Ziel meiner Arbeit ist, Wirkung, Funktion und ästhetische Umsetzung des Dionysischen in Rilkes Roman zu spezifizieren. Hierbei nähere ich mich dem Thema zunächst von einer theoretischen Seite. Da der Begriff Dionysisch untrennbar mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche verbunden ist, skizziere ich im ersten Teil meiner Arbeit dessen Ideologie zum Thema „apollinisch – dionysisch“. Die so gewonnenen Thesen bilden die Basis meiner anschließenden praktischen Interpretation zweier Aufzeichnungen aus dem Malte. In der abschließenden Zusammenfassung werden noch einmal die wesentlichen Punkte angesprochen.
Gliederung
1. Einleitung
2. Das Begriffspaar apollinisch dionysisch
2.1 Definition
2.2 Das Begriffspaar bei Nietzsche
3. Dionysische Aspekte in Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Maltes Laurids Brigge
3.1. Die Aufzeichnung [4]: „Ich lerne sehen“
3.2 Einordnung in den Kontext
3.3.Reaktion Maltes auf das Dionysische
3.4. Die Funktion des Dionysischen für Rilke
3.5 Ästhetische Umsetzung des Dionysischen
3.6 Aufzeichnung [18]: „Es ist gut, es laut zusagen“
3.7 Die Aufzeichnung im Kontext
3. 8 Reaktion Maltes auf das Dionysische
3.9. Die Funktion des Dionysischen für Rilke
3.10 Ästhetische Umsetzung des Dionysischen
5. Zusammenfassung
6. Literaturangaben
1. Einleitung
„Ich möchte Dir sagen, liebe Lou, dass Paris eine ähnliche Erfahrung für mich war, wie die Militärschule; wie damals ein großes banges Erstaunen mich ergriff, so griff mich jetzt wieder das Entsetzen an vor alledem was, wie in einer unsäglichen Verwirrung, Leben heißt. Damals als ich ein Knabe unter Knaben war, war ich allein unter ihnen; und wie allein war ich jetzt unter diesen Menschen, wie fortwährend verleugnet von allem was mir begegnete; die Wagen fuhren durch mich durch, und die welche eilten, machten keinen Umweg um mich und rannten voll Verachtung über mich hin wie über eine schlechte Stelle in der altes Wasser sich gesammelt hat.“[1] Mit diesen Worten beschrieb Rainer Maria Rilke den Schock, den er selbst erlitt, als er in die Metropole Paris kam. Ein fremder, beängstigender Moloch, auf dem Höhepunkt der industriellen Verstädterung. Ein Bild der unendlichen Gegensätze, in denen es einem sensiblen Ich nahezu unmöglich ist, sich selbst gegen die Verunsicherungen durch die äußere Wirklichkeit zu behaupten. Rilke nennt hier bereits wesentliche Punkte, die auch in seinem „Malte“ „unsägliche Verwirrung“ hinterlassen: die Entsetzlichkeit dessen, was „Leben heißt“; die Einsamkeit, die er unter der anonymen Masse empfindet, und die Rücksichtslosigkeit der „Anderen“ Doch es ist in erster Linie nicht die die Äußere Wirklichkeit, die Malte verstört, sondern vielmehr seine eigene Innerlichkeit. Er durchlebt einen Entwicklungsprozess in dessen Verlauf er sich erstmalig in seinem Leben den dionysischen Facetten des Seins zuzuwenden. Egal ob Elend, Armut, Krankheit oder Tod, Malte ist nicht mehr in der Lage diese Dinge aus seinem Leben zu verdrängen.
Ziel meiner Arbeit ist, Wirkung, Funktion und ästhetische Umsetzung des Dionysischen in Rilkes Roman zu spezifizieren. Hierbei nähere ich mich dem Thema zunächst von einer theoretischen Seite. Da der Begriff Dionysisch untrennbar mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche verbunden ist, skizziere ich im ersten Teil meiner Arbeit dessen Ideologie zum Thema „apollinisch – dionysisch“. Die so gewonnenen Thesen bilden die Basis meiner anschließenden praktischen Interpretation zweier Aufzeichnungen aus dem Malte. In der abschließenden Zusammenfassung werden noch einmal die wesentlichen Punkte angesprochen.
2. Apollinisch – dionysisch
2.1 Definition
„Apollinisch – dionysisch, philosophisch-literarische Begriffsopposition, die durch F. Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1871) zur kulturkritischen Kategorie wurde. Nietzsche sieht im Menschen kosmische Prinzipien fortwirken, die in Apollo und Dionysos personifiziert sind. Der griechische Gott Apollo steht für alle „bildnerischen Kräfte“; als „Lichtgott“ ist er der Gott der Kunst, der maßvollen Begrenzung, der Schönheit und Harmonie. Dionysos dagegen ist der Gott der Endgrenzung; er verkörpert das Zerbrechen alles Individuellen, die Vernichtung alles Gestalteten, dass er in den chaotischen Weltgrund zurückführt. Verkörpert Apollo den Traum, dann Dionysos die „rauschvolle Wirklichkeit“. Ausgehend von diesem Begrifflichen Gegensatz verwendet Nietzsche „apollinisch“ und „dionysisch“ als ästhetische Leitbegriffe: Malerei, Plastik, Epik bezeichnet er als apollinisch, Lyrik und Musik als dionysisch.“[2]
2.2 Das Begriffspaar bei Nietzsche
Nietzsche nutzt das Begriffspaar apollinisch - dionysisch erstmals systematisch im Rahmen seiner Kunstphilosophie. In seiner 1872 erschienen Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik versucht er die Kunst historisch zu begründen und aus den so gewonnenen Erkenntnissen allgemeine Kunsttheorien zu entwickeln. Als historisches Model diente ihm die Antike mit ihren beiden Gottheiten Apoll und Dionysos. An die beiden knüpfte er seine Idee eines, die Kunstentwicklung bestimmenden Gegensatz. Dieser Gegensatz ist bedingt durch zwei verschiedene Kunstprinzipien: Das Apollinische steht für den Bereich der bildbezogenen, mit klar begrenzten Formen arbeitenden Kunst. Das Dionysische kennzeichnet die Aufhebung der Subjekt-Objekt Trennung, die Ich-entgrenzenden, formnegierende, unbildliche Kunst.[3]
Um Nietzsches starkes Interesse an der Kunst zu verstehen, ist es wichtig, die ideologische Situation der Jahrhundertwende zu kennen. Sie ist geprägt durch eine vollkommene Infragestellung der bisherigen metaphysischen Weltordnung. Zu diesem Bruch geführt hatten unterschiedlichste historische, gesellschaftliche und existentielle Erfahrungen. Was blieb, war eine große Leere, ein Ungewissheit, aber auch die Möglicht einen Neuanfang zu wagen. Man war sozusagen auf der Suche, nach neuen Werten, die die alten, nicht mehr vorhanden, ersetzen sollten. Nietzsche gehörte zu den entscheidenden Denkern dieser Epoche. Er war davon überzeugt, dass das Streben der Menschen nach Logik, Ordnung und Kontinuität, dem verzweifelten Versuch entspringt, die Tatsache zu verdrängen, dass die Welt nach den Prinzipien des Chaos und der Irrationalität funktioniert, dass sie eben keiner großen Ordnung folgt, die alles bestimmbar, logisch und rational fassbar werden lässt.[4] Jenseits der fiktiven, sinnvollen Welt, liegt, „in völliger Fremdheit die wahre Wirklichkeit als genaues Gegenteil der wahren Welt klassischer Metaphysik.“[5]
Nietzsche bewertet die Abwendung von der bisher geltenden Metaphysik durchweg positiv, denn er ist davon überzeugt, dass dadurch Erkenntnis-Prozesse einsetzten, die „die Normen christlicher Moral und idealistischer Ethik als heuchlerische Verkleidung von Schwäche und verstecktem Machtwillen dekouvrieren.“[6] Einzig der Kunst kommt laut Nietzsche eine sinngebende und gestaltende Funktion zu, sie wird somit zur letzten metaphysischen Tätigkeit.[7]
Wie bereits erwähnt, tauchen die Begriffe apollinisch – dionysisch erstmalig im Rahmen seiner Kunsttheorie auf. Ähnlich den Romantiker, ist auch Nietzsche davon überzeugt, dass Kunst erst durch ein Spannungsfeld zwischen Ordnung (apollinisch) und Chaos (dionysisch) entstehen kann. Apollo, der die „harmonische und maßvolle Schönheit“[8] symbolisiert, entspricht Nietzsches Meinung nach dem Götterbild des Schoppenhauerschen „principium individuationis“. Dionysos dagegen symbolisiert für ihn zu diesem Zeitpunkt alles Rauschhafte, Ungeordnete, Chaotische, eine Art „trunkene Raserei“[9], „ein unaufhörliches Streben, dass offenbar keine Grenzen anerkennt.[10]
Entscheidend für Nietzsches Kunstbegriff ist die Tatsache, dass apollinische und dionysische Kunst immer in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, Herausforderung und Bedingtheit stehen. Der Künstler schafft seiner Meinung nach ein ausgewognes Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen. Dem apollinischen, also dem Schönen, kommt in diesem Zusammenhang die Aufgabe einer Sublimation zu, denn es korrigiert den „Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen […], mit denen sich Leben lässt.“[11] Aufgrund ihrer Fähigkeit nicht ausschließlich logosorientiert zu handeln, ist die Kunst in der Lage, nicht nur das Schöne, sondern auch das hässliche, grausame und dionysische des Lebens abzubilden und somit erfahrbar zu machen.[12] Kunst ermöglicht dem Menschen somit eine Ganzheitserfahrung. Dem dionysischen Rausch kommt in diesem Zusammenhang die unbedingte Vorstufe zum Kunstschaffen zu.
Obwohl immer wieder behauptet wurde, dass Nietzsche das Apollinische ablehnt und das Dionysische befürwortet, hat sich der Philosoph eindeutig über die Gefahren eines ausschließlich rauschhaften Seins geäußert. Letzteres kann seiner Meinung nach nur existieren, wenn es durch das Rationale, Apollinische in geordnete Bahnen gelenkt wird. Vielmehr befürwortet er eine Vereinigung von Leidenschaft und Ratio.[13] In der Vernunft, dem Apollinischen sieht Nietzsche die Möglichkeit, sich die Welt greifbar zu machen, das Chaos der Triebe zu einem gemeinsamen Ganzen zusammenzuführen, das unmittelbare Gegebene zu abstrahieren und so Macht über das eigene Sein, das eigene Umfeld und die Welt zu gewinnen.[14]
Allerdings ändern sich Nietzsches Theorien im Laufe der Zeit: Während noch in Geburt der Tragödie (1871) das Dionysische, als Quelle rauschhafter Leidenschaft auftritt, die von der formgebenden Kraft des apollinischen gelenkt werden muss, verwirft Nietzsche diese Gedanken in seinem Werk Also sprach Zarathustra (1884) und reklamiert den „Willen zur Macht“ als einzige Lebensantreibende Kraft im Universum. Diese Kraft bezeichnet er weiterhin mit dem Begriff Dionysisch, „aber es ist in Wirklichkeit eine Vereinigung von Dionysos und Apoll, ein schöpferisches Streben, dass sich selber gestaltet.“[15] Ein Mensch, der in Nietzsches Sinn dionysisch lebt, muss in der Lage sein, seine Leidenschaften nicht nur zu (er)kenne, sondern auch zu beherrschen. Er akzeptiert die schönen, aber auch die schrecklichen, die hässlichen und abstoßenden Seiten des Lebens, als Teil des Ganzen. „Weil er sieht, dass sein eigens Sein unauflöslich mit der Fatalität all dessen was war und was sein wird, verflochten ist, wird ihm auch klar, dass er die gesamte übrige Welt bejaht, wenn er zu seinem eigenen Sein Ja sagt. Daher gilt ihm, vom ganzen Kosmos, was er über seinen eigenen Charakter sagt: Es ist Nichts, was ist, abzurechen, es ist Nichts entbehrlich.“[16]
Eine Erkenntnis die auch Rilkes Protagonist Malte Laurids Brigge im gleichnamigen Roman gewinnt. Er erkennt das es für seine eigene Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist, nicht mehr länger nur die apollinischen Seiten des Lebens zu realisieren, sondern sich bewusst, den abstoßenden Facetten zuzuwenden, sie zu sehen und zu akzeptieren.
3. Dionysische Aspekte in Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Maltes Laurids Brigge
Im Folgenden versuche ich die Wirkung, Funktion und ästhetische Umsetzung des Dionysischen in Rilkes Roman an zwei Textauszügen zu belegen. Ich habe mich für die Aufzeichnungen [4] „Ich lerne sehen“ und [18] „Es ist gut, es laut zusagen“[17] entschieden, weil sie meiner Meinung nach deutlich den Entwicklungsprozess Maltes markieren, der geprägt ist durch seine ständig zunehmende Sensibilisierung für die dionysischen Seiten des Lebens. Während seine neue Wahrnehmung sich in der ersten Aufzeichnung gerade erst entwickelt, begegnet er dem Dionysischen in der zweiten Aufzeichnung schon wesentlich bewusster. Ein Prozess der letztendlich zur Akzeptanz der "Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft" führt[18]. Malte gibt das Erwartete auf "für das Wirkliche, selbst wenn es arg ist"[19].
Im Anschluss stelle ich die beiden Aufzeichnungen auszugsweise vor und bearbeite sie dann unter folgenden Fragestellungen:
1. Einordnung in den Kontext
2. Reaktion Maltes auf das Dionysische
3. Funktion des Dionysischen für Rilke
4. Ästhetische Umsetzung
3.1 Die Aufzeichnung [4]: „Ich lerne sehen“
1 „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und
2 bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein
3 Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort
4 geschieht. (…) Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es
5 geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. Daß es mir zum Beispiel
6 niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine
7 Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da
8 sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird
9 schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man
10 auf der Reise getragen hat. (…), und dann kommt dann nach und nach die Unterlage
11 heraus, dass Nichtgesicht, und sie gehen damit herum. (...) Aber die Frau, die Frau: sie
12 war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-
13 Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme
14 Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein… die Straße
15 war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und
16 klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und
17 hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. 18 Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche
19 Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen
20 abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch
21 noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.“
3. 2 Einordnung in den Kontext
Die Aufzeichnung steht relativ zu Beginn des Romans und ist Teil von Maltes Paris Erfahrungen. Gerade erst in der Stadt angekommen, erlebt er seine Umwelt als alptraumhaften Moloch voller Krankheit und Tod. Er fühlt sich einsam und verloren, das Leben an diesem Ort erscheint ihm trostlos. Trotz oder vielleicht gerade auf Grund seiner Isoliertheit, die ihn ganz zurück auf sich selbst wirft, bemerkt er, dass er anfängt Dinge anders wahrzunehmen. Egal ob Elend, Armut, Krankheit oder Tod, Malte ist nicht mehr in der Lage diese Dinge aus seinem Leben zu verdrängen, statt dessen lernt er sie zu sehen. (Z. 1) Allerdings verängstigt ihn die Auseinandersetzung mit den dionysischen Seiten des Lebens zu diesem Zeitpunkt noch maßgeblich.
3.3 Reaktion Maltes auf das Dionysische
Die Aufzeichnung beginnt damit, dass Malte über selbst sagt, sehen zu lernen (Z.1). Da er offensichtlich schon immer physisch in Lage war, zu sehen, kann es sich hierbei also nur im übertragenen Sinn um eine neue Art des Sehens handeln, nämlich des Hinsehen und Wahrnehmen von Dingen, die ihm bisher verborgen geblieben sind. Allerdings steht er erst am Anfang dieses Lernprozesses, er kann ihn weder verstehen ("Ich weiß nicht, woran es liegt", Z.1 ), noch erklären ("Ich weiß nicht, was dort geschieht, Z.3). Dennoch macht ihm diese Veränderung in seinem Inneren offensichtlich keine Angst, denn er will seine "Zeit ausnutzen" (Z. 5) . Seine neue Fähigkeit ermöglicht ihm die Dinge anders wahrzunehmen, in dieser Fall die Gesichter von Menschen. Malte erkennt, dass Menschen nicht nur eines, sondern mehrere Gesichter haben. Diese Gesichter, die zwar so perfekt wie ein "Handschuhe" (Z. 9) passen, sind nicht individuell, sondern austauschbar wie eine Maske. Hinter dem Gesicht befindet sich das Nichtgesicht. Was genau das Nichtgesicht ist, bleibt offen, ein möglicher Ansatz wäre, dass es die tatsächliche, nicht durch eine gesellschaftliche Gesichts-Maske geschönte oder geschützte Identität des Menschen darstellt. Im Sinne Nietzsches könnte das Gesicht als Maske auch für die apollinischen, formende Seite des Lebens stehen und das Nichtgesicht für alles Dionysische, für den Schrecken, die Angst und das Chaos, das die Menschen hinter einer Maske der Ordnung, dem Gesicht, verbergen. Maltes neues Sehen ermöglicht ihm hinter die Oberfläche der Dinge zu schauen. Aber er ist noch nicht breit sich seinen Wahrnehmungen zu stellen, was in seiner Begegnung mit der alten Frau deutlich wird: "Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht“. (Z. 18 - 21) Malte reagiert panisch, er hat Angst und kann sich der Welt hinter Welt noch nicht stellen.
3.4 Die Funktion des Dionysischen für Rilke
Rilke nutzt in dieser Aufzeichnung, aber auch im weiteren Verlauf des Romans, dionysische Sequenzen dazu, Malte in seinem Selbstfindungsprozess aufzuzeigen. Anhand von Maltes Reaktionen auf das Dionysische, wird sehr gut deutlich, in welchem persönlichen Entwicklungsstadium er sich gerade befindet. Seine Angst in dieser Aufzeichnung, seine Unfähigkeit sich den Dingen hinter der Oberfläche zu stellen, ist kennzeichnend für ein frühes Stadium. Rilkes Szenario der Menschen, die Masken tragen und dahinter ihre Nichtgesicht, vielleicht auch ihr wahres Ich verbergen, hat nicht nur dionysische, sondern auch gesellschaftskritische Ansätze. Hier wird das Bild eines Menschen in der Großstadt geschaffen, der seine Individualität verleugnet und sich in die Uniformität gesellschaftlicher Normen flüchtet. Die Idee des Gesichts hinter dem Gesicht, weißt außerdem Ähnlichkeiten zu Rilkes Vorstellung auf, dass die Wirklichkeit an der sich die Menschen täglich orientieren, nur einen Teil der tatsächlichen Wirklichkeit ist. Ein Gedankenansatz der auch für die weitere Entwicklung Maltes entscheidend ist. Erst durch die Begegnung mit dem Dionysischen ist er in der Lage seine bisherige Weltansicht zu hinterfragen, und neu zuordnen, eine Grundvorrausetzung in Maltes Kampf um Individualität.[20]
3.5 Ästhetische Umsetzung des Dionysischen
Die Aufzeichnung wird bestimmt durch einen dreigeteilten Aufbau. In Zeile 1 bis 5 wird Maltes neue Fähigkeit des Sehens beschrieben. Sie ist die Vorraussetzung für seine weitere Entwicklung. Durch die Stellung des Subjekts am Satzanfang wird klar, dass es sich um eine individuelle Erfahrung handelt. Nicht die Welt, sonder das „Ich“ in diesem Fall Malte lernt sehen. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch forciert, dass die folgenden drei Sätze ebenfalls mit dem Personalpronomen „Ich“ beginnen. Satz 5 bildet die Ausnahmen, Satz 6 und 7 beginnen jeweils wieder wie die Sätze 1 bis 3. Hier ist ein Mensch auf sich selbst fokussiert, das wird auch an dem personalen Erzählstil deutlich. Das Motiv des Sehens wird im Anschluss an die Frage "Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen" in Zeile 4 erneut aufgegriffen. Der Fragesatz an dieser Stelle scheint unpassend, er könnte aber auch ein Zeichen dafür sein, dass Malte aufgrund seines Neuen Sehens (dionysisch bestimmt) in eine zunehmend rauschhafte Wahrnehmung abgleitet, in Folge dessen er die Kontrolle über seine Gedanken verliert und nicht mehr genau weiß, was er schon gesagt hat und was nicht. Zeitlich wird das Stadium des Neuen Sehens durch die Aussage „es geht noch schlecht“ (Z. 4) näher bestimmt. Ingesamt sind die Sätze oft sehr kurz, was Zeichen, einer direkten, unreflektierten Sprache ist. Sie wiederum signalisiert eine dionysisch, unüberdachte Wahrnehmung.
Im Anschluss (Z. 5-10) wird konkret aufgezeigt, was sich in Maltes Wahrnehmung geändert hat. Hier kommt es im Kontext der Aufzeichnung zu einem Wechsel vom mimetischem zum amimetischen Erzählen, ein Kennzeichen für den Wechsel der Handlung von einer rationalen, apollinischen, hin zu einer rauschhaft, dionysischen Wahrnehmung. Objekt dieser veränderten Wahrnehmung sind Gesichter von Menschen. Sie werden personifiziert, dies geschieht sowohl durch Verben wie zum Beispiel "tragen“ (Z. 8) „abnutzen“ (Z. 8), aber auch durch das Adjektiv "schmutzig"(Z. 9). Diese drei Worte, die alle aus dem Lexemverband Kleidung stammen, forcieren der Eindruck, die beschrieben Gesichter seien Kleidungsstücke. Diese Idee wird in dem Vergleich "Es weitet sich aus, wie Handschuhe, (...)" (Z. 9) noch deutlicher. (Das an dieser Stelle genutzte suggestiven Sprechen, könnte durchaus ebenfalls ein Zeichen Maltes zunehmend dionysisch geprägter Wahrnehmung sein.)
Zeile 10 bis 20 stellen den Höhepunkt der Szene dar, die Perspektive wechselt von allgemeinen zum speziellen, von vielen Gesichtern auf ein Gesicht. Diese perspektivische Veränderung wird durch das Geminatio direkt am Satzanfang deutlich (Aber die Frau, die Frau ..., Z. 11). Die Straße wird durch mehrere Personifikation und einen Vergleich (... die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh.", Z. 14-16.) zu einem surrealen Szenario. Der rauschhafte Charakter der Szene gipfelt in der Begegnung Maltes mit der Frau, deren "Gesicht in den zwei Händen blieb “ (Z 17.). Die dargestellte Situation weist stark phantastische Züge auf und erinnert an einen Albtraum oder Gruselfilm, wiederum ein Zeichen Maltes rauschhafter Wahrnehmung. Sein Angst, vor dem was er sieht, wird in den negativ konnotierten Worten "abgerissen" (Z. 20), "graute" (Z. 20), und "fürchtete" (Z. 20) deutlich, sowie dem Bild vom "bloßen, wunden Kopf ohne Gesicht" (Z. 21) deutlich.
3.6 Aufzeichnung [18]: „Es ist gut, es laut zusagen“
1 „(…)„Wird man es glauben, daß es solche Häuser giebt? Nein, man wird sagen, ich fälsche.
2 Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natürlich auch nichts hinzugetan. (…)Häuser,
3 die man abgebrochen hatte von oben bis unten. (…) Man sah ihre Innenseite. Man sah in
4 den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten klebten, da
5 und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden blieb die
6 ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißer Raum, und durch diesen kroch in unsäglich
7 widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige
8 Rinne der Abortröhre. (…) Am unvergeßlichsten aber waren die Wände selbst. Das zähe
9 Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den
10 Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem bandbreiten Rest der Fußböden, es war
11 unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab,
12 zusammengekrochen. Man konnte sehen, daß es in der Farbe war, die es langsam, Jahr
13 um Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb in ein altes,
14 abgestandenes Weiß, das fault. (…) Es war in jedem Streifen, der abgeschunden war, es
15 war in den feuchten Blasen am unteren Rande der Tapeten, es schwankte in den
16 abgerissenen Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden
17waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden, die
18 eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstörten Zwischenmauern, stand die Luft
19 dieser Leben heraus, die zähe, träge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da
20 standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch
21 und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und
22 das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße. Da stand das Scharfe
23 vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte
24 Gestank von alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten
25 Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das
26 Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles hatte sich dazugesellt, was von
27 unten gekommen war, aus dem Abgrund der Gasse, die verdunstete, und anderes war von
28 oben herabgesickert mit dem Regen, der über den Städten nicht rein ist. (…) Ich habe
30 doch gesagt, daß man alle Mauern abgebrochen hatte bis auf die letzte--? Nun von dieser
31 Mauer spreche ich fortwährend. Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden; aber ich
32 will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte.
33 Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier und
34 darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir. “
3.7 Die Aufzeichnung im Kontext
Diese Aufzeichnung gehört ebenfalls noch in die den Bereich von Maltes Paris Erlebnissen. Eine Zeit, die für ihn mit Einsamkeit und Angst verbunden ist, die Stadt erscheint ihm fremd und hässlich, zusätzlich belastet ihn die für Großstadt typische, enorme Dichte von Armut, Leid, Tod und Abstoßendem. Malte reagiert in seinem Evolutionsprozess des „Sehen-Lernen“ auf diese Eindrücke mit einer empathischen Sensibilität. Dadurch durchlebt er Ereignisse, die um ihn herum passieren, wie etwa den Verfall der Hauswand in dieser Aufzeichnung, den Tot eines Mannes in einem Lokal (S. 46-47), oder den Anfall eines Epileptikers (S. 59ff) unglaublich intensiv. Im Gegensatz zu Aufzeichnung 4 ist Maltes Veränderungsprozess mittlerweile soweit fortgeschritten, dass seine Wahrnehmung fast ausschließlich auf dionysischen Eindrücken fixiert ist. Verängstigt und von den Eindrücken überfordert flüchtet sich Malte im zweiten Teil des Romans ins seine Kindheitserinnerungen. Eine vermeintlich schöne Zeit, doch je mehr er sich mit ihr auseinander setzt, desto bewusster wird ihm, wie sehr seine Kindheitserlebnisse den Paris Erfahrungen ähneln.
3.8 Die Reaktion Maltes auf das Dionysische
Bereits in Aufzeichnung 4 hat Malte erkannt, dass hinter der eigentlichen Oberfläche des Lebens, eine tiefere, verborgene Wirklichkeit gibt. Durch den Prozess des „Sehen-Lernen“ ist es ihm gelungen diese Oberfläche zu durchbrechen. Entscheidend im Umgang mit diesen neuen Sinneswahrnehmungen ist Maltes empathische Fähigkeit sich in die Dinge hineinzuversetzen, in diesem Fall in eine abgerissene Häuserwand. Innerhalb weniger Sekunden saugt er das Bild, für ihn eine Bild des Schreckens ("Wird man es glauben, daß es solche Häuser giebt?", Z.1), mit jedem noch so kleinen Detail in sich auf. Es scheint fast, als wäre sein Auge ein Radar, der drauf ausgerichtet ist, alles Abstoßende aufzuspüren. Da ist die Rede von einer "Rinne der Abortröhre" (Z.8), die sich ähnlich einem Wurm durch den Raum schlängelt, vom „ zähen Leben “ (Z. 8), das sich nicht vertreiben lässt, sondern unter der Kommode zusammenkriecht.
Malte erfühlt die Existenz dieser Mauer, er stellt sich ihrer Hässlichkeit, der Angst, die noch immer in ihre klebt, der Armut, unter der die Menschen litten, die in diesen Räumen lebten. Zwar hat er immer noch Angst, vor dem, was er sieht, aber er rennt erst davon, nachdem er die Mauer, in ihrer Ganzheit erkannt hatte: „ Ich erkenne alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: Es ist zu Hause in mir. “ (Z. 34). Entscheidend ist hierbei, dass Malte in diesem Moment erstmals begreift, dass alles das Hässliche, was er sieht und fühlt, immer auch ein Teil von ihm ist. Dieses Bewusstsein wiederum ist Voraussetzung für die ganzheitliche Lebensweise, die Malte offensichtlich anstrebt. Eine Lebensweise, die die Existenz von Krankheit, Angst, Tod, eben allem was ihm groß, fremd und beängstigend erscheint nicht länger ausschließt, sondern teil werden lässt an seiner Wirklichkeit.
3.9 Die Funktion des Dionysischen für Rilke
In dieser Szene stellt Rilke das Hässliche in einer für die damaligen Verhältnisse schockierenden Deutlichkeit da. Es ist durchaus denkbar, dass er in der Tradition Baudelaires, in dieser Aufzeichnung versucht, das Abstoßende als Gegenstand der Kunst zu etablieren. Darüber hinaus nutzt Rilke auch in dieser Szene, dass Dionysische dazu, den Veränderungsprozess seines Protagonisten voranzutreiben. Indem er ihn immer wieder mit dionysischen Ereignissen konfrontiert, konstruiert er Schritt für Schritt eine Korrektur von Maltes Bewusstsein.
3.10 Ästhetische Umsetzung des Dionysischen
Das Dionysische wird in dieser Aufzeichnung auf ästhetischer Ebene durch eine Dominanz von Wörtern aus den Wortfeldern Verfall und Verwesung realisiert. Es ist die Rede von "widerlichen, wurmweichen, (...) verdauenden Bewegungen“ (Z. 7-8), einer „rostfleckigen Rinne“ (Z. 7), dem „schimmeligen grün“ (Z. 13) der Wände, dass zu einem, „ abgestandenem Weiß" (Z. 13) wird, "das fault" (Z. 14), vom „ ausschwitzen “ (Z. 17) und von „ feuchten Blasen “ (Z. 15), einem „ schweren, glatten Gestank “ (Z. 24), „ Angstgeruch “ (Z. 25), einem „ süße, langen Geruch “, (Z. 24) und „ vom Schwülen „.(Z. 25), u.v.m..
Die Mauer befindet sich offensichtlich einem Verfall und Verwesungsprozess. Sie ist „ bloßgelegt “ und wird gestützt von „ einem ganzen Gerüst von langen, geteerten Mastbäumen. (...) Man sah ihre Innenseite. " (Z. 3) Ein Bild, das durchaus an einen, sich im Verfall befindenden menschlichen Körper erinnert, an ein Gerippe, an dem noch Reste von verwesendem Fleisch hängen. Die Mastbäume stehen in diesem Zusammenhang für das Skelett, die Mauerer als Teil des Inneren und die Abortröhre könnte ein Blutgefäß darstellen. Praktische jedes Detail wird personifiziert: Das „Leuchtgas“ geht, das "zähe Leben" (Z. 9) lässt sich nicht zertreten, sondern kriecht zusammen, es schwankt (Z.15) und schwitzt (Z.17). Mittage und Krankheiten stehen im Raum (Z. 20). Vieles anderes gesellt sich dazu. Durch die Personifikation erhalten Maltes Sinneseindrücke eine starke Präsenz, alles scheint greifbar und in Bewegung zu sein.
Interessant ist auch, dass Maltes Beschreibungen ausschließlich über Sinneseindrücke funktioniert: Zunächst steht das Sehen (Z. 1 - 18) im Mittelpunkt: Malte sieht die Innenseite der Häuser, sieht Zimmerwände sieht die Farbe die sich „Jahr um Jahr“, verwandelt hatte: "Blau in schimmliches Grün, Grün in Grau und Gelb und Gelb in ein altes, abgestandenes Weiß, dass fault".(Z. 13 - 14). Ab Zeile 18 nimmt Malte verstärkt Gerüche wahr, wie etwa die „ zähe, träge, stockige Luft" (Z.19), das "Ausgeatmete" und der "jahrealte Rauch" (Z.20), "der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht" (Z.21), "das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße" (Z. 22 ), "das Scharfe vom Urin" (Z. 23), "der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze" (Z.25), "der Angstgeruch der Kinder und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben" (Z. 26).
Maltes Wahrnehmung und Beschreibung findet auf einer sinnlich, emotionalen Ebene statt, was wiederum seinen dionysischen, nicht rationalen Zugang zur Welt unterstreicht. Der Eindruck ungefilterter Sinnendrücke wird außerdem dadurch erreicht, dass von Zeile 3 bis 28, also in der gesamten Beschreibung von Maltes Eindrücken, keine Kausalsätze zu finden sind. Malte erklärt nicht, er gibt seine subjektiven Wahrnehmung wieder, dadurch entsteht eine sehr rauschhaft wirkende Aneinanderreihung von Bildern, die in ihrer Unreflektiertheit Maltes neuen Zugang zum Dionysischen auch in seiner Art des Erzählens spiegelt. Seine Eindrücke stehen in keinem Ursache-Wirkungsprinzip, Malte erklärt nicht, was er sieht, er beschreibt es lediglich. Es entstehen dadurch nicht erklärbare Inferenzen, die nur durch eine Rekurrenz auf das Weltwissen geklärt werden können. Etwa das der Angstgeruch der Kinder daher rührt, dass sie in einer unsichern, brutalen und lieblosen, vielleicht auch verarmten Umgebung aufgewachsen sind.
Den Wechsel aus dem rein rauschhaften Eins- werden mit der Mauer zu einem zurückkommen in die Welt ist durch eine Wiederholung eines Fragesatzes markiert: In Zeile 28 stellt Malte die Frage: "Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe, dass ich diese Mauer meine?". Nur wenige Zeile vorher stellt er eine ganz ähnlichen Frage, nämlich: „ Ich habe doch gesagt das man alle Mauer abgebrochen hatte bis auf die letzte -?"
Maltes zunehmend, rauschhafte, ungeordnete Wahrnehmung, zeigt sich auch in einem gedanklichen Kontrollverlust und darin, dass er ist sich nicht mehr sich, was er bereits gesagt hat. Gleichzeitig markiert die Frage auch den Wechsel von einer rauschhaft dionysischen Beschreibung, hin zu einem apollinisch geordneten Gedanken: Die Konsequenz Maltes dionysischer Erfahrung wird in Zeile 30 bis 31 deutlich. Die rethorische Frage markiert einen Wechsel im Satzbau. Dem bis dahin dionysisch-parataktisch geprägte Satzgefüge, wird nun eine hypotaktisch geprägte Schlusspassage entgegengestellt. Die Hypotaxe ist schon rein formal auf das Sichtbarmachen von Ursache-Wirkung-Korrelationen, von Kausalitäten, ausgerichtet und stellt also einen intellektuellen Akt da, der ohne Zweifel als appolinisch zu bezeichnen ist.
5. Zusammenfassung
Nietzsche nutzt das Begriffspaar apollinisch - dionysisch erstmals im Rahmen seiner Kunstphilosophie. Im Menschen sieht er kosmische Prinzipien fortwirken, die in Apollo und Dionysos personifiziert sind. Der griechische Gott Apollo steht in diesem Zusammenhang für eine maßvolle Begrenzung, Dionysos dagegen symbolisiert alles Rauschhafte, das Zerbrechen alles Individuellen und die Vernichtung alles Gestalteten. Nietzsche sieht die Kunst als letzte sinngebende metaphysische Tätigkeit, aufgrund ihrer Fähigkeit nicht nur das Schöne, sondern auch das hässliche, grausame und dionysische des Lebens abzubilden ermöglicht sie dem Menschen eine Ganzheitserfahrung. Allerdings ändern sich Nietzsches Theorien im Laufe der Zeit: Während noch in Geburt der Tragödie (1871) das Dionysische, als Quelle rauschhafter Leidenschaft auftritt, die von der formgebenden Kraft des apollinischen gelenkt werden muss, verwirft Nietzsche diese Gedanken in seinem Werk Also sprach Zarathustra (1884) und reklamiert den „Willen zur Macht“ als einzige Lebensantreibende Kraft im Universum. Diese Kraft bezeichnet er zwar weiterhin mit dem Begriff Dionysisch, versteht aber darunter eine Vereinigung von dionysischen und apollinischen Aspekten. Ein Mensch, der in Nietzsches Sinn dionysisch lebt akzeptiert die schönen, aber auch die schrecklichen, die hässlichen und abstoßenden Seiten des Lebens, als Teil des Ganzen. Eben an diesem Zugang zu Welt versucht sich Rilkes Protagonist Malte Laurids Brigge. Er erkennt, dass für seine eigene Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist, nicht mehr länger ausschließlich die apollinischen Seiten des Lebens zu realisieren, sondern sich bewusst, den dionysischen Facetten des Seins zuzuwenden. Eine Sensibilisierung, die letztendlich dazu führen soll, eine Veränderung ins Maltes Leben zu bewirken, sein altes, von der Gesellschaft ihm aufdoktriniertes, unindividuelles „Ich“ zu zerstören und sich eine neues, ganzheitliches „Ich“ zu schaffen. Dieses neue „Ich“ von dem Malte träumt, lebt frei, souverän und selbst bestimmt aus sich heraus. Es entspricht somit Nietzsches Vorstellung vom Übermenschen, der sowohl apollinischen, als auch die dionysische Seiten (also den Willen zur Macht) in sich zum Lebensvollzug vereinigt und erst durch diese Gabe die Voraussetzung zum Kunstschaffen besitzt. Eine Lebensform, die übrigens auch Rainer Maria Rilke befürwortete. Ähnlich wie Nietzsche empfand er die Wirklichkeit an der sich die Menschen orientieren, nur als einen Teil der tatsächlichen Wirklichkeit und träumt von einer Korrektur dieser Wahrnehmungsprozesse. Letzteres erreicht er zumindest in literarischer Hinsicht, indem er seinen Protagonisten „Malte“ die dionysischen Seiten des Lebens sehen lernen lässt. Das Dionysische spielt somit eine wichtige Rolle in Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Maltes Laurids Brigge
6. Literaturangaben
Barck, Karlheinz: Ästhetische Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart.
Engel, Manfred (1986): Rainer Maria Rilkes "Duineser Elegien" und die moderne deutsche Lyrik, Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde, Stuttgart
Fick, Monika (1993): Sinnwelt und Weltseele, Der psychologische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen.
Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Hrsg. Francois Bondy, Band 1, Dortmund.
Rilke, Rainer Maria (1997): Die Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge, Hrsg. Manfred Engel, Stuttgart.
Kaufmann Walter (1982): Nietzsche, Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt.
[...]
[1] Rilke, 1997:287
[2] Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, 174
[3] Vgl. Barck, 249 ff
[4] Vgl. Engel, 1986: 61
[5] Ebd., 1986:61
[6] Ebd., 1986:62
[7] Vgl. Ebd., 1986:78
[8] Kaufmann, 1982:148
[9] Kaumann, 1982:148
[10] Ebd. 1982:148
[11] Engel, 1986:79
[12] Vgl. Ebd., 1986:79-80
[13] Kaufmann, 1982:197ff
[14] Kaufmann, 1982:267
[15] Kaufmann 1982:329
[16] Ebd., 1982:329-330
[17] Beide Aufzeichnung sind entnommen aus: Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge. Hrsg. Manfred Engel. Stuttgart: Reclam, 1997
[18] ebd. 1997: 65
[19] ebd. 1997: 65
[20] vgl. 4.1
- Quote paper
- Nicole Scharf (Author), 2003, Zwischen Wahn und Wirklichkeit - Funktion, Wirkung und ästhetische Umsetzung des Dionysischen in Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108949
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