I. Einleitung
Zu einem Bibeltreffen lasen wir einmal die Geschichte der „Heilung des blinden Bartimäus“. Was mich vom Namen her wenig begeisterte, da ich meinte die Geschichte schon zu kennen, brachte mich in der tieferen Beschäftigung zu überraschenden Entdeckungen. Mich faszinierte der Bettler, der um sein Glück streitet. Aber auch Jesus, der offen und direkt fragt, was von ihm gewünscht/ erhofft/ erwartet wird. Und der erstaunliche Glaube, der die Macht hat Wunder geschehen zu lassen.
Auf diesem Weg konnte ich für mich persönlich Wertvolles aus dem Text entnehmen, was mein Interesse steigerte, mich weiter damit auseinander zu setzen.
Dazu stellt die Geschichte in sich selbst eine Einheit dar, ist gut nacherzählbar und ist inhaltlich ansprechend. In wenigen Versen umfasst sie viel beachtens- und nachdenkenswertes.
Dies alles bewegte mich also dazu, diese Perikope als Grundlage für meine Exegese zu nehmen. Ich werde versuchen auf dem Weg der historisch-kritischen Methode weitere Besonderheiten zu entdecken, sowie Zusammenhänge zu anderen biblischen und außerbiblischen Texten zu erschließen. Außerdem möchte ich herauszufinden, wie der Text in dieser Form entstanden sein könnte und welche Funktion er in sich selbst und im Kontext des Markusevangeliums erfüllen sollte.
II. Übersetzungsvergleich
Da ich nicht der griechischen Sprachen mächtig bin, werde ich für den Übersetzungsvergleich eine Interlinearübersetzung als Grundlage nehmen, um sie mit anderen Bibelübersetzungen zu vergleichen. Dies birgt in sich einige Schwierigkeiten, da im Griechischen, wie im Deutschen, ein Wort verschiedene Bedeutungen und verschiedene Inhaltsebenen hat. So ist es schwer möglich ein Wort nach Bedeutung und Grammatik als besser bzw. als schlechter übersetzt zu bewerten, da das griechische Wort auch beide Zeitformen oder beide deutsche Worte beinhalten kann. So ist es mir kaum möglich die Worte „Mantel“ und „Gewand“ zu unterscheiden, da das griechische Wort im Urtext beide Varianten ermöglicht. Die Zeitform betreffend ist mir Vers 51 aufgefallen, wo Bartimäus seinen Wunsch äußert „dass ich sehend werde“[1]. Die Interlinearübersetzung übersetzt den Wunsch nicht im Futur, sondern gibt im Präsens den angestrebten Endzustand an:„dass ich sehen kann“. Dies ist ein starker grammatikalischer Unterschied, der allerdings vom Urtext her durchaus möglich sein kann.
Mir ist nicht möglich jeden Vers genau zu analysieren und so werde ich im Großen und ganzen beim Vergleichen von der Interlinearübersetzung ausgehen, als ob sie die richtige Übersetzung sei. Mit gelber Farbe habe ich absolute Übereinstimmung, mit Blau grammatikalische Unterschiede und mit Grün minimale Abweichungen markiert.
Mit dieser Methode habe ich folgende Übersetzungen bearbeitet:
1) Rev. Lutherbibel (1984)
2) Rev. Elberfelder (1993)
3) Einheitsübersetzung (1980)
4) Deutsche Schlachter Übersetzung (1951)
5) Hoffnung für Alle (2001)
Die zu letzt genannte Bibel ist am geeignetsten um schnell einen Überblick über bestimmte Geschichten oder die Bibel allgemein zu bekommen, da sie im heutigem Deutsch am leichtesten zu lesen und am verständlichsten ist. Dabei muss man dieses „Verstehen“ allerdings auch hinterfragen, da in der Übersetzung schon sehr starke Deutungen vorhanden sind, die auf der Suche nach dem tieferen Inhalt einer Stelle ein Hindernis sein können. Als Beispiel kann man Vers 50 anführen. Die Hoffnung für Alle schreibt: „Vor Aufregung ließ Bartimäus seinen Mantel liegen(...)“. Im Original steht aber weder, dass er den Mantel liegen ließ, noch, dass dies vor Aufregung geschah. Stattdessen wird allein ausgesagt, dass er seinen Mantel abwarf, was inhaltlich eine ganz andere Bedeutung haben kann als die vorgegebene „Aufregung“.
Die Luther- und die Elberfelder Übersetzung kommen, von den von mir gewählten Bibelversionen, der Interlinearübersetzung am nächsten. Die Elberfelder nutzt, im Gegenteil zu Luther, aber im Einklang mit der Interlinearübersetzung, in den Versen 46 und 49 Verben in der Präsenzform, anstatt sie einheitlich in die Vergangenheitsform zu übertragen.
So habe ich mich entschieden meine Exegese auf diese Übersetzung basieren zu lassen. Im Vers 50 verwende ich aber anstatt der Übersetzung „Gewand“ den Begriff „Mantel“ aus der Interlinearübersetzung, da mir dies für die motivgeschichtliche Betrachtung hilfreich erscheint. Des weiteren ist es mir wichtig die Entlassungsformel mit „Geh hin, dein Glaube hat dich gerettet “ zu übersetzen.
Die Übersetzung „dein Glaube hat dich geheilt “ würde es zu einfach machen, die Veränderung im Leben des Blinden allein auf die körperliche Regenration seiner Augen zu beziehen, was zu eng betrachtet wäre. In der Geschichte der blutflüssigen Frau [nach Rev. Luther (1984)] aus Mk. 5,25ff fügt Jesus zu genannter Entlassungsformel noch „gehe hin in Frieden“ hinzu und bringt damit zum Ausdruck, dass der Glaube „nicht nur körperliche >>Heilung<<, sondern Heil im umfassenden Sinn zur Folge hat“[2].
III. Gliederung
III.1. Äußere Abgrenzung der Gliederung
Die Perikope der Heilung des blinden Bartimäus stellt die letzte Wundergeschichte des Markusevangeliums und den Übergang zur Passionsgeschichte dar. Mit ihr schließt Markus den vierten Hauptteil seines Evangeliums mit dem Thema Leidensankündigung und Nachfolgeunterweisung ab, bevor im anschließenden Kapitel 11 vom letzten Wirken Jesu in Jerusalem berichtet wird. So ist es typisch, dass im ersten und im letzten Vers der Perikope der Weg genannt wird, auf dem Nachfolge geschieht und der nach Jerusalem führt. Der gelungene Übergang zum nächsten Teil zeigt sich, indem der erste Vers des 11. Kapitels noch auf dem im Vers 52 genannten Weg spielt und bereits von der Vorbereitung des Einzugs nach Jerusalem handelt.
III.2. Innere Gliederung: Markus 10,46-51
Exposition
Vers 46:
Und sie kommen nach Jericho.
(Bindesatz in dem Zusammenhang: auf dem Weg nach Jerusalem[Vers 32])
Und als er und seine Jünger und eine große Volksmenge aus Jericho hinausgingen, saß der Sohn des Timäus, Bartimäus, ein blinder Bettler, am Weg.
(Vorstellung des Ortes – Jericho, auf dem Weg aus der Stadt hinaus- und der handelnden Personen – Jesus, seine Jünger, eine große Volksmenge und der blinde Bettler Bartimäus)
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Vers 47:
Und als er hörte, daß es Jesus, der Nazarener, sei, fing er an zu schreien und zu sagen: Sohn Davids, Jesus, erbarme dich meiner!
(Hilferuf des Kranken an den Sohn Davids)
Vers 48:
Und viele bedrohten ihn, daß er schweigen sollte;
(Hinderung/ Widerstand)
er aber schrie um so mehr: Sohn Davids, erbarme dich meiner!
(Verstärkung des Hilferufs)
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Kontaktaufnahme Jesu mit dem Blinden durch die Vermittlung anderer
Vers 49:
Und Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn!
(Reaktion Jesu)
Und sie rufen den Blinden und sagen zu ihm: Sei guten Mutes!
Steh auf, er ruft dich!
(Vermittlung durch andere)
Vers 50:
Er aber warf seinen Mantel[3] ab, sprang auf und kam zu Jesus.
(stürmische Reaktion des Blinden)
Direkter Kontakt zwischen Jesus und dem Kranken
Vers 51:
Und Jesus antwortete ihm und sprach: Was willst du, dass ich dir tun soll ?
(direkte Kontaktaufnahme Jesu mit Frage nach der Erwartung des Kranken)
Der Blinde aber sprach zu ihm: Rabbuni, daß ich sehend werde.
(Bitte des Kranken um Heilung)
Vers 52:
Und Jesus sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dich gerettet!
(Entlassungsformel)
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Endsituation
Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm auf dem Weg nach.
(Heilungswunder und Zeugnis der Nachfolge)
IV. Begriffserklärung
Bevor ich mich eingehender mit dem Text beschäftige, scheint es mir sinnvoll einige Wörter näher zu beleuchten.
Als christlich sozialisierter Mensch kann man schnell darüber hinweg lesen, aber beim hinterfragen wird deutlich, dass die Hoheitstitel mit denen Jesus angesprochen wird, wohl eine tiefere Bedeutung haben, als den bloßen Zweck der Anrede.
Den aramäischen Begriff Rabbuni [4] kann man leicht mit dem üblicheren Titel Rabbi in Verbindung bringen. Diese Anrede war an sich nicht außergewöhnlich. Im ersten Jahrhundert wurde man zum Rabbi, indem man von anderen als solcher angesprochen wurde. Auch lehrte Jesus in Synagogen, diskutierte mit anderen Schriftgelehrten und sammelte Jünger um sich, was alles ausgezeichnet in das erwartete Bild eine Rabbi passte[5]. So ist es gut nachvollziehbar, dass Jesus auch als solcher angesprochen sein worden könnte. Die ungewöhnliche Form „Rabbuni“ weist auf eine bestimmte Region hin (Palästina) und bringt noch etwas deutlicher die Ehrfurcht des Blinden zum Ausdruck, als es der Titel „Rabbi“ bewirken würde.
Die Anrede „ Sohn Davids “[6] allerdings birgt in sich weit tiefere Spannungen, da man diesen Titel kaum nur genealogisch interpretieren kann. Wenn Bartimäus Jesus als Sohn Davids bezeichnet, geht es in erster Linie nicht darum klar zu stellen, dass Jesus in der Abstammungslinie des Königs David steht. Vielmehr wird ein Bezug zur jüdischen Hoffnung auf einen Messias[7] und die messianische Zeit hergestellt. David hatte als zweiter König Israels das Reich zu seiner bis dahin größten Ausdehnung gebracht und seinem Volk langersehnten Frieden gesichert. Durch das Nathansorakel (2. Samuel 7) wurde einem seiner Nachkommen die ewige Königsherrschaft zugesprochen[8]. Schon zur Zeit des Alten Testament und des älteren Judentums setzte man auf diesen eine messianische Hoffnung, wie wir es u.a. bei den Propheten lesen können[9].
Der Ehrentitel „Sohn Davids“ kann also schon bei der Anrede als kerygmatische Aussage über Jesus gedeutet werden, der sich in der gesamten Geschichte bestätigt. Dies muss allerdings in der folgenden Erschließung des Textes, speziell bei der Motivgeschichte, noch überprüft werden.
V. Literarkritik
Am Anfang der Erzählung ist es auffällig, dass Jericho gleich zweimal hintereinander genannt wird. Vers 46a berichtet davon, dass „sie“ nach Jericho kommen und schließt sogleich an, dass sie Jericho wieder verlassen, ohne dass ein Geschehen in der Stadt berichtet wird. Dies lässt vermuten, dass Markus an dieser Stelle eventuell eine Geschichte ausgelassen hat und gleich mit der Heilung des Blinden fortfährt. Grundmann allerdings ist der Meinung, dass das zuerst genannte Jericho markinische Redaktion ist, um einen Übergang zur Blindenheilungsgeschichte zu schaffen[10], die aus der Tradition heraus mit der Ortsangabe, Jericho, beginnt. Dabei ist allerdings fraglich, ob eine selbstständige Überlieferung der Heilungsgeschichte mit den Worten „Und als er Jericho verließ [...]“ begonnen haben könnte[11]. Pesch wiederum glaubt, dass auch die Erwähnung der Ankunft in Jericho vormarkinisch ist, da sie durch die Heilung des Blinden, die auf dem Weg von Jericho weg spielt, notwendig und sachgemäß sei[12].
Allgemein kann aber die Ortsangabe als vormarkinisch angesehen werden, da in der gesamten Tradition die Geschichte mit Jericho verbunden ist und mit der zusätzlichen Nennung eines genauen Personennamens Historizität belegt werden sollte. Neben des Namens Bartimäus, der schon im Text mit Sohn des Timäus übersetzt wird, weisen außerdem die Anreden „Sohn Davids“ und „Rabbuni“ daraufhin, dass die Überlieferung ursprünglich auf palästinensischem Boden geformt worden ist.
Als markinische Redaktion kann man das Wegmotiv betrachten, welches im „Verlassen von Jericho (V.46b), in der Vorstellung des blinden Bettlers >>am Wege<<(V. 46c) und dem Schlusswort über die Nachfolge >>auf dem Wege<<(V.52)“[13] anklingt. Überhaupt ist dieses Wegmotiv im zweiten Teil des Markusevangeliums stark ausgeprägt, wie wir es ja auch in Vers 1 des 11. Kapitels wiederfinden. Auch die Hinzufügung der Jünger und der großen Volksmenge, die Jesus aus Jericho heraus folgte (Vers 46b) kann als markinische Redaktion gewertet werden, die erneut Nachfolge zum Thema hat.
Im Vergleich mit anderen Wundergeschichten hat die Heilung des Bartimäus mehrere Auffälligkeiten, die im Kapitel VII, Formkritik, genauer herausgestellt werden sollen.
Es ist nicht wahrscheinlich, dass es Markus war, der eine formstimmige Wundergeschichte in dieser Weise veränderte. Viel mehr ist anzunehmen, dass diese Heilungsgeschichte im Großen und Ganzen vormarkinisch ist und nur zu Beginn und Ende mit dem Wegmotiv erweitert wurde, um es in den Gesamtzusammenhang des Evangeliums einzubetten
VI. Motivgeschichte
Das Motiv der Blindheit ist schon im AT weit verbreitet. Die Hilflosigkeit blinder Menschen war sprichwörtlich und hatte zur Folge, dass sie durch das Gesetz unter besonderen Schutz gestellt wurden (Lev 19,14; Dtn 27, 18)[14].
Die Gesundheit der Sinne wurde als Geschenk Gottes verstanden[15] und so stand es auch nur ihm zu Blinde zu heilen, wie es im Psalm 146,8 zu lesen ist: „Der HERR öffnet die Augen der Blinden “.
Vor allem Jesaja nutzt das Bild des Wieder-Sehend-Machen der Blinden als Ausblick auf die Endzeit, in der Gott seinem Volk Heil wiederfahren lässt: „Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen.“[16] Jesaja bezieht allerdings das Bild der Blindheit nicht allein auf die physiologische Unfähigkeit zu sehen. Viel mehr spricht er von einer Unfähigkeit Einsicht zu erlangen, wie es in verschiedenen Verstockungsreden deutlicher anklingt: „Verstocke das Herz dieses Volks und laß ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, daß sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.“[17] Diese symbolhafte Bedeutung der Blindheit kann auch auf Bartimäus angewandt werden, stellt aber sicherlich nicht den ausschließlichen Inhalt der Geschichte dar.
Wie schon in der Begriffserklärung angedeutet ist ein weiteres auffälliges Motiv die Anrufung Jesu als „Sohn Davids“. Dabei ist kritisch zu betrachten, dass er hier als Wundertäter angerufen wird, was in dem messianischen Traditionsstrang keine wesentliche Rolle spielt. Im Religionsgeschichtlichen Textbuch zum Neuen Testament[18] findet man zu Markus 10,48 eine Geschichte, die ein anderes Licht auf die genannte Benennung wirft.
„Sohn Davids, erbarme dich meiner [...]!“ Mit diesen Worten, die auch Bartimäus verwendet, spricht ein alter Mann im Testamentum Salomonis (S. 20,1f) aus dem 1.-2. Jh. n. Chr. König Salomo an, um von ihm Hilfe zu erfahren. In der Geschichte gelingt es Salomo, der wirklich leiblicher Sohn Davids war, dem Alten zu helfen, indem er mit Dämonenaustreibung Heilung in der Beziehung zwischen Vater und Sohn bewirkt.
Laut Berger/Colpe war es zur Zeit der Abfassung des Testamentum Salomonis, also auch in etwa in der Zeit, in der die Evangelien verfasst wurden, im Judentum keine Seltenheit, dass Geisteraustreibungen unter der Nennung des Namen Salomos stattfanden.
Der Name Salomos, als Davidssohn, hatte im Judentum als Bild eines machtvollen Wundertäters und Exorzisten eine alltagsrelevante Bedeutung, was die Anrufung Jesu als Sohn Davids durch Bartimäus auch gut im jüdischen Kontext nachvollziehen lässt.
Trotz der Analogie beider Geschichten in der Anrede und im Gesprächsverlauf zwischen dem Wundertäter und dem Bittsteller[19] kann man kaum auf eine direkte Verbindung zwischen beiden schließen. Neben der zeitlichen Niederschrift, die höchstwahrscheinlich später als die Abfassung des Markusevangeliums stattfand, muss man auch die Unterschiedlichkeit in er Anrufung als Sohn Davids beachten, da Salomo reell leiblicher Sohn Davids war und in diesem Sinne auch als solcher angerufen wurde[20], was bei Jesus eine andere Bedeutung haben sollte. Festzuhalten bleibt, dass die Nennung „Sohn Davids“ zu Jesu Zeiten eine Relevanz im zeitgenössischen Judentum hatte und nicht als christliche Ausschmückung der Geschichte angesehen werden muss.
VII. Formkritik
Wie schon in der Literarkritik angedeutet, stellt die Heilung des Bartimäus keine typische Heilungswundererzählung dar, auch wenn Pesch[21] sie als solche bezeichnet. Es ist festzustellen, dass die eigentliche Wunderhandlung nur kurz behandelt wird (Verse 51+52). Der Hilfsbedürftige hingegen, wird in seinem Umgang mit der Menge ausführlicher dargestellt und steht im Mittelpunkt der Erzählung(Verse 47-49).
Es gibt zwar einen vollmächtigen Wundertäter und Heiland, aber er begegnet dem Blinden erst zum Ende der Geschichte und stellt nicht die wichtigste Gestalt dar. Dies wird dadurch bestätigt, dass die expositionellen Motive sehr breit, die zentralen und finalen Motive hingegen knapper ausfallen[22]. Die Heilungshandlung selbst ist also nicht von größter Bedeutung. Es gibt nicht einmal eine Heilungsgeste oder ein Machtwort, wie es für Heilungswundergeschichten typisch wäre[23]. Stattdessen folgt direkt nach der Heilungsbitte die Entlassung und die Reaktion des Geheilten.
Eine weiter Ungewöhnlichkeit besteht darin, dass das in der Geschichte vorkommende Schweigegebot nicht vom Wundertäter, sondern von der Menge ausgeht. Anstatt die helfende Rolle einzunehmen und den Kranken zu Jesus bringen[24], stellt sie in dieser Perikope eine Erschwernis der Annäherung dar. Charakteristisch für die Geschichte ist, dass sich Bartimäus davon nicht einschüchtern lässt, sondern wiederholt und noch stärker nach Jesus ruft. Als Jesus ihn dann rufen lässt und nach seinem Anliegen fragt, antwortet der Blinde souverän mit Wunsch wieder sehen zu können. Darin stellt er einen klaren Gegensatz zu dem Vater des besessenen Knaben[25] aus dem vorangegangenen Kapitel dar, der in Zweifeln bittet: „Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“[26] und daraufhin von Jesus zurechtgewiesen wird: „alle Dinge sind möglich, dem der da glaubt.“[27]
Dies alles führt dazu, dass das Motiv des Glaubens in den Vordergrund gerückt wird, was auch in der Entlassungsformel zum Ausdruck kommt: “Geh hin, dein Glaube hat dich gerettet“[28]. Die Fixierung auf den Glauben und nicht auf den Wundertäter zeigt sich auch darin, dass keine Reaktion der Menge[29] auf das Wunder berichtet wird, obwohl die Heilung in der Öffentlichkeit vollzogen wird.
In aller Andersartigkeit gegenüber anderen Wundergeschichten kann man diese Blindenheilungserzählung dennoch als in sich selbst schlüssig erkennen, indem sie auf allen Ebenen den Glauben des Blinden hervorhebt und das Motiv der radikalen, hindernisüberwindende Nachfolge vorantreibt. Müller kommt daraufhin zu dem Schluss, dass „>>Wundergeschichte<< die Aussageabsicht der Geschichte nicht genügend umschreibt“[30] und somit als Nachfolgegeschichte zu bezeichnen ist, „die zwar die Formmerkmale einer Wundergeschichte aufweist, aber deren Gewichtung den Akzent vom Wunder weg auf die Nachfolge legt.“[31]
VIII. Redaktionskritik
Damit sind wir schon mitten in der redaktionskritischen Auseinandersetzung, die sich mit dem Anliegen des Evangelisten befasst, als er diese Geschichte in diesem Zusammenhang in sein Evangelium einbaute.
Pesch ist der Ansicht, dass „die Heilung des Bartimäus“ zu einer vormarkinischen Passionsgeschichte gehört und deshalb seinen Platz an dieser Stelle des Evangeliums hat. Unabhängig von dieser These sind sich die Kommentare im großen und ganzen einig, dass die Perikope eng mit dem Weg Jesu nach Jerusalem verbunden ist und im Zusammenhang mit der darauffolgenden Einzugsgeschichte steht. Markus nutzt die Geschichte mit ihrer Bindung an Jericho, um eine Überleitung von der Wanderschaft Jesu zu deren Ziel, Jerusalem, herzustellen[32]. Sie stellt somit eine wichtige Position auf der Linie von Galiläa nach Jerusalem dar, die sich durch das gesamte Evangelium zieht[33].
Inhaltlich bleibt Markus bei der Betonung des Glaubens aus der vormarkinischen Tradition, bereichert diese allerdings mit dem Motiv der Nachfolge. Nachdem der gesamte Hauptabschnitt (Mk.8,34-10,45) unter dem Motto der Leidensankündigung und Nachfolgeunterweisung stand, demonstriert der Evangelist seinen Lesern in Bartimäus ein positives Beispiel und Vorbild, das im Kontrast zu den unverständigen Jüngern[34] steht.
Die verschiedenen Bezeichnungen, mit denen Jesus betituliert wird, weisen auf die grundlegende Frage hin: „Wer ist dieser?“. Müller interpretiert auch dies auf das Hauptthema des Abschnitts: „[d]ie Bedeutung Jesu [kann] nicht in einer bestimmten Bezeichnung erfasst werden, sondern [ist] nur in der Nachfolge wirklich zu erkennen“[35]. Die heidenchristliche Gemeinde, für die Markus das Evangelium wahrscheinlich verfasste und war sich scheinbar unsicher, wer Jesus war und wie von ihm gesprochen werden konnte.
Die Akzentuierung auf die Motive der Nachfolge und später des Leidens legen es nahe, dass sich die Adressaten in einer unruhigen Zeit befanden, wie es Verfolgungen oder aber auch der Jüdische Krieg hervorgerufen haben könnten. So ist es nur verständlich, dass Markus gerade die angegriffenen Punkte aufnimmt und in diese Richtung Ermutigung und Zurechtweisung ausdrückt, wie es in der Geschichte des Bartimäus geschieht, welcher Hindernisse überwindet und somit durch seinen Glauben gerettet wird.
IX. Versexegese
V46 Auf seinem Weg nach Jerusalem kommt Jesus nach Jericho. Evtl. verbringt er dort einen Sabbat[36], zumindest wird von keinem Ereignis berichtet bis er Jericho wieder verlässt. Jesus wird von seinen Jüngern begleitet. Auch eine große Volksmenge ist mit ihm, welche, neben den Anhängern Jesu, wohl auch aus Festpilgern besteht, die sich dem Zug nach Jerusalem angeschlossen haben.
Sie beginnen den 24km langen Aufstieg nach Jerusalem, als der Blinde Bartimäus am Wegesrand sitzt und bettelt, um sein Überleben zu sichern.
V47 Jesu Ruf ist ihm scheinbar schon vorausgeeilt. Denn als der Blinde hört, dass Jesus von Nazareth an ihm vorbeikommt, beginnt er zu schreien und bittet ihn unter der Bezeichnung „Sohn Davids“ um Erbarmen.
V48 Als „die vielen“ sein Rufen verbieten wollen, verfolgen sie nicht die Absicht das Messiasgeheimnisses zu wahren[37], sondern möchten verhindern, dass ihr Meister von dem sozial unterlegenem, bettelnden Blinden aufgehalten wird.
Bartimäus hingegen beweist seinen Glaube an die Vollmacht Jesu, als er ,anstatt dem Willen der Menge beizugeben, um so mehr nach dem Sohn Davids und dessen Erbarmen ruft.
V49 Daraufhin bleibt Jesus stehen und lässt, scheinbar aus der Mitte des Tumults, den Blinden zu sich rufen. Die Menge Vermittelt Bartimäus von Mund zu Mund den Zuspruch „Sei guten Mutes“ und zeigt damit, dass nun auch sie glauben, dass sich Jesu ihm erbarmen wird. Die Aufforderung aufzustehen befolgt der Blinde im Vers 50...
V50... augenblicklich, indem er vor Aufregung aufspringt, dabei seinen Mantel von sich wirft und zu Jesus kommt. Dabei wird nicht nur der Glaube, sondern auch der Enthusiasmus deutlich, mit dem sich Bartimäus Jesus nähert.
V51 Jesus bezieht sich auf das vorherige Rufen des Bittstellers und fragt direkt nach der Erwartung, die dieser an Jesus hat. Bartimäus spricht Jesus ehrfurchtsvoll mit „Rabbuni“ an und äußert seinen Wunsch „ wieder sehen“[38] zu können.
V52 Jesus entlässt Bartimäus daraufhin mit dem Zuspruch, dass dessen Glaube die Rettung/Heilung bewirkt habe. Als wieder Sehender schließt sich Bartimäus Jesus an und bezeugt seinen Glaube und seine Rettung in der Nachfolge, die nach Jerusalem und schließlich hin zum Kreuz führt.
X. Abschließende Bemerkung
Die Geschichte der Heilung des blinden Bartimäus stellt ein Vorbild für wahren Glauben dar, der sich auch durch Angriffe und Abweisung nicht von der Nachfolge abhalten lässt. Auch wenn es für uns heute schwer nachzuvollziehen ist, wie durch ein Wunder Blindheit geheilt werden soll, kann man aus der Erzählung in ihrer symbolischen Bedeutungen viel für sich persönlich herausziehen[39]. Dabei kommt es uns entgegen, dass Markus das Hauptaugenmerk nicht auf das Wunder, sondern auf den Glauben und die Nachfolge gelegt hat, auch wenn dieser Ruf nicht weniger herausfordernd ist.
XI. Literaturverzeichnis
Dietzfelbinger, Ernst, Das Neue Testament, Interlinearübersetzung Griechisch-Deutsch, Neuhausen, Stuttgard: Häussler, 1990
Digitale Bibliothek Band 12: Religion in Geschichte und Gegenwart, S. 21644 (vgl. RGG Bd. 4, S. 895) (c) J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)
Berger, Klaus: Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament / von Klaus Berger und Carsten Colpe. – Göttingen; Zürich: Vandenhoeck und Ruprecht, 1987
BibleWorks for Windows, Windows 95/NT Release, Version 3.5.026 NT/95 (0)
Colpe, Carsten: Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament / von Klaus Berger und Carsten Colpe. – Göttingen; Zürich: Vandenhoeck und Ruprecht, 1987
Eckey, Wilfried: Das Markusevangelium / Orientierung am Weg Jesu, Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins, 1998
Einheitsübersetzung von 1980, aus BibleWorks for Windows, Windows 95/NT Release, Version 3.5.026 NT/95
Elberfelderbibel, Revidierte Version von 1993, aus BibleWorks for Windows, Windows 95/NT Release, Version 3.5.026 NT/95 (0)
Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, hrsg. Von Horst Balz und Gerhard Schneider, 3. Bd., Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz: Kohlhammer, 1939
Ernst, Josef: Evangelium nach Markus / übersetzt und erklärt von Jodef Ernst, Regensburg, 1981
Gnilka, Joachim: Das Evangelium des Markus, Zürich, Einsiedeln, Köln: Benziger Verlag, Neukirchner Verlag, 1978
Grundmann, Walter: Das Evangelium nach Markus / von Walter Grundmann. - 10. Auflage – Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1989
Hoffnung für Alle, Bible Card, Brunnen-Verlag, Basel, 2001
Müller, Peter, Wer ist dieser?/ Jesus im Markusevangelium, Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer , Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins, 1995
Pesch, Rudolf in: Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Band II: Das Markusevangelium, Erster Teil, Freiburg, Basel, Wien: Herder, 1977
Schlachterbibel, Deutsche Übersetzung von 1951, aus BibleWorks for Windows, Windows 95/NT Release, Version 3.5.026 NT/95 (0)
Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, hrsg. Von Lothar Coen u. Klaus Haacker, 2 Bände, Wuppertal: Brockhaus, Neukirchen: Neukirchener Verlag, Neubearbeitete Ausgabe, 1997
Thompson Studienbibel / Bibeltext nach der Übersetzung Martin Luthers, Altes und Neues Testament, Revidierte Fassung von 1984, Hännsler-Verlag, Neuhausen-Stuttgart, 1986
[...]
[1] Rev. Elberfelder
[2] vgl. Exegetisches Wörterbuch zum NT, S. 766
[3] In der Elberfelderübersetzung heißt es „sein Gewand“.
[4] Vers 51
[5] vgl. Theißen S. 318, aus „Bildung Jesus – paper“/Jesus Paket, M. Behnisch
[6] Vers 47
[7] Der Messias soll auf universaler oder partikularer Ebene der gegenwärtigen Ordnung ein Ende setzen und eine neue Ordnung der Gerechtigkeit und des Glücks begründen. Seit der hellenistischen Zeit ist diese Hoffnung allerdings nicht mehr auf einen irdischen Messias beschränkt, sondern kann auch schon eschatologisch verstanden werden. Vgl. Messianismus, S. 1. Digitale Bibliothek Band 12: Religion in Geschichte und Gegenwart, S. 21644 (vgl. RGG Bd. 4, S. 895) (c) J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)
[8] „..will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; [...] und ich will seinen Königsthron bestätigen ewiglich.“ Verse 12+13
[9] Jes. 9,5ff + 11,1ff; Jer. 23,5f
[10] S. 297
[11] Ev. Nach Markus, Würzburg 1979, S. 472
[12] Pesch, S. 169
[13] Ernst, S. 312
[14] In diesem Zusammenhang ist auch die im Wirtschaftsrecht der Tora festgelegte Pfandbestimmung zu nennen, die fordert, dass den Armen nachts der Mantel, den sie als Pfand geben mussten, zurückgegeben wird.
[15] Theologisches Begriffslexikon zum NT, 2. Band, S.1653
[16] Jesaja 35,5 (29,18; 32,3; 42,7)
[17] Jes 6,10, revidierte Lutherübersetzung, 1984
[18] Berger/Colpe, 1987
[19] In beiden Geschichten erfolgt der direkt Kontakt des Bittstellers mit dem Heiler nach dem Schema: Anrufung – Rückfrage durch den Wundertäter – Bitte.
[20] Dies ist im Judentum ja weit verbreitet, wie wir auch im NT und AT lesen können: im NT z.B. Johannes und Jakobus, die Söhne des Zebedäus (Mt. 10,2); oder auch Bartimäus, Sohn des Timäus (auch wenn es sich hier um eine Übersetzung handelt) im AT z.B. „Es geschah das Wort des HERRN, [...], zu Hosea, dem Sohn Beeris..“ (Hosea 1,1); „[...] geschah des HERRN Wort [...] zu Serubbabel, dem Sohn Schealtiels [...] und zu Jeschua, dem Sohn Jozadaks ...“(Haggai 1,1)
[21] S. 168
[22] ebd.
[23] Vgl. Mk. 2,11; 7,33; 8,23 ; Lk. 5,14; ...
[24] vgl. Mk. 2,3; 7,32; 8,22; ...
[25] laut Rev. Luther (1984)
[26] Mk. 9,22
[27] Mk. 9,23
[28] Diesen Zuspruch bekommt auch die blutflüssige [nach Rev. Luther (1984)] Frau aus Mk. 5,25ff, die, wie Bartimäus, selbst die aktive Rolle spielt, selbst das handelnde Subjekt darstellt ,und sich ihre Heilung/Rettung erstreitet [Sie steht zwar nicht in der dialogischen Auseinandersetzung mit der Menge, aber sie kämpfte sich körperlich durch das Gedränge, um Jesus berühren zu können].
[29] wie etwa in Mk 7,37
[30] S. 115
[31] ebd.
[32] Vgl. Gnilka S. 111
[33] Vgl. Behnisch paper AE1 im Markusevangelium Paket
[34] vgl. die unverständigen Reaktionen nach den Leidensankündigungen Mk.8,32; 9,32
[35] Müller S. 126, Umstellung der gekennzeichneten Wörter durch den Verfasser
[36] vgl. Pesch, S. 170
[37] vgl. Ernst, S. 314, Grundmann S. 298
[38] Dies deutet an, dass er kein Blindgeborener war.
[39] Was nicht darüber hinwegtäuschen soll, das für die ursprüngliche Tradition die organische Heilung sehr wohl ausschlaggebend war (vgl. Ernst, S. 315).
- Quote paper
- Ralf Gernegroß (Author), 2004, Exegese, "Die Heilung des blinden Bartimäus" - Markus 10,46-52, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108462
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