Stellen Sie sich vor, Sie könnten in die Gedankenwelt eines der größten Historiker der Antike eintauchen und Zeuge der Geburt der Demokratie werden. Dieses Buch ist mehr als nur eine Analyse des Peloponnesischen Krieges; es ist eine faszinierende Reise durch das Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr., in der Thukydides die komplexen Verfassungsformen, die Rolle der Eliten und die Herausforderungen der direkten Demokratie untersucht. Entdecken Sie, wie der Historiker die athenische Demokratie kritisch hinterfragt, ohne dabei ihre Ideale zu verwerfen. Erleben Sie die berühmten Reden von Perikles, Kleon und anderen einflussreichen Persönlichkeiten, die leidenschaftlich für oder gegen die demokratischen Prinzipien argumentieren und so ein lebendiges Bild der politischen Landschaft Athens zeichnen. Untersuchen Sie die subtilen Hinweise, die Thukydides in seinen Schriften verbirgt, um seine eigene politische Haltung zu offenbaren, und bewerten Sie, ob er tatsächlich ein Feind der Demokratie war oder ein Verfechter einer gemäßigten Staatsform. Dieses Werk analysiert die Anforderungen, die Thukydides an einen idealen Staatsmann stellt – Weitsicht, Redekunst, Vaterlandsliebe und Unbestechlichkeit – und zeigt, wie diese Eigenschaften die politische Führung Athens prägten. Es beleuchtet die Rolle der Eliten in einer Demokratie, das Spannungsfeld zwischen Gesamtbürgerschaft und politischer Führung und die Bedeutung der Isonomie (Gleichheit) für das Staatsgefühl der Athener. Ergründen Sie, wie Thukydides’ Werk nicht nur ein historisches Dokument ist, sondern auch eine zeitlose Reflexion über die Natur der Politik, die Herausforderungen der Demokratie und die Bedeutung moralischer Führung. Tauchen Sie ein in die Welt des Thukydides und gewinnen Sie neue Einblicke in die Grundlagen unserer modernen politischen Systeme. Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für alle, die sich für antike Geschichte, politische Philosophie und die Entwicklung der Demokratie interessieren. Es bietet eine fundierte Analyse der thukydideischen Perspektive auf die athenische Demokratie, ihre Stärken und Schwächen, und regt zum Nachdenken über die aktuellen Herausforderungen unserer politischen Systeme an. Es ist eine brillante Analyse der politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr., die sowohl für Akademiker als auch für interessierte Leser von großem Wert ist. Entdecken Sie die zeitlose Relevanz des Thukydides für das Verständnis der politischen Dynamik und der Führungsprinzipien, die bis heute Gültigkeit haben.
Gliederung
1. Einleitung
2. Die Verfassungsformen der Demokratie bei Thukydides:
2.1. Äußerungen des Historikers über die Demokratie
2.2. Die Reden als Ausdruck demokratischen Denkens
2.2.1. Die Reden und das Urteil des Thukydides
2.2.2. Perikles, Athenagoras, Kleon, Diodotus und ihr Verhältnis zur Demokratie
1.3. Thukydides – ein Feind der Demokratie?
3. Gesamtbürgerschaft und Elite bei Thukydides:
3.1 Athen – eine Elitedemokratie?
3.2. Anforderungen an den thukydideischen Staatsmann
4. Schlusswort
5. Bibliographie
1. Einleitung
In seinem Werk „Der Peloponnesische Krieg“, schreibt der Historiker Thukydides über den Bürgerkrieg zwischen Athen und Sparta, den beiden Supermächten im Griechenland des 5. Jahrhunderts. Beide Städte stehen am Höhepunkt ihrer Macht und sehen einen kriegerischen Konflikt als unvermeidlich an. Es sollte ein Krieg mit davor nie gekanntem Ausmaß werden, noch größer und noch bedeutender als der Krieg gegen die Perser. Doch dieser Bürgerkrieg ist nicht nur der Kampf zweier Städte, sondern auch der zweier Systeme: Auf der einen Seite Sparta mit dem System der Oligarchie, auf der anderen Seite die demokratische Verfassung der Athener. Beide machen es sich zur Aufgabe, den Opponenten zu zerstören um Griechenland ein Leben in Freiheit zu ermöglichen. Da der aus Athen stammende Historiker eine neutrale Rolle einnehmen und das Kriegsgeschehen objektiv schildern will, verzichtet er darauf, ein System zu bevorzugen. In dieser Arbeit sollen die charakteristischen Elemente der athenischen Demokratie, die aus dem Werk des Thukydides hervorgehen, herausgearbeitet werden. Da sich der Historiker mit eigenen Kommentaren über die Merkmale der athenischen Verfassung meist zurückhält, gilt es, die in seinem Werk dargestellten Reden und die dort vorhandenen Plädoyers für oder gegen die Demokratie als Ausgangspunkt für Nachforschungen anzusehen.
Grund für Thukydides’ Zurückhaltung ist zum einen, dass er sich auf die Darstellung des Kriegsgeschehens beschränken möchte und zum anderen, dass er es nicht für nötig erachtet, auf wesentliche Hintergründe der Städte einzugehen, da die Zielgruppe seines Werkes, die Bürger Griechenlands um das 5. Jahrhundert v. Chr., über die damaligen Verhältnisse bescheid wussten.
2. Die Verfassungsformen der Demokratie bei Thukydides
2.1. Äußerungen des Historikers
Äußerungen über die Demokratie werden demnach ausnahmslos im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen gemacht.[1] Als der Historiker von der Erhebung der Eisphora 428/7 berichtet, geschieht dies nicht um einen Einblick in das Finanzwesen der Athener zu gewähren, sondern um die Folgen des Krieges zu veranschaulichen. Das Scherbengericht (Ostrakismos), welches ein probates Mittel war, um machthungrige, unfähige oder korrupte Politiker loszuwerden, wird nur erwähnt, als ein verächtlicher Politiker ausgeschaltet wird. Die Einführung der „Anklage wegen Gesetzeswidrigkeit“ wird nicht geschildert, lediglich deren Abschaffung durch den Rat der 400.[2] Die Diäten, die Politiker für die Bekleidung ihrer Ämter beziehen, finden lediglich im Rahmen des oligarchischen Umsturzes Erwähnung,[3] die Bildung von Demen wird nur kurz angeschnitten.[4] Der Rat und die Volksversammlung, beides elementare Bestandteile der athenischen Verfassung, werden nur als feste Einrichtungen der Demokratie angesprochen,[5] der Rat als ein Gremium, in dem die Tagesordnung der Volksversammlung vorbereitet wird, wird erst dann erwähnt, als Alkibiades die spartanische Gesandtschaft dazu überredet, im Rat etwas anderes vorzutragen als in der Volksversammlung, womit er erreicht, dass ihrem Anliegen misstraut wird.[6] Der Grund für das Überspringen des Rates und die Darstellung der Volksversammlung als Gremium, in dem die wichtigen Debatten geführt werden, ist, dass Thukydides Wiederholungen umgehen wollte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Rat der 500 keine Bedeutung hatte, noch beweist es, dass die Volksversammlung wichtiger gewesen wäre, was zudem umfassende Zeugnisse von Herodot und Aristoteles mit dem Inhalt, dass der Rat der 500 der Kern der Demokratie war, widerlegen.[7] Selbst die Dikasterien, die athenischen Gerichtshöfe, werden nur kurz beschrieben.[8] Bemerkenswert ist, dass auch der Rat der Strategen, in dem Thukydides mitwirkte, eine geringe Rolle in seinem Werk spielt, so bleibt die innenpolitische Geltung der Strategen unerwähnt und ihre Anzahl wird erst genannt, als sie verringert werden soll.[9] Einzig in Syrakus wird die Rolle der Strategen mit einem größeren Handlungsspielraum beschrieben, denn es war ein Stratege, der die Volksversammlung schließen ließ, in der Hermokrates vor der Expedition Athens warnte. Er lässt auch durchblicken, dass er mit seinen Kollegen Vorkehrungen für einen möglichen athenischen Angriff traf. Die Frage, ob Strategen dazu autorisiert waren, die Volksversammlung zu leiten oder nur einzelne Debatten, wird jedoch nicht geklärt.[10] Deutlich wird jedoch, dass jener anonyme Stratege mit seinen anderen Kollegen Kriegsvorbereitungen treffen konnte, ohne dass der Rat davon wusste.
Die Bezeichnung von Syrakus als Demokratie wirft die Frage auf, ob Thukydides das Losverfahren als unverzichtbar für eine demokratische Staatsform ansieht, da Syrakus es erst 413, also erst Jahre nach Thukydides’ Äußerung, einführt. Zuvor bezeichnete Herodot das Losverfahren als Kernelement der Demokratie, bei Thukydides bleibt es jedoch unerwähnt.[11] Eine große Bedeutung misst Thukydides den Verfassungsformen bei, da sie entscheidend für die Bündnissysteme seien, so scharen sich die Oligarchien um Sparta während die demokratischen Städte Athen vorziehen.[12] Am Beispiel des spartanischen Feldherren Brasidas, der versucht, athenische Bündner zum Abfall zu bewegen, illustriert Thukydides die Bedeutung der Verfassungsfrage.[13] Die Tatsache, dass der Redner Brasidas den Bürgern Akanthos versichert, ihnen keine Verfassungsform aufzwingen und ihren inneren Verhältnissen Respekt zollen will, beweist, welche Rolle die Verfassung auch für die Bürger spielt. Die vielen Verfassungsänderungen, die sich während des Krieges vollziehen, bleiben vom Historiker unerwähnt, auch die Verfassungsformen einzelner Städte werden nur am Rande erwähnt ohne näher darauf einzugehen, wie beispielsweise die von ihm als demokratisch bezeichneten Städte Athen, Argos, Mantineia, sowie einige sizilische Städte.[14]
2.2. Die Reden als Ausdruck demokratischen Denkens
2.2.1. Die Reden und das Urteil des Thukydides
Im allgemeinen sollte man die Reden im Werk des Thukydides nicht als Meinungsäußerungen des Historikers verstehen, jedoch darf zumindest vermutet werden, dass Thukydides zumindest bestimmte Reden in seinem Namen verfasste. Natürlich wäre es am günstigsten, wenn er diese mit einem klaren Kommentar versehen hätte, da die jedoch nicht der Fall ist, gilt es, die Voraussagen der Redner zu untersuchen. Es muss darauf geachtet werden, ob die Einschätzungen widerlegt werden indem Thukydides sie nicht eintreten lässt, sie sich zu eigen macht, oder ihnen widerspricht.[15] Kleon beispielsweise ist ein Musterbeispiel für einen Redner, dessen Voraussagen Thukydides fast nie eintreten lässt, Perikles manifestiert genau das Gegenteil, er genießt die Hochachtung des Historikers, seine Prophezeiungen und Vorschläge kommen immer im positiven Sinn zum Tragen.
Eigene Äußerungen des Historikers über die Verfassungen sind rar: Die heuchlerische Diskussion über die verschiedenen Verfassungstypen im Stasis-Exkurs wird von Thukydides als destabilisierender Faktor der Polis-Welt genannt. Zu Beginn des Exkurses legt er dar, weshalb innenpolitische Auseinandersetzungen im Verlauf des Krieges zunehmen. Als Ursachen nennt er die Verrohung der Sitten sowie die Bereitschaft, Bündnisse mit fremden Mächten einzugehen.[16] Weitere Überlegungen über die verschiedenen Verfassungen gibt es im Folgenden jedoch nicht, die Verfassungsdebatte ist weder in die Kriegsgeschichte eingebettet, noch ist eine Rede einer bestimmten Verfassung gewidmet. Mit Ausnahme von Peisandros, dem oligarchischen Verschwörer, der sich in seiner Rede schöner Formeln bedient, um seine Interessen durchzusetzen, wie Thukydides im Stasis-Exkurs brandmarkt, gibt es auch keinen anderen Redner, der auf diese Art und Weise und mit politischer Motivation spricht.[17]
Jedoch haben in einigen Reden Probleme von Verfassungen große Bedeutung, wie beispielsweise die Gefallenenrede, der Epitaphios und die Rede des spartanischen Königs.
Hier muss jedoch angemerkt werden, dass diese Reden nicht den Verfassungen, sondern mehr den Problemen städtischer Verfassungen gewidmet sind.[18] Die Reden, die im Werk des Historikers dargestellt werden, sind im allgemeinen nach dem sophistischen Prinzip im Paare dargestellt.[19]
2.2.2. Perikles, Athenagoras, Kleon, Diodotus und ihr Verhältnis zur Demokratie:
Die Rollen von Perikles als hochgeachtetem Redner und Kleon als oft kritisiertem, mit falschem Urteil handelndem Politiker, der von Thukydides sogar als gewalttätig bezeichnet wird, sind klar verteilt.[20] Von den beiden anderen Rednern wird Diodotus positiv erwähnt, Athenagoras negativ. Daher darf auch vermutet werden, dass die Einschätzungen von Perikles und Diodotus auch denen des Thukydides entsprechen, zumindest in Auszügen. Der Grund dafür, dass Perikles geschätzt und Kleon verachtet wird, ist nicht nur in der Differenz ihrer demokratischen Positionen, sondern in ihrer Herkunft zu suchen: Während Perikles ebenso wie Thukydides Aristokrat ist, stammt Kleon aus einfachen Verhältnissen, drückt sich vulgär aus. Zudem scheint Kleon Thukydides’ Verbannung vorangetrieben zu haben, was bedeutet, dass es eigentlich keine öffentlichen Gründe für die Missachtung, die Kleon entgegengebracht wird, gibt, sondern nur private.[21] Von Perikles wird angenommen, dass er aus „erzieherischen“ Gründen von Thukydides gelobt wird. Perikles’ Herrschaft stand für eine gemäßigte Demokratie mit ihm als demokratischem Führer, der eine klare Linie verfolgt. Dies bedeutet, dass Thukydides mit dieser Lobpreisung das Volk Athens von der radikalen Staatsform, die mit dem Tod des Perikles eingeleitet wurde, zu einer gemäßigten Demokratie zurückführen will.[22] Die politische Haltung der fünf Redner ist äußerst verschieden: Perikles und Athenagoras sprechen für die Demokratie, Kleon und Diodotus kritisieren sie.
In der Gefallenenrede rühmt Perikles die Demokratie als Lebensform.[23] Perikles erinnert die Athener an die Begründung der Freiheit durch ihre Ahnen und an die enorme Machtausweitung, deren Zeugen die Athener sein durften.[24] Er sieht die Verhältnisse der Polis als Grund für diesen Erfolg.[25] Perikles hebt hervor, dass die Verfassung der Athener von nirgendwo her übernommen wurde, ein athenisches Gut sei und aus einer Herrschaft des Volkes bestehe, in der alle Bürger gleich seien und keiner aus Armut zurückstecken müsse (Prinzip der Isonomie).[26] Er betont, dass der öffentliche Einfluss auf der Anerkennung der eigenen Fähigkeiten beruhe.[27] Auch der Lebensstil der Athener wird von ihm ausdrücklich gelobt: Toleranz, Achtung der Beamten, die Befolgung der Gesetze (geschrieben oder ungeschrieben)[28], Gestaltung des Alltagslebens durch Feste und die Offenheit gegenüber Fremden.[29] Perikles lobt die Athener dafür, dass ihre Gelöstheit nicht in Dekadenz münde. Trotz ihres großen Reichtums, ihres großen Machteinflusses, stellen sie ihre Finanzkraft nicht zur Schau, sondern setzen sie sinnvoll ein. Armut wird nicht als Schande empfunden. Die Athener seien trotz ihrer zahlreichen Beschäftigungen in der Lage, sich um die Politik zu kümmern,[30] was ihm auch sehr wichtig ist, da eine weitere positive Eigenschaft der Athener die Fähigkeit, Angelegenheiten richtig zu durchdenken, sei. In diesem Satz wird eine Trennung verschiedener politischer Funktionen, Entscheidungsfindung und Beschlussfassung, vorausgesetzt. In Perikles’ Rede hat es den Anschein, als ob alle Bürger an beiden Prozessen beteiligt seien, auch wenn er heraushören lässt, dass die eigentliche Entscheidungsfindung lediglich in den Händen von Wenigen liegt. Anschließend verbindet Perikles seine Aussagen mit einer Aufforderung, über die in der Volksversammlung abgehaltenen Reden nachzudenken.[31] Als Grund fügt er an, dass gerade das intellektuelle Handeln und die gewonnene Freiheit der Bürger dazu geführt habe, dass die Athener an Ansehen gewannen und von ihren Gegnern geschätzt wurden.[32]
Die Rede des Perikles illustriert das Ideal der Demokratie. Dabei muss jedoch betont werden, dass dieses Ideal nichts Abstraktes und Unerreichbares umschreibt, sondern etwas Konkretes, ein Paradigma der Demokratie. Die von Perikles umschriebene Lebensform ist eine Norm, etwas, an dem sich die Bürger festhalten und orientieren sollen.[33] Bei der Rede des Perikles bleiben Institutionen, der formelle Teilbereich der Demokratie, unerwähnt, während die Lebensform der Hauptinhalt der Rede ist.[34]
Der Syrakusaner Athenagoras beschuldigt die Gegner der sizilischen Expedition in Athen, nur um des eigenen Machtgewinns willen die Syrakusaner in Angst und Unruhe zu versetzen.
Jener gewollte Machtgewinn gehe von „den Wenigen", den Oligarchen aus.[35] Seine Gegner spricht Athenagoras als junge Männer an, die ein Amt bekleiden möchten, dieses aufgrund großer Kompetenz einfordern, aber aufgrund ihrer Jugend keine Erlaubnis haben.[36] Er fragt seine Gegner rhetorisch, ob sie sich den Gesetzen der anderen verweigern würden, ob für sie andere Gesetze gelten als für die Masse[37], ob Menschen nicht die gleiche Würde haben sollten. Hier wird ein Grundprinzip der Demokratie, dass gleiches Recht für alle gelten soll, die Gleichstellung vor dem Gesetz, angesprochen. Des weiteren wird von Athenagoras ein möglicher Einwand gegen die Demokratie genannt: Jemand könne behaupten, Demokratie sei weder gerecht noch gleich und es sei am Besten, wenn die Begüterten regierten.[38] Athenagoras entgegnet, dass es auch eine andere Vorstellung von Gleichheit gebe, eine Gleichheit entsprechend der Würde des einzelnen, die jedem eine bestimmte Aufgabe zukommen lässt, eine Auffassung, die dem Prinzip der funktionalen Differenzierung ähnelt. Athenagoras sieht 3 elementare Aufgabenbereiche:
1. Die Reichen als Wächter über die Geldgeschäfte und das Finanzwesen
2. Die Intellektuellen, die Verständigen, am meisten dazu geeignet Ratschläge zu erteilen.
3. Die Masse, deren Aufgabe es ist, zu entscheiden, nachdem sie über die Sachverhalte unterrichtet wurde und verschiedene Positionen gehört hat.
Diese Elemente hätten in einer Demokratie gleiches Gewicht. Seine Feststellungen sieht Athenagoras als offensichtlich an, er verzichtet auf eine Begründung. Vehement spricht sich der Redner gegen einen Anspruch der Aristokratie auf einen Platz in der Regierung aus. Einsicht sei nicht an Wohlstand gekoppelt, was jedoch nicht bedeuten soll, dass ein Platz in der Regierung für einen Reichen unerreichbar ist.[39] Am dritten Punkt wird die Bedeutung der Volksversammlung illustriert: Die Masse beurteilt den Inhalt der Reden, wird über die Sachverhalte unterrichtet und wägt ab, welche Entscheidung am besten für die Stadt und ihre Bevölkerung sein könnte. Das Zusammenspiel der drei Teile sieht Athenagoras in der Demokratie als gegeben an. Die Gewaltenteilung soll jedoch nicht der Überwachung gelten, wie beispielsweise im System der „checks and balances“, sondern ist dazu da, die verschiedenen Kompetenzbereiche der Bevölkerung am effektivsten zu nutzen, das bestmögliche Resultat zu erzielen. Da sich der Historiker Thukydides auf eine Beschreibung der Kriegsgeschichte konzentriert und die politische Ideengeschichte meist außen vor lässt, ist davon auszugehen, dass dies kein theoretisches Modell war, wie eine Stadt aussehen könnte, sondern dass diese Stadt schon besteht. Ob und inwiefern diese Rede die Verfassung von Syrakus beschreibt ist unklar, da nicht sehr viel über die syrakusanische Verfassung bekannt ist. Sicher ist nur, dass die Verfassung demokratisch ist. Die entscheidenden demokratischen Elemente, wie die Betonung der Gleichheit vor dem Gesetz, der Grundsatz, dass Reiche mit den Geldern der Stadt zu betrauen seien, sind alles auch Bestandteile der Verfassung anderer Städte, wie beispielsweise auch der besondere Einfluss der Rhetorik als Dokument demokratischen Denkens, was bedeutet, dass sie auch sehr gut zum demokratischen Athen jener Tage passen würden.[40]
Im Gegensatz zu Perikles und Athenagoras, den Befürwortern des demokratischen Systems, kritisieren Kleon und Diodotus die Demokratie. Beiden geht es um die Frage, ob ein gefasster Beschluss noch einmal widerrufen werden kann, was am Beispiel Mythilene konkretisiert wird. Die Redner haben, was die eigentliche Debatte angeht, gegensätzliche Positionen, jedoch stellen beide Erörterungen über die Volksversammlung an, welche Rolle sie im demokratischen Athen einnimmt. Kleon fordert seine Zuhörer auf, nicht schwankend zu werden, an ihrem Beschluss festzuhalten. Zu Beginn seiner Rede erklärt er, dass die Demokratie nicht für eine Herrschaft über andere geschaffen sei. Der Grund dafür sei das wankelmütige Volk, mit seinen emotionalen und oft zu voreiligen Entschlüssen. Diese Form der Beschimpfung hat nicht das Ziel, sein Unterfangen aufzugeben, sondern das Auditorium auf eigene Mängel und Fehler aufmerksam zu machen.[41] Besonderes Augenmerk legt Kleon zudem auf die Gesetze, deren Einhaltung für ihn von zentraler Bedeutung ist.[42] Wichtig ist ebenso , dass Kleon keinen Unterschied zwischen Volksbeschluss und Gesetz macht, was bedeutet, dass er der Meinung ist, dass einmal Beschlossenes Bestand haben sollte. Die Treue zum Gesetz wird gestützt durch Eigenschaften wie Besonnenheit und Einfachheit und wird gefährdet durch negative Eigenschaften wie Scharfsinn, der in Zügellosigkeit mündet. Da Eigenschaften wie Scharfsinn meist den aristokratischen Eliten zukommen, ist diese Punkt eindeutig ein Schlag gegen die Eliten. Kleon sieht das Volk mit seiner Einfachheit für geeigneter, das Gesetz einzuhalten und ihm gegenüber Treue zu halten. Die Eliten seien ungeeignet, die Stadt zu verwalten, da diese sich für klüger halten als das Gesetz und mit ihrem Scharfsinn mögliche Schwachstellen zu ihrem Vorteil ausnutzen. Demnach hält Kleon auch das einfache Volk für geeigneter, eine hohe Position einzunehmen und zu einer Stütze der Stadt zu werden. Jedoch haben auch die Bürger Anteil an der momentanen Lage, da sie sich den Rednern hingaben, dem Neuen mehr als dem gewohnten vertrauten[43], auch wenn es hier um die Zukunft der Polis ging. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Kleon in dieser Rede die richtige Mischung zwischen Polemik und schmeichelnden Worten fand. Kleon stellt das Verhältnis zwischen Masse und Elite, zwischen Redner und Volk schonungslos dar: Während sich die Redner profilieren, hört die Masse zu. Das Problem hierbei ist jedoch, dass die Politik der Redner von allen getragen werden muss, was auch der Anlass für Kleons Verstimmung ist. Zwar erkennt er die Existenz einer Elite in einer demokratischen Gesellschaft an, missbilligt jedoch ihre Vorherrschaft. Sie sieht er nicht als wünschenswert, sondern als Gefahr an. Kleon lobt die schlichten Gemüter, betont ihre Bedeutung für die Dauerhaftigkeit der Gesetze und rechtfertigt auch somit die Herrschaft der Massen, eines emanzipierten Bürgertums. Er ist somit ein Anhänger der radikalen Demokratie. Der nachfolgende Redner, Diodotus, greift Kleon an, weist darauf hin, dass es oftmals besser ist, sich mehrfach zu beraten und nicht hartnäckig auf einem einmal gefassten Beschluss beharrt. Zudem warnt Diodotus vor voreilig getroffenen Entscheidungen, da diese oft ins Unglück führen. Im allgemeinen ist Überstürzung für ihn nebst Zorn eine negative Tugend. Verstand ist für ihn eine äußerst positive Eigenschaft. Redner seien unverzichtbar, da nur sie eine differenzierte Meinungsbildung fördern.[44] Indem man Redner nicht zu exzessiv feiert, könnte man zudem vermeiden, dass sich dies kaufen lassen. Nicht nur Kleon, auch Diodotus kritisiert seine Zuhörer: Er will erreichen, dass das Volk mehr Vertrauen in seine Redner hat mit der Begründung, dass Redner länger nachdächten als andere und zur Verantwortung gezogen werden könnten.[45] Diodotus argumentiert von der entgegengesetzten Richtung: Er thematisiert die Verantwortlichkeit des Politikers, nimmt die Elite in Schutz, favorisiert eine Demokratie, die die Existenz einer Elite beinhaltet und kritisiert das Volk.[46] Trotz der Gegensätze haben beide Redner Gemeinsamkeiten: Beider argumentieren und sprechen für das Wohl Athens, beide sind gegen Mitleidsentscheidungen, thematisieren den Aspekt des Rechts und beschimpfen das Publikum um ein anderes Verhältnis zwischen den Rednern und der Zuhörerschaft zu schaffen, welches beide für gestört erachten.
2.3. Thukydides – ein Feind der Demokratie?
Der englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes, der das Werk des Thukydides ins Englische übersetzte, schrieb, dass „Demokratie falsch und ein Mann viel weiser als die ganzen anderen war.“ Die Intention, die Hobbes mit der Übersetzung und speziell mit dieser Aussage verfolgte, war, seine Landsmännern vor demokratischen Agitatoren zu warnen.
Doch ist es richtig, Thukydides als einen Mann zu bezeichnen, der in seinem Werk durchblicken lässt, dass er die Demokratie als falsch ansieht und ihr andere Staatsformen vorzieht? Hobbes sieht Thukydides als Monarchist, als ein Mann, der erkannte, dass die Demokratie falsch und nicht zu verwirklichen ist, streng nach Hobbes’ Motto „ der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Thukydides spricht jedoch nie davon, dass er Monarchie, Demokratie und Oligarchie als die einzig möglichen Staatsformen ansieht.
Den Kontrast, den er setzt, ist zwischen Despotismus und Unabhängigkeit. Aufgrund der Tatsache, dass Thukydides aus einer Adelsfamilie stammt, wird oft vermutet, dass er oligarchisch geprägt und Anhänger der aristokratischen Richtung ist, jedoch bleibt der absolute Beweis aus, für einen Oligarchen verhält sich Thukydides zu neutral.[47] Im allgemeinen lässt sich sagen, dass Thukydides weder Demokratie noch Oligarchie, der Herrschaft der Wenigen, den Vorzug gibt, niemals lässt der Historiker durchblicken, dass er eine bestimmte Staatsform favorisiert. Für die Generation des Thukydides, die den Perserkrieg miterlebt hatte, war die Gemeinschaft der Stadtbürger, ein harmonisches Zusammenleben aller in Freiheit alltäglich, ja normal. Erst mit dem Peloponnesischen Krieg änderte sich die innenpolitische Lage: Städte bekämpfen Städte, Bürger bekämpfen andere Bürger, ein Leben in Freiheit ist nicht mehr selbstverständlich, kleinere Städte werden von größeren unterjocht. „Die Wenigen“ und „die Masse“ wurden zu Feinden und die Gemeinschaft, die sie teilten und die eigentlich für eine gemeinsame Moral hätte sorgen müssen, wurde auseinandergerissen.[48] Thukydides bedauert diese Spaltung zutiefst und er verachtet Oligarchen wie Demokraten für ihr Handeln, er beschreibt beide Parteien als zerstörerisch gegenüber ihren Städten.[49] Die Athener unterwerfen kleinere Städte für die eigene Machterweiterung, die Spartaner machen es sich zur Aufgabe, der aus ihrer Sicht imperialistischen Politik Athens entgegenzuwirken, die Hellenen von der Vorherrschaft der Athener zu befreien, um deren Fehler in Wirklichkeit zu wiederholen, kleinere Städte zu unterdrücken um die Macht der Athener zu schmälern und ihre Rolle einzunehmen .[50] [51] Die vielseitigen und doch sehr unterschiedlichen Meinungen der Forscher führten dazu, dass Thukydides keine klare Position hinsichtlich der Verfassungen zugesprochen wurde, was im Prinzip auch der Intention des Historikers entspricht, der als neutraler Beobachter, so weit es ihm als Stratege möglich ist, den Krieg erzählen will.
Thukydides ist nicht für eine bestimmte Staatsform, er legt eher Wert auf die Einhaltung bestimmter Ideale wie Unabhängigkeit, gleiche Rechte, eine geordnete Regierung und Harmonie zwischen Regierenden und Regierten.[52]
3. Gesamtbürgerschaft und Elite bei Thukydides:
3.1. Athen – eine Elitedemokratie?
Aus heutiger Sicht spricht man von Athen als der Stadt, in der das Volk die meisten Rechte hatte. Die athenische Demokratie war eine unmittelbare Demokratie, in der das Volk an beinahe jedem entscheidenden politischen Prozess beteiligt war, ganz im Gegensatz zu modernen Demokratien, wo meist repräsentativen Kräften die Entscheidungen überlassen werden.[53] So übte das Volk volle Gesetzgebungs-, Regierungs-, und Gerichtsgewalt aus.[54] Auch die Kontrolle der Amtsträger war dem Volk zugedacht. Politische Ämter wurden durch das Losverfahren gerecht verteilt, so dass auch einfache Bürger Ämter innehatten. Auch Thukydides lässt keinen Zweifel daran, dass die Macht in der Hand des Volkes liegt: Die führenden Politiker, ausschlaggebend für die Entscheidungsfindung, werden von Thukydides als Anführer des Volkes bezeichnet, ohne jedoch die Ämter einzugehen, die die Politiker innehaben.[55] Auch die herausragende Bedeutung der Strategen werden von Thukydides nicht beschrieben, Ämter erscheinen dem Historiker als nicht erwähnenswert. Aber nicht nur innenpolitische Szenarien werden von Thukydides auf diese Art und Weise dargestellt, auch außenpolitisch wird gleichermaßen verfahren: Im Kampf Korinths gegen Korkyra kommen die „Athener“ Korkyra zu Hilfe, auch die Expedition nach Sizilien wird von „den Athenern“ geführt, einzelne Oberbefehlshaber werden nicht erwähnt.[56] Diese Art der Darstellung entspricht dem Kollektivgedanken der Athener: Athen legt großen Wert auf die Bedeutung des Demos als Ganzes. Athen soll eine Stadt sein, die nach den Interessen ihrer Bürger handelt. Verordnungen sind Ausdruck des Interesses der Stadt, die den Willen des gesamten Volkes repräsentieren.[57] Thukydides nimmt an, dass in den griechischen Staaten, ob oligarchisch oder demokratisch, die Entscheidungsgewalt nicht in den Händen einzelner liegt, sondern in der Hand des Kollektivs, der Gesamtbürgerschaft. Hier muss jedoch angemerkt werden, dass mit der wählenden Gesamtbürgerschaft nicht jeder in Athen lebende Mensch gemeint ist. An Volksversammlungen teilnehmen und für eine bestimmte Angelegenheit stimmen dürfen nur die mündigen männlichen Bürger, die in Athen geboren wurden. Frauen sollten gar nicht in der Öffentlichkeit auftreten, auch Sklaven haben nur wenige Rechte, ein Aspekt, der bei Thukydides nur wenig Beachtung findet.[58] Es stellt sich die Frage, wie die Vertreter der Oberschicht, die Adligen, einstmals Herrscher über Athen, mit der Verfassungsform der Demokratie, der Herrschaft der Masse, zurechtkommen. Am Beispiel des spartanischen Feldherren Brasidas wird, wie schon erwähnt, einerseits die Bedeutung der Verfassungsfrage illustriert, aber auch das Dilemma der Oligarchen: Während in einem oligarchischem Staat der Demos kein Mitspracherecht in einer Regierung hat, ist dies in einer Demokratie genau umgekehrt: Die Oberklasse ist allenfalls Teil der Regierung, wenn überhaupt. Ihr Wohlstand gibt ihnen keine Garantie, bietet ihnen keine Sicherheit, Teil der Regierung zu sein. Die Oligarchen sehen sich ihres natürlichen Rechts beraubt: Die Selbstverständlichkeit, zu regieren. Im Gegensatz zu den Demokraten, die neu erlangte Macht als Zeichen, als Symbol ihrer Freiheit sehen, wünschen sich die Oligarchen ebenso wie die Aristokraten Macht nicht um frei zu sein, sondern um ihre vorgesehene soziale Rolle einzunehmen. Die Rechtfertigung der Oligarchie stützt sich nicht auf die Erwartung der Freiheit, sondern auf persönliche Eigenschaften und Fertigkeiten: Oligarchie wird als eine überlegene Verfassungsform dargestellt, da politische Macht nur an diejenigen weitergegeben wird, die am besten dafür qualifiziert sind. In einer Demokratie sind jene, die sich aufgrund besserer Bildung dazu fähig sehen, Athen zu regieren, in einem System gefangen, in dem sie zwar teilnehmen, aber nicht dominieren.[59] Für den Adel wird die Demokratie zu einer schweren Bürde, da die ehemaligen Eliten individualistisch denken und nicht gemeinschaftlich. Sie kämpfen für die persönliche Ehre, nicht für ihren Stand, geschweige denn für die Stadt. Jedoch ist die Demokratie nicht für jeden Adligen, nicht für jeden Aristokraten, eine Katastrophe, da einzelne durchaus Wege fanden, sich zu entfalten um persönlichen Ambitionen zu genügen. Vor allem das Amt der Strategen bot eine gute Gelegenheit, sich zu profilieren, da diese angesehene Position gute Kenntnisse und Bildung voraussetzte, ein Anforderungsprofil, das viele Adlige aufgrund ihrer guten Ausbildung erfüllten. Auch die Rolle des Redners stand jener Schicht gut zu Gesicht, da eine gute rhetorische Ausbildung auch eher den gehobenen Schichten ermöglicht wurde.[60] [61] Da die meisten Ämter jedoch per Losverfahren ermittelt wurden, gerade um die Herausbildung einer politischen Elite zu verhindern, kann man nicht von einem Zusammenschluss der Oberschicht, der Formierung einer politischen Elite sprechen. Erst mit der Einstellung der Diäten im Zuge der beiden oligarchischen Umstürze 411 und 404 war es ärmeren Menschen nicht mehr vergönnt einer politischen Tätigkeit nachzugehen, so dass die reicheren Athener wieder zu ihrer „Bestimmung“ fanden, was jedoch nach den Wiedereinführungen der Demokratie wieder relativiert wurde.[62] In dieser Phase des Peloponnesischen Krieges offenbarte sich das Begehren der Oberschicht, Teil einer politischen Elite zu sein, indem durch die Degradierung der Bürger die Machtergreifung der Oligarchen eingeleitet wurde. Dies geschah in einer Phase, in der die militärische Niederlage nicht mehr abzuwenden war, was sich natürlich auch auf das System auswirkte, wenn auch nur für kurze Zeit.[63] Es muss festgehalten werden, dass Thukydides kein Anhänger der radikalen Demokratie war. Im Werk des Historikers werden Perikles und Hermokrates als Anführer der Stadt bezeichnet, als Männer, die die Interessen der ganzen Stadt vertreten. Die Bewunderung, die Thukydides gegenüber Perikles äußert[64], beweist, dass er keine radikale Demokratie favorisiert, da die Herrschaft des Perikles zwar eine Demokratie war, jedoch eine gemäßigte. Der Grund für den Argwohn des Historikers gegen eine radikale Form der Demokratie sind die Zweifel, die er gegen die Regierungsfähigkeit der Masse hegt: „Wankelmütig und unstet“ sind ihre Entschlüsse, bei Fehlentscheidungen werden die Politiker kritisiert, was diese dazu verleitet, unsachlich zu argumentieren.[65] Vernünftige und seriöse Beschlüsse sind folglich unwahrscheinlich, da es das Volk ist, das für Entscheidungen verantwortlich ist. Jedoch sollen diese Ergebnisse der Thukydides-Forschung nicht den Eindruck vermitteln, dass Thukydides das Volk verachte, da Thukydides durchaus gewillt ist, die Leistung der Gesamtbürgerschaft differenziert zu betrachten. So wird das Volk nicht nur negativ dargestellt: Die Warnungen des Perikles angesichts der Bedrohung durch die Spartaner stoßen im Volk auf Zustimmung.[66] Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass das Volk durchaus Potential zu vernünftigem und sinnvollem Handeln hat, dieses muss jedoch erst geweckt werden, was laut Thukydides am ehesten in einer Schreckenssituation, oder durch gut argumentierte Reden geschieht.[67] Im allgemeinen wird die Demokratie, die Herrschaft der Masse, als eine Staatsform dargestellt, in der der potentiell schädlichste Einfluss des Volkes möglich ist. Dies ist auch der Grund dafür, dass Thukydides eine Demokratie mit einem starken Führer, wie Perikles einer war, bevorzugt.[68]
3.2. Anforderungen an den thukydideischen Staatsmann:
Auch in einer Demokratie, der Herrschaft des Volkes, werden Amtsträger bestimmt, die das Volk informieren, beraten und leiten sollen. Im Werk des Thukydides treten viele verschiedene Führungspersönlichkeiten auf. Unter ihnen ist Perikles die Figur, die am positivsten beschrieben wird, an die kein Wort der Kritik gerichtet wird und die mit ihrer umsichtigen und weitsichtigen Politik Athen in ein besseres Zeitalter führen will. Doch nach welchen Kriterien urteilt Thukydides, welche Fähigkeiten machen Perikles zu einem so hochgeschätzten Politiker? Es stellt sich die Frage, welche Anforderungen der Historiker selbst an einen Staatsmann, an einen Führer des Volkes stellt, welche Eigenschaften den idealen Politiker auszeichnen sollten. Eine wichtige Fertigkeit, die der Historiker von einem Politiker erwartet, ist es, kommende Entwicklungen und Probleme zu erkennen, das Volk auf diese aufmerksam zu machen und die Vor- und Nachteile möglicher Optionen abzuwägen.[69] Die Fähigkeit des Vorhersehens ist die erste der vier Säulen, auf denen der ideale Staatsmann des Thukydides steht. Das Zukünftige zu erblicken und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen ist eine wesentliche Voraussetzung für einen guten Staatsmann.[70] Ein Politiker steht ständig zwischen Gegenwart und Zukunft, sollte sich demnach auch auf die Zukunft beziehen um sinnvoll planen zu können, was auch notwendig ist, da er, wenn er auf künftige Katastrophen oder Probleme nicht hingewiesen hat, für diese verantwortlich gemacht werden kann. Die Basis für das Lesen des Zukünftigen ist die Natur des Menschen, die sich ja laut Thukydides nicht verändert, sondern gleich bleibt.[71] Aufgrund der Wiederholungen und Parallelen, die es durch das Wesen des Menschen immer wieder gibt, ist es für den Politiker leichter, Kommendes zu sehen, das Keimende ausfindig zu machen. Um seine Erkenntnisse den Bürgern zu vermitteln und diese auch umzusetzen, ist eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit vonnöten, der Politiker sollte auf seiner Erkenntnis beharren.[72] Ein richtiger Ansatz allein reicht nicht aus. Um ein guter Politiker zu sein bedarf es der richtigen Deutung des Gesehenen, was die zweite Säule des Fundaments für den idealen Staatsmann ist. Die Deutung der Erkenntnis des Politikers geschieht mittels der Redekunst, der Politiker muss sein Volk lehren, ihm seine Ideen und Visionen nahe bringen.[73] [74] Aus diesem Grund reichen analytische Fähigkeiten allein nicht aus. Um das Volk zu lehren muss der Politiker teil des Volkes sein, im Einklang mit ihm stehen.[75] Um Teil dieses Volkes sein, zu wissen, wie es fühlt und zu spüren, was das Volk begehrt und um eine anziehende Wirkung auf die Massen zu haben, sollte der Staatsmann seine Stadt lieben, sein Amt in den Dienst des Staates oder der Stadt stellen, um als integrierter Teil der Gemeinschaft für ihr Wohl zu sorgen.[76] Die Liebe zur Stadt ist die dritte der vier Säulen, die aus dem von Solon eingeführten Gedanken der Isonomie hervorgeht: Die Isonomie (Gleichheit) ist Basis für das Staatsgefühl der Athener, diese fühlen sich stärker an ihre Stadt gebunden.[77] Thukydides fordert von allen Bürgern, ihre Stadt zu lieben, besonders jedoch von den Politikern, von den Rednern, die aufgrund ihres Amtes eine Vorbildfunktion haben. Diese Forderung kommt besonders im Epitaphios hervor, als Perikles von seinen Zuhörern verlangt, ihre Stadt zu lieben. Auch der vorher angesprochene Gemeinschaftsgedanke findet hier Erwähnung, dies wird am Beispiel der Gefallenen illustriert, die Verantwortung übernahmen und ihr Leben für die Stadt opferten.[78] Die Demokratie ist die Herrschaft des Volkes, eben deshalb muss ein jeder und vor allem die Politiker Verantwortung übernehmen, um die Gemeinschaft zu stärken.[79] Diese Gemeinschaft ist auch die Basis für einen erfolgreichen Politiker: Sind Volk und Politiker nicht im Einklang, so führt dies zu Unstimmigkeiten. Ein Politiker, der nur eigene Interessen durchsetzen möchte und nicht auf den Willen des Volkes eingeht, kann kein brauchbarer Staatsmann sein, sollte er noch so viel analytisches Talent besitzen.[80] Die Athener sind der Staat, ihr Wille ist Ausdruck des Wohles der Stadt. Um der Versuchung zu widerstehen, eigene Interessen vor das Wohl der Bürger und somit der Stadt zu stellen, bedarf es einer gewissen Selbstbeherrschung seitens des Politikers. Er soll auf keinen Fall käuflich sein, sondern seinen Dienst uneigennützig verrichten. Diese Unbestechlichkeit, die Thukydides fordert, ist die vierte und letzte Säule, die einen tiefgehenden, moralischen Ursprung hat: Der Führer des Staates soll moralisch denken und Handeln und seinem Volk ein gutes Beispiel sein. Thukydides lobt die Eigenschaft der Unbestechlichkeit bei Perikles, der sich selbst immer treu bleibt und sich nie von der Macht leiten lassen ließ.[81] Denn ein Führer, der seinen Prinzipien nicht treu bleibt, kann niemals die Massen führen, sondern verliert das Vertrauen.[82] Deshalb werden Politiker von Thukydides zu Besonnenheit und Beherrschung angehalten.
4. Schlusswort:
Thukydides aus Athen versteht sich als Historiker, als eine Person, die in ihrem Werk zum einen möglichst objektiv, zum anderen möglichst genau und detailliert den Peloponnesischen Krieg beschreibt. Dass er diesem Anspruch gerecht wurde, beweist die Kontroverse um die thukydideische Frage, die bis heute andauert. Doch ist Thukydides nicht weit mehr als ein Historiker, der seine Fakten stoisch in sein Werk einbringt? Die Art und Weise, mit der er die Gräueltaten der Athener und Spartaner beschreibt, hat nicht nur einen objektiven, sondern auch einen moralischen Wert. So verurteilt Thukydides beide Parteien für ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber Schwächeren. Im Epitaphios, der Gefallenenrede des Perikles, wird neben dem Selbstverständnis der Athener auch ein Paradigma des gesellschaftlichen Zusammenlebens geschildert, eine Idealform einer demokratischen Stadt. Es ist davon auszugehen, dass der Historiker diese Worte Perikles in den Mund legte, dass dieses Paradigma also auch nach Ansicht des Thukydides eine ideale Form des Zusammenlebens ist. Dieses Modellbeispiel gesellschaftlichen Zusammenlebens beinhaltet auch etwas normatives, eine Lebensorientierung für die Bürger Athens, die Aufstellung von Werten für ein sinnvolles Gemeinwesen. Den Grund dafür, dass die Bürger Athens eine Orientierung benötigen, etwas an dem sie festhalten können, sieht der Historiker in der Natur des Menschen, die im Kern gleich bleibt. Meiner Ansicht nach ist Thukydides aus Athen nicht nur Historiker, sondern auch ein Moralist, der die Massaker der beiden Städte verurteilt, ein Staatsdenker, der seine Vorstellung vom idealen Staatsmann darlegt, seinen Mitbürgern im Epitaphios eine Orientierung geben möchte, und ein Anthropologe, der das Wesen des Menschen erforscht.
5. Bibliographie:
Primärliteratur:
- Thukydides, der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1966.
Sekundärliteratur:
- G.F. Bender, Der Begriff des Staatsmannes bei Thukydides, Würzburg 1983.
- J. Bleicken, Die athenische Demokratie, München, Paderborn 1986.
- G. Cawkwell, Thucydides and the Peloponnesian War , London [u.a.] 1997.
- H.-J. Diesner, Wirtschaft und Gesellschaft bei Thukydides, Halle 1956.
- H. Diller, Freiheit bei Thukydides als Schlagwort und als Wirklichkeit, Gymnasium 67, 1962, 189-204.
- K. Gaiser, Das Staatsmodell des Thukydides. Zur Rede des Perikles für die Gefallenen, Heidelberg 1975.
- G.A. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen
- H. Leppin, Thukydides und die Verfassungsform der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v.Chr., Berlin 1999.
- A. Meder, Der athenische Demos zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, München 1938.
- J. Ober, Political Dissent in Democratic Athens, Princeton 1998.
- M. Pope, Thucydides and Democracy, Historia 37, 1988, 276-296.
- K.A. Raaflaub, Democracy, Oligarchy and the concept of the „free citizen“ in late fifth-century Athens, Political Theory 11, 1983, 517-545.
[...]
[1] H. Leppin, Thukydides und die Verfassungsform der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v.Chr., Berlin 1999, S.70f.
[2] Thukydides, der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1966, 8,67,2.
[3] Thukydides 8,65,3 ; 8,67,3.
[4] Thukydides 2,19,3 ; 2,23,1.
[5] Thukydides 8,66,1.
[6] Thukydides 5,45.
[7] M. Pope, Thucydides and Democracy, Historia 37, 1988, S.291.
[8] Thukydides 8,68,1.
[9] Thukydides 6,72,4.
[10] Thukydides 6,41.
[11] Thukydides 7,55,2.
[12] Thukydides 3,82,1.
[13] Thukydides 4,86,1.
[14] Leppin, S.71f.
[15] Leppin, 83ff.
[16] Thukydides 3,82,1 f.
[17] Thukydides. 8,53,2f.
[18] Leppin, S.82.
[19] A. Meder, Der athenische Demos zur Zeit des Peloponnesischen Krieges, München 1938, S.196.
[20] Thukydides 3,36,6
[21] George Cawkwell, Thucydides and the Peleponnesian War, London [u.a.] 1997, S.63.
[22] Meder,S.189.
[23] Thukydides. 2,35 – 46.
[24] Thukydides. 2,36,1-3.
[25] Thukydides. 2,36,4.
[26] Thukydides. 2,37,1.
[27] Thukydides. 2,37,2.
[28] Thukydides.2,37,2f.
[29] K. Gaiser, Das Staatsmodell des Thukydides. Zur Rede des Perikles für die Gefallenen, Heidelberg 1975, S.30ff.
[30] Thukydides.2,40,1.
[31] Thukydides. 2,40,2 f.
[32] Thukydides.2,41.
[33] Gaiser, S.60.
[34] Leppin.S.89.
[35] Thukydides.6,38,4.
[36] Thukydides.6,38,5.
[37] Thukydides.6,38,5.
[38] Thukydides.6,39,1.
[39] Leppin.89-92.
[40] Leppin.S.92f.
[41] Thukydides, 3,37,2.
[43] Thukydides, 3,37,3.
[44] Thukydides, 3,38.
[45] Thukydides,3,38,5f.
[43] Thukydides,3,42,1.
[44] Thukydides,3,42,2 .
[45] Thukydides,3,43,3.
[46] Thukydides,3,43,5.
[47] Meder, S.186.
[48] Pope,S.277.
[49] Thukydides, 3,82.
[50] Thukydides, 3,32,2.
[51] H. Diller, Freiheit bei Thukydides als Schlagwort und als Wirklichkeit, Gymnasium 67, 1962, S. 643.
[52] Pope.s.289.
[53] J. Bleicken, Die athenische Demokratie, München, Paderborn, 1986.S.387.
[54] Bleicken, S.136.
[55] Thukydides, 3,11,7.
[56] Pope, S.280.
[57] J. Ober, Political Dissent in Democratic Athens, Princeton 1998, S.69.
[58] H.-J. Diesner, Wirtschaft und Gesellschaft bei Thukydides, Halle1956, S.79f.
[59] K.A. Raaflaub, Democracy, Oligarchy and the concept of the „free citizen“ in late fifth-century Athens, Political Theory 11, 1983, S.525f.
[60] G.A. Lehmann, Oligarchische Herrschaft im klassischen Athen, S.94.
[61] Thukydides, 2,40,1f.
[62] Bleicken, S.235.
[63] Lehmann, S. 18ff.
[64] Thukydides, 1,139,4.
[65] Thukydides, 1,140,1.
[66] Thukydides, 2,65,2 .
[67] Thukydides, 8,94,4.
[68] Leppin, S.124-128.
[69] Thukydides, 2,64,6.
[70] Thukydides, 2,65,5.
[71] Thukydides 1,22,4.
[72] Thukydides 2,61,2.
[73] Thukydides 2.60,6.
[74] G.F. Bender, Der Begriff des Staatsmannes bei Thukydides, Würzburg 1983, S.10-16.
[75] Bender, S.17: Der Politiker muss „im Einklang mit dem Volk stehen, Fleisch von ihrem Fleisch und Geist von ihrem Geist sein“.
[76] Thukydides, 2,43,1.
[77] Bender, S.21ff.
[78] Thukydides 2,43,2.
[79] Bender, S.23: Der Staat ruht in den Bürgern und der Bürger erfüllt den Sinn seines Lebens in den Aufgaben des Staates.
[80] Thukydides 2,60,6.
[81] Thukydides 2,65,8.
Häufig gestellte Fragen
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Diese HTML-Datei enthält eine Abhandlung über die Verfassungsformen der Demokratie bei Thukydides, basierend auf seinem Werk "Der Peloponnesische Krieg". Sie untersucht Thukydides' Äußerungen zur Demokratie, die Rolle von Reden als Ausdruck demokratischen Denkens und die Beziehung zwischen Gesamtbürgerschaft und Elite im antiken Athen.
Welche Themen werden in der Abhandlung behandelt?
Die Hauptthemen sind:
- Thukydides' Sicht auf die Demokratie
- Die Rolle von Reden im demokratischen Diskurs
- Das Verhältnis zwischen Elite und Gesamtbürgerschaft in Athen
- Die Anforderungen an einen Staatsmann im thukydideischen Sinne
Welche Redner werden im Zusammenhang mit der Demokratie diskutiert?
Die Abhandlung analysiert die Positionen von Perikles, Athenagoras, Kleon und Diodotus in Bezug auf die Demokratie. Perikles und Athenagoras werden als Befürworter, Kleon und Diodotus als Kritiker dargestellt.
Wie wird Thukydides' eigene Haltung zur Demokratie interpretiert?
Die Abhandlung erörtert die Frage, ob Thukydides als ein Feind der Demokratie angesehen werden kann. Sie kommt zu dem Schluss, dass er weder Demokratie noch Oligarchie bevorzugt, sondern Wert auf Ideale wie Unabhängigkeit, gleiche Rechte und eine geordnete Regierung legt.
Was sind die Anforderungen an den idealen Staatsmann nach Thukydides?
Die Abhandlung identifiziert vier Schlüsseleigenschaften des idealen Staatsmannes: die Fähigkeit, kommende Entwicklungen zu erkennen, die Fähigkeit, diese Erkenntnisse richtig zu deuten, die Liebe zur Stadt und Unbestechlichkeit.
Welche Rolle spielt die "Gefallenenrede" des Perikles (Epitaphios) in der Abhandlung?
Die "Gefallenenrede" wird als Darstellung des Ideals der Demokratie analysiert. Sie betont die Lebensform, die Gesetze und das Volk.
Wie wird die athenische Demokratie im Hinblick auf die Rolle der Elite betrachtet?
Die Abhandlung untersucht die Frage, ob Athen eine Elitedemokratie war. Sie kommt zu dem Schluss, dass, obwohl die Macht nominell in den Händen des Volkes lag, die Aristokratie weiterhin Einfluss ausübte, insbesondere durch das Amt der Strategen und als Redner.
Welche bibliographischen Angaben sind enthalten?
Die Datei enthält eine Bibliographie mit Primär- und Sekundärliteratur, darunter Thukydides' Werk "Der Peloponnesische Krieg" sowie Analysen von verschiedenen Gelehrten.
Wer waren Kleon und Diodotos und welche Rollen haben sie gespielt?
Kleon und Diodotos werden als Kritiker der Demokratie dargestellt. Kleon wird von Thukydides sogar als gewalttätig beschrieben.
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- Matthias Bauer (Author), 2003, Thukydides und die athenische Demokratie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108395