutisch relevante Probleme entstehen durch den wiederholten Versuch, ungeeignete Lösungen auf Schwierigkeiten des Alltags anzuwenden. Fehllösungen lassen sich in drei Grundformen gliedern: Eine Schwierigkeit wird geleugnet, so daß die Lösung unterbleibt; es wird versucht, eine unlösbare oder inexistente Schwierigkeit zu lösen; die Lösung basiert auf einem logischen Irrtum, was Paradoxien zur Folge hat, etwa wenn eine „Veränderung erster Ordnung“ (mehr desselben tun) angestrebt wird, obwohl eine Lösung „zweiter Ordnung“ angebracht wäre (etwas anderes tun). Sind Lösungen untauglich und haben sich festgefahren, muß die Therapie darauf abzielen, die problemerzeugenden Prozesse durch strategisches Eingreifen zu unterbrechen“.[23]
„Unter der Bezeichnung „strategische Familientherapie“ werden Therapieansätze zusammengefaßt, die Probleme einzelner Personen praktisch unberücksichtigt lassen und sich nur mit der Familie als kommunikativem System beschäftigen. Es werden somit bewußt alle psychischen Phänomene, wie individuelle Konflikte, Bedürfnisse, Schicksale, Motivationen, körperliche Dispositionen usw. vernachlässigt - unabhängig davon, daß und wie diese Manifestationen und Repräsentanten der Familienstrukturen sind...“[24] Im Vordergrund stehen die Möglichkeiten, direkten Einfluß auf die Personen des Systems zu nehmen, um Änderungen zu induzieren. Die eingefahrenen Strukturen werden so „verstört“, daß das System sich neu formieren muß. Typische Strategie: paradoxe Intervention.
„Die Position der Forscher aus Palo Alto bestand darin, die nicht-direktive Haltung des psychoanalytischen Establishments in Frage zu stellen. Indem sie ihr Vertrauen in die Technologie setzten, blieben sie dabei, daß man zu einem Therapeuten gehen könne, so wie man zu einem Mechaniker geht, um sein Auto reparieren zu lassen...“[25]
Die Palo-Alto-Schule wird als Kommunikationsschule der Familientherapie bezeichnet.
Zwar sind viele Ideen, die im Bateson-Projekt entstanden sind, in die Arbeit des MRI eingeflossen, aber sie hatten unterschiedliche theoretische Grundlagen. Bateson widersprach öffentlich Jay Haley, der behauptete, der Kern jedes therapeutischen Prozesses sei der Kampf um Kontrolle. Bateson mißtraute dem manipulativen Einsatz jeder Technologie. Diese Kontroverse schwelte 1976 - 78.
30.3 Das Mailänder Modell, die Mailänder Schule (Systemische Familientherapie)
1967 schlossen sich Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin einer Gruppe von acht Psy-choanalytikerInnen an, die die Kinderpsychoanalytikerin Maria Selvini Palazzoli in Mailand leitete. Die Gruppe wollte schwer gestörte Kinder gemeinsam mit ihren Familien behandeln.
1972 ließen sie sich von Bateson und von Berichten über Familientherapie und -forschung aus den USA anstecken. Die Mailänder Gruppe wurde von der Arbeit des MRI stark beeinflußt, insbesondere durch das Buch „Pragmatics of Human Communication“ von Paul Watzlawick, Don Jackson und Janet Beavin (1967).
Darin kritisierten sie den psychodynamischen Ansatz des Individuums als „container“ von Pathologie und die fehlende Berücksichtigung des Beziehungskontextes. Wenn sich familiäre Beziehungsmuster ändern lassen, dann ändert sich auch das Problemverhalten. Die Debatte zwischen dem psychoanalytischen und dem familiensystemischen Modell wurde nach Mailand verlegt. Nachdem die Entscheidung gefallen war, daß beide Modelle nicht kompatibel waren, trennten sich Selvini Palazzoli, Boscolo, Guiliana Prata und Cecchin 1971 von der Gruppe, um nur noch in einem systemischen Rahmen zu arbeiten. Die neue Gruppe gründete in Mailand das „Centro per lo studio della famiglia“. Watzlawick vom MRI beriet die Gruppe in den Anfängen.
Arbeitsweise
Anfangs arbeitete die Gruppe als therapeutisches Team. Strenge Gliederung der Interviews: Vorsitzung, Sitzung, Zwischensitzung, Intervention, Diskussion. Ein Paar, später eine einzelne Therapeutin, ein einzelner Therapeut, spricht mit der Familie, das andere beobachtet, im Verlauf der Vorsitzung wird eine Hypothese gebildet, die im Verlauf der Sitzung validiert oder verworfen wurde. Danach folgte entweder positive Konnotation oder Vorgabe eines Rituals für die Familie. Zeitliche Beschränkung der Sitzungen, anfangs auf zehn, später je nach Fall. Die Abstände zwischen den Sitzungen wurden verlängert. Es wurde darauf bestanden, daß die gesamte Familie anwesend war.
Theoretischer Hintergrund
Theorie der Pathologie war vor allem von Batesons Doublebind-Theorie für die Entstehung von Schizophrenie („Bleib’ weit weg bei mir“) geprägt und auch die therapeutischen Techniken orientierten sich an denen des MRI. Kern des Ansatzes war das „Gegenparadoxon“. Die Therapeuten hinter der Scheibe wurden Teil der Therapie.
Auch die feindliche Haltung gegenüber den KlientInnen leitete sich aus dem Palo Alto Modell her. Klienten und Therapeuten wurden beschrieben, als ob sie Gegner wären. (Terminologie des Kalten Krieges?). Die paradoxe Verschreibung wurde bevorzugt, weil es für die Familie keine andere Möglichkeit gab, sich den Therapeuten zu widersetzen, der sie auffordert, das Verhalten weiterhin zu zeigen, als die, eben dieses Verhalten aufzugeben.
Die positive Konnotation ist die nachhaltigste Erfindung der Mailänder. Sie hat vor allem die Funktion, den TherapeutInnen den Zugang zum System zu erleichtern. Das familiäre Bedürfnis, das Gleichgewicht zu erhalten, wird respektiert und das Risiko, den Widerstand zu verstärken, wird vermindert. Die positive Konnotation wurde aus der Technik der Palo-Alto-Gruppe, das Symptom zu verschreiben, hergeleitet.
Ende der 70er Jahre veränderte die Mailänder Gruppe ihre Methode. Sie entdeckten Bateson neu, d.h. sie waren besonders beeindruckt von Batesons Vorstellung kybernetischer Zirkularität als Modell für lebende Systeme. Daraus entwickelte sich die Technik des zirkulären Fragens. Dem Verhalten der TherapeutInnen wurde mehr Beachtung geschenkt.
Die neuen Ideen führten zu neuen Methoden der Informationssammlung und zu neuen Interventionsarten. Hypothetisieren, Zirkularität und Neutralität wurden die drei Grundprinzipien für die Durchführung von Familientherapien.
* Hypothetisieren impliziert die Vorstellung von Therapie als gemeinsames Forschungsvorhaben. Das ist Forschung, die eher einem Experiment ähnelt. Es gibt keine Wahrheit, sondern nur den Versuch eines Beobachters, zusammen mit der Familie eine Arbeitshypothese zu konstruieren, die das Problem so beschreibt, daß sich innerhalb des Kontextes ein Sinn ergibt. Zirkularität ist „die Fähigkeit des Therapeuten, sich selbst in seiner Befragung vom Feedback leiten zu lassen, das sich ihm aus dem Verhalten der Familie darbietet, wenn er um Informationen über ihr Verhältnis untereinander, d.h. über Unterschiede und Veränderungen bittet.“[26] „Die komplexen Daten in bezug auf das Symptom müssen in systemische Hypothesen gebracht werden. Diese Hypothesen gelten jeweils als Ausgangspunkt für die Informationserhebung und die Intervention ... Damit werden diese Tätigkeiten zu einem experimentellen Tun im Sinne der Aktionsforschung: Das Prüfen der Hypothesen (unabhängig, ob sie richtig oder falsch sind) ist ein Eingriff in das zu untersuchende Feld - besonders wenn die Hypothese richtig und wirksam war, modifiziert sie das System, so daß schon hierdurch das System auf der nächsten Sitzung anders ist - Handlung als „Datensammlung“ und Handlung als „Intervention“ sind somit nicht mehr getrennt.“[27]
* Theoretische Grundlage des zirkulären Fragens ist die Annahme, daß lebende Systeme durch kreisförmige Anordnungen gekennzeichnet sind und nicht durch lineare Folgen von Ursache und Wirkung. Dazu gehören Fragen nach Unterschieden in der Wahrnehmung von Beziehungen, nach graduellen Unterschieden, Unterschiede vorher - nachher, hypothetische oder zukünftige Unterschiede.„Unter Zirkularität verstehen die Autoren zunächst ganz allgemein „die Fähigkeit des Therapeuten, sich selbst in seiner Befragung vom Feedback leiten zu lassen, das sich ihm aus dem Verhalten der Familie darbietet, wenn er um Information über ihr Verhalten untereinander, d.h. über die Unterschiede und Veränderungen bittet.“[28] Konkret bedeutet das, bei der Befragung besonders Unterschiede im Verhalten hervorzuheben (statt Gefühle oder Interpretationen). Die Autoren haben dazu eine spezifische Technik entwickelt, die darin besteht, reihum jedes Familienmitglied über bestimmte Beziehungsaspekte zwischen jeweils zwei anderen differenzierend zu befragen... Dabei werden auch nicht anwesende Personen und hypothetische Situationen angesprochen...“[29]
* Neutralität wurde gleichgesetzt mit dem Bemühen, sich nicht in das Familiensystem hineinziehen zu lassen und mit der Fähigkeit, sich in der Therapie frei zu verhalten. (S.23).
„Die Therapeuten müssen vor allem gelernt haben, so unbeteiligt und kühl wie möglich zu spielen, so, als handle es sich um einen reinen Schachwettbewerb, bei dem man von den Gegnern als Individuen so gut wie nichts weiß. Wichtig ist nur, ihr Spiel zu begreifen, damit man sich entsprechend verhalten kann...“[30]
In dieser Zeit wurde der Mailänder Gruppe auch klar, daß das therapeutische Feld alle Experten mit einschließt, die an einem „Fall“ beteiligt sind. Die Loyalitätsfrage besaß hohe Priorität. Die überweisenden TherapeutInnen wurden in das Familiensystem mit einbezogen und wie ein Familienmitglied behandelt, um ihnen den eigenen Beitrag zur Situation der Familie bewußt zu machen. Das „beobachtende System“ wurde Teil des Repertoires.
Ende der 70er Jahre trennte sich die Mailänder Gruppe. Mara Selvini Palazzoli und Guiliana Prata konzentrierten sich auf die Forschung. Sie versuchte, ihre Interventionen immer weiter zu verfeinern, immer neue Wege der Veränderung zu suchen. Zu ihren späteren Entwicklungen gehören die Methode der invarianten Verschreibung und Versuche, ihre Ideen auch auf größere soziale Systeme anzuwenden. Ende der 80er Jahre habe sie „das Individuum wiederentdeckt“ und arbeitete an der Entwicklung eines komplexen Ansatzes, der individuenbezogene und systembezogene Perspektiven integriert.
Die invariante Verschreibung: allen Familien wird unabhängig von der Konfliktlage dieselbe Aufgabe gegeben. Die Eltern werden nach zwei Sitzungen allein eingeladen, die Kinder bleiben zu Hause. Danach wird den Eltern eine komplexe, vierstufige Verschreibung gegeben, die vor allem Geheimhaltung beinhaltet. Zu festgesetzten Terminen geht das Paar aus, ohne jemandem zu sagen wohin, auch nicht den Kindern. Beide Eltern führen getrennt Tagebuch und notieren die Reaktionen der Kinder. Der Indexpatient, es waren immer schwere Krankengeschichten, gab in vielen Fällen sein psychotisches Verhalten auf.
Boscolo und Cecchin nannten sich nach der Trennung „Milan associates“ und konzentrierten sich auf die Ausbildung. Die konkreten Schwierigkeiten bei der Ausbildung der Trainees führte dazu, daß die Bedeutung kontextueller Unterschiede erkannt wurde. Der Effekt einer Intervention auf andere „bedeutsame Systeme“ mußte beachtet werden. Die StudentInnen lernten, die kommunikativen Netzwerke zu analysieren, in denen sie arbeiteten. Darüber hinaus wurde die Arbeit von Teams vorangetrieben, was auch die Möglichkeit von Live-Supervision und Beobachtungsteams einschließt.
Charakterisierungen
„Allen Konzepten therapeutischer Intervention der Mailänder Gruppe liegt die Perspektive zugrunde, daß nicht das einzelne Familienmitglied, auch nicht der identifizierte Patient und nicht einmal die Familie selbst das Objekt dieser Intervention ist, sondern das „Familienspiel“: Jede Familie konstituiert sich in einem gewissen Zeitraum, Transaktionen werden quasi experimentell erprobt, bis das System zu einer Struktur findet, die durch Regeln gesteuert wird. Eine „pathologische“ Familie reguliert sich somit durch Transaktionen, die die Art des Symptoms widerspiegelt.“[31]
„(Systemische Therapie)...geht von der klinischen Arbeit Haleys und Watzlawicks aus und orientiert sich an der Epistemologie Batesons. Er bestimmt die Familie prinzipiell als ein selbstorganisiertes System, wobei pathologische Familien als Opfer eines unentrinnbaren „Spiels“ gelten. In diesem Spiel seien die Teilnehmer zu paradoxen Interaktionsformen gezwungen, deren Redundanz die Homöostase schütze. Die Therapie muß sich also gegen das Spiel selbst richten, als Gegenparadoxien entwickeln. Dabei wird das pathologische Verhalten durch geeignete Interventionen „funktionalisiert“, was die Familie zum Widerstand und zur Veränderung des Spiels provoziert. Dabei befolgt das Therapeutenteam drei Richtlinien: Hypothetisieren (funktionale Einordnung des Symptoms in das Spiel der Familie), Zirkularität (Prüfung der Hypothese durch zirkuläres Befragen und Orientierung an den Antworten) und Neutralität (Wahrung der Allparteilichkeit gegenüber allen Familienmitgliedern). Jede Sitzung endet mit einem Kommentar oder einer Verschreibung, die paradox zum pathologischen Spiel der Familie stehen und es daher „blockieren“ („verunmöglichen“)“[32]
31. Erfahrungszentrierte Familientherapie (Kriz) oder Erlebnisorientierte Familientherapie (Schlippe)
Personen, die dieser „Richtung“ zugeordnet werden:
Carl Whitacker, Virginia Satir, Walter Kempler und Peggy Papp. Carl Whitaker begann Mitte der 50er Jahre in Atlanta (ab 1965 in Wisconsin) mit familientherapeutischer Arbeit. Mitte der 60er Jahre entfernte sich Virginia Satir mehr und mehr vom MRI und engagierte sich in der sog. „human growth“- Bewegung. Sie vor allem hat die familientherapeutische Bewegung popularisiert. Nähe zur Humanistischen Psychologie. Virginia Satir geht von einem Wachstumsmodell aus, in dem Veränderung als permanenter Lebensprozeß betrachtet wird. Therapieziel ist die Erweiterung der in jedem Menschen liegenden Möglichkeiten.
„In der Familientherapie ist es ihr Ziel, die Bedürfnisse jedes einzelnen Familienmitgliedes nach unabhängigem Wachstum einerseits und die Einheit des Familiensystems andererseits zu integrieren“[33]
Verlagerung des Fokus von der Problemlösung zu den Bewältigungsfähigkeiten. Virginia Satir untersucht im diagnostischen Prozeß das Leben eines Klienten oder einer Familie mit dem Ziel, die darunterliegende Dynamik zu verstehen. Symptom als Versuch, sich einem System anzupassen und darin zu überleben. Ihre therapeutische Methode nennt sie „Selbstwertprozeßmodell“.
„Virginia Satir selbst hebt den „Selbstwert“ als zentralen Faktor (in Verbindung mit Wachstum) hervor, der im Hinblick auf die Kommunikationsstrukturen in der Familie besondere Bedeutung hat...Ein geringer Selbstwert führt zu dysfunktionaler Kommunikation, weil dann, um den Selbstwert zu schützen, auf bestimmte starre Reaktionsmuster... zurückgegriffen werden muß. Durch diese Verbindung von Selbstwert und Kommunikation gelingt Satir quasi eine Mehr-Ebenen-Perspektive: Denn Kommunikation, etwas Interpersonales, Kennzeichen des Systems „Familie“, wird unmittelbar in Bezug gesetzt zu etwas Intrapersonalem, dem Selbstwert. Gleichzeitig wird aber auch in dynamisch-systemischer Zirkularität darauf aufmerksam gemacht, daß diese intrapersonale Größe nur im System, relativ zu den Kommunikationsstrukturen erworben wurde (in der Ursprungsfamilie) und nun in der Interdependenz Selbstwert - Kommunikation perpetuiert wird... In diesem Zusammenhang hat Satir ... „universelle Reaktionsmuster“ bzw. Kommunikationsformen (-muster) herausgearbeitet, die Menschen gebrauchen, um einer Minderung ihres Selbstwertes vorzubeugen.“[34]
Die therapeutische Aufgabe besteht darin, die in der Pathologie einer Familie aufgestaute Energie umzuformen und zu transformieren, so daß sie fruchtbar werden kann (ebd., S.169). In der ersten Stufe wird Kontakt hergestellt, in der zweiten Stufe herrscht Chaos; die Therapeutin greift in das System ein und stört den status quo. In der dritten Stufe wird das Neue integriert. Wesentliche Elemente ihrer Techniken: Skulptur ( Darstellung der Beziehungen zueinander in der Form einer Skulptur), Metaphern, Drama (Mitglieder einer Familie spielen Szenen aus ihrem Leben), Reframing (Umdeuten problematischer Verhaltensweisen, so daß positive Absichten etc. deutlich werden), Humor, Berührung.
Spezielle Techniken: Arbeit mit Kommunikationshaltungen, Familien-Streß-Ballett (Erweiterung der Arbeit mit Kommunikationshaltungen, Wechsel in schneller Folge), Simulierte Familie, therapeutische Arbeit mit Seilen als Metapher für Beziehungen, Anatomie einer Beziehung durch Skulpturen, Familienrekonstruktion, Parts Party (Darstellung der verschiedenen Anteile eines Menschen durch andere).
32. Die Strukturelle Familientherapie
Anfang der 60er Jahre führte Salvador Minuchin ein Forschungsprojekt mit Jugendlichen an der New Yorker „Wiltwyck School“ durch und begann 65 an der Philadelphia Child Guidance Clinic mit der familientherapeutischen Behandlung psychosomatischer Kinder. Jay Haley wechselte von Palo Alto nach Philadelphia und half Minuchin bei der Entwicklung der strukturellen Familientherapie (1967-1976).
Grundzüge: Verlagerung des Fokus von der Kommunikation auf die Familienstruktur. Der Begriff „Struktur“ bezieht sich auf die Gliederung der Familie in Subsysteme, auf die Starrheit/Flexibilität dieser Subsysteme, auf die Transaktionen zwischen ihnen sowie auf Aspekte der Abgrenzung und der Durchlässigkeit solcher Grenzen. Problementstehung unter dem Gesichtspunkt des Lebenszyklus, Familien machen einen zeitlichen Entwicklungsprozeß durch. Familie ist hierarchisch strukturiert, Beschränkung auf die Machtunterschiede zwischen den Generationen, aber weiterhin Tabuisierung der Kategorie Geschlecht.
Die normative Familienstruktur:
Es müssen klare Grenzen zwischen den Subsystemen existieren. Grenzen bewahren die Differenzierung der Familie in Subsysteme, durch diese wiederum erfüllt das Familiensystem seine Funktionen (z.B. einzelne Mitglieder schützen, sich Veränderungen anpassen). Klare Grenzen bedeutet, daß sie nicht zu starr sind (dann wären die Subsysteme voneinander losgelöst) und nicht zu diffus (Verstrickung). Minuchin hebt drei Subsysteme hervor: das eheliche, das elterliche und das geschwisterliche Subsystem. Besondere Bedeutung hat die klare Abgrenzung des ehelichen Subsystems. Bei der Enstehung sog. „pathogener Strukturen“ spielt das Konzept der Triangulierung eine wesentliche Rolle. Unter Triangulierung (Dreiecksbildung) versteht man die „Erweiterung einer konflikthaften Zweierbeziehung um eine dritte Person (z.B. Kind, Therapeut), die den Konflikt verdeckt und/oder entschärft“. Der Konflikt wird auch verdeckt, wenn der Dritte (meist das Kind) ein Problem entwickelt, um das sich die Eltern dann kümmern müssen.)
Konzept der Intervention:
Die Intervention geht von drei Axiomen aus:
1. Die Familienstruktur als Kontext beeinflußt die inneren Prozesse des Individuums (und umgekehrt),
2. Veränderungen in diesem Kontext bewirken Veränderungen im Individuum,
3. das Verhalten des Therapeuten wird Teil des Kontextes.
„Der Grundgedanke lautet hier, daß eine Veränderung dadurch zustande kommt, daß sich der Therapeut der Familie anschließt und sie nach einem sorgfältigen Plan neu strukturiert, so daß die dysfunktionalen Transaktionsmuster umgewandelt werden.“[35]
Der therapeutische Prozeß besteht aus drei wichtigen Schritten:
1. der Therapeut schließt sich der Familie an und nimmt die Führung ein
2. er deckt die zugrundeliegende Familienstruktur auf
3. schafft er Umstände, die eine Transformation der Struktur möglich machen (Eingriff in die Homöostase, Krisen schaffen, in Richtung auf neues Gleichgewicht drängen).
Techniken:
1. Herausforderung des Symptoms durch Umformung (Reframing)
2. Herausforderung der Familienstruktur, Enthüllung von Bündnissen und Koalitionen, Erfahrbarmachen von Grenzen, Aufzeigen von Konflikten, wechselnde Arbeit mit den Subsystemen, unterschiedliche Koalitionen eingehen
3. Herausforderung der Familienrealität durch paradoxe Intervention, Arbeit an kognitiven Strukturen, Reframing.
„Der strukturell orientierte Familientherapeut sieht die Familie als eine natürliche Gruppe an, die im Verlauf der Zeit für sie ökonomische und effektive Transaktionsmuster herausgearbeitet hat. Familienstrukturen kommen in Regeln zum Ausdruck, die Interaktionen regulieren. Diese Regeln bilden eine Metastruktur, von der das Verhalten eines jeden Gruppenmitgliedes abhängt und gelenkt wirdBei der Behandlung der Familie nimmt der strukturell orientierte Therapeut an, daß irgendeine Art von Streß die adaptiven Bewältigungsmechanismen des Familiensystems zu stark belastet und ... das optimale Funktionieren behindert. Die Familie sieht gewöhnlich das Verhalten eines ihrer Mitglieder als Ursache des Problems...Sie erwarten vom Therapeuten eine Veränderung dieser Person...Aber jener setzt den Schwerpunkt auf die ganze Gruppe...So gliedert sich der Therapeut der Familie an und bildet ein neues System - das therapeutische System. Er hilft den Familienmitgliedern, alternative Interaktionswege zu erforschen und zu aktivieren. Das Behandlungsziel ist ein Familiensystem, das die eigene positive Weiterentwicklung fördern und ermutigende, stützende und erneuernde Funktionen wahrnehmen kann...“[36]
Techniken:
Therapeut muß Abstand halten, so daß er herausfordern kann, aus dem Gleichgewicht bringen kann, Schwerpunkte setzen kann, z.B. durch paradoxe Bemerkungen, Veränderung von Grenzen, der Sichtweise und der Realität.
Die Intervention des Therapeuten geschieht vor dem Hintergrund einer relativ klaren, normativen Vorstellung, wie die Struktur einer gut funktionierenden Familie beschaffen sein sollte und wie nicht. („American dream“). „Der Familientherapeut muß von Anfang an die Führung übernehmen“ (Minuchin).
33. Psychoanalytisch orientierte Familientherapie
Bei den meisten Ansätzen wird die Beziehung zwischen den Familienmitgliedern in das Zentrum der Betrachtung gerückt und direkt thematisiert. Die Perspektive wird vom Individuum auf die gegenwärtige Kernfamilie und auf die Multigenerationen-Familie erweitert. Dabei werden Großeltern oder noch weiter zurückliegende Generationen mit einbezogen - sei es , daß diese persönlich an den Sitzungen teilnehmen oder zumindest die Beziehung der Kernfamilie zu diesen Personen thematisiert wird. James Framo dehnt diesen Aspekt sogar über die Familie hinaus aus: Alle Personen, die von den Familienmitgliedern für wesentlich gehalten werden, bezieht er in seine Familientherapie mit ein.
Die Mehr-Generationen-Familientherapie
Das Mehr-Generationen-Modell der Familientherapie ist eine Form der konfliktverarbeitenden Familientherapie, systemisch orientierte Beziehungstherapie, die „nicht nur die horizontale Interaktionsstruktur der Familie zu verändern versucht, sondern im Jetzt familiäre Beziehungsstrukturen auch in vertikaler Richtung bearbeitet, in der spiralförmigen, historischen Entwicklung des Systems Familie. Hierbei wird davon ausgegangen, daß das Frühere im Heute wirksam ist...“[37]
„...Von allen psychotherapeutischen Zugängen erscheint sie mir als kompromißloseste Bearbeitungsmethode der familien- und zeitgeschichtlichen Fakten. Es soll rekonstruiert, wiederbelebt und durchgearbeitet werden, welche Bindungsgefüge zu den Traumatisierungen führten, die sich als fortwirkende Konflikte niederschlagen... Die Mehrgenerationen-Familientherapie ist in ihrer Komplexität zwischen System- und Gruppentheorie sowie Psychoanalyse angesiedelt...“[38]
Entwicklung
Die erste Mitteilung über eine Arbeit mit drei Generationen erschien 1956 von Mendell und Fischer und wurde Multigenerationentherapie genannt. M. Bowen und seine Mitarbeiter entwickelten 1960 nach intensivem Studium an Familien mit schizophrenen Indexpatienten das diagnostische Instrument des Genogramms.
1957 erhielt Ivan Boszomenyi-Nagy vom Leiter des Eastern Pennsylvania Psychiatric Institute (E.P.P.I.) den Auftrag, ein neues psychiatrisches Programm auszuarbeiten und umzusetzen. Nagy hatte sich vor allem mit der Behandlung von Psychotikern befaßt. Als Leiter des Departments für Familientherapie versammelte er eine Reihe von familientherapeutisch arbeitenden KollegInnen um sich unter ihnen James Framo, Gerald Zuk, Geraldine Spark, David Rubinstein, Barbara Krasner, Margaret Cotroneo, Leon Robinson, Geraldine Lincoln-Grossman und Oscar Weiner.
Theorie
„Durch die reale Wiedereinbeziehung der stets ambivalent besetzten Personen der Psychogenese verändert sich das System selbst; der Fokus wird von der designierten Person weg in die persönlich repräsentierte Geschichte des Elternpaares verlegt. Durch direkte Konfrontation mit dem Wiederholungszwang kommt es zum Bewußtwerden und zur Aufhebung der Verdrängungen. Das Früher und Heute begegnen sich im therapeutischen Realraum des Hier und Jetzt. Mit Hilfe der Freilegung der früheren und gegenwärtigen Umweltumstände wird die bisherige Schicksalhaftigkeit der unsichtbaren und deshalb unbewußten Loyalitätsbindungen erfaßt. Einstellungen und Handlungsweisen der jeweiligen Eltern werden erst transparent, wenn deren eigene Kindheitsbedingungen verdeutlicht sind und zwar in Gegenwart aller unmittelbar und mittelbar beteiligten Familienmitglieder. Dieses Vorgehen führt dazu, daß bisher Unausgesprochenes erstmalig aussprechbar wird. Bis dahin unbekannte faktische Umstände werden mitgeteilt und führen zu einer Umbewertung der Vergangenheit...“[39]
Für Nagy und seine Gruppe entwickelt sich die wichtigste Dimension enger Beziehungssysteme aus der über Generationen hin fortgeschriebenen Bilanz von Verdienst und Verpflichtung.
„Der Familientherapeut muß lernen, die individuellen, deskriptiven und dynamischen Konzepte auf folgende Dimensionen des Beziehungssystems abzustimmen:
1. funktionelle Interaktionsmuster
2. Trieb-Objekt-Bezogenheit
3. Blutsverwandtschaft
4. interpersonale Pathologie
5. miteinander verzahnte, unbewußte Mechanismen der einzelnen
6. Begegnungsaspekte des ontischen Dialogs
7. Mehrgenerationen-Gerechtigkeitskonten ...
Alle Beziehungssysteme sind konservativ. Ihre Logik verlangt, daß das, was die Mitglieder gemeinsam an Fürsorge und Anteilnahme investieren, dazu diene, mögliche Ungerechtigkeiten auszugleichen und alle Ausbeutung vergessen zu machen. Infolge der Unwandelbarkeit der genetischen Verwandtschaft und der Kontinuität der Schuldkonten ist die Familie das konservativste aller Beziehungssysteme..“[40]
Ein wesentlicher Begriff für das Verständnis von Familienbeziehungen ist für Nagy Loyalität. Die therapeutische Exploration der Mehrgenerationen-Verdienstkonten wird durch Einbeziehung von Mitgliedern dreier aufeinanderfolgender Generationen der Familie erleichtert.
Nagy und Spark stellen folgende Grundsätze auf:
- Der Therapeut ist dann Familientherapeut, wenn er sich an die Verpflichtung gebunden fühlt, allen Familienmitgliedern zu helfen.
- Er hat eine aktive Rolle zu spielen. Er muß in der Lage sein, die Partei eines Mitglieds zu ergreifen und danach die der anderen. Wesentliche Voraussetzung für diese Fähigkeit ist, daß sich der Therapeut seinen eigenen Familienbeziehungen stellt.
- Er muß das Vertrauen aller Familienmitglieder besitzen.
34. Familientherapie in Deutschland
34.1 Horst-Eberhard Richter: Rollentheorie
Horst-Eberhard Richter hat schon sehr früh familientherapeutische Aspekte in seine Arbeit einbezogen. Er entwickelte 1963 eine Rollentheorie für die Analyse der Eltern-Kind-Beziehung, die sich auch für Paare eignete. Freuds Konzept der „Objektwahl“ steht im Vordergrund. Die Rollen sind durch die unbewußten und bewußten gegenseitigen Erwartungen der Partner charakterisiert, wobei diese Erwartungsstrukturen oft Abwehrprozessen dienen. Rollenzuweisungen werden benutzt, um sich kompensatorisch von intraindividueller Konfliktspannung zu entlasten. Statt Konflikte auszutragen, wird der Partner manipuliert, als entschädigendes Ersatzobjekt oder als narzißtische Fortsetzung ihrer selbst zu fungieren. Richter unterscheidet fünf Klassen von Rollenvorschriften:
1. Rolle eines Partnersubstituts
2. Rolle eines Abbildes
3. Rolle des idealen Selbst
4. Rolle des negativen Selbst
5. Rolle des Bundesgenossen[41]
1971 brachte Horst-Eberhard Richter die Pioniere der deutschsprachigen analytischen Familientherapie in einer „Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung und Familientherapie - AGF“ zusammen. Dazu gehörten: Baumann, Beckmann, Duss-von-Werth, Kaufmann, Massing, Neraal, Reiter, Rücker-Embden, Schindler, Sperling, Stierlin, Strotzka, Uchtenhagen, Willi.
Mit dem Eintritt Stierlins 1974 kam es zu wachsender Polarisierung. Richter, Strotzka und Willi hielten an ihrer psychoanalytischen Identität fest und sahen in der Familientherapie eine Erweiterung der Theorien und Modifikationen der Technik, die jedoch die Grundlagen der Psychoanalyse nicht in Frage stellten. Stierlin und Duss-von-Werth sahen in der Familientherapie ein grundlegend neues Paradigma, mit ganz eigenen Theorien und Methoden.[42]
34.2 Helm Stierlin: Dynamische Familientherapie
Stierlins Konzept ist von Boszormenyi-Nagy beeinflußt.
Er unterscheidet fünf Hauptgesichtspunkte:
1. Bezogene Individuation - allgemeines Prinzip, dem zufolge ein höheres Niveau an Individuation (Ausbildung einer individuellen Identität) auch jeweils ein höheres Niveau an Bezogenheit auf andere verlangt und ermöglicht. Es geht dabei um die systemisch-wechselseitige Bedingtheit der Individuation der Familienmitglieder. Wenn die notwendige Abgrenzung mißlingt, wenn Grenzen zu brüchig und durchlässig sind, spricht Stierlin von Unterindividuation, bei starren Grenzen von Überindividuation. Dritte Störung: ambivalentes Pendeln.Therapeutische Konsequenz: Förderung der Dialogbereitschaft, Training konkreter Kommunikation
1. Die Interaktionsmodi von Bindung und Ausstoßung: Überwiegt der Bindungsmodus, bleibt der Jugendliche im Familienghetto gefangen, überwiegt der Ausstoßungsmodus, kann Delinquenz und Verwahrlosung die Folge sein. Die Trennungsdynamik kann der Es-, Ich- und Über-Ich-Ebene zugeordnet werden. Bei Bindung und Ausstoßung spielt nicht geleistete Trauer eine Rolle. Die Trauerarbeit muß in der Therapie nachgeholt werden.
1. Delegation: hier geht es um Aufträge und Vermächtnisse, die oft über Generationen wirksam sind. Kernelement ist das Loyalitätsband, das Delegierenden und Delegierten verbindet und sich bereits in der frühen Eltern-Kind-Beziehung ausbildet. Die Delegationsperspektive ermöglicht es dem Therapeuten, symptomatisches Verhalten als positive Leistung für die Familie zu betonen.
1. Vermächtnis und Verdienst: Mehrgenerationendynamik hinsichtlich der Delegation.
1. Status der Gegenseitigkeit: In schweren Beziehungsstörungen ist häufig eine „symmetrische Eskalation“ zu beobachten. Dieser Teufelskreis muß unterbrochen werden.
35. Die strategisch-konstruktivistische Therapie (lösungsorientierte Kurzzeittherapie)
„Die Veränderung, die mit Hilfe der strategisch-konstruktivistischen Kurztherapie zu erzielen ist, besteht aus einem schnellen, effektiven und nachweisbaren Umbruch der kognitiven und emotionalen Muster, durch welche die Selbstwahrnehmung des Patienten sowie sein Modell seiner Beziehung zur Störung organisiert werden. Muster, die auch die Grundlage bilden für den Widerstand gegenüber Veränderungen und die Dauerhaftigkeit der Störung... Ein weiterer bedeutsamer Vorzug des strategischen Ansatzes besteht darin, daß sich sowohl der Therapeut als auch das Modell sorgfältig begrenzte Ziele setzen. Die Theorie ist dazu da, dem Therapeuten die angemessenen Prämissen, den „Leim“ und die logische Schlüssigkeit für sein Handeln zur Verfügung stellen. Der Therapeut muß herausfinden, wie das interne und externe relationale perzeptive System eines Patienten organisiert ist, um innerhalb des Systems erfolgreich diejenigen umstrukturierenden Techniken zum Einsatz zu bringen, die das psychische Problem des Patienten einer Lösung zuführen.
Das Ziel der strategischen Therapie besteht darin, Veränderungen zu erreichen in der Art und Weise, wie Menschen ihre eigenen und dysfunktionalen Realitäten konstruieren. Wenn der Therapeut Veränderungen dieser Handlungs- oder Repräsentationsmodalitäten herbeiführen will, muß er versuchen, den Stil des Patienten und seine Denkungsart zu übernehmen, kurz „lernen, die Sprache des Patienten zu sprechen“. Nur dadurch hat der Therapeut Zugriff auf die Bedeutungskodes und Ressourcen des Patienten. Die Grundannahme, von der ausgegangen wird, ist, daß die menschliche Psyche nicht passiv, prädeterminiert oder reaktiv ist, sondern aktiv und konstruktiv in den meisten ihrer Prozesse, und daß sie somit die Realitäten, unter denen sie lebt selbst herstellt...“[43]
„Ein Problem mit dem Ziel seiner Lösungen zu ergründen, bedeutet vor allem, sich von der Frage „Warum existiert es?“ abzuwenden und sich auf die Frage „Wie funktioniert es?“ zu konzentrieren. Damit verschiebt sich das Schwergewicht von einer Untersuchung von Inhalten hin zu einer Beschäftigung mit Prozessen, von einer semantischen Analyse des Problems hin zu einer pragmatischen Bewertung seiner Funktionsweise, von einem physikalistischen und deterministischen epistemologischen Modell hin zu einem kybernetischen und konstruktivistischen ..., und von einem rigiden Linearitätskonzept von Ursache und Wirkung hin zu einem Interaktionskonzept, das die wechselseitigen Beziehungen von Problemaufrechterhaltung und -lösung hervorhebt...Aus dieser alternativen methodologischen Perspektive heraus ergründen wir die Funktionsweise des von uns analysierten spezifischen menschlichen Systems über Interventionen, die auf die Veränderung dieser Funktionsweise abzielen...“[44]
Behandlungsablauf:
Erstes Stadium: 1.Sitzung
Ziele:
1. Problemdefinition und Motivierung des Patienten
2. Vereinbarung der Ziele, Aufbau der therapeutischen Beziehung, Schaffung eines vertrauensvollen Arbeitsbündnisses
3. Untersuchung und Neudefinition des perzeptiv-reaktiven Systems des Patienten
4. Aufstellen einer Interventionshypothese
5. Eröffnungszüge
Strategien
1. tracing technique (indirekte Verschreibung (Tagebuch) zur Verschiebung der Aufmerksamkeit weg vom Symptom)
2. Zirkuläre Umdeutung des Problems
3. Zirkuläre Umdeutung des perzeptiv-reaktiven Systems und der versuchten Lösungen
4. Paradoxe Umdeutung
5. Konfusionstechnik
6. Gebrauch von Metaphern
7. Indirekte Vehaltensverschreibungen
Zweites Stadium: 2. bis 5. Sitzung
Ziele:
1. Aufbrechen des starren perzeptiv-reaktiven Systems und der versuchten Lösungen
2. Neudefinition der ersten Veränderung
3. Anstoß zu weiteren, weitreichenden Veränderungen
4. Veränderung der Realitätswahrnehmung des Patienten
Kommunikation:
Es wird eine hypnotische Sprache (Hypnose ohne Trance, aktives Zuhören, nonverbale Suggestionen und persönliche Einflußnahme) verwendet
Strategien
1. Umdeutungen
a) paradoxe
b) provokative
c) Zweifel
2. Verhaltensverschreibungen
a) direkte
b) indirekte
c) paradoxe
Suggestionen mit Hilfe von Metaphern
Anekdoten
b) Geschichten
c) Aphorismen
4. kognitiv-explanative Neudefinition der erreichten Veränderungen
Kommunikation:
Der Therapeut bedient sich einer hypnotischen Sprache (Hypnose ohne Trance oder suggestive Sprache) und übt ein Maximum an persönlicher Einflußnahme aus.
Drittes Stadium: ab 6. Sitzung
Ziele:
1. Direkte Erfahrung der Problemüberwindung
2. Weitere fortschreitende Veränderungen bis zur Erreichung der anfangs festgelegten Ziele
3. Neudefinition von Wahrnehmungen und der Beziehung zu sich selbst
4. Konsolidierung der erzielten Ergebnisse
5. Erwerb eines flexiblen perzeptiv-reaktiven Systems
Strategien
1. Direkte oder indirekte Verhaltensverschreibungen (auf weniger „suggestive“ Weise)
2. Umdeutungen
3. Paradoxe Vorwegnahme eines Rückfalls
4. Erläuternde Neudefinition der Veränderungen und Anreize für persönliche Autonomie
Kommunikation:
Die verwendete Sprache ist immer weniger hypnotisch. Es kommt zu einer Rücknahme persönlicher Beeinflussung und Injunktion zugunsten einer indirekten Förderung persönlicher Autonomie
Viertes Stadium
Ziele:
Vollständiger Erwerb von persönlicher Autonomie und perzeptiv-reaktiver Flexibilität durch den Patienten
Strategien:
Ausführliche Erklärung der bewältigten Arbeit (kognitive Neudefinition) und Erläuterung des Veränderungsprozesses
Attribution der Verantwortung für Veränderung auf den Patienten und seine persönlichen Ressourcen
Kommunikation:
Die verwendete Sprache ist überhaupt nicht hypnotisch, sondern deskriptiv und umgangssprachlich.[45]
36. Die Entwicklung der Familientherapie/systemischen Therapie in den 80er und 90er Jahren
„In den 80er Jahren traten einige grundlegende Veränderungen in der systemischen Therapie ein, die dem Individuum die Bedeutung zurückgaben, die ihm in der vorausgegangenen Phase versagt worden war. Entscheidend dafür war die Tatsache, daß die „Black-box“-Theorie - der zufolge ein Beobachter nur die Interaktion zwischen den Menschen, das heißt den Input und Output, sehen konnte - allmählich in Frage gestellt wurde. Die erste Generation von Familientherapeuten hatte die Black-box-Methode übernommen, um die inhärente Komplexität der Persönlichkeitstheorien, vor allem der psychoanalytischen Theorie, auszuschalten, die das Feld der Psychotherapie nicht nur beeinflußt, sondern de facto monopolisiert hatte. Doch die Beschäftigung mit den „Beziehungen zwischen den Elementen innerhalb abgesteckter Grenzen“ - um die einfachste Systemdefinition zu benutzen, wobei die Elemente Personen entsprechen, deren Motivationen, Phantasien und Emotionen ignoriert werden müssen - hatte einen reduktionistischen Beigeschmack und erinnerte an den Behaviorismus. Das intrapsychische Leben des Individuums wurde folglich ignoriert.“[46]
„Vollzieht man die Entwicklungslinien der systemischen Therapie in den vergangenen 50 Jahren nach, fällt trotz dramatischer epistemologischer Umwälzungen eine mehr oder weniger gleichbleibende Distanz zum Themenbereich der affektiven Kommunikation auf. Diese Distanz, ursprünglich sicher aus heuristischen Gründen sinnvoll, erweist sich m.E. zunehmend als Einengung der systemischen Perspektive ... Die ersten systemischen Konzepte grenzten sich von klassischen individuumzentrierten Modellen durch eine Radikalisierung der interaktionellen Perspektive ab. Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise ging es in der Therapie nicht mehr um Interpretation „innerer“ Erfahrungen, sondern um die Veränderung beobachtbaren Verhaltens. Für alles Verhalten gilt daher erstens das Prinzip der Kontextbezogenheit. Verhalten läßt sich nicht als Eigenschaft von Individuen beschreiben, sondern gewinnt Sinn für den Beobachter nur in bezug auf den Kontext, in dem es stattfindet. Das Verhalten von Individuen und Gruppen ist nicht nur füreinander wechselseitig Kontext, sondern durch interaktionale Regeln auf besondere Weise vernetzt. Das zweite hervorzuhebende Prinzip ist daher das der Musterorientierung: Die zirkuläre Organisation von Verhaltensweisen zu interaktionellen Mustern erlaubt die zeitliche Stabilisierung von Systemen, u.U. um den Preis der Einschränkung des Handlungsbereiches. Muster sind regelhaft und reproduzieren sich im Hier und Jetzt. Die Untersuchung von Systemregeln, Musterbildung und Verhaltenskontexten durch einen quasi-objektiven Beobachter zeichnet die sogenannte „Kybernetik 1. Ordnung“ aus.
Der Konstruktivismus, der als „Kybernetik 2.Ordnung“ seit den 80er Jahren die systemische Therapie als Leitkonzept dominiert, stellt ein anderes Konzept in den Vordergrund: Individuen werden nicht mehr als analysierbare Systeme, sondern als nicht-triviale, autonome Systeme verstanden: Sie sind weder von außen instruierbar, noch ist ihr Verhalten eine bloße Funktion ihrer Beziehungen. Als Konsequenz ergibt sich eine Veränderung des Wirkverständnisses von Psychotherapie. Aufgaben, (paradoxe) Verschreibungen und direkte Anweisungen zur Musterunterbrechung problematischer Handlungsabläufe verlieren an Bedeutung zugunsten der Konstruktion von lösungsorientierten Ideen durch die Klienten. Damit einher geht die Erkenntnis der Notwendigkeit eines sorgfältigen Beziehungsaufbaus, um überhaupt einen Zugang zum autonomen System zu finden.
Eng verknüpft mit dieser Sichtweise ist als weiteres Basiskonzept das Postulat von Wirklichkeit als subjektabhängigem Konstrukt. Die Wirklichkeit von Systemen ist somit keine objektiv explorierbare Größe, sondern vom jeweiligen Beobachter aufgrund seiner subjektiven Bedingungen konstruiert. Therapeutenkonstruktionen können daher den Klientenkonstruktionen nicht mehr aufgrund eines höheren Wahrheitsgehaltes als überlegen angesehen werden. Dennoch sind Konstrukte nicht beliebig: Das Verhalten der Individuen orientiert sich mehr oder weniger stabil an ihren Konstrukten, die im Rahmen ihrer subjektiven Interaktionsgeschichte hervorgebracht worden sind.
Aus der Konversations- bzw. Diskursorientierung in der systemischen Therapie der 90er Jahre läßt sich die Bedeutung von Narrativen als weiteres Essential festhalten. Für die Konstruktion von Problemen oder Lösungen sind nicht nur die subjektiven Erfahrungen von Bedeutung, sondern vor allem auch die Art und Weise, wie Erfahrungen sprachlich in Geschichten gefaßt werden. Kriterien für „gute“ Geschichten oder Narrative im Sinne ihrer Nützlichkeit für die Bewältigung von Entwicklungsübergängen und schwierigen Lebenssituationen sind z.B. Kohärenz, Geschlossenheit und Anschlußfähigkeit der Erzählungen. Wenn dies so ist, geht es in Therapien nicht nur um individuelle Geschichten, sondern auch um gesellschaftliche, d.h. um den Einfluß sozialer Diskurse. Problemwahrnehmungen und -beschreibungen von Klienten und Therapeuten sind in hohem Maße eingebettet in übergreifende soziale Diskurse ..., die als bedeutsame Parameter betrachtet werden müssen.
...
Wir brauchen dagegen anschauliche Beschreibungen für unsere Wirklichkeit, die uns und unseren Klienten bei der Orientierung im Alltag helfen. Die Beschäftigung mit affektiver Kommunikation kann diese Lücke auf zwei Weisen füllen: Zum einen bietet sie ein erweitertes Modell der Entwicklung von (inter-)subjektiven Konstrukten, zum anderen erlaubt sie eine verbesserte Orientierung im therapeutischen Hier und Jetzt über die sprachliche Thematisierung von Problemen hinaus, die sich gerade ohne eine Rückbindung an nonverbale Prozesse eher schwierig gestaltet.
Ein Diskurs, der die Perspektive systemischer Therapie um den Bereich affektiver Kommunikation erweitert, müßte sich u.a. mit folgenden Fragen beschäftigen:
- Welche affektiven Interaktionen finden in therapeutischen Sitzungen statt, wie wirken sie auf den Therapieverlauf?
- Welcher Art muß die therapeutische Beziehung sein, damit Veränderung geschehen kann?
- Gibt es veränderungswirksame Prozesse, die in allen Therapien aufzufinden sind, unabhängig von den jeweiligen therapeutischen Schulen?
- Sind diese Prozesse der bloßen Intuition der Therapeuten überlassen oder kann man sie gezielt einsetzen?
- Auf welche Weise können solche nicht-spezifischen Wirkfaktoren in den Therapiemodellen konzeptualisiert werden?
- Wie kann die Nutzbarmachung in der therapeutischen Ausbildung aussehen? Sind sie lern- und lehrbar?
Um erstarrte Konfliktmuster und Sichtweisen in Bewegung zu bringen, ist die Induktion von positiven Affekten und Gefühlen in das therapeutische System Voraussetzung. In erster Linie zielt diese Aussage auf die Bedeutung von Interesse und Neugier als wichtigstem Basisaffekt für Veränderungsprozesse. Die systemische Therapie richtet sich mit ihrem Methodenrepertoire genau auf diesen Punkt. Die aktive Haltung des Therapeuten, seine Ressourcenorientierung, die Fokussierung auf das Gelingende und auf symptomfreie „Inseln“ in der Vergangenheit und Gegenwart, positive Konnotationen, Reframing und das für die Beteiligten ungewöhnliche und überraschende zirkuläre Fragen sind Beispiele par excellance für eine Vorgehensweise, die ein positives lösungsbezogenes Klima herstellen kann, statt mit den Klienten in defizitären Zustandsbeschreibungen zu verharren.
Allerdings greift eine solche Vorgehensweise nur, wenn die Klienten sich in ihrem Leid und ihrer Problemsicht gleichzeitig ernstgenommen fühlen können. Induktion positiver Affekte muß als passend erlebt werden, es muß sich ein Evidenzgefühl - d.h. ein Gefühl von Stimmigkeit des inneren Erlebens und der Wahrnehmung der äußeren Situation - ergeben, welches den Klienten vermittelt, mit den Therapeuten in Kontakt zu sein. Nur dann kann ein ausreichendes Sicherheitsgefühl entstehen, das Raum für Exploration schafft.“[47]
„...Während Ciompi darauf hinweist, daß Wirklichkeitskonstruktionen in Kognitionen nicht aufgehen, bringt uns die Säuglingsforschung auf die Idee, daß Veränderungen von Wirklichkeitskonstruktionen auf einen stabilisierenden emotionalen Rahmen angewiesen sind. In Form einer Analogiebildung übertragen wir das auf den therapeutischen Prozeß und werden in unserer Auffassung bestärkt, daß das „Erkennen, wie ein System funktioniert“, also (in unserer Sprache) das Fallverstehen, nur ein Aspekt therapeutischen Handelns ist. Der andere, ebenso wichtige und keineswegs „unspezifische“ Aspekt besteht darin, eine emotional sichere Basis ... zu schaffen, auf der blockierende Wirklichkeitskonstruktionen aufgegeben und Alternativen erprobt werden können...In einem Bild ... ausgedrückt: Es reicht nicht aus, eine Pflanze in die Erde zu versenken (einen „Fall“ zu verstehen und das Verstandene den Klientinnen und Klienten mitzuteilen). Die Pflanze muß gegossen, die Erde darum herum gedüngt und gelockert werden, aufmerksam und immer wieder (Begegnung bzw. emotionale Rahmung). Patientinnen und Patienten brauchen diese Sicherheit und in der Sicherheit die ihnen gemäße Zeit (weshalb das Versprechen einer „Kurzzeittherapie“ sinnlos ist, denn jede Therapie braucht ihre Zeit, und was kurz oder lang ist, ist relativ)“[48]
Die systemische Therapie gibt es als eigenständigen Ansatz der Psychotherapie mit eigener klinischer Theorie und uneingeschränktem Anwendungsbereich erst seit knapp mehr als 15 Jahren. Meiner Einschätzung nach liegt seine kontinental-europäische Geburtsstätte in Zürich. Sie kam im Herbst 1981 zur Welt, als Paul Dell im letzten Kongreß für Familientherapie der damaligen Reihe in Zürich alle konzeptionellen Fundamente der Familientherapie erschütterte und den Übergang zur konstruktivistischen Perspektive einleitete. Einige Familientherapeuten waren schon vor dieser Wende auf Abstand zu den Familientherapien der 60er und 70er Jahre gegangen, denn sie waren entweder mit den auf Selbsterfahrung und Wachstum, auf Emotionalität und Körpersprache, auf Deutung und „Gespür“ aufbauenden oder mit andererseits auf Macht und Machbarkeit eingestellten Vorgehensweisen jener Zeit gründlich unzufrieden.
Die 70er Jahre waren von einer Rückwendung zur Innerlichkeit und einer starken Abneigung gegen alles Rationale beherrscht. Von dieser Welle erfaßt, übten sich viele Familientherapeuten im Deuten von Gesten, Mimiken, Körperhaltungen und dergleichen mehr, nebenher in einer Art des Beobachtens, die auf das emotionale Erfassen von subjektiven und intersubjektiven Mustern abhob. Gemäß ihrem Selbstverständnis als emotional geschulte Experten sahen sich diese Therapeuten in der Lage, die „wahren“ Gefühle und Interaktionsmuster ihrer Klienten zu erkennen und sie zu nutzen, um auf sie Einfluß zu nehmen.
Nebenher koexistierten ältere, aus den 60er Jahren stammende alternative Positionen der Familientherapie - z.B. die Schulen von Haley, Minuchin sowie das MRI um Watzlawick -, die mit ihren strukturellen und strategischen Vorgaben ebenfalls Anhänger gefunden hatten. Als konsequenteste Schule dieser Art entstand Ende der 70er Jahre der Mailänder Ansatz von Mara Selvini Palazzoli und Kollegen (1978). Dieser Ansatz, der als systemische Familientherapie bekannt wurde, gebärdete sich im Prinzip rational und strategisch und maß allen Emotionen derartig ungünstige Bedeutung zu, daß es galt, die Therapiekonzepte dagegen abzuschotten. Die Familien wurden quasi als Gegner der Therapeuten angesehen, so daß die therapeutischen Methoden über das eigentliche Ziel hinaus - das pathologische Spiel der Familie zu unterlaufen - auf den Schutz der Therapeuten angelegt wurden. Bei aller ethischen Hinterfragbarkeit seiner Praxis bot der damalige Mailänder Ansatz dennoch eine attraktive konzeptionelle Verbindung von Pragmatik und Effektivität einerseits mit erkenntnis- und systemtheoretischen Auffassungen andererseits. Wohl nicht zuletzt wegen dieser Verbindung stieß er rasch auf große Akzeptanz bei vielen Praktikern. Der Mailänder Ansatz ließ zwar in wissenschaftstheoretischer und ethischer Hinsicht zu wünschen übrig, er bestellte jedoch einen fruchtbaren Boden, auf dem die sog. konstruktivistische Wende wenige Jahre später aufkeimen konnte.
Die konstruktivistische Wende begann in den Jahren 1980-82. Autoren wie Paul Dell, Bradford Keeney und Steve de Shazer gelang es, die Pfeiler, auf denen die Familientherapie gebaut hatte, zu erschüttern und durch neue zu ersetzen. Man nahm neuerdings Bezug auf systemtheoretisch orientierte Naturwissenschaftler wie Humberto Maturana, Francisco Varela, Heinz von Foerster und auf Erkenntnistheoretiker wie Ernst von Glasersfeld. Aus den Ruinen althergebrachter Familientherapien ging nach und nach das systemische Konzept hervor. Es sollte aber ein ganzes Jahrzehnt dauern, bis eine neue, kohärente Theorie entstanden war.[49] Die 80er Jahre können daher als Säuglingsjahre der systemischen Therapie betrachtet werden.
Die Kleinkinderzeit machte die systemische Therapie in den 90er Jahren durch. Man war damit beschäftigt, das konzeptionelle Gerüst zu konsolidieren und dort, wo es nötig erschien, zu erweitern. Getreu den Prinzipien systemischen Denkens war dieses Gerüst aber instabil gedacht und nicht für alle Zeiten gebaut. Schon früh, also gegen Ende der 80er Jahre, entstanden bereits Differenzierungen und Akzentverschiebungen. Die Gruppen, die dem Mailänder Ansatz und dessen Weiterentwicklungen durch Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin verpflichtet blieben, pflegten weiterhin einen eher interventiven Ansatz.
Konzeptionelle Aufweichungen davon führten hingegen zu speziellen, auf Kooperation angelegte Vorgehensweisen wie das reflektierende Team von Tom Andersen (1990). Andere Gruppierungen orientierten sich zunehmend an den Lehren des sogenannten sozialen Konstruktivismus und gingen dazu über, Sprachliches zu betonen und die Realität als durch Sprache sozial konstruiert und vermittelt zu betrachten[50]. Im Extremfall dieser Richtung wurde Therapie als Prozeß sozialer Poietik verstanden[51]. Andere legten wiederum den Schwerpunkt auf die Pragmatik und Effektivität von Therapien und schlossen sich dem kurztherapeutisch, lösungsorientierten Ansatz von Steve de Shazer (z.B.1995) an. Im sog. narrativen Ansatz, wie er durch Michael White (z.B.1995) vertreten wird, fokussiert man auf die dominanten Geschichten (Narrative) im Leben der Klienten und benutzte diese als Ansatzpunkt für das Neuverfassen von Biographien. Kurzum, es zeigte sich, daß das System der systemischen Therapeuten genügend abgegrenzt war, um eine Binnendifferenzierung zu tolerieren, ohne auseinanderzufallen. Der auf Konstruktivismus, System- und Kommunikationstheorie beruhende Diskurs schien geeignet, Unterschiedlichkeit zu akzeptieren und integrieren zu können.
Nun steht offenbar an, der systemischen Therapie ihre Gefühle wieder verfügbar zu machen, sie also daran zu erinnern, daß Kommunikation außer vielleicht in der Mathematik niemals als reiner inhaltlich-sprachlicher Austausch stattfindet.
Systemische Therapie versucht, Menschen, die sich aufgrund eigener oder fremder Lebensprobleme in Problemsysteme festgefahren haben, zu helfen, sich auf ihre Ressourcen zu besinnen und so die verlorengegangen Freiheitsgrade zurückzugewinnen. Eine emotional tragfähige, vertrauenserweckende therapeutische Beziehung ist eine unerläßliche Bedingung dafür, daß die Klienten das Risiko eingehen, wieder zu einem Dialog mit offenem Ausgang zu finden und so die sie festhaltenden Vermeidungen aufzugeben.
Die Ausbilder in systemischer Therapie würden gut daran tun, wenn sie die Sensibilität der werdenden Therapeuten für die affektive Kommunikation in Therapien mehr als bisher förderten. Wünschenswert wäre aber auch, daß die so ausgebildeten Therapeuten ebenfalls lernen, jener eigentümlichen „Versuchung der Gewißheit“..., die aus der unmittelbaren Wirksamkeit von Emotionen resultieren kann, zu widerstehen. Eine behutsame Skepsis gegen den Eindeutigkeitssog von Emotionen würde vermeiden helfen, daß Empathie anstelle von Effektivität angestrebt, daß die eigenen und die Gefühle der Klienten gezielt benutzt, daß Biographien allzu spontan interpretiert und daß die absolutistische Perspektive des „Standard-Therapeuten“ eingenommen wird.“[52]
37. Familientherapie oder Systemische Therapie - Anerkennung als Verfahren
Die drei Fachverbände der „systemisch“ orientierten TherapeutInnen haben bei ihrem Antrag auf kassenärztliche Anerkennung 1997 ihren Ansatz „Systemische Therapie“ genannt
„Systemische Therapie ist weder mit Familientherapie gleichzusetzen noch auf den Umgang mit Mehrpersonensystemen eingeschränkt. Sie ist vielmehr als grundständige Methode der Psychotherapie zu verstehen, die geeignet ist, mit Menschen sowohl einzeln als auch in variablen Zusammensetzungen angemessen zu arbeiten... Systemische Therapie wurde als übergeordnete Bezeichnung verstanden, die sowohl auf das zugrundeliegende konzeptionelle Verständnis des Menschen und seiner Umwelten hinweist - das systemische Denken - als auch die einzelnen Settings einzuordnen vermag...“[53]
„Die Fortführung der alten Bezeichnung Familientherapie wäre nicht nur semantisch unpassend, sondern auch inhaltlich irreführend(Die TherapeutInnen) verstehen Systemische Therapie als praktische Umsetzung systemischen Denkens in die psychotherapeutische Praxis. Diese Denkhaltung knüpft auch an theoretische Vorgaben wie jene der Selbstorganisationstheorie, der Theorie nicht-linearer Systeme, der Chaostheorie, der Autopoiese-Theorie, der Synergetik und der Kybernetik 2. Ordnung an, in erkenntnistheoretischer Hinsicht an Ideen der sozialen Systemtheorie und der Narrationstheorie. Alle diese theoretischen Ansätze verfolgen das Ziel, Phänomene komplexitätsgerecht zu erfassen. Im psychotherapeutischen Bereich hat sich hierzu das Kürzel „ systemisch“ etabliert. Es symbolisiert die Bemühung, die Komplexität menschlichen Lebens und Zusammenlebens phänomengerecht zu beachten und die dabei entstehenden menschlichen Probleme in das wechselseitige Beziehungsgefüge von biologischen, intrapsychischen und kommunikativen Zusammenhängen oder Systemen einzubetten, ohne sie unnötig zu atomisieren oder mittels vereinfachter Kausalitätsannahmen übermäßig zu „trivialisieren“.“[54]
„Familientherapeuten wie die Psychoanalytiker haben ... lange argumentiert, daß sich das Wesen ihrer Arbeit der empirischen Überprüfung entziehe.“ Einer groß angelegten Praxisstudie von Cierpka 1994 blieb eine weiterreichende Wirkung bis jetzt versagt. Als Ergebnis der Legitimationskrise, die die Familientherapie in den 80er Jahren durchlaufen hat, ist die systemische Therapie entstanden, welche die Familientherapie oft nur noch aus taktischen Erwägungen im Namen führt und die gegenwärtig alles daran setzt, als weiteres wissenschaftlich begründetes Verfahren, neben der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie, Anerkennung zu finden.“[55] „In einem von Schiepek (1998) vorgelegten Gutachten wird ein sehr ansehnlicher Forschungskorpus ausgebreitet, der viele Hinweise liefert, daß die Systemische Therapie wirkt, daß sie nicht besser und auch nicht schlechter ist als andere Verfahren, daß sie vermutlich bei bestimmten Störungen, und wenn die Betroffenen selbst es wünschen, besser wirkt, und daß sie vielleicht doch etwas schneller und schöner ist als andere Verfahren.“[56]
„Familientherapie und systemische Therapie beanspruchen bis heute, mehr zu sein, als nur eine weitere Therapieform. Systemtherapeutische Techniken ergeben sich aus der Frage, wie in sozialen Systemen Menschen gemeinsam ihre Wirklichkeit erzeugen, welche Prämissen ihrem Denken und Erleben zugrunde liegen und welche Möglichkeiten es gibt, diese Prämissen zu hinterfragen und zu ‘verstören’. Je mehr diese Aspekte in den Vordergrund traten, um so weniger wichtig wurde die Frage, mit welchem sozialen (Teil-)System man gerade arbeitete oder ob wirklich immer die ganze Familie anwesend sein müsse. Zunehmend weniger wird daher von „Familientherapie“ gesprochen, zunehmend mehr von „systemischer Therapie“.“[57]
Literaturverzeichnis:
Boscolo, Luigi u.a.: Systemische Einzeltherapie. Heidelberg 1997.
Hörmann, G.; Körner, W.: II. Familientherapie: Probleme und Alternativen - Einführung. In: Hörmann, G.; Körner, W.; Buer, F. (Hrsg.) : Familie und Familientherapie - Probleme - Perspektiven - Alternativen. Opladen, 1988.
Hoffman, Lynn: Therapeutische Konversationen. Dortmund 1996.
Kevel, Joel: Kritischer Leitfaden der Psychotherapie. Frankfurt am Main 1979.
Kriz, Jürgen: Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim 1991
Ludewig, Kurt: Systemische Therapie - Grundlagen Systemischer Therapie und Praxis. Stuttgart, 1997.
Levold, Tom: Affektive Kommunikation und systemische Therapie. In: Welter-Enderlin, R.; Hildenbrand, B.: Gefühle und Systeme - Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse. Heidelberg 1998.
Ludewig, Kurt: Die therapeutische Intervention. In: Schneider, Kristine (Hrsg.): Familientherapie in der Sicht psychotherapeutischer Schulen. Paderborn, 1983.
Satir, Virginia u.a.: Familientherapie in Aktion. Die Konzepte von Virginia Satir in Theorie und Praxis. Paderborn 1988.
von Schlippe, Arist u.a.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen u.a. 1996.
Simon, Fritz u.a.: Die Sprache der Familientherapie - Ein Vokabular. Stuttgart 1984.
Wirsching, Michael: Geschichte und Geschichten der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie - DAF. In: Kontext 2/1998.
[...]
[1] Die Definitionen beruhen auf: Ludewig, Kurt : Systemische Therapie - Grundlagen Systemischer Therapie und Praxis. Stuttgart, 1997. S. 86 - 90.
[2] Hörmann, G.; Körner, W.: II. Familientherapie: Probleme und Alternativen - Einführung. In:
Hörmann, G.; Körner, W.; Buer, F. (Hrsg.) : Familie und Familientherapie - Probleme - Perspektiven - Alternativen. Opladen, 1988. S. 147.
[3] Vgl. Ludewig, Kurt, in: Schneider, K. (Hrsg.), a.a.O., S. 79.
[4] Hoffman, Lynn: Therapeutische Konversationen. Dortmund 1996, S. 28.
[5] von Schlippe, Arist; Schweitzer, Jochen: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen u.a. 1996, S. 69.
[6] Varela zitiert in: Hoffman, Lynn: Therapeutische Konversationen. Dortmund 1996, S. 31.
[7] Hoffman, Lynn: Therapeutische Konversationen. Dortmund 1996, S. 32.
[8] von Schlippe, Arist; Schweitzer, Jochen: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen u.a. 1996, S. 86.
[9] Simon/Stierlin : Die Sprache der Familientherapie - Ein Vokabular...; Stuttgart 1984, S. 267.
[10] Ebenda.
[11] Fisher, L.; Anderson, A.; Jones, J.E. : Formen paradoxer Intervention und Indikationen/Gegenindikationen für ihren Einsatz in der psychologischen Praxis, in: Familiendynamik, 2, S. 96 - 112; zit. nach Hörmann et al., a.a.O., S.200.
[12] Fisher et al., a.a.O., S. 96.
[13] Ludewig, K. : Die therapeutische Intervention ..., a.a.O., S.80f.
[14] Fisher et al., a.a.O., S.101.
[15] Ludewig, Kurt: Die therapeutische Intervention ... In: Schneider, Kristine (Hrsg.) : Familientherapie in der Sicht psychotherapeutischer Schulen. Paderborn, 1983, S. 89.
[16] Guntern, 1983, S. 58.
[17] Hörmann/Körner, a.a.O., S.164.
[18] persönliches Handout.
[19] Kriz, Jürgen: Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim : Psychologie Verlags Union, 1991, S. 188.
[20] In: Kevel, Joel: Kritischer Leitfaden der Psychotherapie. Frankfurt am Main, 1979, S.73.
[21] Ebenda, S. 74.
[22] Zit. nach Handbook of Family Therapy, a.a.O., S. 291.
[23] Ludewig, Kurt: a.a.O., S. 51.
[24] Kriz, Jürgen: Grundkonzepte der Psychotherapie. Weinheim, 1991. S. 290.
[25] Lynn Hoffman (1987), zit. n. Buchholz, S. 35.
[26] Selvini Palazzoli et al., 1980, S.3, zit. nach Boscolo et al. 1990, S. 22.
[27] Kriz, J., a.a.O. S. 296.
[28] Selvini Palazzoni, Mara u.a.: Paradoxon und Gegenparadoxon, S. 131.
[29] Kriz, Jürgen: a.a.O. S.297.
[30] Selvini Palazzoni, Mara u.a: a.a.O., S.121.
[31] Kriz, J. a.a.O. S. 293.
[32] Ludewig, a.a.O. S. 51f.
[33] Satir, Baldwin 1988, S. 153.
[34] Kriz, J., a.a.O., S.280.
[35] Minuchin: Familie und Familientherapie. Theorie und Praxis struktureller Familientherapie. Freiburg, 1977, S.117. Zit. n Kriz, a.a.O., S. 289.
[36] Minuchin 1980, in: Textor 1984, S. 82 - 84.
[37] Massing; Reich; Sperling 1992, S.21.
[38] Sperling, Eckart: Die Mehrgenerationen-Familientherapie. In: Schneider, K., a.a.O., S. 301, 306.
[39] Sperling, E., a.a.O., S.304f.
[40] Boszormenyi-Nagy; Spark 1990, S. 31f.
[41] Vgl. Kriz, a.a.O., S.274.
[42] Vgl. Kontext 2/1998, S.86f.
[43] Salvini, Alessandro : Vorwort ; In: Nardone, Giorgio : Systemische Kurztherapie bei Zwängen und Phobien - Einführung in die Kunst der Lösung komplizierter Probleme mit einfachen Mitteln. Bern u.a., 1997. S. 9-12.
[44] Nardone, Giorgio a.a.O., S.41.
[45] Nach Nardone, a.a.O., S. 65ff.
[46] Boscolo, Luigi; Bertrando, P.: Systemische Einzeltherapie. Heidelberg, 1997, S. 31f.
[47] Levold, Tom: Affektive Kommunikation und systemische Therapie. In: Welter-Enderlin, R.; Hildenbrand, B.: Gefühle und Systeme - Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse. Heidelberg 1998, S. 19-23 und S.41f.
[48] Hildenbrand, Bruno; Welter-Enderlin, Rosmarie : Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse im Kontext der Entwicklung systemischer Theorie. In: Welter-Enderlin et al., a.a.O., S.14f.
[49] Vgl. Ludewig 1992.
[50] Vgl. Goolishian und Anderson 1988.
[51] Vgl. z.B. Deissler et al 1995.
[52] Ludewig, Kurt: Emotionen in der systemischen Therapie - eine Herausforderung an die klinische Theorie?, In: Welter-Enderlin, R. et al., a.a.O., S.53 - 55 und 74f.
[53] Ludewig, Kurt : Familientherapie oder Systemische Therapie. In: Kontext 2/1998, S.115f.
[54] Ebenda, S.117f.
[55] Wirsching, Michael: Geschichte und Geschichten der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie - DAF. In: Kontext 2/1998, S. 94f.
[56] Ebenda, S. 97.
[57] Schlippe, Arist von; Schweitzer, Jochen: a.a.O. 1996, S. 17.
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- Detlef Abel (Author), 2000, Grundlagen systemischer Therapie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109872
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