Walter Grode
GEMEINSAM RADFAHREN
oder
>Das machen wir zum ersten Mal<
Rein statistisch gesehen ist es nicht sehr wahrscheinlich, aber doch nicht ausgeschlossen, dass Sie, wir ich, auf einer herbstlichen Radtour einem Paar begegnen, das mit einem zarten silbernen Klapprad und einem durchaus massiven Handbike wundervoll leicht durch die Gegend zu brausen scheint.
Befragt, woher denn ihre (offensichtliche) Unbeschwertheit kommt - die das >Prinzip Rollstuhl< geradewegs zu negieren scheint - sind beide zunächst selbst verwundert. Dann aber verraten sie mir ihre Devise, die die Welt von 50-jährigen geradezu auf den Kopf zu stellen scheint: >Das machen wir alles zum ersten Mal<
Nein, nicht nur die Strecke. Erst vor wenigen Monaten sind die beiden tatsächlich zum ersten Mal miteinander Rad gefahren und vor wenigen Jahren (im Alter von Ende 40) das erste Mal miteinander gewandert und haben erstmals miteinander getanzt.
Das hat natürlich auch mit ihren soziokulturellen Erfahrungen der frühen 70er Jahre zu tun (als man eben nicht miteinander tanzte, wanderte und radfuhr) - aber vor allem mit einem kleinen Wunder, das darin besteht, daß sich die (an sich sehr aggressive) Multiple Sklerose auf ein friedliches Zusammenleben mit den beiden einließ. Und damit einem ehemaligen Vermessungs-Ingenieur und Offizier die Möglichkeit gab, sich selbst völlig umzubauen bzw. sich von seiner Frau umbauen zu lassen
Im Schutze des (symbolischen) Glashauses das meine Frau um mich errichtete, erzählt er blumig, vollzog sich bei mir nicht nur ein Neubeginn (zum Politologen und >zum Philosophen gar<) sondern eine regelrechte Verwandlung.
"Eine Metamorphose im Kopf" sozusagen. Weg vom alten cartesianischen Denken, das alles vermess- und berechenbar sei. Hindurch durch den Hirsebrei und die Katharsis der Nationalsozialismusforschung, hin zu der wundervollen, dem Garten meiner Frau abgeschauten Einsicht, daß es in der Natur - auch in meiner eigenen - gar keine rechten Winkel gibt, allenfalls Ecken, um die wir heute im Zeit-Magazin >herumdenken< können. Bisweilen aber, ergänzt seine Frau realistisch, reicht es (ihm) schon vollkommen aus, sich in die Sonne zu setzen und den geglückten >Augen-Blick< wahrzunehmen.
Vor fünf Jahren haben beide mit dem gemeinsamen Wandern begonnen. Zuerst ging das (auch in der absoluten Ebene und bei festem Untergrund) nebeneinander nur wenige hundert Meter. Mit der Zeit aber haben sie eine kräftesparende Routine entwickelt: Städtische Fußgängerzonen, See- und Flußufer, selbst Talsperren, sind für Wanderungen mit dem Rollstuhl durchaus geeignet. Und stillgelegte alte Eisenbahnstrecken sind nicht nur für Radfahrer und Skater ein Geheimtip. Und ab und zu leisten sie sich - neben dem fast alltäglichen kleinen - auch "das große Abenteuer im Alltag": Mit Freunden hinauf auf den Brocken z.B. und hinunter über die alte Bobbahn, mit Findlingen, so groß wie Kühlschränken.
Und seither tanzen beide auch gemeinsam im TSC Allround Garbsen (www.tscallround.de). Einem Verein, in dem es nicht um Hochleistungssport geht, sondern um Freizeitgestaltung und die Freude an der tänzerischen Bewegung. Ihre Tanzlehrer (Mona und Olaf Steger) haben die konventionellen Tanzschritte von Rumba, Cha-Cha, Tango oder langsamen Walzer für sie zu "Rollstuhlschritten- und Drehungen" transformiert. Auf diese Weise braucht der "Rolli" nur etwa ein Fünftel der Bewegungsenergie beizutragen und spürt - dank der Kraft der "Fußgängerin" - doch etwas von der Leichtigkeit der Bewegung und des Seins Und genau dieses Gefühl, so sagen beide, stellt sich seit einigen Monaten ein, wenn sie miteinander Radfahren..
Etwas Schönes und Interessantes zum ersten Mal erleben
>Daß unserer privates - uns durch meine Behinderung und die Zeitläufte aufgezwungenes -Rezept: "Möglichst alles zum ersten Mal zu tun" verallgemeinerungsfähig oder gar auf Dauer zu stellen ist, erscheint zunächst abwegig<, bemerkt der männliche Partner gedankenverloren.
Doch dann bricht sich sein Hang zur alltagskulturellen Mission geradezu eruptiv Bahn: >Aber bedenken Sie doch, daß es ganze Welten gibt, die auch für Sie völlig neu sind, auf denen auch Sie etwas zum ersten Male tun können.. Denken Sie nur an die Weiten der Kunst, Kultur und Geschichte.. Wir kommen selbst beide aus der Wohnküche, und das einzige was ich von Humboldt wußte, war der Name des (heute längst stillgelegten) Braunkohlentagebaus, der auf jeden Brikett stand.<
>Versuchen Sie sich<, fährt er nun richtig in Fahrt kommend fort, >die Welt der Kultur, Kunst und Geschichte anzueignen. Aber nicht so, als würden Sie sie auswendig lernen und reperieren: diese Methode ist allenfalls für eine Quiz-Show zu gebrauchen. Sondern so, daß die >hohe< Kunst und Wissenschaft sich mit Freude von Ihnen selbst und (noch wichtiger) nach Ihren eigenen Maßstäben in Ihre eigene Alltagskultur einbauen läßt<
# Gehen Sie in den Garten oder in den nächstgelegenen Park. Und versuchen Sie bewußt darauf zu achten, wieviel Kultur - nämlich Gartenkultur - Ihnen hier begegnet. Und diese Verbindung von Alltags- und Hochzeitserfahrung ist nur ein Anfang.. Es ist der Beginn einer unendlichen Geschichte, die Sie selbst schreiben.
# Oder lesen Sie ein Buch: beispielsweise ein Gartenbuch. Und vergleichen Ihre eigenen Erfahrungen (z.B. beim Umgaben) mit denen des Autors. Auf diese Weise können Sie ganze Bibliotheken - und d.h. nie enden wollende innere Welten - "umgraben" und auf Ihre eigenen Hoffnungen, Wünschen und Enttäuschungen hin befragen.
# Oder hören Sie (gerade wenn Sie sich mal nicht so fit fühlen) Radio - beispielsweise die wunderbaren Wortprogramme des Deutschlandfunks oder von DeutschlandRadioBerlin. An trüben Herbst-Sonntagen z.B. die "Zwischentöne" (um 13.30 im DLF) oder "Menschen und Landschaften" (um 9.00 im DLR) und danach als (Wieder)Einstiegsdroge: "das Sonntagsrätsel" mit dem unvergleichlichen Christian Bienert.
# Oder besuchen Sie einmal Wolfsburg. Und besichtigen Sie dort nicht nur die "Autostadt", sondern auch das Kunstmusem. Und es eröffnet sich Ihnen ein ganz anderer Zugang zu Kunst und Popkultur (was ja nichts anderes heißt als Alltagskultur) als Sie ihn gemeinhin gewohnt sind, wenn Sie lediglich die Glamour-Storries über Bayreuth und Salzburg lesen.
# Oder fahren Sie einfach mit offenen Augen über die Autobahn - und Sie können ganz nebenbei, sowohl einen (ganz anderen) Blick auf die Widersprüchlichkeit der deutschen Gegenwart und Zeitgeschichte, als auch auf Ihre eigenen Wünsche nach Mobilität werfen.
Danach war die Zeit für weitere aufklärerische Bemühungen zum Glück um. Und dennoch, so meint der Verfasser, verbergen sich darin ja zwei wichtige Fragen, über die es sich nachzudenken lohnt: Gibt es tatsächlich (an fast jedem Ort und zu fast jeder Zeit) die Möglichkeit, etwas zum erstem Mal zu beginnen? Und sind die Maßstäbe unter denen das geschieht - selbst dann, wenn wir vermeintlich außer Konkurrenz sind - tatsächlich unsere eigenen?
PS. Der Verfasser nutzt ganz nebenbei die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass in den vergangenen Monaten bei http://www.wissen.24.de mehrere seiner (älteren) Aufsätze und Essays, insbesondere zum Thema Nationalsozialismus erschienen sind, zu denen in den nächsten Monaten noch weitere, insbesondere auch zum Thema Behinderung und Alter, hinzukommen werden.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Walter Grode (Autor:in), 2003, Gemeinsam Radfahren oder "Das machen wir zum ersten Mal", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109460
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