Inhalt
- Einleitung
- Der Erziehungs- und Bildungsbegriff in Niklas Luhmanns Systemtheorie
- Systemtheoretische Grundlagen
- Erziehung/Bildung/Sozialisation
- Der Wandel in Luhmanns Erziehungsbegriff in Bezug auf Medium und Code
- Systemtheorie in pädagogischer Praxis
- Luhmanns Motivation und die Bedingungen der Möglichkeit konkreter Umsetzung
- Praktische Empfehlungen
- Zusammenfassung
- Literaturverzeichnis
Einleitung
Wenn man als StudentIn der Erziehungswissenschaft zum ersten Mal mit Niklas Luhmanns Systemtheorie konfrontiert wird, stellt sich zunächst die verwunderte Frage, was denn ein Soziologe wie er mit der Pädagogik zu schaffen haben soll. Sobald sich dann aber nach harter geistiger Arbeit ein gewisses Verständnis dieser anspruchsvollen Theorie und eine Übersicht über sein Werk einzustellen beginnen, wird man immer wieder Texten begegnen, in denen er explizit auf das Bildungssystem Bezug nimmt. Immer wieder richtete Luhmann seine Apelle an die Pädagogik und forderte sie heraus, sich mit seinen Analysen ihres Systems auseinanderzusetzen, zumal er ihr ein beklagenswertes Manko an theoretischer Fundierung bescheinigte.
Diesem Ruf folgten auch tatsächlich mit der Zeit immer mehr ErziehungswissenschaftlerInnen; und so wurde für mich die Frage interessant, ob denn aus dieser gegenseitigen Faszination und Zusammenarbeit auch konkrete Ergebnisse und neue Ansätze für die praktische Pädagogik und Didaktik entstanden seien, und was man sich im gegebenen Falle davon erhoffen könne. Tatsächlich stieß ich trotz anfänglicher Skepsis auf unerwartet viele und überzeugende Umsetzungen, die ich im zweiten Teil dieser Arbeit vorstellen möchte. Um diese Ansätze jedoch in ihrem theoretischen Zusammenhang verständlich zu machen, halte ich es für nützlich, zuerst einen Überblick über die wichtigsten sowie die in diesem Zusammenhang relevanten Grundzüge der Systemtheorie Luhmanns zu geben.
Auch soll gezeigt werden, daß noch keineswegs Grund besteht, sich auf dem auszuruhen, was auf der Theoriebene bisher für die Pädagogik erreicht wurde, zumal Luhmann selbst noch zu keiner abschließenden systemtheoretischen Beschreibung des Erziehungssystems gekommen ist. Daß aber eine intensive theoretische Bearbeitung der Pädagogik auch aus 'fachfremder', soziologischer Sicht durchaus wertvolle und fruchtbare Anregungen liefern kann, wird diese Arbeit, so hoffe ich, zeigen.
Der Erziehungs- und Bildungsbegriff in Niklas Luhmanns Systemtheorie
Systemtheoretische Grundlagen
Seit seiner Studienzeit in den sechziger Jahren, als er in Harvard Talcott Parsons' Systemtheorie kennenlernte, hat sich der ehemalige Verwaltungsbeamte Niklas Luhmann intensiv mit dieser befaßt und sie kontinuierlich weiterentwickelt und ausgebaut.1 Weitere Einflüße aus der systemtheoretisch behandelten Naturwissenschaft wie von Varela und Maturana flossen ein in seine erstmals 1984 in seinem Hauptwerk 'Soziale Systeme' ausführlich dargelegte 'Theorie autopoietischer Systeme', deren Grundzüge hier noch einmal verkürzt in Erinnerung gerufen werden sollen.
Allgemeine Systemtheorie
Autopoietische Systeme, seien es organische (z.B. das Nervensystem), psychische (das menschliche Bewußtsein) oder soziale Systeme (z.B. die 'Gesellschaft' oder ihre Teilsysteme), müssen als geschlossen und somit scharf getrennt von ihrer jeweiligen Umwelt gedacht werden. Sie konstituieren und entwickeln sich ausschließlich aus ihren ureigensten Operationen heraus und können nicht direkt von ihrer Umwelt beeinflußt und bestimmt werden, so sehr sie auch auf gewisse Umweltbedingungen angewiesen seien mögen.
So können beispielsweise psychische Systeme nur in Verbindung mit diversen organischen Systemen vorkommen, welche wiederum z.B. organischen Input in Form von Nahrung benötigen. Die Entscheidung jedoch, ob und wie dieser Input angenommen wird, und damit u.a. auch die Entscheidung über den eigenen Fortbestand, obliegt dem System selbst. Die Umwelt kann sozusagen nur ein gewisses Rauschen bzw. Irritationen beisteuern, mit denen das geschlossene System je nach seinen eigenen bisherigen Zuständen umgehen kann, indem es über Annahme oder Ablehnung entscheidet und die Irritationen in systemeigenen Operationen verwertet. Es besteht somit eine Komplexität verschiedener Anschlußmöglichkeiten. Gerade die Selektion einer speziellen Anschlußmöglichkeit, und die damit einhergehende Erschaffung anschließender Selektionsmöglichkeiten, gewährleistet also den Fortbestand des Systems.
Die Elemente psychischer Systeme sind 'Gedanken', auf die wiederum nur Gedanken folgen können; die Elemente sozialer Systeme jedoch sind Kommunikationen, wobei die Kommunikation in Interaktionen, d.h. Kommunikation unter anwesenden Personen, einen Sonderfall darstellt.2 Luhmann belegt den Begriff der Kommunikation neu, indem er abgeht von herkömmlichen Betrachtungsweisen, in denen Kommunikation als Handlung und im Sinne einer Übertragungsleistung verstanden wird. Die Dreiteilung der Kommunikation in Information, Mitteilung und Verstehen macht deutlich, warum sie nicht mehr als Ganzes einem handelnden Subjekt zugerechnet werden kann. Aus systemtheoretischer Sicht sind es nicht Menschen, die kommunizieren; nur Kommunikation kommuniziert.
Psychische Systeme sind zwar notwendige Voraussetzung von Kommunikation, aber selbst nur lose strukturell daran gekoppelt, indem Gedanken- und Kommunikationsstränge (bestenfalls, bei allseitiger synchroner Aufmerksamkeit) parallel verlaufen. Eine direkte feste Verbindung wird jedoch schon allein durch die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der einzelnen Elemente verhindert. So können in einem Gespräch z.B. jederzeit die Gedanken beteiligter Bewußtseine abschweifen, um dann eventuell, erneut angeregt durch das 'Umweltrauschen', wieder zu höherer struktureller Kopplung zu gelangen. Auch wenn Kommunikationselemente um späterer Bezugnahme willen 'Personen' zugerechnet werden, so werden damit nur 'Adressen' bezeichnet, auf die mit weiteren Kommunikationen zurückgegriffen werden kann, nicht aber die heterogenen Komplexe aus organischen und psychischen Systemen mit all ihren Eigenschaften und Befindlichkeiten, als die Menschen sich aus systemtheoretischer Sicht darstellen.
Systemthorie der Gesellschaft
Daß die Betrachtung sozialer Systeme heute für die Soziologie so interessant ist (und sie sich selbst als solches ausdifferenziert hat), liegt u.a. an der enormen Komplexitätssteigerung, die das menschliche Zusammenleben seit dem urzeitlichen Entstehen jedweder sozialer Zusammenschlüsse erfahren hat.
Die Stammesverbände der Jäger und Sammler lebten noch weitgehend isoliert von einander, und innerhalb dieser Stämme wurde nur interaktionell kommuniziert, so daß die relativ geringe Komplexität der Kommunikation noch keine nennenswerte Ausdifferenzierung von funktionalen Teilsystemen erforderlich machte; dieser Gesellschaftstyp war vielmehr segmentär differenziert.3
Infolge der Herausbildung komplexerer Gesellschaftsstrukturen in den verschiedenen frühen Hochkulturen kam es zu einer neuen primären Differenzierungsform dieser Gesellschaften; da sich die systeminternen Subsysteme nun nicht mehr als gleichartig und symmetrisch erwiesen, entwickelte sich die stratifikatorische Differenzierung der Gesellschaft. Hier waren die primären einzelnen Teilsysteme in Schichten geordnet, die einer strengen Hierarchie mit der Leitdifferenz 'unten/oben' unterworfen waren, welche sich aus dem Primat einer göttlich gefügten Weltordnung herleitete. Dieses Modell war lange Zeit sehr erfolgreich.
Mit der Abspaltung nicht mehr hierarchisch einordenbarer Subsysteme, z.B. der Politik oder der Wissenschaft, wie sie im 15./16. Jahrhundert ihren Anfang nahm, entstand die funktionale Ausdifferenzierung unsere heutigen Gesellschaft, ein Prozeß, der sich spätestens zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend vollzogen hatte.
Die verschiedenen funktionalen Teilsysteme (wie z.B. auch Wirtschaft, Kunst und Religion) konstituieren sich aufgrund ihrer jeweils spezifischen Leitdifferenzen, die sich in binären Codes ausdrücken: wahr/unwahr für die Wissenschaft, erfolgte Zahlung/nicht erfolgte Zahlung in der Wirtschaft, Recht/Unrecht im Rechtssystem, usw. Was sich nicht in dem jeweiligen Code fassen läßt, gehört nicht mehr zum System, wird also höchstens noch als Irritation aus der Umwelt wahrgenommen. Die funktionale Differenzierung bewirkt also die notwendige Reduktion von Komplexität in einer Welt kontingenter Selektionsoptionen, d.h. eine Strukturierung in mehr oder weniger wahrscheinliche Anschlußmöglichkeiten.
Aus der bereits erwähnten Dreiteilung der Kommunikation folgt jedoch (auch innerhalb der Teilsysteme) eine gewisse Unwahrscheinlichkeit erfolgreicher Kommunikation, die einen Kompensationsbedarf und damit die Entwicklung der Kommunikationsmedien hervorruft.4
Erfolgeiche Kommunikation heißt, daß inhaltliche Selektionen, also Informationen, von anderen Kommunikationspartnern als Prämisse für eigene, weitere Operationen und Kommunikationen angenommen werden. Mögliche Schwierigkeiten liegen hier außer in der Frage der selektiven Annahme selbst auch bei der Erreichung von Kommunikationspartnern über räumliche und zeitliche Distanz hinweg (außer bei Interaktion), sowie auf der Ebene des Verstehens (auch durch die Mitteilungs-Selektion beeinflußt), welche als Voraussetzungen der etwaigen Annahme betrachtet werden müssen. Aus solchen Notwendigkeiten heraus kam es zur Herausbildung verschiedener Kommunikationsmedien, deren grundlegendstes wohl die Sprache ist, worauf die Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck und die neueren 'Massenmedien' folgten.
Maßgeblich beteiligt an der Ausdifferenzierung der funktionalen Systeme waren die hier entstehenden 'symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien'5, welche auf die Verbesserung der Erfolgschancen systemspezifischer Kommunikation spezialisiert sind. Als Beispiele hierfür wären zu nennen: Macht für die Politik, Wahrheit für die Wissenschaft oder Liebe für Intimbeziehungen. Für das Erziehungssystem ergeben sich in der Frage nach seinem Medium jedoch besondere Schwierigkeiten, auf die ich mit dem nächsten Abschnitt vorbereitend hinführen möchte.
Erziehung/Bildung/Sozialisation
Gleich zu Anfang muß darauf hingewiesen werde, daß der Begriff des Erziehungs- oder auch Bildungssystems einige Definitionsprobleme aufwirft, wie es sich schon an dieser Zweiwertigkeit andeutet. Was ist Erziehung, was Bildung? Sicherlich lassen sich die beiden Begriffe nicht einfach gleichsetzen.6 Der Begriff der Erziehung wird üblicherweise vor allem auf 'Nicht-Erwachsene'7 angewandt, die noch gewisse Umgangsformen o.ä. lernen müssen, um von der Gesellschaft als fertige Menschen akzeptiert zu werden. Natürlich sollen sie in diesem Prozeß schon einen gehörigen Grundstock an Bildung erwerben. Bildung ist aber darüber hinaus auch noch in der Weiterbildung und über das Postulat 'lebenslangen Lernens' verfügbar, wodurch die Grenze der Kindheit eindeutig gesprengt wird. Wie Luhmann sagt: ,,Erziehung ist eine Zumutung, Bildung ein Angebot`` (Lenzen/Luhmann, 1997, S.7)
Anders steht es mit der Sozialisation, mit der alle zeitlich unbegrenzt konfrontiert werden, wenn auch in der herkömmlichen Sichtweise das Hauptaugenmerk meist auf der Übertragung (!) sozialer Strukturen, Erfahrungen und Verhaltensweisen liegt.8
Will man systemtheoretisch vorgehen, so muß man wie bei der Kommunikation vom Übertragungsmodell abgehen; schließlich findet Sozialisation anläßlich von Kommunikationen statt, die immer wieder auf die Alternative von ,,Konformität oder Abweichung, Anpassung oder Widerstand`` hinauslaufen. Aufgrund der Erfahrungen, die das psychische System infolge von Annahme oder Ablehnung macht, bilden sich Erwartungen für die nähere und fernere Zukunft, die wiederum erfüllt oder enttäuscht werden können. (Selbst-)Sozialisation kann man somit auch als Strukturbildung innerhalb des psychischen Systems verstehen, die die Vielzahl der möglichen folgenden Operationen begrenzt, d.h. wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht.
Sozialisation führt nicht zwangsläufig zu Konformität mit gesellschaftlichen Normen und dergleichen; die Möglichkeit der Abweichung (und sei es einer positiven Abweichung) ist durch die Selbstreferenz autopoietischer Systeme stets gegeben, und die Bildung von Erwartungen über fremde Erwartungen macht es umso leichter auch möglich, diese zu enttäuschen.
Während Sozialisation in jedem sozialen Kontext mitläuft, sich aber auch jeweils stark auf diesen bezieht, versucht Erziehung als 'absichtsvolle Kommunikation' Ergebnisse zu erzielen, die sich auf andere, heutzutage hauptsächlich berufliche, soziale Systeme übertragen lassen. Das ist die spezifische Funktion des Erziehungssystems in der Gesellschaft. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe treten allerdings zwangsläufig Probleme auf, die in der Intentionalität der Erziehungsbemühungen sowie ihrer praktizierten Form begründet liegen:
Sobald den zu Erziehenden die Erziehungsabsicht bewußt wird, verdoppelt sich für sie die Ablehnungsmöglichkeit; nicht nur der Inhalt, auch das Erzogenwerden selbst kann zurückgewiesen werden. Und den ErzieherInnen dürfte es eher selten gelingen, ihre Intention ausreichend zu tarnen... Immerhin kommt ihnen laut Luhmann in gewisser Weise die Institution Schule als Stützeinrichtung zur Hilfe, auf die die Erziehungsabsicht 'abgewälzt' werden kann.9 Aber auch diese Verlagerung kann das grundlegende Problem nicht völlig eliminieren.
Einen weitereren heiklen Punkt stellt die paradoxe Forderung einerseits nach Konformität, andererseits nach der immer stärker gepflegten Individualität dar. Von SchülerInnen wird zuallerst erwartet, daß sie nach erfolgtem Unterricht auf gezielte Fragen hin die richtigen Antworten liefern. Luhmann verdeutlicht die hiermit zusammenhängende Problematik gerne mit dem von Heinz von Foerster übernommenen Beispiel vom Gegensatz von Trivial- und Nicht-Trivialmaschinen. SchülerInnen müssen demnach, wenn man Wert auf die Überprüfbarkeit erziehender Bemühungen legt, als Trivialmaschinen behandelt werden, die auf gewissen Input hin den entsprechenden Output liefern10 ; und das, obwohl sie in ihrer Eigenschaft als selbstreferenzielle psychische Systeme selbstverständlich nur als Nicht-Trivialmaschinen begriffen werden können, welche bei der Produktion von Output auf innere Zustände und Befindlichkeiten Bezug nehmen. Auf Möglichkeiten der Umgehung dieser Schwierigkeiten wird an späterer Stelle im Rahmen weiterer Vorschläge an die praktische Erziehung hingewiesen.
Der Wandel in Luhmanns Erziehungsbegriff in Bezug auf Medium und Code
Die bisherigen Ausführungen haben bereits einige der Schwierigkeiten aufgezeigt, die einem bei der theoretischen Beschreibung oder auch der praktischen Ausübung von 'Erziehung' begegnen. Es ist schon nicht einfach, die sehr verschiedenen Inhalte der nicht ausschließlich auf Wissensaufbau beruhenden Kindererziehung und der weiterführenden Erwachsenenbildung adäquat als ein und demselben funktionalen System zugehörig zu beschreiben. Wenn man dennoch bei dieser Beschreibung bleiben möchte, sieht man sich mit weiteren Problemen konfrontiert, die durch den Vergleich mit anderen Teilsystemen der Gesellschaft sichtbar werden. Auch in anderer Hinsicht stellt sich das Erziehungssystem als Sonderfall heraus11, aber ganz besonders fällt auf, daß es in keinem anderen Subsystem so schwierig ist, ein primäres Kommunikationsmedium zu identifizieren.12
Auf der Suche nach einer umfassenden theoretischen Beschreibung des Erziehungssystems, die ähnliche Strukturen und funktionale Merkmale wie diejenigen der anderen Teilsysteme aufweist, wandelten sich Luhmanns Ansätze im Lauf der Jahre immer wieder, ohne daß er bisher eine wirklich befriedigende Beschreibung gefunden zu haben scheint.13 Unter diesem Vorbehalt werde ich nun die wichtigsten Entwicklungen in seiner Annäherung an eine adäquate Theorie des Erziehung- und Bildungssystems anhand von drei exemplarischen Texten skizzieren:
In einem frühen Ansatz von 198614 stellt er zunächst die Frage nach der systemspezifischen Codierung des Erziehungssystems, wobei er vorläufig eingestehen muß, hier kein offensichtliches Kommunikationsmedium zu sehen:
Dabei bereitet der Fall des Erziehungssystems besondere Schwierigkeiten, denn, zumindest auf den ersten Blick, ist nicht gleich zu sehen, wo hier der Code liegen könnte. Etwa gebildet/ungebildet? Oder gar artig/unartig? Das Fehlen einer klar geschnittenen Semantik für Codierung mag damit zusammenhängen, daß für das Erziehungssystem kein besonderes symbolisch generalisiertes Kommunikationmedium (wie Wahrheit, Geld oder Macht) entwickelt worden ist. (Cod./Prog., S.158)
Auch der binäre Code bleibt schwammig, was sich daran zeigt, daß ähnliche Begriffe parallel verwendet und meist nur umschrieben werden. Der anfänglich identifizierte Code hebt jedenfalls auf Bewertung und soziale Selektion ab (was, wie Luhmann klar erkennt, mit den vordergründigen Intentionen der Erziehenden nicht viel zu tun hat), und äußert sich in Begrifflichkeiten wie besser/schlechter (z.B. Zensuren), richtige Antworten/falsche Antworten und dergleichen. Wenn man von diesem Code ausgeht, erklärt sich auch die Notwendigkeit, Schüler als Trivialmaschinen zu behandeln, da sonst das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten als notwendige Voraussetzung der binären Codierung nicht mehr gewährleistet wäre.15
In einem Artikel in der Zeitschrift für Pädagogik von 199116 kam Luhmann jedoch vorläufig zu einer ganz anderen Vorstellung vom Medium des Erziehungssystems. Er fand es im semantischen Konstrukt des 'Kindes' (nicht zu verwechseln mit dem bloßen organisch-psychischen Lebewesen). Dieses Medium unterscheidet sich jedoch stark von den anderen 'symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien'. Einerseits soll es Kommunikation nicht nur wahrscheinlicher machen, sondern es werden zusätzlich spezielle Wirkungen der Kommunikation angestrebt: die absichtsvolle Kommunikation soll psychische Systeme 'verbessern'. Andererseits fehlt hier ein zweiwertiger Code für Erziehung. Die Möglichkeiten des Mediums Kind, die aus seiner angenommenen Erziehungsbedürftigkeit und 'Un- bzw. Unterbestimmtheit' folgen, lassen sich nicht binär schematisieren.17
Somit ist dieses Medium weniger leistungsfähig als andere; seine Reproduktionsfähigkeit muß außerhalb einer Codierung gesucht werden, z.B. in der Vorannahme, daß durch die Fähigkeit des Kindes18, das Lernen zu lernen, das Medium im Gebrauch wiederhergestellt wird. Zudem wachsen ständig neue Generationen nach, so daß der semantische Begriff nicht Gefahr läuft, seine materielle Grundlage zu verlieren.
In dem Bemühen, die Erwachsenenbildung besser in eine umfassende Theorie des Erziehungssystems zu integrieren, verabschiedet sich Luhmann in dem 1997 erschienen Text 'Erziehung als Formung des Lebenslaufs'19 vom dem zu stark einengenden Medium 'Kind', um den Blick auf eine weitere Möglichkeit zu lenken: den Lebenslauf.
Diesen will Luhmann vorerst als 'allgemeines Medium der Personwahrnehmung' verstanden wissen, als eine Lebensbeschreibung, die die ,,vergangenheitsabhängige, aber noch unbestimmte Zukunft`` mit einschließt. Er erneuert sich ständig duch konkrete Formbildungen. Durch Ereignisse, an die weitere Ereignisse anschließen, bildet sich der sich damit selbst fortschreibende individuelle Lebenslauf. Daß das Erziehungssystem sich dieses allgemeine Medium für seine eigene Spezifizierung angeeignet hat, mag laut Luhmann daran liegen, daß Wissen maßgebliche Relevanz für den Lebenslauf hat: ,,Vor allem kommt es in unserem Zusammenhang darauf an, daß Wissen dem Lebenslauf Form gibt und ihn damit als Medium der Formbildung reproduziert.`` (Luhmann, 1997, S.27) Die Zukunftsoffenheit des Lebenslaufs macht dem Erziehungs- und Bildungssystem womöglich gewisse Hoffnungen, hier durch Wissensvermittlung 20 und Ausbildung Einfluß zu nehmen.
Dennoch bietet dieses Medium in theoretisch so unzureichend entwickelter Form noch nicht ansatzweise die Leistungsfähigkeit und begriffliche Schärfe wie die übrigen Kommunikationsmedien. Dieser Text wirft legitimerweise vor allem Fragen auf und eröffnet Ausblicke auf mögliche Ansätze, kann aber für die endgültige Annahme des Lebenslaufs als Medium des Erziehungssystems noch keine ausreichenden Begründungen liefern. Entweder muß die Definition der 'symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien' modifiziert werden, oder es steht noch die Erklärung aus, inwiefern genau hier die größere Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Kommunikation gefördert werden soll. Indem Luhmann in diesem Text fast auschließlich auf die Unterscheidung von Medium und Form eingeht, vernachlässigt er hier die bisher grundsätzlich gestellte Frage nach der binären Codierung, so daß die Beschreibung der Grenze System/Umwelt im Vergleich zu früheren Ansätzen zu kurz kommt.
Systemtheorie in pädagogischer Praxis
Luhmanns Motivation und die Bedingungen der Möglichkeit konkreter Umsetzung
Trotz der zuletzt behandelten Schwierigkeiten, das Bildungssystem und die Erziehung bereits vollständig mit den Mitteln der Systemtheorie zu erfassen, dürfte der erste Teil dieser Arbeit gezeigt haben, daß das bisher Erreichte schon in vieler Hinsicht eine klarere und systematischere Beschreibung bietet, als die Pädagogik es bisher leisten konnte. Das von Luhmann allgemein konstatierte Theoriedefizit unserer Gesellschaft21 zeigt sich im Falle der Erziehungswissenschaft besonders deutlich, was Luhmann schon früh zum Anlaß genommen hat, sich (vor allem in Zusammenarbeit mit Karl Eberhard Schorr) mit kritischen Texten an die Pädagogik zu wenden und eine systemtheoretische Betrachtung vorzuschlagen. So stellt er auch 1997 noch fest:
Es kann in einer Gesellschaft, in der so viel Zeit und Aufwand auf Erziehung verwendet wird, nicht genügen, nur die Bedingungen von Erfolg und Mißerfolg zu reflektieren. Es kann nicht genügen, nur die Perspektiven der professionellen Arbeit aufzugreifen und zu reformulieren. (Lenzen/Luhmann, 1997, S.9)
Wenn er sich auch in seiner Eigenschaft als Soziologe vor allem auf die Möglichkeit einer ,,bessere[n], eindringlichere[n], theoretische[n] Beschreibung der Sachverhalte`` (Luhmann, 1985, S.93) konzentriert22, so zeichnet sich doch auch bei Luhmann selbst eine vorsichtige Prophezeiung bezüglich eines darüber hinausgehenden praktischen Nutzens ab: ,,Auch wird es nicht ausbleiben, daß eine abstraktere Begrifflichkeit im Detail zu anderen Beobachtungen und zu anderen Anregungen führt. Das wird man ausprobieren und abwarten müssen.`` (Luhmann, 1987, S.181). Dieter Lenzen kommt angesichts erster Erfolge sogar bereits zu einer deutlich optimistischen Einschätzung:
Es ist zu erwarten, daß eine Anwendung der ursprünglich soziologischen Systemtheorie auf psychische Systeme für die Erziehungswissenschaft revolutionäre Folgen haben wird. Erste Versuche sind in der Fachdidaktik des naturwissenschaftlichen Unterrichts erkennbar. (Lenzen, 1999, S.157)
Zumindest läßt sich jedenfalls konstatieren, daß die Beschäftigung der Erziehungswissenschaft mit systemtheoretisch-konstruktivistischen Ansätzen seit den 70er Jahren kontinuierlich angewachsen ist, und die Phase konkreter Umsetzungsversuche im Unterricht begonnen hat.
Im folgenden werde ich den Versuch machen, einen Überblick über die vielfältigen Ansatzpunkte einer systemtheoretisch inspirierten Didaktik zu geben, die sich teilweise schon aus Luhmanns Arbeiten, oder aber aus der weiterführenden Arbeit der Pädagogen heraus ergeben, die das Experiment gewagt haben, sich die fremdartige, aber faszinierende 'Brille' der Systemtheorie aufzusetzen.
Praktische Empfehlungen
Wenn also eine direkte bestimmende Einflußnahme auf die psychischen Systeme der SchülerInnen nicht möglich ist, was bleibt den Erziehenden an Wegen offen, wenn sie die Erziehungsintention nicht gänzlich aufgeben wollen? Vor allem zweierlei: vorhandene Strukturen und Situationen anders zu nutzen oder neue zu erschaffen.
Bei absichtlich oder zufällig vom Interaktionssystem oder seiner Umwelt her hinzukommenden Strukturen kann die Chance genutzt werden, ,,das Verhalten des Lehrers als einen Zufallsgenerator anzusehen oder als einen Mechanismus, der auftretende Zufälle in Strukturgewinn umsetzen kann`` (Luhmann, 1985, S.92), denn ,,die faktisch aktualisierte Aufmerksamkeit wird viel mehr duch die gerade laufenden Operationen, duch Auffälliges, durch Unerwartetes oder auch durch die Verteilung der Chancen im Kommunikationsprozeß bestimmt als durch vorab festliegende Strukturen.`` (ebd. S.91)
Wenn man mit Krüssel (zitiert nach: Voß, 1999 , S.100-101) annimmt, daß Lernen die 'Selbstentwicklung eines kognitiven Systems' ist, sollten bewußt Möglichkeiten gefunden werden, die Eigenaktivität der SchülerInnen durch indirekte Maßnahmen, d.h. beispielsweise durch Schaffung anderer Strukturen, zu fördern. Besonders gut geeignet sind Situationen, in denen das Erziehungselement nicht in Kommunikationen, sondern im Sozialisationspotential liegt, so daß die Ablehnungsmöglichkeiten reduziert werden23.
Cachay und Thiel schlagen z.B. in einem Artikel über systemischen Sportunterricht24 vor, durch neue Spiele Sozialisationspotentiale der verschiedensten Art zu aktivieren. Dabei muß allerdings vermieden werden, die (Selbst-)Sozialisation durch Bewertung und die übliche Gewinnen/Verlieren-Ausrichtung allzu einseitig verlaufen zu lassen. Wenn diese Spiele wirklich andere Lernfelder erschließen sollen, wie z.B. Sozialverhalten, Umweltbewußsein o.ä., müssen sie neuartige Strukturen aufweisen, sonst werden auch hier die scheinbaren Erfolge letztendlich nur auf dem gewohnten Besser/Schlechter-Schema beruhen25.
Insgesamt sind Spiele jedoch durch die folgenden Eigenschaften sehr gut geeignet, die SchülerInnen zu motivieren und ihre Aufmerksamkeit zu fesseln: Zweck- und Nutzlosigkeit (zumindest vordergründig), Nicht-Alltäglichkeit, Nicht-Notwendigkeit, Freiheit und Freiwilligkeit, existenzielle Erfahrung, lustvolle Spannung und unmittelbare Gegenwart.26 So erhöht Spaß an der Tätigkeit die Bereitschaft der SchülerInnen zur konzentrierten Teilnahme, und die Unbewußtheit der gemachten Erfahrungen vermeidet das Ablehnen der Erziehungsintention.27
Überhaupt scheint es sinnvoll, den Unterricht vor allem daduch zu lenken, daß man die Strukturen so gestaltet, daß die Wahrscheinlichkeit erwünschter Lerneffekte erhöht wird, während unerwünschte eher vermieden werden. 'Leider' kann auch in diesem Zusammenhang immer nur von letztendlich nicht determinierbaren Wahrscheinlichkeiten die Rede sein.
Recht vielversprechend ist es also, angesichts der Schwächen einer kleinschrittigen, formalisierten, rezepthaften Didaktik, durch die echtes soziales, selbstorganisiertes Lernen entmutigt und untergraben wird28, statt dessen ,,Bedingungen [zu] schaffen, die eine Selbsterziehung des Individuums möglich machen`` (Cachay/Thiel, 1999, S.334).
Diese Ansicht vertreten auch die VerfechterInnen des inzwischen öfters umgesetzten Ansatzes, die Lernumgebung in der Schule vielfältig zu gestalten und deshalb bei der Unterrichtsform vom bisher typischen Frontal-Unterricht (der/die LehrerIn doziert, die Klasse rezipiert) abzugehen. Größere Selbstbestimmung in der Wahl der Lernmittel und -Inhalte dürfte nach systemtheoretischen Überlegungen die Motivation der psychischen Systeme der SchülerInnen sehr erhöhen, an das Unterrichtsgeschehen gekoppelt zu bleiben und es selbsttätig voranzutreiben.
Interdisziplinäre Projektarbeit ist heutzutage bereits als möglicher Bestandteil des deutschen Unterrichtsgeschehens anzutreffen, in Schweden geht man aber auch schon viel weiter29: Dort gibt es immer mehr Schulen, die sich ganz vom typischen Klassenverband verabschiedet haben und nur noch projektorientiert in altersgemischten Gruppen arbeiten. Der Lehrer hat hier eher die Funktion eines Beraters und Moderators. Diese Art von Teamarbeit bereitet sehr effektiv auf die Arbeitsweise in modernen Wirtschaftsunternehmen vor.
Zu den Aufgaben des Lehrers gehört somit: Zielrahmen und Orientierungspunkte zu setzen, komplexe Lernsituationen über längere Zeit hinweg anzulegen, sich vom direkten Eingriff in den Unterricht möglichst zurückzuziehen, sich auf Organisation und indirekte Lenkung der Schüleraktivitäten zu verlegen, also Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Die Schüler sollen auf diese Weise dazu bewegt werden, ,,ihre Selbstorganisationskräfte zu entwickeln, ihre Verstand zu gebrauchen und Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen.`` (Wittmann, 1999, S.329/330)
Wenn es auch schwierig sein wird, in einer auf die heutige Gesellschaft zugeschnittenen Erziehung ganz von der Trivialisierung der SchülerInnen wegzukommen, so lohnt es sich doch sicherlich, sich zumindest in den Bereichen darum zu bemühen, wo das am ehesten möglich ist. Man könnte zum Beispiel nicht nur bei der Festlegung der Lerninhalte, sondern auch bei der Gestaltung der persönlichen Lernumgebungen die Wünsche der einzelnen SchülerInnen einbeziehen, und freie Gesprächsrunden zwischen den Arbeitseinheiten dazu nutzen, auch das Privatleben der SchülerInnen zu thematisieren. Es wäre bestimmt nützlich, sowohl stille Rückzugsmöglichkeiten als auch sportliche Betätigung und Areale zum Austoben anzubieten, um Aggressionen und überschüssige Energie abbauen zu können, so wie es heute bereits in einigen Kindergärten praktiziert wird.
Allgemein wäre es wichtig, den SchülerInnen möglichst früh eine systemisch-konstruktivistische Sichtweise nahezubringen, um bei ihnen ein Verständnis für die komplexen Zusammenhänge jenseits vereinfachter und vereinfachender Kausalrelationen zu fördern. Ein richtig verstandener Konstruktivismus muß nicht zu sinnlosem Relativismus führen, sondern dürfte vielmehr zu mehr Toleranz und Kreativität ermutigen. Einsicht in die Kontingenz bestehender Situationen und Sachverhalte kann den Blick für andere, neue Lösungsansätze freimachen. Ohne den Zwang, sie in ein Bewertungssystem einzubeziehen, sollten die von Heinz von Foerster geforderten 'legitimen Fragen', d.h. solche, auf die es noch keine Antworten gibt, endlich zu ihrem Recht kommen können.30
Wenn man die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung autopoietischer Systeme ernstnimmt, so sollte man die Chance nutzen, den Metadiskurs über das Unterrichtssystem in dieses selbst einzuführen. Nur so kann man dem Umstand der Umöglichkeit der Fremdbestimmung gerecht werden, und es besteht zumindest die Hoffnung, daß die Thematisierung der Selbststeuerung mehr positive als negative Effekte hervorruft.31
Auch die LehrerInnen unter sich sollten verstärkt die Hilfen nutzen, die (nicht nur) der systemtheoretische Ansatz nahelegt. Nach einem Vorschlag von Reinhard Voß könnte mit einem verbesserten und vermehrt angewandten Konzept der Supervision die Chance genutzt werden, unter den LehrerInnen selbst und mithilfe 'systemfremder' 'Intervisoren', die als 'primi inter pares' fungieren, neue Sichtweisen in problematisch erfahrenen Situationen zu diskutieren.32
Auch im Umgang mit 'verhaltens- oder lerngestörten' Kindern können die Erfahrungen der inzwischen etablierten Systemischen Therapie den Perspektivenwechsel hin zu Problemsystemen ermöglichen und mit ihren Methoden wichtige Hilfestellungen anbieten: Zirkuläres Fragen und das Herausfinden von maßgeblichen Ideen und Bedeutungen innerhalb der Problemsysteme verhilft dazu, Wechselwirkungen und Verhaltensmuster zu erkennen, diese aufzuzeigen und neue zu 'erfinden'. So kann die Bedeutung von Eigenverantwortung verdeutlicht und Eigeninitiative gefördert werden.33
Zum Abschluß möchte ich noch 5 weitere, 1979 von Lochhead formulierte goldene Regeln (nicht nur für den naturwissenschaftlichen Unterricht) zu bedenken geben, die ich aber aus Platzgründen in eine Fußnote verbannen möchte.34
Zusammenfassung
Auch eine systemtheoretisch orientierte Didaktik kann also nicht ganz auf Erziehungsziele und Desiderate verzichten, aber ihr stehen eventuell aussichtsreichere Mittel und Wege dorthin zur Verfügung als das kausal orientierte, stark trivialisierende Paradigma der herkömmlichen Pädagogik bieten kann. Desweiteren mag die realistischere Einschätzung der Erfolgschancen jeglicher erzieherischen Tätigkeit, welche aus der Einsicht in die Komplexität und Selbststeuerung sozialer Systeme folgt, dem Erziehenden ein Trost sein und den Leistungsdruck mildern, unter den er geraten kann, wenn er sich als den einzig Verantwortlichen für den Unterrichtserfolg ansieht. Ebenso kann auf diese Weise nicht mehr der entgegengesetzte Weg beschritten werden, nämlich Mißerfolge allein dem/der 'faulen', 'dummen' und 'unwilligen' Schüler/in oder Klasse zuzuschreiben, was ja bekanntlich oft zu einer Verfestigung einer solchen Etikettierung in der Selbst- wie in der Fremdeinschätzung der Betroffenen führt.
Man müßte also auf eine vermehrte Einbeziehung systemtheoretischer Erkenntnisse auch in die Lehre der Universitäten hinarbeiten, so daß der Praxis nicht nur einzelne Pioniere, sondern eine breite Basis systemtheoretisch geschulter PädagogInnen zur Verfügung steht, und diese Überzeugungen auch in der Bildungspolitik zunehmend Gehör finden. Dies fordert, neben anderen, auch Erich Ch. Wittmann:
Da es aus systemischen Gründen zu aktiv-entdeckenden Unterrichtsformen keine sinnvolle Alternative gibt, müssen wir alles daransetzen, um den Mathematikunterricht [und nicht nur diesen, U.W.] von der Grundschule bis zur Universität in diese Richtung zu entwickeln, auch wenn die Umstellung sehr mühsam sein und auf Widerstände unterschiedlichster Art treffen wird [...] (Wittmann, 1999, S.330)
Natürlich werden soche Umstellungen weder einfach noch billig sein, schon allein das Umrüsten der Schulen (und Universitäten?) stellt einen erheblichen Kostenfaktor dar. Viel Zeit bräuchte es wohl auch, das Umdenken der Entscheidungsträger flächendeckend in Gang zu setzen, aber es wäre vielleicht lohnend, dem Prozeß diese Zeit zuzugestehen.
Man muß sich damit abfinden, daß viel Aus- und Neuprobieren nötig sein wird, denn trotz aller begründeten Hoffnung und erster Erfolge wird wohl erst eine langfristige intensive Evaluation (die aber sowieso ein geforderter Bestandteil des Ansatzes ist35 ) ans Licht bringen, wie effektiv die neuen Methoden sind und ob sich nicht auch hier noch ungewollte und unvorhersehbare Schattenseiten offenbaren werden. Allerdings muß man der Systemtheorie zugestehen, daß sie davon keinesfalls überrascht würde, sondern diese Möglichkeit schon fast postulieren muß.
Wie so oft kann auch hier nur eine möglichst detaillierte Kosten/Nutzenrechnung Aufschluß über Sinn und Unsinn einer solchen neuen Didaktik geben.
Literaturverzeichnis
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Kade, Jochen (1997): Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignen - Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen. In: Dieter Lenzen/Niklas Luhmann (Hrsg.): Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem - Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form. Frankfurt a. M. (S.30-70).
Lenzen, Dieter (1999): Orientierung Erziehungswissenschaft - Was sie kann, was sie will. Rohwolts Enzyklopädie. Reinbek bei Hamburg.
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Luhmann, Niklas (1986): Codierung und Programmierung - Bildung und Selektion im Erziehungssystem. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Allgemeine Bildung - Analysen zu ihrer Wirklichkeit, Versuche über ihre Zukunft. Weinheim/München (S.154-182).
Luhmann, Niklas (1987): Sozialisation und Erziehung. In: Wilhelm Rotthaus (Hrsg.): Erziehung und Therapie in systemischer Sicht. Dortmund (S.77-86).
Luhmann, Niklas (1991): Das Kind als Medium der Erziehung. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jahrgang 37, Heft 1 (S.19-40).
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Wittmann, Erich Ch. (1999): Mathematikunterricht zwischen Skylla und Charybdis. In: Voß, 1999 (S.313-332).
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Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Fußnoten
... ausgebaut.1
Vgl. z.B. Kneer/Nassehi, 2000, S.7-12.
... darstellt.2
Vgl. zum Folgenden z.B. Luhmann, 1987, S.174-175
... differenziert.3
Vgl. hierzu und zu den drei folgenden Absätzen z.B. Kneer/Nassehi, 2000, S.123-132.
... hervorruft.4
Vgl. zum Folgenden z.B. Luhmann, 1981.
... Kommunikationsmedien'5
Luhmann erweiterte den von Parsons geprägten Begriff.
... gleichsetzen.6
Vgl. z.B. Luhmann/Lenzen, 1997, S.7.
... 'Nicht-Erwachsene'7
Zuweilen findet er sich aber auch in Zusammenhang mit Erwachsenen, die sich nicht entsprechend gewisser Normen verhalten, die als für 'mündige Bürger' verbindlich angesehen werden, z.B. im Falle der Verkehrs- oder Umwelterziehung. Diese Verwendung ist aber eher ungewöhnlich.
... liegt.8
Vgl. zum Folgenden z.B. Luhmann, 1987.
... kann.9
Vgl. Luhmann, 1987, S.179.
... liefern10
Natürlich strebt man heute möglichst komplexe Trivialmaschinen an, schon wegen der vielfältigeren Einsatzmöglichkeiten in unserer komplexen Gesellschaft.
... heraus11
Z.B. konnte sich das Erziehungssystem nie so weit von der Betonung der Interaktion lösen, wie das in anderen gesellschaftlichen Subsystemen der Fall ist. Trotz aller neueren Überlegungen in Bezug auf computerbasierten Unterricht halte ich es für unwahrscheinlich, daß sich dieser Sachverhalt in näherer Zukunft (und wenn wahrscheinlich nur in Verbindung mit tiefgreifenden Veränderungen des Erziehungsbegriffs selbst) ändern wird.
... identifizieren.12
Auffällig im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit der Frage nach Medium (und Form) in Luhmanns Theoriegebäude ist, daß Kneer und Nassehi in ihrer kurzen, aber sehr klaren Einführung (Kneer/Nassehi, 2000) ganz auf die Beschreibung dieser Theorieelemente verzichten (vielleicht gerade wegen der Schwierigkeit, sie generell und für alle funktionalen Teilsysteme der Gesellschaft gültig zu definieren?).
... scheint.13
Bisher finden sich in jedem seiner Texte, die sich mit dieser Thematik befassen, deutliche Hinweise auf die tentative und vorläufige Natur seiner Lösungsvorschläge. So schreibt er z.B. 1997 im Vorwort zu 'Erziehung als Formung des Lebenslaufs': ,,Ebenso wie in den vorangegangenen Kolloquien war es auch diesmal unsere Absicht, eine theoretisch begründbare Fragestellung zu verfolgen. Das muß nicht heißen, eine Antwort auf die aufgeworfene Frage zu erwarten, geschweige denn: eine richtige Antwort.`` (Lenzen/Luhmann, 1997, S.9).
... 198614
Vgl. Luhmann, 1986
... wäre.15
In diesem Text wird bereits der enge Bezug dieses bewertenden Codes zum Begriff der Karriere hervorgehoben, da diese bewertete Positionen voraussetzt: ,,das Erziehungssystem [hält], ob es will oder nicht, ein Stück Karriere in der Hand und [...] [ist] dadurch codiert.`` (Luhmann, 1986, S.163) Diese Einordnung der Karriere (welche von Luhmann auch als zeitliche Struktur des gesellschaftlichen Inklusionsprozesses definiert wird) scheint mir schon in die Richtung des später im Lebenslauf vermuteten Mediums zu verweisen, obwohl dies erst durch wesentliche Modifizierungen möglich wird.
... 199116
Vgl. Luhmann, 1991.
... schematisieren.17
Vgl. Luhmann, 1991, S.34.
... Kindes18
Luhmann behält sich zusätzlich die Freiheit vor, bei der Terminologie des Mediums statt 'Kind' auch 'Schüler', 'Student' oder auch 'Lernender' einzusetzen. (Luhmann, 1991, S.34)
... Lebenslaufs'19
Vgl. Luhmann, 1997.
... Wissensvermittlung20
In demselben Buch ist ein Beitrag von Jochen Kade erschienen (Kade, 1997), in dem er vorschlägt, Wissen als Medium des Erziehungssytems anzunehmen, in Verbindung mit der Codierung vermittelbar/nicht vermittelbar, und somit die Wissensvermittlung als gesellschaftliche Funktion des Erziehungssystems zu benennen. (Kade, 1997, S.35-38)
... Gesellschaft21
,,In all ihren Funktionssystemen hat die moderne Gesellschaft derzeit noch einen erheblichen Nachholbedarf an theoriegesteuerten Beobachtungen und Beschreibungen; sie hat, wenn man so sagen darf, auf der semantischen Ebene noch kein zutreffendes Bild ihrer selbst gefunden.`` (Luhmann, 1987, S.180/181)
... konzentriert22
Hierzu ein Kommentar von Kneer und Nassehi: ,,Hier wird deutlich, daß die Entwicklung von hilfsbereiten Lösungsvorschlägen letztlich Luhmanns Sache nicht ist.`` (Kneer/Nassehi, 2000, S.175).
... werden23
Vgl. Luhmann, 1987, S.179.
In jedem Falle kann es angesichts dieser primären Unwahrscheinlichkeit des Erziehungserfolgs ein gutes Rezept sein, die Erziehung nicht über Kommunikationen laufen zu lassen, sondern Situationen zu erschaffen, die ein gewisses Sozialisationspotential aktualisieren - eine alte Pädagogenweisheit übrigens. Man eliminiert damit den Widerstand gegen Erziehung als Kommunikation und verläßt sich, ohne Erfolgssicherheit freilich, auf eine hinreichende Kongruenz psychischer und sozialer Ereignisse.
... Sportunterricht24
Vgl. Cachay/Thiel, 1999.
... beruhen25
Sonst könnte die tatsächliche Sozialisation z.B. folgendermaßen aussehen: ,,Ich werde Vera jetzt (nur) helfen, weil ich dann besser bewertet werde.`` Diese Erkenntnis mag ja auch im weiteren Leben in ähnlichen Situationen erfreuliche Auswirkungen haben, aber das eigentlich intendierte Verhaltensmuster ist doch nur sehr begrenzt erreicht worden. (Vgl. Cachay/Thiel, 1999, S.337).
... Gegenwart.26
Vgl. Grupe, nach ebd., S.346.
... Erziehungsintention.27
Vgl. Cachay/Thiel, 1999, S.345-347.
... wird28
Vgl. Wittmann, 1999, S.329.
... weiter29
Vgl. 'Das verschwundene Klassenzimmer', von Christian Füller in der der tageszeitung, 06.02.02, S.14.
... können.30
Vgl. Luhmann, 1985, S.84.
... hervorruft.31
Ebd. S.89.
... diskutieren.32
Vgl. Voß, 1999, S.277.
... werden.33
Vgl. Stierlin, 1989.
... möchte.34
1. Lehrer reden zu viel. Sie müssen lernen den Mund zu halten und zuzuhören. Eine der besten Methoden dafür besteht darin, eine ernsthafte Diskussion unter Schülern anzuregen.
2. Wir neigen dazu, die Leistungen von Schülern zu unterschätzen, weil wir uns zu wenig in ihre Denkprozesse hineinversetzen. Was im Unterricht auf den ersten Blick wie ein Auf-der-Stelle-Treten ohne irgendeinen Lernfortschritt aussieht, kann sich bei näherem Hinsehen als beeindruckende Leistung der Schüler entpuppen.
3. Auch wenn die Schüler im Großen und Ganzen stetig vorankommen, kann ihr Erkenntnisstand zwischendurch immer wieder einmal absinken, und die Schüler können zeitweise schlechter arbeiten, als der Lehrer aufgrund der vorherigen Lernfortschritte erwarten würde. Die oszillatorische Natur des Lernens wird im Sport mittlerweile als Tatsache akzeptiert. Im schulischen Lernen wird sie noch viel zu wenig beachtet.
4. Schüler können mathematische Begriffe und Formeln finden, wenn man ihnen dafür Zeit läßt. Der heutige Unterricht nimmt ihnen in der Regel systematisch die Möglichkeit dazu und bringt Schüler hervor, die vollkommen unfähig sind, an neue Situationen selbständig heranzugehen.
5. Der korrekte Gebrauch von Terminologie ist die natürliche Folge von Verstehen, aber Verstehen resultiert nicht aus der Fähigkeit, die Terminologie korrekt zu benutzen. Wir führen Schüler viel zu früh in die Fachsprache ein. Dieses Vorgehen ist völlig unnötig, weil Schüler neue Fachausdrücke ziemlich leicht aufnehmen können, wenn sie die Notwendigkeit dafür sehen. (Lochhead, zitiert nach Wittmann, 1999, S.330.)
... ist35
" Die Folge- und Nebenwirkungen in den Veränderungen komplexer Systeme gebietet[sic] Praxiskontrolle. Konsequenz: Dauerhafte Evaluation pädagogischer Systeme.`` Von Saldern, S.265.
2003-01-13
- Arbeit zitieren
- Uta Walossek (Autor:in), 2002, Systemtheorie in der Pädagogik. Welche praktischen Anwendungsmöglichkeiten folgen aus Luhmanns Systemtheorie?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107537
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