Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Beschäftigungsentwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft
1.1. Statistikverzerrungen: sektorale und funktionale Erfassung von Dienstleistungsbeschäftigung
2. Warum und in welchen Bereichen hat Dienstleistungsbeschäftigung zugenommen?
2.1. Differenzierung von Dienstleistungstätigkeiten
2.2. Wachstum von Dienstleistungsbeschäftigung
2.3. Begrenzung des Beschäftigungswachstums
2.4. Baumol: Kostenkrankheit von Dienstleistungen
2.5. Organisationsformen von konsumorientierten Dienstleistungen
3. Räumliche Entwicklung seit der Tertiarisierung der Produktion und Expansion konsumorientierter Dienstleistungen
3.1. Disurbanisierung und Suburbanisierung seit Mitte der 70er Jahre
3.2. Reurbanisierung
3.3. Renaissance der großen Städte
3.4. Hierarchisierung der Städte: Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle
3.5. Global City
3.6. Die Rolle der konsumorientierten Dienstleistungen: ausgleichend ...und polarisierend
4. Ausblick und Plädoyer für den Erhalt öffentlicher Dienstleistungen
5. Literaturverzeichnis
0. Einleitung
Die kontinuierliche Steigerung der Produktivität machte es möglich, mit immer weniger manueller menschlicher Arbeitskraft, immer mehr materielle Güter herzustellen. Inzwischen verdienen daher mehr Menschen in den entwickelten Industrieländern mit Dienstleistungstätigkeiten ihr Geld, als im verarbeitenden Gewerbe (oder sind arbeitslos). Das zeigt sich aber nicht nur an einer Veränderungen in der Beschäftigungsstatistik und am Anteil von Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt, sondern auch auf sozialer und räumlicher Ebene.
Doch zuerst werde ich auf die beschäftigungsstatistischen Veränderungen eingehen, die aus einer Industriegesellschaft eine Dienstleistungsgesellschaft machen, aber auch auf die Schwierigkeiten bei der Erfassung von Dienstleistungsbeschäftigung. Weiter werde ich aufzeigen, in welchen Bereichen des Dienstleistungssektors die Beschäftigung zugenommen hat. Augrund der Heterogenität des Dienstleistungssektors, ist dafür eine Differenzierung von Dienstleistungstätigkeiten, zumindest in die zwei Hauptkategorien „produktionsorientierte“ und „konsumorientierte“ Dienstleistungen, sehr hilfreich. Auch wenn es in Kapitel 2.3.ff dann darum geht, die Frage zu klären, ob der Dienstleistungssektor die überflüssig gewordenen Arbeitnehmer aus dem industriellen Sektor binden kann, bzw. welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen. Wenn ich mich sonst hauptsächlich auf die BRD beziehe (und davon die neuen Bundesländer weitgehend ausgenommen, aufgrund ihrer besonderen Entwicklung), werde ich im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels auch andere Dienstleistungsgesellschaften zum Vergleich heranziehen. USA, Schweden und die BRD unterscheiden sich hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Organisation von konsumorientierten Dienstleistungen, die wegen geringerer Produktivität zu einer sogenannten Kostenkrankheit neigen. Verschiedene Organisationsformen dieser Dienstleistungen bilden auch jeweils andere Sozialstrukturen heraus.
Kapitel drei widmet sich der räumlichen Entwicklung der Dienstleistungsgesellschaft: Wie sind konsumorientierte und produktionsorientierte Dienstleistungen und damit auch die Beschäftigung räumlich verteilt? Genannt seien Dis- und Suburbanisierung, sowie die Hierarchisierung der Städte untereinander, also Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle.
Weil sich die nationale Ökonomie aber nicht aus dem globalen Zusammenhang lösen lässt, kommen in Abschnitt 3.5. noch die Global Cities zur Sprache, die an der Spitze der Städtehierarchie stehen. Aber auch andere Großstädte, die keine offiziellen Global Cities sind, scheinen zunehmend wieder „Gewinner“ des Tertiarisierungsprozesses zu sein.
Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der räumlichen und sozialen Struktur der Dienstleistungsgesellschaft. Sie soll aber eher einen groben Überblick verschaffen, wo auch andere wichtige Themen, wie Frauenerwerbstätigkeit oder die Beschäftigungswirksamkeit des Dienstleistungssektors nur oberflächlich bleiben. Dennoch versuche ich in Kapitel vier in einem Ausblick die angesprochenen Themen zu bewerten.
1. Beschäftigungsentwicklung hin zur Dienstleistungsgesellschaft
Wenn sich Dienstleistungsgesellschaften dadurch definieren, dass mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen ihr Einkommen mit Dienstleistungstätigkeiten erzielen, dann kann man die BRD und andere entwickelte Industrieländer als solche bezeichnen. Über Jahrzehnte hinweg hat sich der Beschäftigungsschwerpunkt vom primären (Industrien die Rohstoffe gewinnen: Land- und Forstwirtschaft, Bergbau) zum sekundären (Industrien, die Rohstoffe zu Konsumgütern verarbeiten) bis zum tertiären (im folgenden auch Dienstleistungssektor genannt) Wirtschaftssektor verschoben. Waren in den 60er Jahren noch 18 von 100 Erwerbstätige im primären Sektor tätig, so sind es heute nur noch drei. Ebenso hat der sekundäre Sektor Beschäftigungsanteile verloren, so dass heutzutage nur noch 1/3 aller Erwerbstätigen dort arbeiten. Der tertiäre Sektor hat dagegen an Gewicht gewonnen und beschäftigt mittlerweile 65%, also 2/3 der Erwerbstätigen. Zwischen 1970 und 75 hat sich die Dominanz von Beschäftigungsanteilen vom sekundären zum tertiären Sektor verlagert.[1]
Die Verschiebung von Beschäftigungsanteilen zugunsten des tertiären Sektors hat mehrere Ursachen. Einen Teil trägt aber auch die statistische Erfassung dazu bei.
1.1. Statistikverzerrungen: sektorale und funktionale Erfassung von Beschäftigung
So werden Beschäftigte in der Regel nach dem wirtschaftlichen Schwerpunkt ihrer Arbeitsstätte eingeteilt, was bedeutet, dass es aufgrund von vermehrtem Outsourcing von Dienstleistungstätigkeiten aus Unternehmen zu einem Anstieg von Beschäftigten im tertiären Sektor kommt, obwohl die Anzahl der Beschäftigten möglicherweise gar nicht angestiegen ist. Doch andererseits werden bei der sektoralen Erfassung auch viele Dienstleistungsbeschäftigte „unterschlagen“: ein hauseigener Pförtner oder eine Putzfrau die bei einem Autokonzern angestellt sind, und eine Dienstleistung verrichten, werden trotzdem in den sekundären Sektor aufgenommen, da ihr Arbeitgeber letztendlich Autos und keine Dienstleistungen verkauft. Eine funktionale Erfassung der Beschäftigten, die allerdings um einiges aufwändiger ist, wäre genauer. Dabei geht es um die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit und nicht um die Zugehörigkeit des Beschäftigten zu einer Arbeitsstätte. Doch auch bei einer funktionalen Erfassung lässt sich ein Anstieg von Dienstleistungstätigkeiten feststellen.[2]
2. Warum und in welchen Bereichen hat Dienstleistungsbeschäftigung zugenommen?
Um den Anstieg erklären zu können, bedarf es eines genaueren Blicks auf den Dienstleistungssektor, da dieser in Bezug auf Tätigkeiten, Wachstum, Qualifikationsanforderungen, Produktivität, etc. sehr heterogen ist. Die Differenzierung innerhalb der Dienstleistungstätigkeiten ist auch wichtig, wenn es darum geht, die räumlichen Auswirkungen der Dienstleistungsökonomie und die unterschiedliche räumliche Verteilung des Dienstleistungsangebots zu untersuchen.
2.1. Differenzierung von Dienstleistungstätigkeiten
Grob lassen sich Dienstleistungen in „konsumorientiert“ und „produktionsorientiert“ einteilen. Erstere Dienstleistungen (DL) werden von Endverbrauchern konsumiert. Sie lassen sich nochmals unterteilen in personenbezogene DL wie bspw. Bildung, Erziehung, Soziale Dienste (Betreuung, Pflege), also DL die unmittelbar einer Person zugute kommen und haushaltsorientierte DL, welche Tätigkeiten darstellen, die üblicherweise im Haushalt anfallen und als Erwerbsarbeit erledigt werden.[3] Dazu gehört z.B. die Arbeit in einem Restaurant (anstatt zu hause zu kochen, geht man zum Essen), aber ebenso Kultur, Versicherungs- und FinanzDL[4] und Freizeitangebote. Produktionsorientierte DL haben, wie der Name schon sagt, mit dem industriellen Produktionsprozess zu tun und werden quasi von Unternehmen „konsumiert“. Einfache Tätigkeiten wie Transport, Lagerhaltung und Wartung von Produkten bis hin zu wissensintensiveren „höherwertigen“ DL wie Planung, Werbung, Forschung & Entwicklung, FinanzDL, Management und Steuerberatung lassen sich unter diese Art von DL einordnen.[5]
2.2. Wachstum von Dienstleistungsbeschäftigung
Ein großes Wachstum an Beschäftigung hat es nun bei den konsumorientierten DL vor allem im Bereich der personenbezogenen DL gegeben: bei Bildung, Erziehung, Gesundheit und sozialen Diensten. Zurückzuführen ist das auf den Ausbau des Wohlfahrtstaates mitsamt seinen öffentlich organisierten und finanzierten DL. Gleichzeitig mit dem Anwachsen dieses Teilbereichs des DLsektors, stieg auch die Frauenerwerbsquote an (und damit die Beschäftigtenzahlen insgesamt). Es sind also zum großen Teil Frauen, die sich in diesem Arbeitsmarktsegment befinden, in dem sie Tätigkeiten wie Kinderbetreuung, Alten- und Krankenpflege verrichten, die sie vormals unbezahlt im privaten Haushalt erbracht haben.
Das Wachstum von Beschäftigung bei den produktionsorientierten bzw. unternehmensbezogenen DL ist dagegen auf eine Veränderung im industriellen Produktionsprozesses zurückzuführen.[6]
Man spricht von einer Tertiarisierung der Produktion, was sich bildlich z.B. mit „Schuhe werden am Schreibtisch produziert“ verdeutlichen lässt. Tertiäre Funktionen wie Design, Werbung, Marktforschung, etc. werden immer wichtiger für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens, wohingegen die Nähe zu materiellen Ressourcen für entwickelte Industrien an Bedeutung verliert. Die Fertigung ist teilweise in Zweit- und Drittweltländer ausgelagert worden (z.B. Textilindustrie, Schiffbau), weil dort u.a. die Arbeitskräfte billiger sind.[7]
2.3. Begrenzung von Beschäftigungswachstum
Die 65% der DLarbeiter unter den Beschäftigten, teilen sich ungefähr zur Hälfte auf in Beschäftigte die mit konsumorientierten DL und Beschäftigte die mit produktionsorientierten DL ihr Geld verdienen. Wenn man nun das Drittel der Beschäftigten die produktionsorientierte DL verrichten, zu dem verbliebenen Drittel des sekundären Sektors dazuzählt, kann man feststellen, dass der wirtschaftliche Schwerpunkt in der sogenannten Dienstleistungsgesellschaft immer noch auf die industrielle Produktion bezogen ist.[8] Und damit bleibt ein Beschäftigungsanstieg in diesem DLbereich auch durch den Absatz industrieller Produkte limitiert.[9]
Noch zählen die produktionsorientierten DL in den entwickelten Industrieländern aber zu einem Wachstumssektor. Doch die zunehmende Verbesserung der Arbeitsproduktivität bei den DL, die sich durch Informations- und Kommunikationstechniken und organisatorische Innovation ergibt, lässt vermuten, dass die Produktivität dort zukünftig stärker steigen wird als deren Beschäftigung. Letztendlich haben einige produktionsorientierte DL (z.B. Planung, Personal- und Organisationsentwicklung) selbst auch die Funktion, Produktion noch effizienter zu gestalten, sprich zu rationalisieren und Arbeitskraft einzusparen. Es darf also angezweifelt werden, dass der Arbeitsbereich der produktionsorientierten DL mehr Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet, als im primären und sekundären Sektor aufgrund von stetiger Rationalisierung und Auslagerung in Billiglohnländer „verloren“ gingen.[10]
Da scheint der Erfolg im Hinblick auf Beschäftigungswachstum bei den konsumorientierten DL schon größer zu sein.
Fourastie (1954), der „Vater der Debatte um die Dienstleistungsgesellschaft“, sieht ein „unstillbares Bedürfnis nach Tertiärem“[11], sobald die Bedürfnisse an Produkten aus dem primären und sekundären Sektor befriedigt sind. Zudem gibt es bei verbraucherbezogenen DL geringere Produktivitätsfortschritte als in der industriellen Produktion, und daher werden dort tendenziell mehr Arbeitskräfte gebraucht. Der erste Faktor, erhöhter Konsum von DL, ist statistisch widerlegt worden.[12] Doch die geringere Arbeitsproduktivität im DLsektor, ist theoretisch ein Argument für die mögliche Absorbierung der überflüssig gewordenen Arbeitskräfte des primären und sekundären Sektors.
Die Unterproduktion kommt unter anderem durch das „Uno-actu-Prinzip“ zustande, dem insbesondere die personenbezogenen DL unterliegen. „Uno-actu-Prinzip“ meint, dass Produktion von DL und deren Konsum orts- und zeitgleich stattfindet, wie z.B. bei einem Friseurbesuch oder einer ärztlichen Untersuchung.[13] Noch rationalisierungsresistenter werden DL, wenn die Mitwirkung des Kunden erforderlich wird: So kann ein Sprachlehrer nicht schneller unterrichten, wenn der Schüler das Spanisch nicht so zügig lernt oder ein Arzt nicht schneller die Therapie abschließen, wenn der Patient zur Genesung etwas länger braucht.[14]
2.4. Kostenkrankheit von DL
Dass sich der Wunsch nach einer Reduzierung von Arbeitslosigkeit mit Hilfe des DLsektors nicht erfüllt hat, liegt unter anderem gerade an dieser Eigenschaft von DL, nämlich weniger „produktiv“ zu sein.
William Baumol hat 1967 die „Theorie der Kostenkrankheit“ aufgestellt. Diese resultiert daraus, dass sich die Löhne von DLarbeit an den Löhnen von Industriearbeit messen. Weil DL aber lang nicht so produktiv sind wie industrielle Produktion, werden DL bzw. DLbeschäftigung bei zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung relativ immer teurer.[15] Als Konsequenz daraus, werden sich potentielle DLkunden eher das industriell hergestellte Fertigmenü aus dem Supermarkt in die heimische Mikrowelle schieben, als in ein Restaurant zu gehen. Wo konsumorientierte DL durch eine Kombination von Eigenarbeit und einem industriellen Produkt ersetzt werden können, wenn sie zu teuer sind, wird sich nach Gershuny eher eine „Selbstbedienungsgesellschaft“ herausbilden, anstelle einer DLgesellschaft.[16] Manche DL verschwinden dann einfach vom Markt, wenn sie niemand mehr bezahlen kann oder will.
2.5. Organisationsformen von konsumorientierten DL
Es gibt aber DL, auf die nicht verzichtet werden kann, die aber gleichzeitig schwer substituierbar sind: reproduktive Tätigkeiten wie Krankenpflege, Altenpflege, Kinderbetreuung, Bildung und Erziehung. Sie sind angesichts der Kostenkrankheit schwer marktwirtschaftlich zu organisieren und werden daher in vielen Ländern als sogenannte öffentliche Güter organisiert. Die Kosten dieser Dienste werden in Form von Abgaben und Steuern auf die Allgemeinheit umgelegt, da sie prinzipiell jedem zur Verfügung stehen müssen.
Schweden wird sehr oft als Beispiel für ein Land genommen, das einen hohen Beschäftigungsanteil im öffentlichen DLsektor hat, aber deswegen auch eine hohe Abgabenquote[17]. Die Arbeitslosigkeit ist relativ niedrig und die Frauenerwerbsquote annähernd so hoch wie die der Männer.[18] Die Einkommensungleichheit ist zudem sehr gering, was sich dort auch an einer ausgeprägten Mittelschicht zeigt. Eine andere Option, die Kostenkrankheit von reproduktiver Arbeit zu umgehen, liegt in der Einkommensspreizung und einem starken Lohnarbeitszwang. Die USA ist beispielhaft für dieses „Modell“: Das spärliche Sozialsystem zwingt dort viele Menschen in die Billiglohnarbeit, trotzdem gibt Mittelschicht und Oberschicht, die diese Dienste dann nachfragen können.[19]
Die BRD hat weder einen großen öffentlichen Sektor wie in Schweden, noch ein großes marktförmiges DLangebot wie in den USA. Viele potentielle DLtätigkeiten werden also im Privathaushalt erledigt, unbezahlt und meist von Frauen. Noch gibt es eine soziale Absicherung und die Einkommensschere ist wenig gespreizt. Allerdings sind die Arbeitslosenzahlen hoch.[20] Da wird von deutschen Politikern oft das US-amerikanische Modell propagiert, um die Beschäftigungsprobleme zu lösen. Doch das sogenannte Beschäftigungswunder in den USA hat auch seine Nachteile: Es gibt ein hartes Nebeneinander von arm und reich, ein Zustand, der mit Kriminalität korreliert. Zudem bildete die Einkommenspolarisierung in großen Städten eine „new urban underclass“ heraus, wo der enge Zusammenhang zwischen sozialer Struktur der DL- bzw. Dienstbotengesellschaft und deren räumliche Auswirkungen sichtbar wird.[21]
Die Unterscheidung von DLtätigkeiten in produktionsorientierte und konsumorientierte DL sowie die vorherrschende Organisationsform konsumorientierter DL - ob öffentlich, marktförmig oder unbezahlt - ist also nicht nur wichtig für die Prognosen betreffend der Beschäftigungsentwicklung, sondern auch im Hinblick auf den räumlichen Strukturwandel.[22]
3. Räumliche Entwicklung seit der Tertiarisierung der Produktion und Expansion konsumorientierter DL
Wie anfangs erwähnt, wurde im Laufe der 70er Jahren die Beschäftigung im tertiären Sektor dominant und auch in der Siedlungsstruktur machten sich Veränderungen bemerkbar.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Siedlungsstruktur stark von der Industrialisierung geprägt. Die Städte vergrößerten sich, Einwohnerzahlen und Beschäftigung stiegen dort schneller als im Umland und in ländlichen Regionen, da sich Industriebetriebe vorwiegend in Städten ansiedelten. Ebenso wird die räumliche Struktur nun durch Deindustrialisierung und Tertiarisierung geprägt.[23]
Doch die Veränderung verlief und verläuft nicht einheitlich: der Trend zur DLökonomie mag zwar ein nationales Phänomen sein, aber regional gibt es unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten, bis hin zu einer Reindustrialisierung mancher Regionen.[24]
3.1. Disurbanisierung und Suburbanisierung seit Mitte der 70er Jahre
Die Veränderung der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur hin zu einer DLökonomie, wurde bis Mitte der 90er Jahre begleitet von einem räumlichen Strukturwandel, der zu Lasten der Ballungsräume ging.
Vielleicht hat sich dieser Prozess schon in den 60er Jahren abgezeichnet, als es erst mal nur innerhalb der Ballungsräume zu einer räumlichen Streuung kam und Einwohnerzahlen sowie Beschäftigung in den Kernstädten langsamer stiegen, als in deren Umgebung. Doch in den 70er Jahren sprach man schon von „Disurbanisierung“ bzw. „De-Urbanisierung“, also einem Bedeutungsverlust von Großstädten gegenüber anderen Regionen. Die Suburbanisierung der 70er und folgenden Jahren war ebenfalls eine andere, als die in den 60er Jahren. Sie hatte eine größere Dynamik: es wanderten nicht nur Einwohner ab, sondern es gab zunehmend eine Suburbanisierung von Arbeitsplätzen, was in den 60er Jahren noch nicht so stark der Fall war. Damals zogen Leute zwar ins Umland, aber sie sind zu ihrer Arbeitsstätte und zu Konsummöglichkeiten oft noch in die Stadt gependelt. Seit Mitte der 70er Jahre ist nun die Beschäftigung bei den produktionsorientierten sowie den konsumorientierten DL (und somit auch das Angebot an konsumorientierten DL) im Umland und in peripheren Gebieten stärker gewachsen als in Agglomerationen.[25] Dieses Wachstum relativiert sich allerdings, wenn man sich die absoluten Zahlen anschaut, denn in Städten gibt es aufgrund großer Menschenansammlungen von jeher mehr DL und DLbeschäftigung.[26] Ursache der Disurbanisierung und Suburbanisierung ist der Rückgang industrieller Massenproduktion, die wie bereits erwähnt, in den Städten beheimatet war.[27] Zu dieser Zeit wurde sogar ein Niedergang der Städte befürchtet, bis es in den 80er Jahren dann zu einer Abschwächung des Dis- und Suburbanisierungsprozesses kam. Eine kurze wirtschaftliche Erholung der Städte in den USA prägte damals den Begriff „New Urban Revival“. Doch in den 90er Jahren schritt der Prozess der Dezentralisierung weiter fort.[28]
3.2. Reurbanisierung
Aber kaum eine Entwicklung ist hundertprozentig eindeutig. Neben der Tendenz zu einer gleichmäßigeren räumlichen Verteilung von Arbeitsplätzen und Menschen, machte sich auch seit Mitte der 70er Jahre eine kleine Gegenentwicklung, nämlich eine Reurbanisierung, bemerkbar. Jedoch waren davon nur bestimmte Gebiete in der Innenstadt betroffen, die von vorwiegend jungen, qualifizierten und einkommensstarken, meist unverheirateten und kinderlosen Berufstätigen besiedelt wurden.[29]
Auch dieser Prozess ist mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu erklären: Die „neuen Urbaniten“ wurden u.a. durch die Ausweitung des Bildungssystems (als einem Teil des Ausbaus öffentlicher DL) hervorgebracht. Zum einen, weil mehr Menschen die Chance auf eine hochqualifizierte Ausbildung bekamen und zum anderen, weil der DLsektor auch einige wissensintensive und gut bezahlte Tätigkeiten bietet.[30]
Diese innerstädtischen Gebiete wurden durch die zugezogenen kaufkräftigen Bewohner aufgewertet und entwickelten sich zu Wohlstandsinseln; nicht selten mit der Folge, dass die Mieten anstiegen und die dort ansässige Bevölkerung verdrängt wurde.
3.3. Renaissance der großen Städte
Die „kleine Reurbanisierung“ weicht nun einer großen. Mitte der 90er Jahre kam auch die Dezentralisierung zum Stillstand und verkehrt sich zur Zeit in sein Gegenteil. Von 1998-2002 ist die Beschäftigung in großen Ballungsräumen (>500 000 Einwohner) stärker gestiegen, als in der BRD insgesamt. Kernstädte, die im räumlichen Strukturwandel ja über zwei Jahrzehnte die Verlierer waren, weisen nun die günstigste Entwicklung auf. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) spricht gar von einer Renaissance der großen Städte.[31]
Wie ist das zu erklären? Weder hat die Tertiarisierung abgenommen, noch die Industrialisierung in den Städten wieder zugenommen. Das DIW erklärt dieses Phänomen u.a. mit der Exportbasistheorie, die ursprünglich aus den 50er Jahren stammt und sich eigentlich auf industrielle bzw. materielle Produkte bezieht. Diese Theorie besagt, dass die ökonomische Bedeutung einer Stadt oder Region durch deren Fähigkeit bestimmt wird, überregionale Nachfrage an sich zu binden: also je mehr Autos eine Region beispielsweise exportiert, desto größer müsste ihr wirtschaftliches Wachstum sein. Für DL verhält es sich ebenso. Immer mehr werden nun DL überregional gehandelt; von den produktionsorientierten DL v.a. große Teile des Finanzsektors und BeratungsDL aber auch bei bestimmten konsumorientierten DL wie Tourismus, Kulturbereich/Medien und Gastgewerbe besteht eine zunehmende überregionale Ausrichtung. Seit 1998 nahm bei den überregionalen DL die Beschäftigung um 15% zu, während die Gesamtbeschäftigung nur um 1,3% gestiegen ist.[32] Der Beschäftigungsanstieg bei diesen DL ist aber nicht gleichmäßig auf Agglomerationen, Verdichtungsumland und periphere Räume verteilt, sondern konzentriert sich sehr stark auf urbane Zentren. Laut DIW bietet das großstädtische Milieu mit seinen vielfältigen Kontakt- und Austauschmöglichkeiten offensichtlich besonders günstige Bedingungen für Unternehmen in diesen Branchen.[33] Die Konzentration auf Städte wird auch eher noch zunehmen[34], besonders bei den sowieso schon wachstumsstarken südlich gelegenen Großstädten wie München, Frankfurt/M., Stuttgart, aber auch Köln, Düsseldorf und Hamburg.[35]
3.4. Hierarchisierung der Städte: Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle
Als die Deindustrialisierung einsetzte und die Tertiarisierung voranschritt, waren die Städte unterschiedlich betroffen von Arbeitslosigkeit und Einwohnerrückgang. Denn die bisher beschriebene räumliche Entwicklung der Dezentralisierung wurde noch überlagert von einer Hierarchisierung der Städte untereinander. Aber auch bei der neueren Entwicklung, der Reurbanisierung großer Städte, ist das Gefälle nach wie vor bemerkbar. Vielfach wird es pauschal als Nord-Süd-Gefälle bezeichnet, aber es handelt sich genaugenommen um ein Gefälle zwischen altindustriellen Standorten, wo Eisenverarbeitung, Schiffbau und Kohlebergbau betrieben wurde, und neueren Industriestandorten. Erstere waren vorwiegend im Norden angesiedelt, letztere eher im Süden der BRD. Nach der Wende kam zu dem Nord-Süd-Gefälle noch ein Ost-West-Gefälle hinzu, bei dem der Osten, wie der Name schon sagt, gegenüber dem Westen Einwohner und Arbeitsplätze verlor.
Bei der Hierarchie zwischen den Städten, spielen vor allem die produktionsorientierten DL eine Rolle und in der jüngsten Entwicklung die im vorigen Kapitel beschriebenen überregionalen höherwertigen DL. Doch auch andere Branchen entwickeln sich im Süden besser, was aber ebenfalls mit den produktionsorientierten DL zusammenhängt: Weil tertiäre Funktionen für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens ja immer wichtiger werden, haben diese auch positive Auswirkungen auf das verarbeitende Gewerbe.[36] Und eine regional florierende Wirtschaft hat wiederum Auswirkungen auf die finanzielle Situation der Gebietskörperschaften, welche dann theoretisch mehr Geld für öffentliche bzw. konsumorientierte DL übrig haben als andere Kommunen.[37]
3.5. Global City
An der Spitze der Städtehierarchie steht die World City oder Global City. Dieses Etikett wird einer Gruppe von Weltstädten wie New York, Tokio, Paris und London angehängt, die „Knotenpunkte in einem Netz der Kontrolle von Märkten und Produkten“ sind.[38]
In der BRD reicht wohl Frankfurt/M. am ehesten an eine Global City heran, da es eine Stadt ist, die bei den überregionalen höherwertigen DL, wie Finanz- und BeratungsDL, ein großes Wachstum aufweist[39], und zudem noch eine Börse ihr eigen nennt. Doch ob die BRD überhaupt eine Global City besitzt oder es sich „nur“ um eine der besonders wachstumsstarken Städte handelt, ist m.E. irrelevant. Vielmehr interessiert, wie sich die Konzentration von wirtschaftlicher Macht und die Ausrichtung auf den globalen Markt, die ja nicht nur in den offiziell benannten Global Cities, sondern auch in allen anderen dynamischen Großstädten (siehe Kapitel 3.3) der entwickelten kapitalistischen Länder stattfindet, auf die soziale und räumliche Struktur auswirken.
So gehen Theoretiker wie Friedmann/Wolff und Sassen z.B. von einer Polarisierungsthese aus, nach der in Global Cities das Anwachsen der Tätigkeiten im hochqualifizierten und hochbezahlten Finanz- und UnternehmensDLsektor gleichzeitig mit einer wachsenden Unterschicht von unqualifizierten, schlechtbezahlten DLArbeitern einhergehe. Und die Mittelschicht des verarbeitenden Gewerbes verschwände nun mit der Deindustrialisierung.[40] Sassen spricht daher auch von einer zweigeteilten Stadt, mit einem harten Nebeneinander von arm und reich, was eigentlich typisch für das „US-amerikanische Modell“ ist. Die von ihr genannte soziale Polarisierung lässt sich daher gut in New York beobachten. Hamnett widerlegt diese pauschalisierende These und weist für die von ihm untersuchte europäische Global City London nach, dass sich durch die entstandenen qualifizierten DLberufe die Mittelschicht vergrößert, wenn auch die Ungleichheit zugenommen hat.[41]
Von den Strukturen, die sich in New York herausgebildet haben, lässt sich also nicht ohne weiteres auf die Strukturen in anderen Global Cities oder deutschen Städten wie Frankfurt, München und Köln schließen, denn die Entwicklungen in Global Cities sind nicht unabhängig von ihren nationalen Begebenheiten. Hamnett nennt u.a. die unterschiedliche soziale und ethnische Mischung einer Gesellschaft, die spezifische nationale oder lokale Politik betreffend Einwanderung, Arbeitsmarktregulation, Mindestlohnregelung, Mietpreisbindung, Bauvorschriften.[42] Als ein Merkmal welches alle Global Cities aber gemeinsam haben, führt er die in allen Sektoren des Wohnungsmarktes gestiegenen Wohnungspreise an, die durch Kombination von Wohnungsknappheit und vergrößertem Finanzvolumen der qualifizierten DLarbeitnehmer zustande kommen.[43] Diese Tatsache kann zu Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten und zu sozialräumlichen Spaltungen führen.
Doch sowie Global Cities durch die nationale und lokale Politik Unterschiede untereinander aufweisen, wird die Politik auch vom globalen Wettbewerb beeinflusst. Der zunehmende Standortwettbewerb führt zu einer nationalen Politik, die in allen Ländern letztendlich ähnliche Tendenzen aufweist: eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, d.h. investitionsfördernde Angebote an die Unternehmerschaft, wie z.B. Steuererleichterungen, die oftmals zu Kürzungen öffentlicher Haushalte und damit Zurücknahme sozialstaatlicher Errungenschaften führt.[44]
Eine besondere Kapitalverwertungsstrategie, die ich hier noch anführen will, stellen die sogenannten Unternehmens- bzw. Enterprise-Zonen dar.[45] Um bestimmte (altindustrielle) Gebiete, wie die docklands in London, zügig zu modernen (Finanz-)DLzentren umzuwandeln, werden dort planungs-, umweltschutz- und arbeitsrechtliche Auflagen aufgehoben. Doch ansonsten kann man nicht davon sprechen, dass sich der Staat zurückzieht, angesichts der umfangreichen Steuergelder, welche in solche „Verwertungsghettos“ fließen. Die dort gebundenen Gelder fehlen anschließend beim Ausbau „kultur-, sozial- und umweltverträglicher Infrastrukturanlagen für die ansässige Stadtbevölkerung“.[46] Auch in der BRD wird eine modifizierte Übertragung von Enterprise-Zonen und Raumentwicklungsgesellschaften schon an einigen Orten erprobt. Genannt seien da z.B. die Einrichtung des „Duisburger Freihandelshafens“, sowie die Tätigkeiten von Raum- und Entwicklungsgesellschaften im Münchner und Dortmunder Norden.[47]
3.6. Die Rolle der konsumorientierten DL: ausgleichend
Bei der Hierarchisierung des Stadtsystems und somit auch für Global Cities, scheinen besonders die produktionsorientierten DL eine dominante Rolle zu spielen. Doch welchen Einfluss und welche räumliche Verteilung weisen nun die für den privaten Konsum bestimmten DL auf? Während die produktionsorientierten DL wegen ihres hoch selektiven Wachstums die Hierarchie zwischen den Städten erhöhen, haben die konsumorientierten DL einen abmildernden bzw. ausgleichenden Effekt. Ihre räumliche Verteilung ist wesentlich gleichmäßiger, als bei den produktionsorientierten. Das ist nicht nur im Hinblick auf die Städtehierarchie zu beobachten, sondern auch bei dem Gefälle zwischen Zentrum, Umland und Peripherie.[48]
Auch hier gilt es aber nach der jeweiligen Organisationsform der konsumorientierten DL zu differenzieren. Denn die marktförmig organisierten DL (z.B. Friseur) weisen ähnliche regionale Unterschiede auf wie die produktionsorientierten DL. Sie wachsen also dort am stärksten, wo auch die auf Unternehmen ausgerichteten DL am stärksten wachsen (siehe auch Kapital 3.4.) Das verleitet zu der These, dass diese konsumorientierten DL quasi ein Anhängsel der produktionsorientierten DL (und letztendlich der Güterproduktion) darstellen und sich ökonomisch nicht eigenständig behaupten können.
Öffentlich organisierte soziale DL zeigen im Vergleich zu den anderen DL jedoch die gleichmäßigste räumliche Verteilung, da ihre Nachfrage eher von sozialen Transfers als vom privaten Einkommen der Konsumenten abhängt. Weil sie auch im Gegensatz zu den marktförmig organisierten DL weniger im Zusammenhang mit der gesamtökonomischen Entwicklung in einer Region stehen, haben sie eine stabilisierende Funktion für die Beschäftigung und natürlich für das DLangebot.[49] Wenn nun aufgrund der derzeitigen Sparpolitik öffentliche DL verstärkt weggekürzt werden, steht zu befürchten, dass sich die regionalen Differenzen wieder vergrößern werden.
...und polarisierend
Werden diese DL dann marktförmig organisiert - verknüpft mit mehr Arbeitszwang - hat das mit großer Wahrscheinlichkeit sinkende Löhne zur Folge (v.a. wegen der Kostenkrankheit). Dann stehen die Arbeitnehmer, die mit höherwertigen produktionsorientierten DL viel Geld verdienen, jenen Arbeitnehmern (in größerer Zahl wohl ArbeitnehmerINNEN[50] ) gegenüber, die reproduktive Arbeit für geringes Entgelt erledigen. Die Einkommensunterschiede führen im ungünstigen Fall zu räumlicher Polarisierung. Man darf aber auch nicht vergessen, dass die Ausweitung des öffentlichen Bildungssystems selbst zu einer gewissen Polarisierung beigetragen hatte, nämlich der in Kapitel 3.2. beschriebenen Reurbanisierung. Dennoch dürfte deren Ausmaß nicht so groß sein, wie dasjenige, was zu erwarten ist, wenn der Großteil konsumorientierter DL marktförmig organisiert sein wird.
4. Ausblick und Plädoyer für den Erhalt öffentlicher Dienstleistungen
An den nur kurz erörterten Bereichen der Dienstleistungsgesellschaft, lässt sich nun kein pauschales „Für“ oder „Gegen“ Dienstleistungsgesellschaft ausmachen. Das macht auch keinen Sinn, denn die Tertiarisierung der Produktion und die Expansion konsumorientierter Dienstleistungen ist in vielen Ländern schon weit fortgeschritten. Aber es würde durchaus Sinn machen, öfters über die Ausgestaltung einer sogenannten Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft zu diskutieren.
Denn auf deren Ausgestaltung, also ihrer Sozialstruktur und die räumliche Verteilung von Dienstleistungsangeboten, können die Nationalstaaten m.E. schon noch einwirken. So hat Hamnett ja angemerkt, dass die länderspezifische Politik auf Global Cities einen unterschiedlichen Einfluss hat. Auch zeigten die Beispiele USA und Schweden eine andere Sozialstruktur der Dienstleistungsgesellschaft, als die der BRD. Ist das nur kulturell gewachsen? Und ist die jeweilige „Kultur“ determiniert und politisch nicht auch formbar?[51] Dennoch scheinen momentan alle entwickelten kapitalistischen Länder die „Kultur“ der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik zu favorisieren, um im globalen Standortwettbewerb als Gewinner dazustehen. Inwieweit dem ein gewisser Sachzwang zugrunde liegt, kann ich objektiv schwer beurteilen. Doch in vorauseilendem Gehorsam den Unternehmen Steuererleichterungen zu verschaffen (und damit die öffentlichen sozialen Dienste zu gefährden), damit diese die Wirtschaft ankurbeln, Arbeitsplätze im Mitnahmeeffekt schaffen und anschließend wieder mehr Steuern zahlen, kommt einem Glücksspiel gleich.
Es ist durchaus ein Problem im Kapitalismus, soziale Dienste zu organisieren und zu finanzieren. Sie sind unterproduktiv, im Sinne von mehrwertschaffend, und unterliegen daher der in Kapitel 2.4. erwähnten Kostenkrankheit. Die reproduktive Arbeit muss also durch die produktive Arbeit finanziell mitgetragen werden, was nicht immer freiwillig geschieht und dann leider wieder erkämpft werden muss.
Für Frauen ist es aber auch nicht weiter erstrebenswert, die sozialen reproduktiven Tätigkeiten unbezahlt zu leisten. Doch die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt hat auch zu Segregation geführt, in der BRD sowie in Schweden. Frauen sind nach wie vor im reproduktiven Dienstleistungsbereich zu finden, diesmal allerdings gegen Bezahlung. Doch sei es wegen der geringen Wertschätzung dieser „weiblichen“ Tätigkeiten oder der Kostenkrankheit: die sozialen Dienste werden im Vergleich zu ihrer körperlichen und psychischen Belastung oftmals schlecht bezahlt. Im öffentlichen Sektor können aber tendenziell höhere Löhne bezahlt und günstigere Arbeitsbedingungen angeboten werden, als im privatwirtschaftlichen Sektor bei gleicher Tätigkeit. Auch wegen des ausgleichenden Effektes bei der räumlichen Verteilung (siehe 3.6.), würde ich öffentlich organisierte Dienstleistungen der marktförmigen Organisation vorziehen.
Doch es sieht nicht danach aus, dass die BRD den schwedischen Weg, mit seinen relativ großzügigen öffentlichen Dienstleistungen, einschlägt. Vielmehr gehen die jüngsten Arbeitsmarkt“reformen“ (Agenda 2010, Hartz) mit einen verstärkten Zwang zur Lohnarbeit und gleichzeitiger Förderung eines Niedriglohnsektors (z.B. Minijobregelung, ICH-AG,etc.) eher den US-amerikanische Weg der Dienstleistungsgesellschaft.
Die momentane Politik scheint nach Sachzwängen zu handeln, ganz nach dem Motto „There is no alternative“. Die Frage danach, wie eine angenehme Gesellschaftsform aussehen kann, wird dagegen nur sehr selten diskutiert, die Verteilungsfrage kaum gestellt. Wenn es bei der Debatte um die Dienstleistungsgesellschaft darum ginge, Arbeitslosigkeit abzubauen bzw. jedem ein ausreichendes Auskommen zu sichern und auch die Reproduktion (trotz der „Erwerbsneigung“ von Frauen) sicherzustellen, dann kämen andere sozial verträglichere Vorschläge in Frage. So könnte ich mir anstelle einer polarisierenden „Dienstbotengesellschaft“, also der Vermarktlichung aller Lebensbereiche, eher eine Verkürzung und gerechtere Verteilung der (Lohn)Arbeitszeit vorstellen, damit auch die reproduktive unbezahlte Arbeit gleich zwischen Männern und Frauen aufgeteilt werden kann. Ebenso ist es nicht wirklich einsehbar, warum öffentliche soziale Dienstleistungen abgebaut werden, in einem materiell so reichen Land wie der BRD, deren Standortfaktoren angesichts der jährlichen Exportüberschüsse[52] nicht so schlecht sein können.
5. Literatur
Baethge, M.; (2000): „Abschied vom Industrialismus: Konturen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung der Arbeit“ In: SOFI-Mitteilungen Nr.28/2000, S.87-91
DIW 16/1997: „Dienstleistungsdynamik in der europäischen Union uneinheitlich“, Berlin, S.273-280
Gornig, M.; Geppert, K.; (2003): „Die Renaissance der großen Städte – und die Chancen Berlins.“ In: DIW-Wochenbericht http://www,diw.de/deutsch/publikationen/wochenberichte/docs/03-26-1.html
Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995): „Dienstleistungsgesellschaften“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Hamnett, C.; (2003): „Unequal City. London in the Global Arena”, London: Routledge
Scharpf, F.W.; (1986): „Strukturen der postindustriellen Gesellschaft, oder Verschwindet die Massenarbeitslosigkeit in der Dienstleistungs- und Informationsökonomie“ In: Soziale Welt Heft 37, S.3-24
Schmals, K.M.; (1992): „Die Global-City London, Internationalisierung der Kapitalverwertung und Deregulierung der Stadterneuerungspolitik“ In: Schmals, K.M.; von Petz, U. (Hrsg.), Metropole, Weltstadt, Global City: Neue Formen der Urbanisierung, Dortmund: Verlag Irpud
ver.di (Hrsg.); (April 2003) „’Lohnnebenkosten’ senken? schafft und sichert keine Arbeitsplätze.“ Berlin
[...]
[1] Statistisches Jahrbuch der BRD 1962, 1998; Tabelle in Baethge, M.; (2000): „Abschied vom Industrialismus: Konturen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung der Arbeit“ In: SOFI-Mitteilungen Nr.28/2000, S.89
[2] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995): „Dienstleistungsgesellschaften“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S.22
[3] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.26
[4] die für den Endverbraucher bestimmt sind (bei den produktionsorientierten DL finden sich auch FinanzDL)
[5] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.25
[6] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.24/25
[7] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.94
[8] „Die Beschäftigung im industriellen Sektor und in den darauf bezogenen Dienstleistungen ist also paradoxerweise das vermutlich stabilste Element der postindustriellen Gesellschaft.“ in: Scharpf, F.W.; (1986): „Strukturen der postindustriellen Gesellschaft, oder Verschwindet die Massenarbeitslosigkeit in der Dienstleistungs- und Informationsökonomie“ In: Soziale Welt Heft 37, S.20
[9] vgl. Scharpf, F.W.; (1986), S.7/8
[10] DIW 16/1997: „Dienstleistungsdynamik in der europäischen Union uneinheitlich“, Berlin, S.279/280
[11] Fourastie (S.126) in Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.35
[12] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.47
[13] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.24
[14] vgl. Scharpf, F.W.; (1986), S.15
[15] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.44/45
[16] vgl. Gershuny in Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.47
[17] nach Angaben der OECD betrug 2001die Gesamtabgabenquote in Schweden 53,2% (BRD 36,4%) des BIP; in ver.di (Hrsg.); „’Lohnnebenkosten’ senken? schafft und sichert keine Arbeitsplätze.April 2003 Berlin, S.18
[18] in Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.61
[19] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.119
[20] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.62
[21] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.116
[22] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.97
[23] Gornig, M.; Geppert, K.; (2003): „Die Renaissance der großen Städte – und die Chancen Berlins.“ In: DIW-Wochenbericht http://www,diw.de/deutsch/publikationen/wochenberichte/docs/03-26-1.html , S.1von 8
[24] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.91
[25] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.99
[26] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.98
[27] vgl. Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.3
[28] vgl. Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.2
[29] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.105
[30] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.106
[31] vgl. Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.1
[32] Daten entnommen aus: Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.3
[33] vgl. Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.4
[34] vgl. Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.1
[35] vgl. Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.2
[36] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.100/101
[37] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.101
[38] siehe Schmals, K.M.; (1992): „Die Global-City London, Internationalisierung der Kapitalverwertung und Deregulierung der Stadterneuerungspolitik“ In: Schmals, K.M.; von Petz, U. (Hrsg.), Metropole, Weltstadt, Global City: Neue Formen der Urbanisierung, Dortmund: Verlag Irpud, S.101
[39] vgl. Gornig, M.; Geppert, K.; (2003), S.2
[40] vgl. Friedmann/Wolff (1982); Sassen (1991) in Hamnett, C.; (2003): „Unequal City. London in the Global Arena”, London: Routledge, S.7
[41] siehe Hamnett, C.; (2003), S.9
[42] siehe Hamnett, C.; (2003), S.7
[43] siehe Hamnett, C.; (2003), S.10
[44] vgl. Schmals, K.M.; (1992), S.110
[45] vgl. Schmals, K.M.; (1992), S.112
[46] aus Schmals, K.M.; (1992), S.123
[47] aus Schmals, K.M.; (1992), S.122
[48] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.102
[49] vgl. Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.103/104
[50] In der BRD werden viele gering entlohnten reproduktiven/konsumorientierten DLtätigkeiten von Frauen erledigt. In den USA zeigt sich die Arbeitsmarktsegregation dagegen eher nach ethnischen Differenzen. siehe auch: Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.62
[51] vgl. Diskussion in Häußermann, H.; Siebel, W.; (1995), S.199-202
[52] „2002 verzeichnete Deutschland einen neuen Rekord: Es wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 84 Milliarden Euro mehr aus Deutschland an das Ausland verkauft als umgekehrt.“ Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. In: ver.di (Hrsg.) (2003) S.7
- Arbeit zitieren
- Ingrid Gokeler (Autor:in), 2004, "Dienstleistungsgesellschaft" - Beschäftigungsentwicklung, soziale und räumliche Struktur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109403
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