Was bedeutet es, ein Mann zu sein? Diese intriguerende Frage zieht sich wie ein roter Faden durch eine tiefgreifende Analyse der Wandlung männlicher Identität im Laufe der Geschichte. Von den antiken Hochkulturen bis zur modernen Gesellschaft wird die Verlagerung des Fokus von den Hoden zum Penis als zentrales Symbol der Männlichkeit untersucht. Die Arbeit beleuchtet die historischen, sozialen und kulturellen Kräfte, die diesen Wandel vorangetrieben haben, und untersucht die Rolle von Kastration, Eunuchen und veränderten Sexualitätsvorstellungen. Dabei werden sowohl die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds als auch die soziologischen Perspektiven von Gordon Rattray Taylor kritisch betrachtet. Im Zentrum steht die Frage, wie sich das Verständnis von Männlichkeit im Laufe der Zeit verändert hat und welche Auswirkungen dies auf das Selbstverständnis von Männern und die Geschlechterbeziehungen insgesamt hat. Die Analyse der traditionellen Gesellschaft mit ihrer Betonung von Fortpflanzung und Familiengründung wird der modernen, von Individualisierung und sexueller Freiheit geprägten Gesellschaft gegenübergestellt. Es wird untersucht, wie sich der Wandel der Sexualität, die Entstehung der bürgerlichen Familie und die Kommerzialisierung von Sex auf das männliche Rollenbild ausgewirkt haben. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Rolle der Medien und der Popkultur bei der Konstruktion und Verbreitung von Männlichkeitsidealen. Abschliessend wird ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen gewagt, wobei Fragen nach der Enttabuisierung von Sexualität, der Rolle der Kirche und den Auswirkungen der Emanzipation auf das Verständnis von Männlichkeit aufgeworfen werden. Tauchen Sie ein in eine fesselnde Reise durch die Geschichte der Männlichkeit, die tradierte Vorstellungen hinterfragt und neue Perspektiven eröffnet. Diese Analyse bietet wertvolle Einblicke in die komplexen Zusammenhänge zwischen Körper, Kultur und Identität, und regt zur Reflexion über die Bedeutung von Geschlecht in der heutigen Gesellschaft an. Entdecken Sie, wie sich die Konstruktion von Männlichkeit im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat und welche Herausforderungen und Chancen sich daraus für die Zukunft ergeben. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich für Geschlechterforschung, Sozialgeschichte und die Psychologie der Sexualität interessieren.
Gliederung
1. Einleitung
2. Begriffsklärung
2.1. „Sex“ und „Gender“
2.2. Die Kastration
3. Der Eunuch
4. Der winzige Penis des David
5. Der Wandel der Sexualität
6. Fazit
7. Schlusswort
8.Literatur
1. Einleitung
In den letzen Jahrhunderten hat ein Wechsel stattgefunden: vom Hoden zum Penis als Träger der Männlichkeit.
Die folgende Arbeit beschäftigt sich damit, warum und wie dieser Wechsel zu stande kam. Ich beziehe mich hauptsächlich auf den Text von Gerhard Hafner: Das beste Stück – Kastration und zugehörige Ängste.
Zuerst bedarf es der Klärung einiger grundlegender Begriffe, wie Geschlecht oder Kastration. Ich gehe auf die Anfänge der Kastration ein und die künstliche Herstellung eines dritten Geschlechts: den Eunuchen. Danach werde ich mich mit Freud und Taylor beschäftigen, die jeweils eine andere Meinung über den Zeitpunkt des Paradigmenwechsels haben.
Der Wandel der Sexualität ist neben Freud und Taylor auch eine Möglichkeit, diesen Wechsel des Trägers der Männlichkeit zu erklären.
Am Ende habe ich versucht einen Ausblick auf die weiteren Entwicklungsmöglichkeiten darzustellen.
2. Begriffsklärung
2.1 „Sex“ und „Gender“
Der Mensch trägt in sich zwei Dimensionen der Geschlechtlichkeit. Zum einen das biologische Geschlecht („sex“), zum anderen das Soziale („gender“).
Das biologische Geschlecht wird als von der Natur gegeben verstanden. Zur Einteilung in die zwei Geschlechter, männlich und weiblich, werden die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale betrachtet. Hat der Mensch einen Busen, Vagina, Eierstöcke und Gebärmutter ist er eine Frau. Der Mann dagegen besitzt Penis, Hoden, Samenleiter usw. Es erfolgt immer eine klare Zuordnung.
„Gender“ dagegen wird mit der Sozialisation erworben. Der Mensch entwickelt sich zu einem handlungsfähigen, sozialen Wesen. Das Individuum erlernt anhand der Umgebung und Rollenerwartungen sein soziales Geschlecht zu erkennen und zu leben.
2.2 Die Kastration
Den Vorgang der Kastration will ich genauer erklären, bevor ich näher auf die Eunuchen eingehe.
Bei der Kastration werden die Hoden abgetrennt. Dadurch können sich weder Geschlechtshormone noch Spermien bilden. Die Folgen sind Zeugungsunfähigkeit, aber auch sinkende Potenz und Libido. Bei Männern führte dies meist zu psychischen Störungen bis hin zu Depressionen.
Die Kastration wurde auch als Entmannung bezeichnet. Es war also der Hoden, der den Mann ausmachte.
„Die Domestizierung der wilden Männlichkeit“
Nachdem der Mensch einige Schritte in der Evolution gemeistert und sich auch gesellschaftlich weiterentwickelt hatte, erwarb er die Fähigkeit, Felder zu betreiben und Vieh zu züchten. Dies führte er immer ertragreicher durch, so dass nun mehr produziert als für den Eigenbedarf gebraucht wurde.
Mit diesem Überschuss an Waren begann er zu handeln. Es erfolgte ein reges Tauschgeschäft.
In der Tierzucht setzten sich verschiedene, mit den Geschlechtsorganen zusammenhängende Methoden durch. So wurden zum Beispiel Stieren die Hoden abgetrennt nur mit dem Zweck der Mast und Zucht von Ochsen, welche ihre Energie nicht durch den Fortpflanzungswillen „verbrauchten“ und somit für die Mast geeigneter waren.
Deshalb nehmen Historiker an, dass mit den ersten Nutztieren die Kastration erfunden wurde. Der Hoden, der die Samen für die Fortpflanzung und Drüsen zum Ausstoß männlicher Sexualhormone in sich trägt, wurde einfach entfernt. Das war nicht sonderlich schwer, denn die männlichen Geschlechtsorgane sind durch ihre externe Lage einfach zu entfernen.
Komplizierter war dies bei den Eierstöcken. Die Kastration wäre mit einem chirurgisch schwierigen Eingriff verbunden, der in dieser Zeit medizinisch noch nicht möglich war oder bei Versuchen tödlich ausging.
Hafner datiert diese ersten Kastrationen zwischen 6200 und 4500 vor Christi Geburt.
Die Kastration sollte zur Domestizierung der wilden Männlichkeit dienen.
Allerdings wurden nicht nur Tiere domestiziert, sondern auch Männer, die dann „Eunuch“ genannt wurden. Diese Kastration von Männern erfolgte laut Taylor allerdings erst mit dem Entstehen von Städten, der zentralisierten Staatsmacht und Schriften – der „Wiege der Zivilisation“.
3. Der Eunuch
Unter dem Eunuchen versteht man einen durch Kastration zeugungsunfähig gemachten Mann. Selten wurden sie dem männlichen, sondern eher einem dritten Geschlecht zugeordnet.
Kastrationen konnten vielerlei Ursachen haben. So wurden besiegte Feinde entmannt um sie als Sklaven halten zu können. Die Eunuchen als Sklaven hatten keinerlei Rechte, konnten keine Familie gründen und waren von der Gnade ihres Herren abhängig.
Die Mythen sind eine wichtige Quelle für die Kastrationen von Nebenbuhlern, welche im Kampf um eine Frau ihre Hoden lassen mussten.
Ihre größte Bekanntheit erhielten Eunuchen aber vor allem in der Funktion der Haremswächter, also als Bewacher orientalisch- asiatischer Frauengemächer. Sie eigneten sich wunderbar, da sie nur Wache hielten und das Fremdgehen mit den Frauen durch die Kastration physisch unmöglich gemacht wurde.
In der christlichen Geschichte war die Kastration keine Strafe. Sie war die vor allem von Priestern genutzte Befreiung von sexuellen Bedürfnissen, sollte die Keuschheit und Reinheit verdeutlichen. Die Kastration wurde als göttlicher Gnadenerweis gesehen, denn bei den Christen sind die Geschlechtsorgane der Sitz der Erbsünde.
Im 18. Jahrhundert trat eine neue Form der Eunuchen in Erscheinung: die Kastratensänger. Im Zuge der Erfindung der Oper wurden viele junge Knaben entmannt, um damit die hellen, hohen Stimmen zu konservieren. Offiziell wurde dies verboten, in der Praxis jedoch trotzdem bis ins 19. Jahrhundert durchgeführt. Die Kastration musste vor dem Einsetzen der Geschlechtsreife erfolgen, war sehr schmerzhaft und erzwungen. Sie wurde verschleiert mit Ausreden wie: Reitunfall, Krankheit, Insektenstich usw.
Die Nebenwirkungen waren verheerend. Durch den Wegfall der Keimdrüsen konnten sich die Geschlechtshormone nicht mehr bilden, Kastratensänger hatten meist ein weibliches Aussehen, geringes Körper- und Muskelwachstum, kaum Sexualtrieb.
Der berühmteste Kastratensänger ist Farinelli. Es existiert sogar ein Film über ihn, der jedoch den aufgezeigten Eigenschaften eines Kastraten nicht gerecht wird. ( Farinelli-Il Castrato, I, 1995).
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts ließ die Nachfrage nach diesen Sängern nach.
Heutzutage ist die Kastration gesetzlich verboten. Ein Ausnahmefall besteht – bei der Geschlechtsumwandlung ist sie möglich und notwendig. Aber dabei wird nicht nur der Hoden entfernt, sondern auch der Penis. Diese „Transsexuellen“, welche sich mit dem falschen Geschlecht geboren fühlen, streben meistens die Geschlechtsumwandlung an, um ganz in dem empfundenen Geschlecht aufzugehen. Trotzdem werden ihnen durch gesetzliche Auflagen Tests und psychologische Gutachten vorgeschrieben, denn eine Rückwandlung ist nicht möglich, die Entscheidung zur Geschlechtsumwandlung muss also berechtigt und gefestigt sein.
Eine Kastration ist heute wie früher nicht rückgängig zu machen, die plastische Chirurgie kann lediglich Penisattrappen nachbilden, die wichtigen Hormondrüsen sind nicht ersetzbar.
Wenn man davon ausgeht, dass die Hoden entfernt wurden, um die Fortpflanzung zu verhindern, gibt es heutzutage neue Methoden, die die Reproduktion unterbinden. Bei der Sterilisation werden lediglich die Samenleiter durchtrennt, so dass die Hoden mit den Keimdrüsen erhalten bleiben.
Was ist mit den Frauen?
Die Kastration ist bei Frauen mit einem inneren Eingriff verbunden, der früher aufgrund der geringen medizinischen Fähigkeiten nicht durchführbar war. Heute lassen sich Frauen als vor allem als Verhütungsmaßnahme kastrieren. Dabei wird ihr Lustzentrum, die Klitoris, jedoch nicht entfernt. Jedoch wird bei einigen afrikanischen Volksstämmen das Ritual der Beschneidung noch gepflegt, um die Sexualität nur zu Fortpflanzungszwecken ohne Lustempfinden der Frau zu erreichen.
4. Der winzige Penis des David
Der Hoden besaß von der antiken bis zur traditionellen Gesellschaft eine besondere Stellung, beweisen lässt sich dies besonders gut anhand von zeitgenössischen Kunstwerken. So haben die römischen Statuen oder Michelangelos David einen kleinen Penis und einen großen Hoden.
Taylor datiert die Bedeutung des Hoden bis in das Mittelalter. Doch wieso verlor er den Status als „Träger der Männlichkeit“?
Besonders unter Freud gewann der Penis immer mehr an Beachtung. Freuds Psychoanalyse geht davon aus, dass die Umwelt das Kind in einem sehr frühen Stadium beeinflusst. Das Kind interagiert mit der Umwelt und erkennt, wie diese auf seine Interaktion reagiert. Die Entdeckung seiner Geschlechtsmerkmale und der eigenen Sexualität sind wichtige Schritte in der Sozialisation. Die Jungen entdecken ihren Penis. Gleichzeitig erkennen sie aber auch, dass bei einigen, den Mädchen, der Penis fehlt. Die Mädchen entdecken, dass bei ihnen der Penis fehlt. Das führt laut Freud zum „Penisneid“. Die Jungen bekommen Angst, dass man ihnen den Penis wegnehmen könnte und die Mädchen sind neidisch, dass sie keinen haben.
Somit spielt der Hoden in der Psychoanalyse keine Rolle, der Penis dafür eine tragende. „ Der Dreh- und Angelpunkt der Kastrationsangst und damit der Entwicklung des Über-Ichs im Ödipuskomplex sei also der Penis.“ (Hafner, S.116 im Reader).
Freuds umstrittene und oft kritisierte Psychoanalyse greift also den Penis als Träger der Männlichkeit auf.
Auch Taylor kritisiert diese, da seiner Meinung nach der Hoden über Jahrtausende hinweg eine bedeutende Rolle spielte, der Penis erst nur seit wenigen Jahrhunderten.
Die Kunst zeigt die neuzeitliche Bedeutung jedoch so deutlich, wie sie es auch bei dem Hoden gemacht hat. Dalis Werke heben besonders das Phallische hervor, meist in Übergröße dargestellt.
Die Medien sind voll mit penisbehafteten Themen: „Meiner ist am längsten, dicksten, breitesten“. Jungen vergleichen die Länge ihres Penis untereinander. Sogar die Frauenbewegung sieht den Penis als Statussymbol der Männlichkeit.
Wann erfolgte der Wechsel laut Taylor?
Nach Taylor verlor der Hoden seine Bedeutung im späten 16. Jahrhundert. Es herrschten Bedingungen, die den Menschen das Leben schwer machten: Übervölkerung, Massenarmut und Überproduktion.
Der Hoden symbolisiert die Reproduktion und Fruchtbarkeit. Er verlor durch die Umstände der Zeit an Bedeutung. Es wurde wichtiger das Bevölkerungswachstum einzustellen, um Armut und Elend zu verringern. Die Reproduktion und Fruchtbarkeit wurden von den alltäglichen Sorgen verdrängt und nach und nach gewann der Penis als Träger der Männlichkeit Bedeutung.
Daraus resultiert aber noch ein Faktor, der bei dem Paradigmenwechsel von Hoden zu Penis eine wichtige Rolle spielt:
5. Der Wandel der Sexualität
Die Zeit vor dem 18. Jahrhundert bezeichnet man als traditionelle Gesellschaft. 80% der Bevölkerung waren in der Agrarökonomie tätig, dementsprechend lebte der Großteil der Bevölkerung in einem bäuerlichen Milieu mit seiner charakteristischen Lebensform. Das ganze Haus wurde von Familie und Gesinde bewohnt, also wurden auch familienfremde Mitglieder integriert. Das Leben drehte sich darum, den Hof in Form einer Subsistenzwirtschaft zu bewirtschaften. Es wurde also nur für den Eigenbedarf produziert. Die Sexualität diente nur der Reproduktion, Kinder waren notwendige Mitarbeiter in Bauernfamilien und eine Art der Altersversicherung.
Im 18. Jahrhundert erfolgte ein langsamer Wandel der Gesellschaft zu dem, was man als moderne Gesellschaft bezeichnet:
Diese entwickelte sich aus den drei großen Revolutionen: der französischen, der industriellen und der kulturellen.
In dieser Gesellschaft herrschte das Ideal der bürgerlichen Familie vor. Durch die industrielle Revolution kam es zur Trennung von Arbeit und Wohnen: Produktion und Reproduktion.
Es gab eine Dominanz der Familienoptik. Die Ehe diente als Vorlauf zum Zweck der Familiengründung und nur in ihr durfte es Sexualität geben. Junge Frauen galten als gute Partie, solange sie unberührt und keusch den Bund des Lebens eingingen. Die Unschuld zu verlieren oder sogar uneheliche Schwangerschaften wurden von der Gesellschaft nicht geduldet. Somit vollzog sich die Werbephase, in der ein Mann seiner Angebeteten den Hof machte, asexuell.
Bei den Männern herrschte dagegen eine Art Doppelmoral. Offiziell war auch für sie die Sexualität erst in der Ehe erlaubt, aber voreheliches Erfahrungssammeln wurde mit einem Augenzwinkern hingenommen.
Die Ehe legalisierte die Sexualität, welche weiterhin der Fortpflanzung untergeordnet war.
Trotzdem gab es nicht mehr die typische Form der Großfamilie. Die meisten Familien dieser Zeit bestanden aus einem Ehepaar mit einem oder zwei Kindern.
Es kam aber auch zur Ausbildung polarer Geschlechtscharaktere. Durch die ökonomische Abhängigkeit der Frau von ihrem Mann und dem kulturellen Leitbild, das sich die Frau voll und ganz der Erziehung widmen sollte, wurde der Frau der Lebensbereich der „Familie“ und dem Mann der Lebensbereich der „Produktion“ zugeordnet.
Der Mann galt deshalb als rational und aktiv, die Frau eher als passiv und emotional. Das spiegelte sich auch im Verständnis von Sexualität wieder. Eine Frau, die sexuell aktiv war und Lust als Bedürfniss äußerte, galt als abnormal. Sie sollte sich lediglich hingeben und die Bedürfnisse ihres Ehemannes erfüllen.
Sieht man sich die Ratgeber dieser Zeit an, erkennt man viele Anhaltspunkte die diesen Umgang mit der Sexualität lehrten. Trotzdem lebten die Menschen nicht so, wie es sich die Herausgeber dieser Hefte wünschten. Es gab immer öfter allein erziehende Frauen, die „Bastarde“ zur Welt brachten, Kinder, die keinen Vater hatten und geächtet und gemieden wurden.
Außerdem wurden sehr viele Mussehen geschlossen. Die Frau war schon schwanger und der gesellschaftliche Druck war so groß, das noch schnell geheiratet werden musste, um das ganze zu vertuschen oder wenigstens im Nachhinein zu legalisieren.
Doch der Wandel der Sexualität war noch nicht beendet.
In den 50ern/60ern war dieses kulturelle Ideal immer noch weit verbreitet. Ratgeber warnten immer noch vor außerehelicher Sexualität. Doch die Realität zeigt immer deutlicher anderes: Es gab eine hohe Anzahl von Erstgeborenen innerhalb der ersten neun Monate nach der Eheschließung. So ist das kulturelle Modell zwar noch vorhanden, aber die Moralvorstellungen weisen langsam Brüche auf.
Die Anzahl der Frauen, die aus dem Haus gingen um einen Beruf auszuüben, nahm zu. Sie erreichten damit finanzielle Unabhängigkeit von den Männern. Da diese Frauen meist alleine lebten, hatten auch die Eltern keine so große Kontrolle mehr über ihr Leben und den Umgang mit Sexualität.
In den 60ern/70ern wurde die Pille erfunden. Sie kam 1961 zum ersten Mal auf den Markt. Allerdings wurde nicht für sie geworben, sondern nur unter der Hand von den Ärzten verteilt. Die Zeitung „Der Stern“ entdeckte diesen Umgang mit dem Medikament. Entgegen der allgemeinen Annahme („Pillenknick“) verursachte die Pille weder den Geburtenrückgang noch die Freisetzung der Sexualität. Vielmehr führte eine Vielzahl von Veränderungen in der Gesellschaft dazu. Alternative und wirkungsvolle Verhütungsmethoden waren damals jedenfalls schon vor der Pille vorhanden.
Aber eines wird in dieser Zeit erkennbar: die Reduzierung der Frau auf die Rolle der Ehegattin und Mutter wird brüchig.
Die Entwicklungen haben heute einen neuen Stand erreicht. Es hat sich ein tief greifender kultureller Wandel ereignet. Die Doppelmoral der männlichen Sexualität ist verschwunden. Es folgten Veränderungen der geschlechtsspezifischen Muster, die in der traditionellen Gesellschaft als naturgegebenen legitimiert waren. Die Sexualität entkoppelte sich von der Ehe. Jetzt darf auch die Frau über ihre Sexualität selbst bestimmen und ihre Bedürfnisse frei von gesellschaftlichen Zwängen ausleben.
Der sexuelle Erfahrungsvorsprung der Männer ist verschwunden. So machen die meisten Mädchen ihren ersten sexuellen Erfahrungen im gleichen Alter wie Jungen, momentan durchschnittlich im Alter von ca. 16 Jahren.
Vor allem aber dient die Sexualität nicht mehr allein der Fortpflanzung. Im Gegenteil, die Befriedigung von Lust bzw. Bedürfnissen stehen heute im Vordergrund.
Es erfolgt eine Enttabuisierung von Sexualität, die man in jedem Lebensbereich beobachten kann. Kinder werden in der Schule oder durch die Medien aufgeklärt. Meistens wissen sie schon Bescheid, ehe die Eltern die „Bienen zu den Blüten fliegen lassen“. Man redet offen über Sexualität. Aber vor allem sind die Werbephasen nicht mehr asexuell. Heute beginnen die ersten sexuellen Interaktionen in der Aufbauphase/Kennenlernphase. Aber selbst daran ist Sexualität auch nicht mehr geknüpft. Man sieht sich einmal, befriedigt seine Lust und geht wieder – und nennt das ganze One-Night-Stand. Damit wird die Sexualität freigesetzt von jeglicher Beziehung und dient nur der momentanen Befriedigung.
Auch die Frau darf ihre Lust voll ausleben. Sex ist nicht mehr nur eheliche Pflicht, sondern Lusterfüllung.
Man kann diesen Wandel deutlich an Zeitschriften, Büchern etc. erkennen. Diese sind voll mit Tipps zu einer ausgefüllten Sexualität, Praktiken, Erlebnissen usw., welche die Befriedigung der Frau als oberstes Ziel besitzt. Es wird heutzutage alles offen gelegt.
Die Werbung profitiert von Sex: „Sex sells“. Das Fernsehen ist voll von Bildern von nackten, entblößten Körpern, welche meist nur noch die älteren Generationen schockieren. Diese sind noch in ihren kulturellen Idealen gefestigt und schütteln den Kopf oder schauen angewidert zur Seite, wenn gerade wieder einmal eine Frau ihre nackte Brust im Fernsehen zeigt.
Die sexuellen Normen weichen langsam auf. Es gibt nichts mehr zu verstecken. Kann man da nicht die These aufstellen: Wo das Verbot fehlt, fehlt die Lust? Das wäre aber wieder ein neues Thema.
Dieser Wandel der Sexualität zeigt den Weg fort von einer Reproduktion hin zur Lusterfüllung.
Vergleicht man dies mit dem Wechsel des Trägers der Männlichkeit, fällt auf, das der Hoden das Symbol für Reproduktion, Fortpflanzung ist. Der Penis verkörpert eher dieses Lustprinzip. Männer machen sich heutzutage viel mehr Sorgen um die Größe ihres Penis, als um ihre Hoden. Die Zahl der Mittel, die gegen Impotenz helfen soll, steigt stetig an. So ist nicht nur die Erfüllung des eigenen, männlichen Bedürfnisses ein Ziel, sondern auch das „Glücklichmachen“ der Frau. Die Angst zu versagen ist groß und führte so auch zum besonderen Erfolg des potenzsteigernden Mittels Viagra. Es verkaufte sich am Anfang massenhaft und hat inzwischen einen breiten Kundenkreis. Neben der Einführung konnte man auch die „Erfolge“ in den Medien verfolgen. So hat ein Mann, der gleich drei Pillen auf einmal nahm, eine 1 stündige Dauererektion durchgemacht.
Die Massenmedien als eine der wichtigen Sozialisationsinstanzen beeinflussen die Entwicklung der Sexualität sehr stark. So werden Männer durch Ideale wie großer Penis, Ausdauer im Liebesakt, vollständige Befriedigung der Frau genauso unter Druck gesetzt, wie die weibliche Bevölkerung. Diese muss bestimmte Schönheitsideale erfüllen, darf, um nicht als frigide oder prüde zu gelten, auch keine Lustlosigkeit oder Scham im Bett zeigen.
Die Masturbation, welche vor allem für Frauen tabu war, wird heute öfter thematisiert. Luststäbe werden inzwischen von jedem Versandhaus offen angeboten – und sie sind an die Phallusform angelehnt und dienen der Triebbefriedigung, nicht der Fortpflanzung. Mit diesem Ziel stimulieren auch die Männer ihren Penis, nicht den Hoden.
Man liest Zeitungsartikel, in denen Frauen ihre Männer mit Messern kastrieren, weil sie Affären haben. Ihnen wird nur der Penis abgetrennt. Vom Hoden ist nicht mehr die Rede.
Der Träger der Männlichkeit ist heute der Penis, doch was wird es in weiterer Zukunft sein?
Ausblick auf die Zukunft
Was passiert, wenn die Sexualität immer weiter enttabuisiert wird? Werden wir noch Spaß an der Sexualität haben? Wird es nicht langsam normal, ständig nackte Frauen und Männer in den Medien zu sehen. Wie werden unsere Kinder damit umgehen?
Entweder wird das Verhältnis zur Sexualität noch entspannter und weniger stark Moral und Normen behaftet oder man verliert die Lust.
Vielleicht kann man schon Tendenzen erkennen.
In Umfragen ergab sich, dass Paare, die schon länger zusammenlebten, weniger Sex haben, als am Anfang ihrer Beziehung. Verliert die Sexualität ihre Bedeutung? Setzt man mehr auf Vertrauen und Treue, aber vor allem Liebe?
Sinkende Geburtenzahlen zeigen auch: die Nutzung der Sexualität zur Reproduktion nimmt weiter ab.
Auch das immer weiter sinkende Durchschnittsalter der ersten sexuellen Erfahrungen wirft Fragen auf: Wie tief ist ein Sinken biologisch möglich? Wird nicht durch Druck durch die Umwelt eine Art Zwang des Erlebens ausgeübt?
Ein genauer Blick in die Zukunft ist wie bei allen Prognosen leider nicht möglich.
Exkurs: Das Verhalten der (christlichen) Kirche
Das frühe Prinzip: „Seiet fruchtbar und mehret Euch“ wird durch die Kirche auch heute noch vertreten.
Die Kirche stellte sich früh gegen sexuelles Verlangen und Triebausleben. Sexualität soll lediglich der Fortpflanzung dienen. Die christliche Moral prägte die traditionelle Gesellschaft viel stärker, als es heute der Fall ist. Die christliche Moral steht in der modernen Gesellschaft nicht so deutlich im Vordergrund, aber sie ist auch heute immer noch vorhanden.
Das Motto der Kirche kann man zusammenfassen: Je weniger Sexualität, desto besser. Um es mit treffend mit Rattrays Worten zu sagen: „ Mit der Errichtung der christlichen Kirche wurde die Straße der Sexualität für den Verkehr geschlossen und die Straße der Religion von der Polizei streng überwacht.“ ( Rattray,1957, S.:268-269).
Es herrschten strenge Regeln. Nicht nur Sexualität wurde bestraft, sondern auch unreine Gedanken versuchte man den Leuten auszutreiben. Man musste alles beichten, um sich von den Sünden freisprechen zu lassen.
Aber auch die Kirche konnte den gesellschaftlichen Wandel nicht aufhalten und musste sich den modernen Lebensbedingungen anpassen. Sie muss einige Dinge akzeptieren, wie den vorehelichen Sex oder Kinder ohne Trauschein.
Aber ihre Normen und Vorstellungen sind nicht verblasst. In vielen Ländern, wie Spanien und Italien sind diese noch sehr in das gesellschaftliche Leben eingebunden.
Es gibt auch Vereine und Religionsgruppen, welche gegen den Sex vor der Ehe sind. Diese bestehen hauptsächlich aus jungen Menschen, die sich ihre Jungfräulichkeit für den ersten Mann/die erste Frau, in der Hochzeitsnacht aufheben möchten. Vielleicht ein Mittel um eine Halt in der Enttabuisierung zu finden?
Die Kirche hat sich aber schon deutlich in ihren Ansichten zur Sexualität gewandelt. Sie musste einsehen, dass sie mit der Zeit bzw. dem Wandel gehen muss, um ihre Stellung im Leben der Menschen zu behalten. Denn für viele Menschen spielt die Religion trotz des Fortschritts und der Rationalisierung immer noch eine bedeutende Rolle.
6. Fazit
Der Paradigmenwechsel lässt sich gut verstehen, wenn man diesen über das Geschlecht des Eunuchen betrachtet, aber auch den Wandel der Sexualität und die Stellung der Kirche nicht außer Acht lässt. Erst durch diese Blickpunkte lässt sich der Wechsel des Trägers der Männlichkeit nachvollziehen.
Trotzdem stellen sich mir noch einige Fragen, die unbeantwortet blieben.
Ich bin davon ausgegangen, dass die Zeit, die Kultur und die Gesellschaft in der ich aufgewachsen bin und lebe, die Genitalien eines Menschen als Ganzes betrachtet. Ich betrachte die Hoden und den Penis eines Mannes nicht getrennt, sondern als eine Einheit der Fruchtbarkeit und Lustbarkeit. Da nur der Mann in dem Text thematisiert wird, ist die Frage interessant, wie das bei Frauen aussieht.
Auch heute noch, besonders in Zeiten der Emanzipation, wird der Mann angegriffen, weil er mit seinem kleinen Freund denkt. Aber wo wird der Geist des Mannes untergebracht?
Frauen beschweren sich, wenn sie nur auf ihr Äußerliches reduziert werden, aber tun wir das nicht auch mit dem Mann, indem wir ihm Entscheidungen absprechen, da er sie lediglich mit seinen Genitalien gedacht hat?
Männlichkeit ist für mich das Zusammenspiel von biologischem und sozialem Geschlecht. Der Träger dafür ist der Mann als Ganzes. Frauen mögen es nicht, reduziert zu werden, warum sollte man es da bei den Männern machen?
Genitalien haben für mich keine gesonderte Stellung am Menschen, oder in diesem Fall am Mann. Er ist ein Ganzes, so wie er vor mir steht.
Sexualität verbinde ich nicht nur mit seinem Penis, sondern auch mit seinem Lächeln oder seiner Art mit mir zu sprechen.
Fortpflanzung verbinde ich mit seinem Hoden, aber auch mit seinem Penis, durch den die Samen weitergeleitet werden, wenn man mal von den seltenen Fällen, wie Samenraub, absieht.
7. Schlusswort
Dieses Essay sollte zeigen, das sich dieser Paradigmenwechsel tatsächlich vollzogen hat.
Aber was wird die Zukunft mit sich bringen?
Vielleicht bewegen wir uns auf eine Einheit von Penis und Hoden als Träger der Männlichkeit zu? Und was für eine Rolle spielt die Emanzipation der Frau dabei?
Fragen, die vielleicht die nachfolgenden Generationen beschäftigen.
8. Literatur:
- Burkart, Günter: Lebensphasen-Liebesphasen. Vom Paar zur Ehe, zum Single und zurück? Leske und Budrich: Opladen, 1997. S.: 35-56, 167-212.
- Hafner, Gerhard: Das beste Stück. Kastration und zugehörige Ängste. Reader: Männlichkeit. Tu-Dresden, 2003. S.: 111-117.
- Heicker, Dino: Evviva il Coltello. Kastratensänger und die Konstruktion des dritten Geschlechts. In: Ehlicher; Siebenpfeiffer: Gewalt und Geschlecht. Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert. Böhlau-Verlag: Köln, 2002. S.: 145-166.
- Lenz, Karl: Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. Westdeutscher Verlag: Opladen, 1998.
- Ortkemper, Hubert: Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten. Huschel-Verlag: Berlin, 1993.
- Taylor, Gordon-Rattray: Wandlungen der Sexualität. Eugen-Diedrichs-Verlag: Köln, 1957.
- Tuchel, Susann: Kastration im Mittelalter. Droste-Verlag: Düsseldorf, 1998.
- Schmidt, Gunter: Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral. Rowohlt-Verlag: Reinbek, 1998. S.: 37-48.
Internet (Stand: 23.06.03):
- http://www.infobitte.de/free/lex/allglex0/e/eunuch.htm
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in dem Text "Gliederung"?
Der Text untersucht den Wandel vom Hoden zum Penis als Träger der Männlichkeit in den letzten Jahrhunderten. Er analysiert, wie und warum dieser Wechsel stattfand, unter Bezugnahme auf Gerhard Hafners Text "Das beste Stück – Kastration und zugehörige Ängste".
Welche grundlegenden Begriffe werden im Text geklärt?
Der Text klärt die Begriffe "Sex" und "Gender" sowie den Vorgang der Kastration. "Sex" wird als biologisches Geschlecht und "Gender" als soziales Geschlecht definiert. Die Kastration wird als Abtrennung der Hoden beschrieben, mit den entsprechenden Folgen für Hormonproduktion, Potenz und Libido.
Was ist ein Eunuch laut dem Text?
Ein Eunuch ist ein durch Kastration zeugungsunfähig gemachter Mann, der oft nicht dem männlichen, sondern einem dritten Geschlecht zugeordnet wurde. Kastrationen konnten verschiedene Ursachen haben, wie die Versklavung besiegter Feinde oder die Verwendung als Haremswächter.
Welche Bedeutung hatte der Hoden in der Antike und traditionellen Gesellschaft?
Der Hoden hatte eine besondere Stellung, was sich in zeitgenössischen Kunstwerken wie römischen Statuen oder Michelangelos David zeigt, die einen kleinen Penis und einen großen Hoden darstellen. Laut Taylor verlor der Hoden seine Bedeutung erst im späten 16. Jahrhundert.
Wie erklärt Freud den Bedeutungswandel vom Hoden zum Penis?
Laut Freuds Psychoanalyse gewinnt der Penis an Bedeutung, da die Jungen im frühen Stadium ihrer Entwicklung ihren Penis entdecken und gleichzeitig erkennen, dass bei Mädchen der Penis fehlt, was zum "Penisneid" führt. Der Penis wird somit zum Dreh- und Angelpunkt der Kastrationsangst und der Entwicklung des Über-Ichs im Ödipuskomplex.
Welche Rolle spielt der Wandel der Sexualität bei dem Bedeutungswandel?
Der Wandel der Sexualität von einer traditionellen Gesellschaft, in der Sexualität hauptsächlich der Reproduktion diente, zu einer modernen Gesellschaft, in der die Befriedigung von Lust und Bedürfnissen im Vordergrund steht, spielt eine wichtige Rolle. Der Hoden symbolisiert die Reproduktion, während der Penis eher das Lustprinzip verkörpert.
Wie hat sich die Sexualität in den letzten Jahrhunderten verändert?
Die Sexualität hat sich von einer reinen Reproduktionsfunktion hin zur Lusterfüllung entwickelt. Die Doppelmoral der männlichen Sexualität ist verschwunden, und Frauen dürfen ihre Sexualität selbst bestimmen und ihre Bedürfnisse frei von gesellschaftlichen Zwängen ausleben. Die Sexualität hat sich von der Ehe entkoppelt.
Welche Rolle spielt die Kirche in Bezug auf die Sexualität?
Die Kirche vertritt das Prinzip "Seiet fruchtbar und mehret Euch" und stellte sich früh gegen sexuelles Verlangen und Triebausleben. Sie prägte die traditionelle Gesellschaft stark, musste sich aber den modernen Lebensbedingungen anpassen und einige Dinge akzeptieren, wie vorehelichen Sex oder Kinder ohne Trauschein.
Welche Fragen bleiben am Ende des Textes offen?
Es bleiben Fragen offen, wie die Genitalien eines Menschen als Ganzes betrachtet werden und wo der Geist des Mannes untergebracht ist. Auch die Rolle der Frau in Bezug auf Männlichkeit und die Frage, ob wir uns auf eine Einheit von Penis und Hoden als Träger der Männlichkeit zubewegen, bleiben unbeantwortet.
- Quote paper
- Simone Riecke (Author), 2003, Vom Hoden zum Penis - Erklärung über den Paradigmenwechsel des Trägers der Männlichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/108222