Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Essen und Erziehung aus historisch-soziologischer Sicht
2.1 Esskultur zu Beginn der Neuzeit
2.2 Esskultur vor der Industrialisierung
2.3 Veränderung der Esskultur durch die Industrialisierung
3. Grundzüge einer ästhetischen Erziehung
3.1 Von der Notwendigkeit einer ästhetischen Erziehung
3.2 Sinneserziehung bei Maria Montessori
3.2.1 Erziehung als Hilfe zum Leben
3.2.2 Polarisation der Aufmerksamkeit
3.2.3 Übungen des täglichen Lebens
3.2.4 Naturnahes Essen
3.2.5 Vorbereitete Umgebung
3.2.6 Freiheit als ein Ziel der ästhetischen Erziehung
3.2.7 Erziehung zur Mitmenschlichkeit
3.2.8 Erziehung zum Schönen und Guten
3.3 Beispiele der konkreten Erziehung zum Essen bei Montessori
3.3.1 Der Gebrauch des Sinnesmaterials
3.3.2 Grundübung der Geschmacksgläser
4. Ausblick: Konsequenzen für die Pädagogik
5. Literatur
1. Einleitung
"Unter allen Künsten hat uns die Kochkunst sozial den größten Dienst geleistet, denn erst die Not der Küche hat gelehrt, das Feuer zu gebrauchen, und erst durch das Feuer hat der Mensch die Natur gebändigt."
(Brillat-Savarin, 1979, S.153)
Essen ist mehr als nur eine Nahrungsaufnahme. Sie ist eine Kulturleistung. Für uns Menschen ist Essen auch eine wichtige Form der Kommunikation.
Einer, der in Gemeinschaf lebt, ist der Zellerar im oberbayerischen Kloster Andechs am Ammersee, Pater Anselm. Er hat ein "Kochbuch für Leib und Seele" verfasst und sagte einmal in einem Interview:
„Miteinander Mahl halten bedeutet mehr als gemeinsam essen. Es heißt sich die Hand reichen, an einem Tisch sitzen, gut zueinander sein." (Furtmayr-Schuch, 1993, S.18)
Brillat-Savarin, Jean Anthelme (1755-1826), französischer Jurist, Schriftsteller und Politiker, verfasste sein Meisterwerk "Physiologie du goût ou Méditations de gastronomie transcendante (1825, Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über transzendentale Gastronomie), eine umfassende Abhandlung über die Philosophie des Essens und über die Tafelfreuden mit geistreichen, unterhaltsamen Anekdoten und Aphorismen. In diesem Buch erwähnt er an einer Stelle des Buches den großen Einfluss des Essens auf das Glück zweier Eheleute. "Zumindest einmal am Tage [...]" schreibt er, "[...] haben sie, sofern sie Feinschmecker sind, den angenehmsten Anlass zur Zusammenkunft. Denn Trennung vom Bett - sehr verbreitet - ist noch lange nicht Trennung vom Tisch." Nach einem Vergleich mit der Anziehung der Musik, aber die auch damit verbundene umständliche Arbeit, fährt er fort: „Zu Tische dagegen ruft beide Gatten ein beiderseitiges Bedürfnis und hält sie dort fest; ganz von selbst kommen da die kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen jeder gern sich schmückt, und die Art, wie das häusliche Essen abläuft, trägt viel zum Glück des Lebens bei ...Sie essen mit Wonne und sprechen dabei von ihren Geschäften, Plänen, Zärtlichkeiten [...]" (Brillat-Savarin, 1979, S.155f). Das deutsche Sprichwort:" Liebe geht durch den Magen!" möchte sicherlich diesen Vorgang beschreiben.
Annelies Furtmayr-Schuch wirft in ihrem Buch die Frage auf, ob vielleicht deshalb so viele Ehen auseinander gehen, weil die Menschen in unserer jetzigen Gesellschaft keine Feinschmecker mehr sind, "[...] nicht mehr das häusliche Tafelvergnügen kultivieren, weil wir zerstreut, geschäftig und ehrgeizig immer mehrere Dinge zugleich tun wollen und zumeist nur essen, um satt zu werden?" (Furtmayr-Schuch, 1993, S.19)
Eine Erziehung zum Essen findet selten Eingang in das Gedankengebäude einer Pädagogik. Und dabei tut dies nach obigen Aussagen durchaus Not. Wenn der Mensch schon wünscht, dass er lebe „wie Gott in Frankreich“, dann sollte er auch einiges dafür tun, nicht zuletzt auch in der Erziehung.
In einem ersten Schritt dieser Arbeit soll in einem historisch-soziologischen Abriss dargelegt werden, dass zwischen der Entwicklung der menschlichen Kultur und Gesellschaftsform und den Gepflogenheiten des Essens ein fundamentaler Zusammenhang besteht. Dies kann als ein Indiz dafür gelten, wie notwendig eine Erziehung des Essens für den Menschen und seine Kulturform ist.
In einem nächsten Schritt werden nach philosophischen Grundüberlegungen der Erkenntnistheorie allgemein die grundlegenden Entwicklungen und Züge einer ästhetischen Pädagogik dargelegt: Warum erscheint die Sinneserziehung als eine Notwendigkeit.
Schließlich wird die Erziehung des Geschmacks im Speziellen näher betrachtet. Dabei wird als Grundlage die Pädagogik Maria Montessoris dienen.
Abschließend wird die Frage angeschnitten, wie zeitgemäß die Anforderungen einer ästhetischen Pädagogik im Bereich der Erziehung zum guten Geschmack noch angesehen werden.
2. Essen und Erziehung aus historisch-soziologischer Sicht
Es wird behauptet, dass Kochen die, oder einer der ältesten Kunst des Menschen sei. Doch bis der Mensch gezielt Feuer machen konnte, vergingen einige Millionen Jahre. Bis dahin musste er sich von Rohkost ernähren und darauf hoffen, dass er am folgenden Tag wieder reichlich Nahrung finden werde, da das rohe Fleisch auch nicht gelagert oder aufbewahrt werden konnte.
Die zweite Entwicklung nach der Beherrschung des Feuers ist der Übergang zur regelmäßigen Landwirtschaft. Diese praktizierten Menschen vor etwa 10.000 Jahren vor allem im Vorderen und Mittleren Orient und in Zentralasien. Nicht nur, dass sie unabhängiger wurden von den Zufällen der Natur, auch die Nahrungsmittel änderten sich damit. Durch den landwirtschaftlichen Anbau wurden die Menschen sesshaft, kultivierten Hirse, Gerste und Weizen. Sie hielten Schafe und Ziegen, von denen sie die Milch gewannen. Diese Entwicklung zeigt auf, dass die Ernährung einen fundamentalen Einfluss auf die soziologische Organisation des Menschen ausübte. Das Selbstverständnis des Menschen als eines Sesshaften, der sich „die Erde untertan macht“, stellt eine neue Basis für Kulturentwicklung dar.
Die dritte wichtige Entwicklung bei der menschlichen Ernährung fand und findet in unserem Jahrhundert statt. Diese ist der moderne Massenkonsum, der mit der Industrialisierung begann. Unsere Ernährung veränderte sich noch mal grundlegend mit der rasch wachsenden Bevölkerung, mit Industrialisierung und der Verstädterung im 19. Jahrhundert. Da diese dritte Entwicklungsstufe für die feine Ausformung unserer Kulturgepflogenheiten bezüglich des Essens verantwortlich ist, soll darauf im Folgenden detailliert eingegangen werden.
2.1 Esskultur zu Beginn der Neuzeit
Zur Zeit des Humanismus und der Reformation verbreiteten sich die Tischregeln immer weiter; bis 1500 war nicht sehr viel Wert darauf gelegt worden. Zur Zeit der Ritter wurden Regeln festgelegt, wie man sich bei Tisch zu benehmen hat, wie: „Man solle sich nicht wie ein Schwein über die Speisen hermachen, nicht Halbverspeistes in die Schüssel zurücklegen oder mit dem Geräusch eines Pferdes trinken." (Teuteberg, Wiss. 33,1/1985, S.30).
Die Tischgemeinschaft diente ebenfalls religiösen Zwecken. Das Tischgebet war Bestandteil des Mahls und wurde von der „[...] würdigsten Person gesprochen - vor dem Essen das Bittgebet und nach dem Mahl das Dankgebet." (Furtmayr-Schuch, 1993, S.33). Bei einer Tischgemeinschaft nahmen alle Familienmitglieder des Haushalts teil. Dazu zählten unter anderem das Gesinde, Lehrlinge und unverheiratete Verwandte. Das Mahl diente ebenfalls zur Einhaltung des 4. Gebots, des Elterngebots. Die Kinder hatten dabei die Gelegenheit Ehrung und Achtung den Eltern gegenüber zu erweisen.
„Wir erkennen rückblickend [...]", sagt der Historiker Teuteberg, „[...] dass die gesellschaftliche und moralische Verpönung groben und rücksichtslosen Verhaltens bei den täglichen Mahlzeiten wie auch in anderen Daseinsbereichen eine große menschliche Kulturleistung gewesen ist, deren Ausmaß wir erst jetzt voll erkennen können." (a.a.O.)
Es mag als Phänomen festgestellt werden, dass mit dem Beginn der Neuzeit das Denken bis hin zur Aufklärung seinen Aufschwung nahm und zugleich die Esskultur ausgeformt wurde. Die These sei an dieser Stelle erlaubt, dass Essen und Denken eng miteinander verknüpft sind, ohne dass über die historische Parallelität der Entwicklung hinaus an dieser Stelle noch kein Beweis für diese These angeführt werden kann.
2.2 Esskultur vor der Industrialisierung
Vor der Industrialisierung, als über 90 Prozent der Menschen in bäuerlichen Verhältnissen lebten, wurden Wertnormen und Verhaltensmuster während der alltäglichen Arbeit oder bei bestimmten gesellschaftlichen Anlässen, wie z.B. dem allsonntäglichen Kirchgang oder Familien- oder Dorffesten, oder durch den einfachen Kontakt zu den Nachbarn an die Jüngeren weitergegeben. Trotz der wichtigen Funktion der aufgezählten Ereignisse, war der häusliche Esstisch ein gewichtigerer Ort für die Sozialisation und die Vermittlung von Bildung und Erziehung. „Die tägliche Tischgemeinschaft, zu der sich die Großfamilie mit allem am Hof arbeitenden Gesinde zusammenfand, diente nicht nur dem Stillen von Hunger und Durst." (Furtmayr-Schuch 1993, S.29)
Bei den gemeinsamen Mahlzeiten wurden Aufgaben verteilt, Entwicklungen, wie z.B. der Felder oder Ernte besprochen und Neuigkeiten mitgeteilt. Die Kinder wuchsen durch das Miterleben und Mithören in die Erwachsenenwelt hinein. Diesen Vorgang hat Hanna Walter in ihrem Buch „Dorfkindheit" (Ruperti-Verlag, Starnberg, 1990, S.109) treffend formuliert: „Der häusliche Esstisch war, soweit man die Geschichte des Alltagslebens zuverlässig im Zusammenhang überblicken kann, stets ein Ort zur Weitergabe empirisch gewonnener Bildung zwischen den Generationen, auch wenn dies den Betroffenen meist nicht so bewusst war."
Das Essen wird hier zum Ort der Erziehung, wobei es bereits bestimmte Regeln im Rahmen des Essens einzuhalten galt. Implizit dürfte also schon eine ästhetische Erziehung stattgefunden haben. In breiten Gesellschaftsschichten wird allerdings angesichts materieller Armut das Grundbedürfnis der Ernährung im Vordergrund gestanden sein.
2.3 Veränderung der Esskultur durch die Industrialisierung
Die Arbeit in der Fabrik brachte die größte Umstellung in der Ernährung breiter Bevölkerungsschichten, vor allem der sozialen Unterschicht. Jeder Arbeiter musste zur bestimmten Tageszeit seine Stunden abarbeiten. Die restliche Zeit des Tages galt als Freizeit. Eine zweite Erneuerung war die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsstätte. Bei der Fabrikarbeit wurde den normalen Arbeitern keine Frühstückspause zugesprochen; und die Mittagspause war so kurz, so dass die Ehefrau, falls diese auch arbeitete, keine warme Mahlzeit auftischen konnte. Die Menschen mussten sich nun bei der Nahrungsaufnahme umstellen. „Schon durch die einfache Tatsache, dass beim städtischen Industriearbeiter mindestens zwei Mahlzeiten am Tage nicht mehr in der Familie wie Jahrtausende zuvor, sondern mehr oder minder alleine im Kreis fremder Arbeitsgenossen im Betrieb unter Zeitdruck eingenommen wurden, musste zwangsläufig das ganze Wesen der Essweise im Kern ändern."(Teuteberg und Wiegelmann, 1972, S. 77).
Mit der Beschäftigung eines Mannes und auch einer Frau in einer Fabrik gingen auch die Rollenaufteilung und die Rollenidentifizierung verloren.
Nach Furtmayr-Schuch nehmen heutzutage nur noch in 5 Prozent der deutschen Haushalte Eltern und Kinder wochentags noch drei Mahlzeiten zusammen ein.
"Mit dem zerbröseln der jahrhundertealten häuslichen Tischgemeinschaft [...]," sagt Furtmayr-Schuch, "[...] geht aber eine Institution verloren, die wesentliche sozialkommunikative und erzieherische Aufgaben in der Gesellschaft erfüllt." (Furtmayr-Schuch, 1993, S.37). Heute ist nicht die Mahlzeit mit der Familie nötig, um seinen Hunger zu stillen. Dieser ist zu jeder Zeit an jeder Straßenecke durch das sogenannte Fast-Food-Essen schnell zu beseitigen.
Durch den Entfall der gemeinsamen Mahlzeiten der Familie in der Woche etablierte sich das gemeinsame Familienessen an Sonntagen. Die gemeinsamen Mahlzeiten am Sonntag dienen vor allem dem Informationsaustausch in der Familie. Das Frühstück am Sonntag ist verhältnismäßig lang und ausgiebig. Die sozialkommunikative Funktion des Essens wird also an den arbeitsfreien Tagen nachgeholt. Man könnte denken, dass der Austausch an solchen Tagen wegen des Nachholbedarfs von der Woche intensiver sein müsste, aber nach einer Studie, die Teuteberg zusammen mit dem Soziologen Otto Neuloh Mitte der 70er Jahre im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und des Bundesfamilienministeriums durchführte, sitzen Familien, die an den Wochentagen nur wenige gemeinsame Mahlzeiten einnehmen auch am Wochenende seltener am gemeinsamen Familientisch als andere Familien.
„Wenn aber eine Stätte der täglichen Begegnung zwischen den Generationen entfällt, dann muss das notwendigerweise Folgen für das gegenseitige Verstehen haben [...]", argumentiert Teuteberg.
Bei Tisch wird gelernt auf andere Rücksicht zu nehmen, Gespräche mit anderen zu führen, pünktlich zum Essen zu erscheinen und andere Kulturtechniken, die für das gemeinsame Leben mit anderen Menschen notwendig sind. Furtmayr-Schuch betont die Wichtigkeit der regelmäßigen gemeinsamen Mahlzeiten für Kinder. Dadurch „[...] wachsen Kinder in eine soziale Ordnung hinein, lernen Essen und mit dem Essen verbundene Traditionen: Etwa dass Feste mit besonderen Speisen gefeiert werden, die es an gewöhnlichen Werktagen nicht gibt, oder dass alle sich an einem Festtag besonders schön kleiden." (Furtmayr-Schuch, 1993, S.40f).
Wir haben es heute also mit dem Phänomen zu tun, dass die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse dem Essen und der Erziehung zum Essen äußerliche Gegebenheiten aufzwingen, die das alltägliche Essen bisweilen mehr zur Funktionalität der Ernährung degradieren als zum Kulturgut werden lassen. Es ist wohl dieser gesellschaftliche Rahmen, der die Frage einer ästhetischen Erziehung in Sachen Essen und Geschmack aktuell werden lässt. Fastfood zeigt den funktionalen Charakter von Ernährung, Design-Food zeigt den kommerziellen Charakter. Welche Stellung kann in diesem Spannungsfeld eine ästhetische Pädagogik im Hinblick auf Essen und Geschmack einnehmen?
3. Grundzüge einer ästhetischen Erziehung
Der Frage nach der richtigen Form von Erziehung geht die erkenntnistheoretische Fragestellung voraus: wie kommt der Mensch zu Einsichten über sich und die Welt? Im Verlauf der Philosophiegeschichte gab es zwei widerstreitende Richtungen, die um die Beantwortung dieser Frage konkurrierten.
Die platonisch-augustinische Richtung ging davon aus, dass nur über den Geist Erkenntnis erlangt werden konnte. Platon formulierte seine Ideenlehre, wonach der Mensch allein in seinem Geist Schatten der präexistenten Ideen aller Dinge wiederfinde. Der menschliche Leib stellte insofern ein Hindernis für die Erkenntnis dar, als er ein Eingehen in die überweltliche Wirklichkeit der Ideen unmöglich machte. Das wahre Sein ist demnach nicht die raumzeitliche Welt unserer Sinne, sondern nur die Ideenwelt. (vgl. Brugger, 1976, S.176)
Die aristotelisch-thomistische Richtung sah hingegen im Leib und damit der Sinnenhaftigkeit ein Konstitutivum aller Erkenntnis. So schreibt Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae: „Es ist dem Menschen natürlich, dass er durch das Sinnliche zum Übersinnlichen kommt, weil alle unsere Erkenntnis bei den Sinnen anhebt.“ (S. th. I, 1, 9; zitiert nach: Hirschberger, 1976 , Band 1, S. 468f). Dies zeige sich schon daran, dass beim Ausfall bestimmter Sinnesorgane auch die dazugehörigen Erkenntnisse ausblieben. Ein Blinder habe nun einmal keine Idee von Farben apriorisch in sich. Durch den ‚tätigen Verstand‘ werde allerdings die reine Sinneserkenntnis überschritten und die Wesenheiten der Dinge geschaut. Da die Seele den Körper (die Hülle) formt (anima forma corporis), nehmen wir mit den Sinnen nur die Hülle war, mit dem tätigen Verstand können wir aber auch auf die Form schließen. Erst durch die Form wird das Wesen der Dinge erschlossen. (vgl. Tschamler, 1998, S.135f; Brugger, 1976, S.110f)
In dieser Arbeit schließen wir uns der erkenntnistheoretischen Linie an, die von Aristoteles und Thomas von Aquin begründet wurde, wonach die Sinneswahrnehmung ein grundlegendes Element zur Erkenntnis der Welt darstellt.
Wenn die Sinneswahrnehmung (griech. ‚aísthesis‘) eine fundamentale Bedeutung für die Erkenntnis von Individuum und Gesellschaft hat, stellt sich die Frage, inwieweit sie Bestandteil der Pädagogik zu sein habe.
3.1 Von der Notwendigkeit einer ästhetischen Erziehung
Im Grundriss soll dargestellt werden, wie die Ästhetik im Laufe der Geschichte zunehmend zu einem Bestandteil pädagogischen Denkens wurde. Allerdings ist anfangs an eine Erziehung zum Essen bzw. des Geschmacks kaum zu denken.
Im 17. Jahrhundert schon betont Jan Amos Comenius die Notwendigkeit, dass der Mensch ein Leben lang mit seinen Sinnen, vorzüglich dem Geruch und dem Auge, aus der sichtbaren Schöpfung Gottes lernen solle. (vgl. Tschamler, S.137ff) „Alles soll, wo immer möglich, den Sinnen vorgeführt werden, was sichtbar ist dem Gesicht, was hörbar dem Gehör, was riechbar dem Geruch, was schmeckbar dem Geschmack, was fühlbar dem Tastsinn. Und wenn etwas durch verschiedene Sinne aufgenommen werden kann, soll es den verschiedenen zugleich vorgesetzt werden“.
Jean-Jacques Rousseau weist im Jahre 1762 auf den direkten Zusammenhang zwischen einer Sensibilisierung der Sinne, der Bewegung und der Intelligenzentwicklung hin. Er kennzeichnet den Beginn der geistigen Entwicklung im Zusammenhang mit der sinnlichen Wahrnehmung. Die Empfindungen des Kindes sind erste Bausteine seiner Erkenntnisse. „Das Kind will alles berühren, [...] Es lernt Wärme, Kälte, Härte, Weichheit, Schwere und Leichtheit der Körper kennen und Größe, Gestalt und alle anderen Eigenschaften beurteilen, indem es sie betrachtet, befühlt." (Roussesau, 1995, S.41). In seinem Erziehungsroman ’Emile’ schreibt er, dass die Sinne die ersten Fähigkeiten seien, die sich in uns bilden und vervollkommnen. "Also sind sie auch die ersten, die gepflegt werden müssen. [...] Die Sinne üben heißt nicht nur, sie gebrauchen, sondern lernen, durch sie alles wohl abwägen, beurteilen, es heißt sozusagen fühlen zu lernen, denn wir können nicht anders fühlen, sehen oder hören, als wir es gelernt haben.“ (vgl. Steibel, 1994 )
Als Begründer der deutschen Ästhetik gilt Alexander Gottlieb Baumgarten. (vgl. Hirschberger,1976, Band 2, S.261) Er begründete die Ästhetik als eine Wissenschaft von der Sinneserkenntnis. Allerdings schrieb er dem Menschen ob seiner Endlichkeit auch nur eine eingeschränkte Fähigkeit zur absoluten Erkenntnis zu. (vgl. Tschamler, S.139f)
Friedrich Schiller führt die Lehre der Sinneswahrnehmung in besonderer Weise fort. Ästhetik ist bei ihm die Lehre vom Schönen. Dieses Schöne hält den Trieb der natürlichen Begierden und den Trieb der Vernunft in Einklang. Dadurch kommt der Mensch zur Vernunft, wenn er nur die Sinnlichkeit betont, oder aber zur Sinnenwelt, wenn er sich in der Vernunft verliert. Allerdings bezieht sich die ästhetische Erziehung bei Schiller nur auf das Schöne, die Harmonie und die musischen Fächer. „Diese Verbindung mit dem Harmoniegedanken und dem Schönen als Inhalt der Ästhetik bezieht zwar die menschlichen Sinne mit ein, sondert aber die menschliche Begierde, die von den Sinnen ausgehen kann, als leibliches Phänomen ab, so dass die Leiblichkeit des Menschen hier nur zum Teil zum Tragen kommt.“ (Tschamler, S.146)
Johann Friedrich Herbart kennzeichnet den Übergang vom Idealismus zum Realismus. Für ihn kommt die Erkenntnis aus der Sinneserfahrung. „Seine Moral sowohl wie seine Pädagogik sind Ästhetik.“ Er „ [...] findet die letzte Rechtfertigung des praktisch Gesollten in ästhetischen Urteilen. Die allgemeine Ästhetik ist die Lehre vom Geschmack überhaupt. Die Ethik ist die Lehre vom sittlichen Geschmack.“ (Hirschberger 1976, Band 2, S.446f) Dabei ist das Kriterium der Ästhetik die Harmonie und die Ausgeglichenheit der Kräfte. Die ästhetische Erziehung hat zum Ziel, dass der Mensch aus eigener Freiheit durch die Wahrnehmung der Harmonie dazu kommt, seine Begierde zu beherrschen. Der Gebrauch der Sinne steht also am Anfang jeglicher ethischer Haltung, die der Mensch in seinem Bezug zur Welt erfährt. Die Pädagogik hat die Aufgabe der sinnenreichen Darreichung der Welt. In diesem Denken mag ein erster Ansatz dafür liegen, dass der Geschmackssinn Teil einer pädagogischen Zielsetzung wird. In der Pädagogik von Maria Montessori, die durch ihr Studium von Herbart beeinflusst war, findet sich schließlich ein Gedankengebäude, in dem der Lebensbereich Essen und Ernährung ein Teil der Pädagogik wird.
3.2 Sinneserziehung bei Maria Montessori
Obwohl die Bedeutung der Sinneserziehung öfter im Laufe der Geschichte und in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft betont war, „[...] auf die Erkenntnis der Bedeutung einer systematischen Übung bzw. Erziehung der Sinne hat jedoch als erste Pädagogin MM am umfangreichsten und erfolgreichsten reagiert.“ (Steibel, 1994, S.8) Bei Montessori wird erstmals nicht Auge und Ohr in den Vordergrund gestellt, sondern alle Sinne des Menschen, also auch der Geschmack (vgl. Tschamler, S.149). An Hand der einzelnen Bausteine ihrer Pädagogik soll dargestellt werden, warum eine Erziehung zum Essen von Nöten ist und wie eine solche beispielhaft aussehen kann.
3.2.1 Erziehung als Hilfe zum Leben
Montessori sieht ganz in der Tradition des Thomas von Aquin den Menschen als eine Leib-Seele-Einheit, allerdings mit der Dominanz des Geistes. Sie prägt den Begriff der „Hormé“, worunter sie den ererbten Lebensdrang des Kindes versteht, der das Kind dazu treibt, sich unbewusst selbst aufzubauen. Das Hinstreben zur Bewusstheit und zum Aufbau der Persönlichkeit ist dem Menschen also von vornherein eigentümlich. Die Aufgabe der Erziehung ist, das rechte Umfeld für diesen Prozess zu bereiten. In den sogenannten „sensiblen Phasen“ ist der Erwerb einer bestimmten Fähigkeit, die bleibt und zum Wesen des Menschen gehört, besonders angeraten.
Das Kind verfügt über den „absorbierenden Geist“, der seine Umgebung betrachtet und ganzheitliche Bilder aufnimmt. Dieser Geist wählt das ihm Gemäße und Menschliche. Das Aufgenommene wird durch die Wiederholung der Bilder im Tun mit dem sich aufbauenden Leben eng verbunden. So lernt und wächst das Kind nicht durch die pure Rezeption von Gesagtem oder Gesehenem, sondern durch die eigene Einübung von Handlungen. (vgl. Helming, 1977, S.16-28) Deswegen ist davon die Rede, dass die Sensomotorik die Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes darstellt. (vgl. Tschamler, S.148) Montessori beschreibt den befreienden Charakter dieses Vorgehens in ihrem Buch „Das kreative Kind“ folgendermaßen:
„Wäre es nicht herrlich, könnten wir diese wunderbare Fähigkeit des Kindes beibehalten, das eine Sprache mit all ihren grammatikalischen Schwierigkeiten erlernt, indem es einfach glücklich und spielend sein Leben lebt. Wäre es nicht herrlich, wenn das Wissen in unseren Geist eindringen würde, einfach indem wir leben, ohne größere Anstrengungen als Atmen und Essen. Anfänglich würden wir nichts Besonderes bemerken, und dann plötzlich würden sich die erworbenen Kenntnisse in unserem Geist offenbaren wie leuchtende Sterne des Wissens. Wir würden langsam die Existenz dieses Wissens spüren, das wir ohne Anstrengung erworben haben und das unser Eigentum geworden ist.“ (Montessori, 1972, S.23)
Bemerkenswert an diesem Zitat ist in unserem Zusammenhang, dass das Essen oder Tischmanieren nicht per se als Ziel einer Erziehung genannt wird, sondern als natürlicher Vorgang, der in seiner Ausübung zum Aufbau der Persönlichkeit beiträgt. Nicht durch Zwang wird das Kind in der Erziehung zu seinen Erfahrungen geführt, sondern durch bestimmte Methoden und Haltungen, die im Folgenden in der Verknüpfung mit der Erziehung zum Essen verknüpft werden.
3.2.2 Polarisation der Aufmerksamkeit
Im Vordergrund der Pädagogik Montessoris steht die geistige Freiheit des Kindes. Diese wird maßgeblich durch die Polarisation der Aufmerksamkeit erreicht. Darunter versteht die Pädagogin die Fähigkeit des Kindes zu einer großen Konzentration bei einer motorischen Übung, wenn es sich dem rechten selbstgewählten Gegenstand hingibt. Bei der Beobachtung dieser Kinder stellte Montessori fest, dass diese äußere Konzentration auch zu einer inneren Konzentration führte. Montessori stellte dazu fest: „Die Ordnung dieser Umgebung des Kindes gibt ihm eine Basis zu seinem inneren Aufbau. Ordnet das Kind die Umgebung, so ist diese nach außen gerichtete Aktivität ein Zeichen für die beginnende innere Ordnung.“ (Montessori, Grundlagen, S.275; zitiert nach: Helming, 1977, S.59) Gibt man also dem Kind die Möglichkeit, seine Konzentration im Tun auf ein selbstgewähltes Objekt zu richten, so schärft das Kind seine Sinne, kann Reize unterscheiden und lernt verschiedenen Arten des Genusses. Die Intelligenz schafft hier den Sprung von der Einzelerfahrung der Motorik hin zur realen Welt in seinen Zusammenhängen.
Eine Erziehung des Essens und Geschmacks mag hier einen ersten wichtigen Ansatzpunkt finden. Es ist die Frage, wie viel Zeit wird dem Essen zugebilligt und mit welcher Konzentration darf ein Kind sein Essen wahrnehmen? Darf es gegebenenfalls im Essen mit der Gabel herumstochern und damit spielen oder muss es im Minutentakt Löffel für Löffel hinunterschlucken? Der Befehl „Mit Essen spielt man nicht!“ bringt eine allgemeine Haltung zum Ausdruck, wonach Essen meist der puren Ernährung dient, aber dem Kind nichts zur Selbstfindung beiträgt.
Das frühe Verlangen des Kindes, selbst mit dem Löffel zu essen, mag Ausdruck dafür sein, das Essen und den Geschmack durch wiederholte Übung in das eigene Leben zu integrieren. Dies sollte in jedem Fall gefördert werden. Dabei wird es in der Erziehung ein Balanceakt bleiben, dem Kind die Freiheiten zum Experimentieren und Üben zu geben, und gleichzeitig Grenzen zu setzen, damit das Essen zu keiner Schlammschlacht wird. Im Sinne von Montessori würde es allerdings nicht zu Zweiterem kommen, da das Kind bei genug Freiraum die Stille und Sammlung in der Übung dem lauten Panschen im Essen vorziehen würde. (vgl. Helming, 1977, S.69ff)
Die mangelnde Einübung der Aufmerksamkeit verbunden mit innerer Unruhe kann ein Grund für die Erfolgsgeschichte von Fastfood sein. Gerade diese Essensform ist geprägt von Hektik und Zerfahrenheit. Neben dem schnellen Verzehr des Essens werden meist noch weitere Reize wie Musik oder Werbeplakate geboten, was gänzlich vom Erleben des Geschmackes ablenkt. Dies wird bereits oft am heimischen Tisch praktiziert, wenn neben dem Essen der Fernseher oder Musik läuft. Eine ästhetische Erziehung des Geschmackes sollte im Sinne von Montessori die Umgebung solchermaßen gestalten, dass neben dem Essen kaum Reize ablenken. Die Aufmerksamkeit sollte ungeteilt dem Essen zukommen. Dies soll nicht aus „prinzipiellen“ Gründen erfolgen, sondern weil es dem Kind (und auch dem Erwachsenen) ermöglicht, seinen Geschmackssinn zu erleben und zu verfeinern. Letztlich führt dies nach Montessori zur Strukturierung und Stärkung der Persönlichkeit. Erst eine freie Person ist in der Lage, ungeteilt seine Konzentration auf eine Handlung zu lenken.
Unter diesem Gesichtspunkt wird auch erklärbar, warum Familien, die unter der Woche kaum gemeinsam den Esstisch teilen, auch am Wochenende weniger gemeinsam speisen (s. 2.2.3). Es fehlt die Einübung in eine gemeinsame Aufmerksamkeit. Montessori wirkt dem durch die „Übungen des täglichen Lebens“ in ihrer Pädagogik entgegen.
3.2.3 Übungen des täglichen Lebens
Als Teil der pädagogischen Arbeit im Kinderhaus von Maria Montessori galten die Übungen des täglichen Lebens. Der Hauptsinn dieser Übungen besteht darin, dass das kleine Kind seine Persönlichkeit aufbaut, indem es seine Aufmerksamkeit mit seinen Bewegungen und seinen Sinnen verbindet und sie sich koordiniert. Diese Einsicht ergibt sich aus der Beobachtung heraus, dass Kinder stets an der täglichen Hausarbeit teilhaben wollen, indem sie alles nachahmen, was ihr Geist aufnimmt. „Es ist sehr natürlich, dass das Kind tun will, was Vater und Mutter und andere liebe Erwachsene tun, und dass es dies auch tun kann, weil es eben vom Beginn seines Lebens an das Bild solcher Übungen aufnimmt. In diese Übungen, die zum menschlichen Alltag gehören, geht viel von der seelischen Haltung der Menschen ein. Es sind daher wichtige Übungen, sie regeln den Umgang der Menschen miteinander, ihre Erziehungskraft ist groß.“ (Helming, 1977, S.35)
Montessori unterscheidet drei Arten von Übungen: solche zur Pflege der eigenen Person (z.B. Hände waschen), solche, die dem Verkehr mit anderen Personen zugeordnet sind (z.B. Tisch decken, jemandem einen Stuhl anbieten) und solche, welche die Pflege der Umgebung betreffen (z.B. Spülen). (vgl. Helming, 1977, S.36) Diese Übungen, bei denen die Freiwilligkeit stets oberstes Prinzip ist, dienen der Ausbildung der Persönlichkeit, der eigenen Unabhängigkeit, aber auch der sozialen Erziehung. Im Ausüben der eigenen Motorik erfährt sich das Kind in der Ausbildung seines eigenen Geschmacks und als soziales Wesen, das in Beziehung steht.
Für die Erziehung des Essens und Geschmacks heißt dies bei Montessori im Kinderhaus konkret: „Halten sich die Kinder sehr lange dort auf, dann gehört zu den Beschäftigungen das Mittagessen, das zu größeren Mühen und zu den schwierigsten und interessantesten Übungen des Lebens Veranlassung gibt, wie zum Beispiel den Tisch mit großer Sorgfalt decken, die Speisen auftragen, anständig essen, Teller und Gläser spülen, Tischtücher auflegen und wieder an ihren Platz bringen, und noch vieles mehr.“ (Montessori, 1969, S.94)
Das kleine Kind wird einfache Arbeiten erst noch ohne ihre Bedeutung für das Gemeinschaftsleben verrichten, nur um sich selbst durch seine Motorik zu verfeinern. Das größere Kind wird allerdings schon den sozialen Kontext erfassen können und den Wert der Höflichkeit erkennen.
Dabei misst Montessori der Hand des Menschen eine wichtige Bedeutung bei. Dieses Organ trägt zur Weiterentwicklung des Geistes bei, da es zur Verrichtung der täglichen Übungen unerlässlich ist. Anders als bei der reinen Beobachtung von Vorgängen wird durch das Tun der Vorgang ins Individuum integriert.
Eine ästhetische Pädagogik des Essens wird also auch Wert legen auf die Einübung der Essensvorbereitung, was letztlich auch die Polarisierung der Aufmerksamkeit fördert. Zum anderen führt dies auch zur Geschmacksbildung im Äußerlichen. Ein schön gedeckter Tisch trägt auch zur Sinneserziehung bei.
3.2.4 Naturnahes Essen
Die Umwandlungskraft des absorbierenden Geistes, der die Bilder aufnimmt und sie zur Persönlichkeit des Menschen formt, heißt bei Montessori die „Einbildungskraft“. Diese schöpferische Kraft braucht aber immer ihre Verwurzelung in der Wirklichkeit. Das Material für die Einbildungskraft muss greifbar und konkret sein. „Das in städtischer Umgebung lebende Kind, das von fertigen Dingen umgeben ist, nimmt zwar viele Eindrücke auf, aber diese haben wenig Wirklichkeitskraft, weil sie naturfern und oft ohne Bildkraft sind. Sie sprechen vielfach nur den Benutzer und Verbraucher oder die Neugier an. Sie verführen das Kind zur Trägheit des Geistes, zu einer Flucht von der Wirklichkeit weg, zu Verspieltheit und Zerfahrenheit.“ (Helming, 1977, S.83)
Diese Naturnähe bedeutet für eine ästhetische Erziehung des Essens, dass auch mit natürlichen Basiszutaten ein Essen zubereitet werden soll. Wer Dosen, Päckchensuppe und Gewürzmischungen zur Grundlage seiner Kochkunst macht, entfernt sich von den Möglichkeiten seiner Einbildungskraft. Künstlich im Labor erzeugte Aromata setzen sich aus viel weniger Geschmackskomponenten zusammen als die natürlichen. Bei der Gewöhnung an die künstlichen Aromata geht die Fähigkeit zum differenzierten Schmecken verloren.
Die aktuelle Diskussion um BSE, MKS oder genmanipulierte Nahrungsmittel verdeutlicht, wie weit sich die moderne Produktion von Nahrungsmitteln von den ursprünglichen Nahrungszutaten entfernt hat. Wenn die Angst vorherrscht, dass Babys durch Nahrungsmittel Allergien erwerben können oder z.B. im Olivenöl Reste von Schmiermitteln gefunden werden, tritt der unmittelbare Bezug zur Natur in den Hintergrund. Ein Erntedankfest, wie es in der katholischen Kirche gefeiert wird, würde in unserer Zeit sicher nicht mehr entstehen. Vielmehr beschäftigt man sich mit Gesetzen und Kontrollmechanismen, um einer schleichenden Verseuchung unseres Essens vorzubeugen. Die Massentierhaltung tut ein Übriges, um einer Entfremdung von der „Ware Natur“ Vorschub zu leisten.
Eine Aufgabe im Sinne der ästhetischen Erziehung kann sein, mit möglichst naturnahen Produkten seinen Esstisch zu decken. Eine gesunde Ernährung stellt ausdrücklich das Ziel Montessoris dar, um den Bezug zur Natur zu wahren. (vgl. Helming, 1977, S.124) Vorher ist es aber wichtig, dass das Kind überhaupt mit der Natur vertraut wird. Im Kinderhaus soll es jede Pflanze kennen lernen und Gartenarbeit verrichten. So werden Pflanzen nicht zum bloßen Vitaminbeschaffer und Tiere zur Schweinshaxe reduziert, sondern werden in ihrer ganzen Schönheit der Natur wahrgenommen. Schließlich stellt Montessori auch den sakralen Bezug des Essens beispielsweise in Brot und Wein bei der Messfeier heraus. Der Bezug zur Natur und ihren Gaben führt den Menschen über sich hinaus zu einer tieferen Wirklichkeit. Wenn es auch nicht im explizit religiösen Rahmen geschehen muss, so kann eine ästhetische Erziehung auch diesen Aspekt verfolgen.
3.2.5 Vorbereitete Umgebung
Wichtig für eine ganzheitliche Aufnahme der Umgebung ist es laut Montessori, dass die Umgebung auch entsprechend gestaltet ist. Dies impliziert, dass nicht alle Möglichkeiten in ihrer grenzenlosen Vielfalt dargebracht werden, sondern eine überschaubare und angeordnete Möglichkeit von Reizen geboten wird. Dazu gehört wie schon oben angeführt die naturnahe Präsentation der Objekte. Erst in dieser vorbereiteten Umgebung erscheint es möglich, dass die Aufmerksamkeit einer Handlung gewidmet wird. (vgl. Helming, 1977, S.28f)
Für eine Erziehung des Essens bedeutet dies, dass weniger oft mehr sein kann. Ein übervoll gedeckter Tisch ist genauso wenig wie ein überreich gewürztes Essen dazu angetan, dass ein Kind (ebenso wie ein Erwachsener) noch das einzelne wahrnimmt. Wie schon mehrmals angeführt bedeutet dies eher eine Reizüberflutung und zieht mehr eine Zerfahrenheit des Geistes als eine Konzentration nach sich.
3.2.6 Freiheit als ein Ziel der ästhetischen Erziehung
Wie in 3.2.2 ausgeführt ist ein oberstes Ziel von Montessori, dass das Kind seine Freiheit erlangt. Erst wenn das Kind für sich selbst sein kann, stellt es sich in seiner vollen menschlichen Würde dar. Und dies geschieht wie beschrieben durch den Aufbau seiner Persönlichkeit mittels der Sinneserziehung. Die freie Wahl der Arbeit und der Übungen ist hierbei ein elementarer Bestandteil der Pädagogik, um zur Freiheit zu gelangen. Das Streben nach Unabhängigkeit zeigt sich schon in den ersten Lebensjahren des Kindes, denn schon früh will es beispielsweise alleine essen. So formuliert Montessori folgerichtig: „Der bewusste Wille ist eine Macht, die sich durch die Übung und die Arbeit entwickelt. Unsere Aufgabe ist es, den Willen auszubilden, und nicht die, ihn zu brechen. Der Wille kann fast in einem Moment gebrochen werden. Seine Entwicklung hingegen ist ein langsamer Prozess, der sich durch eine ständige Tätigkeit in Beziehung zur Umgebung vollzieht.“ (Montessori, 1972, S.228)
Es wurden bereits viele Aspekte der Erziehung des Essens angeführt. Hier soll aber auf den Punkt der Freiwilligkeit verwiesen werden. Es wäre sicher nicht im Sinne Montessoris, wenn das Essen für Kinder zur Beliebigkeit verfallen würde. Es ist nicht egal, wann gegessen wird und was gegessen wird. In einer gut vorbereiteten Umgebung wird das Kind auch einen gewissen Appetit aushalten, bis gemeinschaftlich gegessen wird. Es wird lernen zu unterscheiden, ob es nun Hunger hat, weil es sich sportlich betätigt hat, oder ob es Langeweile durch Essen kompensieren möchte. Trotzdem gilt auch hier das Prinzip der Freiheit.
Insbesondere beim Essen soll das Kind ein eigenes Urteil, eben einen eigenen Geschmack entwickeln und nicht durch Prinzipien wie „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!“ eingeschränkt werden. Nicht alle Kinder mögen als Liebstes Schnitzel mit Pommes frites, auch wenn man auf Kinderfreizeiten glaubt, damit die Herzen aller Kleinen zu erobern. Der Respekt gegenüber dem Geschmack von Kindern ist entscheidend. Meist löst man nur mehr Widerstand bei Kindern aus, wenn man gegen den Willen des Kindes auf besonders gesunde Ernährung besteht. Hier regt sich der Unabhängigkeitsgedanke des Kindes, das für Fragen der Gesundheit sicher kaum empfänglich ist. Der naturnahe Zugang mag wie oben beschrieben der gangbare Weg sein, damit Kinder für eine gesunde Ernährung empfänglich werden.
3.2.7 Erziehung zur Mitmenschlichkeit
Die Freiheit als Erziehungsziel beinhaltet zugleich bei Montessori das Ziel zur Mitmenschlichkeit. Gerade die Übungen des täglichen Lebens zielen darauf ab, dass das Kind sich in der Gemeinschaft zurecht findet. Indem das Kind durch die Polarisation seiner Aufmerksamkeit zur inneren Ruhe kommt, ist es offen für die Aufmerksamkeit für seine Mitmenschen. Es wendet sich dem anderen zu und kann ihm behilflich sein. Montessori vergleicht dies mit der Liebe von Eltern zu ihrem Kind. Ein Verzicht ist hier ein Akt der Liebe und wird nicht schmerzvoll als Verlust betrachtet. So wendet sich die Pädagogin gegen jedes Prinzip des Stärkeren und des Sichdurchsetzens. Im Fühlen des Miteinanders liegt die Stärke. (vgl. Montessori, 1972, S.28ff)
Auch hier kann die Erziehung des Essens einen beträchtlichen Anteil dazu beitragen, dass Mitmenschlichkeit entsteht. Das Essen als Mahlgemeinschaft fördert das Teilen, aber auch das Gefühl der Gemeinschaft. Nicht umsonst wird in allen Religionen dem gemeinsamen Mahlhalten eine religiöse Dimension zugeordnet. Für die Pädagogik bedeutet dies, dass sie darauf achten soll, dass das Essen gemeinsam stattfindet. Rituale wie ein gemeinsames Gebet oder ein Spruch („Piep, piep, piep...“) können für Kinder das gemeinschaftliche Erleben erhöhen. Aber bereits das Vorbereiten einer Mahlzeit kann verdeutlichen, dass durch vereinte Kräfte mehr als nur eine Mahlzeit entsteht.
Neben dem eher gefühlsbetonten Aspekt, Gemeinschaft zu erleben, dient der heimische Esstisch aber auch der Sozialisation, also der Eingliederung in die Gemeinschaft. Hier werden meist die Regeln für Essverhalten weitergegeben. Durch das Lernen bestimmter Ess-Kultur-Techniken wird das Kind auf die jeweilige Gesellschaft vorbereitet (vgl. MacClancy, 1995, S.19ff). Er lernt die Tischsitten, den Gebrauch von Hilfsmitteln (z.B. Besteck), an welchem Ort die Nahrung wie zu sich genommen wird (existiert ein spezieller Essraum, wird Essmöblierung wie Tisch oder Stuhl benutzt, wird die Speise sitzend, stehend oder liegend zu sich genommen) und welche Art von Speisen gegessen werden (vgl. MacClancy, 1995, S.21ff).
An dieser Stelle sei auch auf die strukturschaffende Eigenschaft von Mahlzeiten hingewiesen, welche Vertrauen in die Umwelt schafft. Denn die Eltern oder Bezugspersonen erweisen sich hier als zuverlässig, wenn es regelmäßig etwas zu essen gibt, wenn regelmäßig Festzeiten mit entsprechenden Mahlzeiten eingehalten werden. Dies gibt den Kindern Halt und Verbundenheit mit der Kultur, in der sie leben (vgl. Schmitt, 1994, S.20ff).
Der andere Aspekt der Sozialisation, nämlich der der Sozialwerdung wird ebenfalls durch die gemeinsame Nahrungsaufnahme mit anderen Menschen (vgl. Tellenbach, 1968, S.27), aber auch durch die gemeinsame Vorbereitung von Speisen und die Beseitigung der Folgen (Müll, Abwasch), also der Aspekt der geselligen Arbeit gefördert. Dies kann dem heranwachsenden Menschen helfen auf den Weg zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der Mensch nicht geschaffen ist, allein zu leben (vgl. Rousseau, 1995, S.221), sondern eben als ein soziales Wesen geboren wurde.
3.2.8 Erziehung zum Schönen und Guten
Letztendlich beabsichtigt Montessori mit ihrer Pädagogik die Anteilnahme des Kindes am Schönen und Guten. Hier vertritt sie letztlich die Transzendentalyenlehre des Thomas von Aquin, der davon ausging, dass alles Seiende an den Seinsbestimmungen teilhabe. Diese sind nach Thomas die Einheit, Wahrheit und Gutheit. In neuerer Zeit wird dem auch die Schönheit hinzugezählt. (vgl. Hirschberger, 1976, S.411)
Die Einheit erlebt der Mensch nach Montessori in der Polarisierung der Aufmerksamkeit. Das Gute erreicht der Mensch durch die Gewissensbildung. Montessori sieht in jedem Menschen die Fähigkeit zum Guten angelegt. Deswegen ziele die Pädagogik auch auf dieses Gute ab. „Das Leben des Menschen geht ins Leere, wenn er sich nicht ständig zum Guten entscheidet. [...] Das Gute soll in allem sein, was zum Leben des Menschen gehört. Im Guten gelangt er zur Existenz.“ (Helming, 1977, S.143) Erziehung muss deshalb die Regeln der Höflichkeit, die durch die Übungen angeeignet wurden, überführen in eine sittliche Haltung, die die Verwirklichung des Guten zum Zweck hat.
Die „[...] Schönheit endlich steht nicht neben den anderen [Transzendentalyen, Anm. d. Verf.], sondern erwächst aus ihnen als ihre Vollendung. Sie liegt in dem Zusammenklang von Einheit, Wahrheit u Gutheit, welchem das harmonische Ineinananderschwingen von irgendwie schauhaftem Erkennen u verkostendem Wollen entspricht. In der Schönheit kommen das Sein u der Geist zur Ruhe, weil sie vollkommen sich selbst gefunden haben.“ (ebd. S.412) Ähnlich beschreibt Montessori das Ziel einer ästhetischen Erziehung:
„Werden die Sinneswahrnehmungen vervielfacht und wird die Fähigkeit zur Abschätzung auch der geringsten quantitativen Unterschiede bei den Reizen entwickelt, so führt dies zur Verfeinerung der Sensibilität und zur Vervielfältigung der Genüsse. Schönheit liegt in der Harmonie, nicht in den Kontrasten, und die Harmonie liegt in der Verfeinerung; also ist Feinheit der Sinne nötig, um sie wahrzunehmen. Die schönen Harmonien der Natur und der Kunst entziehen sich den Menschen mit derben Sinnen.“ (Montessori, 1984, S.165; zitiert nach: Tschamler, S.150f)
Durch die Erziehung der Sinne und der Motorik gelangt der Mensch nach Montessori zu einem tieferen Verständnis von Harmonie und Schönheit. Nur über die Wahrnehmung und die Intelligenz vermag der Mensch das Gleichgewicht der Seinsbestimmungen zu spüren. So mag eine Erziehung des Geschmackes sich darüber im Klaren sein, dass ihre Aufgabe bei Montessori letztlich in der Vermittlung der transzendentalen Seinsbestimmungen liegt.
Eine ästhetische Erziehung des Essens kann diese hehre Aufgabe übernehmen oder ablehnen. Das Angebot Montessoris aber bleibt, dass eine solche Form der Erziehung über eine bloße Vermittlung von Fähigkeiten und Gepflogenheiten hinausgeht. Das Essen als existentieller Akt der Nahrungsaufnahme und seine Zubereitung können dazu dienen, den Menschen zu seiner Bestimmung als individueller und sozialer Mensch zu führen. Darin liegt das Besondere dieser ästhetischen Erziehung.
3.3 Beispiele der konkreten Erziehung zum Essen bei Montessori
An Hand von zwei Beispielen soll dargestellt werden, wie Maria Montessori konkrete tägliche Übungen vorschlägt, die eine Erziehung rund um das Essen und den Geschmack fördern sollen. Dies setzte sie so im Kinderhaus um, doch können die Beispiele durchaus als Anregung für jeden Erzieher gelten.
3.3.1 Der Gebrauch des Sinnesmaterials
Hinter dem Sinnesmaterial von Maria Montessori stehen zahlreiche Erfahrungen. Es wurde von ihr und ihren Mitarbeitern zum Teil vorgefunden, zusammengetragen, modifiziert und auch neu geschaffen. Sinnesmaterial ist für die Kinder in der Entwicklungsphase von etwa 2 bis 6 Jahren konzipiert. In dieser Zeit werden die bis dorthin absorbierten Eindrücke der Umgebung mit Hilfe des Sinnesmaterials strukturiert, geordnet und durch Wortlektionen abstrahiert. Es soll dem Bedürfnis nach Analyse und innerer Organisation der Früherfahrungen gerecht werden und dem Kind die Möglichkeit geben, die Dinge seiner Umwelt in eine grundlegende Struktur einzureihen, die ihm als Basis für den Aufbau seines geistigen Lebens und für die Persönlichkeitsentwicklung dient. Es fördert alle menschlichen Sinne (vgl. Steibel, 1994, S.33):
- Gesichtsinn (Sehsinn)
- Sinn für die allgemeine Empfindungsfähigkeit (Tastsinn, Wärmesinn, Gewichtssinn)
- Gehörsinn
- Geruchsinn
- Geschmacksinn
- Stereognostischer Sinn.
Das gesamte ‚Montessori-Material’ ist heute in fünf Bereiche eingeteilt und wird im Rahmen der ‚vorbereiteten Umgebung’ in den Kinderhäusern und Montessori-Schulen angeboten. Jeder Materialbereich bereitet auch indirekt auf die anderen Bereiche vor.
Als Beispiel von solcher indirekter Vorbereitung führt Steibel (1994) das ‚Löffeln von Samenkörnern’ aus dem Bereich ‚Übungen des täglichen Lebens’. Dabei werden die Körner aus einer großen Schale in kleine Schalen durch eine Löffelübung verteilt. Diese wertvolle Hantierung, die zunächst sehr einfach wirkt, beinhaltet dennoch eine indirekte Vorbereitung auf alle anderen Materialbereiche:
- Das Hantieren mit den Körnern den Seh-, Tast-, Gehör- und Gewichtssinn (Bereich: Sinneserziehung).
- Die Verteilung der großen Menge in Teilmengen (Bereich: Mathematik).
- Durch das Löffeln von links nach rechts übt das Kind die Lese- und Schreibrichtung (Bereich: Sprache).
- Es lernt verschiedene Samenkörner (Bereich: kosmische Erziehung) kennen.
Letztlich kann diese Übung aber auch als Vorbereitung auf das Eingießen von Suppe für die Gäste verstanden werden. An den obigen Ausführungen versteht man aber schon, dass dies nicht als Selbstzweck gesehen wird, sondern immer im als Ausbau der Persönlichkeit begriffen wird.
3.3.2 Grundübung der Geschmacksgläser
Zur Erziehung des Geschmacksinns findet man im Montessori-Material eine Grundübung, die sogenannten „Geschmacksgläser“: Die Übung ist für die Kinder im Alter ca. 3,5 Jahren geeignet und als direktes Ziel hat sie die Schulung des Geschmackssinnes. Die Aufmerksamkeit des Kindes wird auf vier Geschmacksarten gelenkt. Indirektes Ziel ist vorsichtiger Umgang beim Probieren und Würzen und Schulung der Feinmotorik. Den Wortschatz erweitert man dabei um die Begriffe: süß, sauer, bitter und salzig, wie auch um die Komparative und Superlative.
Zur Geschmackserziehung im weiteren kulturellen Sinne kann man auch die Übungen des praktischen Lebens zählen, die eigentlich als Vorbereitungsübungen gelten und deren direktes Ziel ursprünglich nicht die Geschmackserziehung ist. An dieser Stelle seien als Beispiele dieser Übungen erwähnt: Löffeln, Gießen, Gießen mit Samenkörnern, Gießen mit Wasser, Tücher falten, Metall polieren, Tisch kehren, Tisch decken, Blumenpflege aber auch die erweiterten Übungen, die nicht zu den Basisübungen gehören, wie z.B. das bei den Kindern sehr beliebte Kaffeemahlen, die Übung „Gehen auf der Linie“ (Vorbereitung zum Auftragen des Essens).
Als ein Beispiel aus Montessoris Unterricht möge die praktische Übung des täglichen Lebens zum Frühstücken dienen. Ein Junge sitzt am Frühstückstisch und schneidet einen Apfel. Er könnte auch einfach den Apfel anbeißen – aber er will sich hier richtig eine Mahlzeit zubereiten. Er zerteilt den Apfel und löst mit dem Messer das Kerngehäuse heraus. Sicher wird er die vorbereiteten Apfelstücke auf den Teller vor sich legen und dann erst mit dem Essen beginnen.
Es wird deutlich, wie er sich auf sein Werk konzentriert und sich bemüht, seine Hände geschickt werden zu lassen. Das Kind wirkt ganz wie eine Einheit, hingegeben an die ihm selbst gestellte Aufgabe.
Es lohnt sich, dem Frühstück im Kinderhaus einmal zuzuschauen: Der Frühstückstisch bietet für höchstens 6 Kinder Platz. Frühstücken bedeutet durch diese Anordnung viel mehr als nur Nahrungsaufnahme. Die Kinder verabreden sich mit anderen zum gemeinsamen Essen, ganz so, wie es die Eltern mit Freunden auch manchmal tun.
Die Kinder bereiten den Tisch selbst für die Mahlzeit vor. Das Geschirr wird sorgfältig herbeigeholt, eine Blume schmückt die Mitte des Tisches. Man setzt sich zusammen und bildet für die Dauer des Frühstücks eine Tischgemeinschaft, in der das begleitende Gespräch von selbst in Gang kommt. Jeder spült selbst sein Geschirr und räumt es wieder weg. „Erst jetzt können andere Kinder wieder für sich den Tisch decken.“ (Schmulzer, 1991, S.140)
4. Ausblick: Konsequenzen für die Pädagogik
Wenn man die Vorschläge von Maria Montessori liest, mögen diese einem bisweilen anachronistisch erscheinen. In Zeiten von McDonald’s, speziellen Kindersnacks und Fertignahrung für Babys, in einer hochorganisierten Arbeitswelt mit minutengenauen Mittagspausen und Kantinenmenüs erscheint einem Essen mehr ein Produkt und eine Notwendigkeit zu sein als Bestandteil von Sozialisation und Erziehung. Aber wie bereits mehrmals erläutert, wir sich auch eine Gesellschaft, die äußerlich Essen auf eine Stufe mit anderen Konsumgütern stellen mag, nicht dagegen verwahren können, dass Essen die menschliche Individualisierung und das Zusammenleben existentiell gestaltet und beeinflusst.
Eine Erziehung zum Essen bedeutet also indirekt auch eine Erziehung zum menschlichen Miteinander. Die eingangs erwähnte These von Annelies Furtmayr-Schuch, wonach ein direkter Zusammenhang zwischen den Scheidungszahlen von Ehen und dem Verlust an Essenskultur bestehe (s. 1. Einleitung), gewinnt so zumindest eine Plausibilität, auch wenn eine Reduktion auf diesen einen Grund sicher zu eindimensional gedacht wäre.
Aus diesem Grunde erscheint es zwingend notwendig, dass sich eine Pädagogik mit der Frage auseinandersetzt, inwieweit sie das Essen in ihr Denken mit einbezieht. Als ein prägendes Moment kann die Erziehung zum Essen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Maria Montessoris Ansatz über die Sinneserziehung ist ein gangbarer Weg, der Anregungen auch für andere Richtungen der Pädagogik sein kann, so z.B. für „Slow-Food“, eine Bewegung, die es sich direkt zum Programm gemacht hat, die bewusste, ‚sich Zeit lassende‘ Ernährung aufrechtzuerhalten und „junge Menschen dazu zu ermutigen eine eigene Beziehung zur Nahrung aufzunehmen“ (Langer, 2000, S.2).
Allerdings muss sich eine Pädagogik auch die Frage stellen, wie sie gegen die Gegebenheiten meist wirtschaftlicher Interessen ankommen möchte. Die Ernährung ist ein Konsumgut und wird als solches offensiv und reizvoll überall angepriesen. Die Frage sei erlaubt, wie eine Pädagogik „werbewirksam“ ihre Anliegen vertreten kann im Vergleich zu Werbespots für Schokoriegel mit glücklichen Kinderaugen und „kultigen“ Neueditionen fremdländischer Burger bei McDonald’s?
5. Literatur
Brillat-Savarin, A. (1979). Physiologie des Geschmacks. Frankfurt/Main: Insel
Brugger, Walter (1976). Philosophisches Wörterbuch. Freiburg i. Br.: Herder
Eichelberger, Harald (1997). Handbuch zur Montessori-Didaktik. Innsbruck-Wien: Studien-Verlag
Furtmayr-Schuch, Annelies (1993). Postmoderne Ernährung. Stuttgart: Georg Thieme
Helming, Helene (1977). Montessori-Pädagogik. Freiburg i. Br.: Herder
Hirschberger, Johannes (1976). Geschichte der Philosophie. Band I und II. Freiburg i. Br.: Herder
Kolmer, L.; Rohr, C. (Hrsg.) (2000): Mahl und Repräsentation. Paderborn: Schöningh
Langer, A. (2000). Erziehung der Sinne und Recht auf Geschmack. In: Der Spiegel online www.spiegel.de/druckversion/0,1588,100916,00html
Löscher, W. (1983). Riech- und Schmeckspiele. München: Don Bosco Verlag
MacClancy, Jeremy (1995). Gaumenkitzel. Von der Lust am Essen. Hamburg: Junius Verlag
Mönkemeyer, Karin (1988). Spiele für alle Sinne. Reinbek: Rowohlt
Montessori, Maria (1972). Das kreative Kind. Freiburg i. Br.: Herder
Montessori, Maria (1969). Die Entdeckung des Kindes. Freiburg i. Br.: Herder
Montessori, Renilde; Schneider-Henn, Karin (1983). Uns drückt keine Schulbank. Stuttgart: Klett Cotta
Rousseau, Jean-Jacques (1995). Emil oder Über die Erziehung. Paderborn: Schöningh
Schmidt-Leukel, Perry (Hrsg.) (2000). Die Religionen und das Essen. Kreuzlingen: Hugendubel
Schmitt, E. (1994). Das Essen in der Bibel. Hamburg: Lit
Schmutzl, H.-J. (1991). Fröbel und Montessori. Freiburg: Herder
Steibel, R. (1995). Die Sinneserziehung nach Maria Montessori. Eichstätt: BPB
Tellenbach, H. (1968). Geschmack und Atmosphäre. Salzburg: Otto Müller Verlag
Teuteberg, H. J. & Wiegelmann, G. (1972). Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Teuteberg, H. J. (1985). Homo habitans. Münster : Coppenrath
Tschamler, Herbert (1998). Die Aufgabe einer aesthetischen Erziehung in einer humanen Schule. In: Jendrowiak, Hans-Werner (Hrsg.). Humane Schule in Theorie und Praxis. Frankfurt a. M.: Peter Lang
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- Jörn Killinger (Author), Fatma Sakinc (Author), Monika Ondockova (Author), 2001, Essen und Erziehung orientiert an der Pädagogik von Maria Montessori, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109485
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