1. Einleitung
Seit etwa dreissig Jahren macht sich in der modernen deutschen pluralistischen Gesellschaft eine Entwicklung verstärkt bemerkbar. Ansteigende Zahlen von Kirchenaustritten, rückläufige Zahlen von Gottesdienstbesuchen, etc. sind ihre Indikatoren. Säkularisierung, ein Begriff der im vielfältigen religionswissenschaftlichen Sektor nun schon seit einigen Jahrhunderten für unruhige Stimmung sorgt.
Aber erst seit Ende der 1960er Jahre erscheint dieser Begriff dank des Religionssoziologen Thomas Luckmann in neuer Dimension. Mit seinem Buch „Die unsichtbare Religion“ greift er den Faden wieder auf, den seine Wissenschaftlerkollegen im Geiste, Max Weber und Emile Durkheim, entwickelt hatten. Sie sahen in Religiosität den Kern einer jeden Gesellschaft. Anschließend ignorierte die auf eine einfache Kirchensoziologie geschrumpfte Religionssoziologie diese Erkenntnis und isolierte die kirchliche Struktur aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext. Diese Isolation hielt so lange an bis Luckmann mit seinem heute noch wegweisenden Werk der „unsichtbaren Religion“ die alten Geister fortschrittlichen religionssoziologischen Denkens wieder wach rief. Doch nicht nur er, auch P.L. Berger hauchte neues Leben ein mit Werken die heute zur Standardliteratur dieser Wissenschaft gehören.
Diese Werke sowie die „unsichtbare Religion“ werden also Betrachtungsgegenstand und Mittel zur Durchleuchtung der Problemstellung dieser Arbeit sein. Es soll die Entwicklung von Religiosität in Strukturen moderner pluralistischer Gesellschaften ermittelt und dargestellt werden.
Um dieses Ziel zu erreichen erschien es sinnvoll, zunächst, nach der Literaturvorstellung, die Begriffe Pluralisierung und Säkularisierung zu klären und ihren bedeutenden Zusammenhang festzustellen.
Um noch tiefer vorzudringen und um einen Blick zu werfen auf die aktuelle Situation von Kirche und anderen Formen religiösen Lebens will ich zwei Bereiche untersuchen:
1. den Unterschied zwischen Religion, Religionsersatz und Ersatzreligion sowie eventuelle Schwierigkeiten die bei dem Versuch der Unterscheidung dieser Begriffe entstehen.
2. die auch als Kritikpunkt zu Luckmanns Arbeit stehende Annahme inwieweit Kirchlichkeit in modernen Gesellschaften überlebt und ob sie immer noch ausschließlich in der tradierten Form in Erscheinung tritt.
Zu diesen Punkten der aktuellen Situation von Religiosität und dem dahinter folgenden, der sich mit der Zukunft von religiösen Lebensformen beschäftigt, habe ich ergänzende, zum Teil sehr aktuelle Literatur heran gezogen. Bei 4.2 greife ich zum Teil zurück auf eine Diskussion im Rahmen des Seminars.
2. Inhalt und Bedeutung der Theorie der „unsichtbaren Religion“ von Thomas Luckmann
2.1 Inhaltswiedergabe
Die Theorie über die mögliche „Unsichtbarkeit“ von religiösen Erscheinungsformen wurde von Thomas Luckmann 1967 zunächst in englischer Sprache verfasst.1
Er geht davon aus, dass religiöses Verhalten nicht institutionell gebunden oder bedingt sein muss, sondern jedem Menschen, gleichgültig wie er institutionelle Religion bewertet, zu eigen ist. Luckmann bestimmt religiöses Verhalten über einen ‚funktionalen Religionsbegriff‘, was bedeutet, dass Religion in Gesellschaften einen bestimmten Zweck erfüllt. Zwar weiß Luck- mann, dass Religion wissenschaftlich auch von der institutionellen Seite betrachtbar und aus- leuchtbar ist, doch lehnt er diesen ‚substanziellen Religionsbegriff‘ ab, da er für die Religions- soziologie zu wenig Aussagekraft besitzt.2
Durch die These, dass Religion eine Funktion in Gesellschaften für jedes Mitglied innehat, löst sich Luckmann von einer puren Kirchensoziologie und weitet so das Blickfeld der reli- gionssoziologischen Betrachtung auf die gesamte Gesellschaft aus. Einfach ausgedrückt ist, nach Luckmann, Fähigkeit zu religiösem Verhalten der Unterschied zwischen Mensch und Tier3, sofern man annimmt, dass es Tieren nicht möglich ist ihr Verhalten zu reflektieren und es in einem zeitlichen und räumlichen Sinnzusammenhang zu sehen. Diese Fähigkeiten sind für Luckmann Voraussetzungen für einen religiösen Prozess. Und dieser Prozess transzendiert von einer rein biologischen auf eine menschliche bewußte Ebene.
Da die Intensität von Transzendenzen je nach Art unterschiedlich ist, ordnet Luckmann diese Erfahrungen in drei Kategorien: kleine, mittlere und gro ß e Transzendenzen.
Mit kleinen Transzendenzen sind alltägliche Erfahrungen wie die Überwindung von räumlichen Distanzen gemeint, die erst zunehmend bewußt werden, wenn diese Überwindung durch Krankheit, Gebrechlichkeit oder ähnliches schwerer fällt.
Mittlere Transzendenzen sind kommunikativ und interaktiv, also zwischenmenschlich be- dingt. Hier tritt die Bedeutung von Unterschieden zwischen miteinander sozial handelnden Menschen in Erscheinung sowie die Tatsache, dass Menschen sich ihren Mitmenschen durch Zeichen und Symbole verständlich machen müssen um verstanden zu werden, da der Mensch kein Schaufenster besitzt, in dem seine Gedanken und Gefühle im vollen Umfang erkennbar sind. Es geht also um Distanzen im zwischenmenschlichen Bereich die im übrigen nicht völlig überwunden werden.
Die großen Transzendenzen sind Aspekte der Definitionen der ‚letzten Dinge‘. Damit sind Fragen und Erfahrungen gemeint die sich mit dem Sinn des Lebens und Sterbens auseinander setzen: Warum leben/sterben wir; was ist der Sinn des Lebens? und so fort. Man kann also sagen, es besteht eine große Distanz zwischen Sinnsuche und Sinnfindung im ‚letzten Bereich‘, vielleicht die größte, wenn man von Überwindung von Distanzen im Zusammenhang mit den drei Kategorien von Transzendenzen spricht.
Das Transzendieren von Erfahrung findet im gesellschaftlichen Kontext statt. Jedes Individu- um ist beziehungsweise wird von Geburt an geprägt von einer oder, anders ausgedrückt, erhält eine bestimmte Weltansicht, das heißt, es ist eingebettet in einen Zusammenhang von Glau- bensvorstellungen, Normen und Einstellungen, deren Inhalte sich immer mehr oder weniger von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden. Dieser Zusammenhang wird vom Individuum im Verlauf seiner Entwicklung internalisiert. Während seiner Sozialisation, die streng genom- men ein ganzes Leben lang dauert, kann das Individuum über seine Transzendenzerfahrungen kommunizieren, wodurch eine Objektivierung des Erlebten stattfindet. Diese Objektivierung zugänglich zu machen für gesellschaftliche Bereiche bedeutet für Luckmann die Funktion von Religion.
Teil dieser Weltansicht ist der ‚Heilige Kosmos‘. Dies ist der Bereich der, nicht nur wie die Weltansicht auch, religiöser Natur ist, sondern hier werden der „letzte Sinn“ des Alltags und außeralltägliche Erfahrungen gespeichert. Der ‚Heilige Kosmos‘ ist heilig, die restlichen Be- standteile der Weltansicht sind profan, aber trotzdem im luckmannschen Sinn die Plattform für religiöses Verhalten.
Bei diesem soziologisch sehr weit gefaßten Religionsbegriff wird deutlich, dass nach der Theorie der „ unsichtbaren Religion“ Religion zum zentralen Kern und zur Grundlage einer jeden Gesellschaft bestimmt ist. Und, da für Luckmann Gesellschaft mit Realität gleichzusetzen ist, hat Religion auch zentralste Bedeutung in der Realität als ganzer.
2.2 Bedeutung der Theorie für die Religionssoziologie
Die Religionssoziologie hat ihren Ursprung im Denken von Emile Durkheim und Max Weber, deren Werke4 die Grundlagen bereiteten die heute noch für viele (Religions)-soziologen als Rahmenbedingungen für ihr Schaffen dienen. Wie Luckmann sahen sie (beziehungsweise er sieht wie sie) Religion als den zentralen Bereich einer Gesellschaft. Nach dem Ableben der beiden Wissenschaftler verschwand jedoch die Idee, dass Religion diese Stellung innehat, aus dem damaligen soziologischen Denken. Sie machte Platz für eine Religionssoziologie deren Gegenstand ausschließlich kirchliche Strukturen waren, die Kirchensoziologie. So ver- schwand auch die Möglichkeit von dem Zustand der gesellschaftlichen Strukturen auf be- stimmte Formen religiösen Lebens zu schließen und umgekehrt. Diese nicht vorhandene Möglichkeit wird heutzutage von vielen Soziologen als Grund für eine defizitäre Arbeitsweise der Religionssoziologie gesehen.
Bis also Luckmann an durkheimsche und webersche Gedanken anknüpfte verging etwa ein halbes Jahrhundert. Ende der 1960er Jahre prognostizierte Luckmann mit Unterstützung sei- nes Kollegen P.L. Berger und anderen eine schnell voranschreitende Wandlung des religiösen Lebens in modernen Gesellschaften. Rückblickend kann man sagen, dass der Beginn und die Anschwellung dieser Entwicklung zeitlich mit der Entstehung der „unsichtbaren Religion“ zusammen fiel. Diese Prognose und die grundlegende Idee seiner Arbeit nahm Luckmann zur Gelegenheit harte Kritik an erwähnter Kirchensoziologie und ihren seiner Ansicht nach sozio- logisch kurzsichtig agierenden Anhängern zu üben, die aufgrund ihrer Auftraggeber, der Kirchen, scheinbar Scheuklappen tragen mußten, so dass ihr Sichtfeld allein auf die kirchliche Institution gerichtet war. Dadurch mißachteten sie gesellschaftliche und religiöse Vorgänge, die großen Einfluss auf die zukünftige, also moderne, Religionswissenschaft, Theologie und Religionssoziologie haben sollten und somit auch auf die tradierten Formen religiösen Le- bens.
Durch die Polarität der Ansätze der Kirchensoziologie und der modernen Religionssoziologie und der dem entsprechenden Polarisierung der Bewertung der beiden Ansätze durch Luck- mann5 erntete dieser Gegenwehr und Kritik seiner kirchensoziologischen Gegnerschaft. Zu- nehmend konstruktiviert sich allerdings diese Kritik, da nun moderne Soziologen durchlässige Stellen in seiner Theorie feststellen. Er hat ihrer Ansicht nach den empirischen Sachverhalt mißachtet, dass neue Formen religiösen Lebens nicht nur die außerkirchliche Gesellschaft prägen, sondern auch innerhalb der christlichen Gemeinden mehr und mehr an Bedeutung ge- winnen.
Die Begriffe Pluralisierung und Säkularisierung
2.1 Pluralisierung
Dieser Begriff bedeutet, dass eine Gesellschaft sich in einem Prozess institutioneller Segmentierung befindet, der zu einer immer stärkeren Differenzierung der institutionellen For - men führt. Diese Entwicklung ist Merkmal von modernen industrialisierten Gesellschaften und sie vollzieht sich weiter in der postindustriellen Phase.6
Als starke Antriebsfeder dieser Entwicklung gilt der industrielle Sektor. Durch sie wurde der Produktionsprozess einer Ware auf vielen Schultern verteilt. Zum Beispiel wird in einer ein- fachen „vorindustriellen“ Bäckerei (die es gegenwärtig auch noch gibt) das Brot in der Back- stube von einer oder sehr wenigen Händen zubereitet und fertig gestellt. In einem Bäckerei- großbetrieb , einer „Brotfabrik“, werden Massen an Backwaren in einer sehr großen räumli- chen Umgebung produziert. Dabei durchläuft das Brot oder die Backware bis zur Fertigstel- lung verschiedene Back- also Produktionsphasen, im Prinzip wie in der kleinen Bäckerei auch; nur werden diese Phasen aus ökonomischen Gründen in spezialisierten Bereichen durch viele Hände und Maschinen bewältigt. Durch den hier an einem einfachen Beispiel erklärten Begriff der Arbeitsteilung griffen die Pluralisierungstendenzen im Lauf der Zeit auf alle ge- sellschaftlichen Bereiche über, bis hin zu kleinsten gesellschaftlichen Segmenten, da dieser Prozess zum bestimmenden Faktor der Entwicklung industrieller Gesellschaften wurde. Die so entstandene Pluralisierung betrifft auch den einzelnen Menschen, der aufgrund der dif- ferenzierten Aufgliederung der Gesellschaft auch mehr Tätigkeitsfelder, also verschiedene so- ziale Wirklichkeiten auszufüllen hat. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, übt er eine Vielzahl von Rollen aus, die sich in ihrem Inhalt, Sinn und Zweck auch widersprechen kön- nen7.
Luckmanns Theorie hat besondere Bedeutung für pluralistische Gesellschaften, da hier im Zuge der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit Religiosität sich von der öffentlichen Sphäre sich zunehmend ins Private verlagert. Religion verliert an Gewicht für die gesamtgesellschaftliche Organisation, das Bedürfnis des Individuums bleibt bestehen. Jedoch mit dem Anstieg der Wahlmöglichkeiten von Weltanschauungen, wird es gezwungen sich selber ein Weltbild zu errichten mit wenig institutionell-religiöser Unterstützung.8
2.1.1 Häresie im Rollenverhalten
Diese Vielzahl von Möglichkeiten für individuelles Rollenverhalten bedeutet eine Wahlmög- lichkeit für das Individuum. Dem Einzelnen werden viele seiner Rollen von der Gesellschaft, deren Teil er ist, nicht auferlegt, sondern er kann sein Rollensystem zum Teil selber konstru- ieren. Dabei hat er ein hohes Maß an Freiheit und Wahlmöglichkeiten. Die Folge der Pluralisierung ist die Individualisierung. Diese Freiheit im Wählen führt zu einer verstärkten Nachdenklichkeit und Reflektion über die Gesellschaft, sein Handeln und sich selbst. Das individuelle Rollenverhalten wird immer differenzierter und individueller. Das Individuum bleibt aber von Natur, beziehungsweise von der pluralistischen Gesellschaft aus, zum Wählen verpflichtet. Die Wahl wird schwieriger, die Patchworkidentität bekommt immer mehr Segmente, P.L. Bergers häretischer Imperativ9 bleibt bestehen.
2.2 Säkularisierung und ihre Abhängigkeit von der Pluralisierung
Die eben beschriebene Notwendigkeit eine Wahl zu treffen wird in den allermeisten gesell- schaftlichen Bereichen einer modernen Gesellschaft rollenspezifisch deutlich. Auch in der Re- ligion als gesellschaftlichem Bereich. Durch die verstärkte Nachdenklichkeit des Individu- ums, deren Ursache der häretische Imperativ ist, werden vorhandene Plausibilitätsstrukturen von Institutionen hinterfragt und dadurch eventuell unterhöhlt. Diese Unterhöhlung ist beson- ders „erfolgreich“ bei der Plausibilitätsstruktur von kirchlichen Institutionen. Skepsis und Ab- lehnung gegenüber Wahrheits- und Sinngehalten der kirchlichen Institution sind häufig die Früchte des individuellen Nachdenkens. Für viele Menschen bedeutet das eine Abkehr von ihrer Kirchlichkeit oder für Menschen, deren Sozialisation im pluralistischen Kontext erfolg- te, oft ein Leben ohne kirchlichen Einfluß. Allerdings wird die Kirche nicht aus der Gesell- schaft verschwinden. Sie wird an gesamtgesellschaftlichen Einfluß verlieren und in ihrer tra- ditionellen ihre Bedeutung für Randgruppen behalten10. Für die restlichen Menschen bleibt sie als Sekundärinstitution bestehen. Sie richten nicht mehr ihr Leben nach ihr aus. Kirche bleibt als Möglichkeit erhalten. Ihre Monopolstellung im religiösen Bereich verliert sie durch Verla- gerung religiöser Strukturen in andere gesellschaftliche Orte. Von diesen gibt es sehr viele verschiedenster Art. Diese sehr aufgeliederte Segmentierung des religiösen Bereichs einer Gesellschaft, nach Luckmann die Weltansicht, ist die Form einer Entwicklung, die als Säkula- risierung bezeichnet wird. Säkularisierung ist also die auf religiöse Strukturen bezogene Form der Pluralisierung.
Motor der Säkularisierung war der Protestantismus, da dieser sich am ehesten modernen ge- sellschaftlichen Strukturen anglich. Er war kompromißbereit und verweltlichte vielen Mei- nungen nach das heilige im Christentum. Von dieser „Protestantisierung“ betroffen waren bald auch andere traditionelle Religionsformen. Die „Schuld“ liegt aber nicht im Protestantis- mus selbst, sondern er war nur die Religion die „Nachdenkern“ den meisten Raum gewährten. Ursache der Reformation war schließlich der Beginn der Neuzeit, gleichbedeutend mit dem Beginn moderner Denkweise. Die „Schuld“ liegt also bei der pluralistischen Gesellschaft.
4. aktuelle Formen religiösen Lebens
4.1 aktuelle Formen religiösen Lebens in unterschiedlichen pluralistischen Gesellschaften
Luckmann hat sein Buch wie bereits gesagt zuerst in englischer Sprache verfasst und es erschien zuerst in den U.S.A. Geschrieben wurde es eben dort und sein Autor nahm sich die amerikanische Gesellschaft zum Forschungsobjekt. Ein Kritikpunkt an Luckmanns Arbeit ist, dass er seine Theorie, die er auf genannte Gesellschaft anwendet, automatisch überträgt auf andere europäische pluralistische Gesellschaften.
So ist die religiöse Struktur Amerikas geprägt von Sektierertum und unterschiedlichen Formen der Religionsausübung auch innerhalb der christlichen Konfessionen. Frankreich zum Beispiel erlebt den Entkirchlichungsprozess in anderer Form, als er in Deutschland geschieht. In Deutschland findet die von Luckmann vorhergesagte Verlagerung in andere gesellschaftliche Bereiche statt. In Frankreich bildet sich eine antiklerikale Bewegung, die sich gegen traditionelle Kirchlichkeit auflehnt. Hierfür wird der Begriff „Laicisation“ verwendet11. Inwiefern und ob überhaupt er mit dem deutschen Begriff der „Laisierung“ in Verbindung steht, konnte ich nicht herausfinden.
Inwieweit europaweit staatenspezifische Unterschiede in der Ausprägung von sichtbarer und unsichtbarer Religiosität zu erkennen sind bleibt wohl (ebenfalls) noch zu erforschen. Ob aber ob dieser Differenzierung in der religionssoziologischen Betrachtungsweise Kritik an Luck- manns Ansatz gerechtfertigt ist, ist aufgrund seines sehr weiten funktionalen Religionsbe- griffs fraglich.
4.2 Religion, Religionsersatz oder Ersatzreligion
In Zusammenhang mit der Verlagerung des religiösen Lebens von tradierten Formen der Religion hin zu neuen „Sinnstiftungen“ entsteht die Frage, welche Formen sozialen Handelns als tatsächlich religiös anzusehen sind. Bei Luckmann kann man, da er alle drei Kategorien der Transzendenzen als religiöse Erfahrungsbereiche sieht, diese Frage schnell und einfach beantworten.
Um jedoch wirklich zu erkennen, was beim Menschen der pluralistischen Gesellschaft die Stelle von traditionellen Glaubensvorstellungen einnimmt, kann man die Kriterien und Definitionen von Religion von Max Weber und Emile Durkheim zur Hilfestellung nehmen. So ist es möglich, herauszufinden, welche gesellschaftlichen Begebenheiten religiösen Charakter besitzen und welche eben nicht, beziehungsweise zu unterscheiden zwischen Religion, Religionsersatz und Ersatzreligion.
Nach Durkheim entsteht Religion durch den Glauben an etwas Heiliges, das Totem, (er unter- suchte religiöses Verhalten in primitiven Gesellschaften) dem in bestimmten Bräuchen, also Zeremonien, die in bestimmte Rituale unterteilt sind, gehuldigt wird. Alles was auf das Totem bezogen ist, also auch und besonders bestimmte Handlungen gelten als heilig. Alles andere ist profan, also weltlich. Soziale Realitäten, worin man Dinge, Personen und Handlungen findet, die im durkheimschen Sinn als heilig gelten, sind also religi ö se Realitäten. Dies können auch Teilbereiche einer gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit sein, wie zum Beispiel bestimmte Formen des Erlebens des samstäglichen Bundesligaspieltags. Die religiöse Realität nach Durkheim muss keineswegs archaischer Natur, sondern kann Merkmal moderner säkulara- tiver, pluralistischer Gesellschaften sein. Was aber bedeuten die beiden anderen Begriffe?
Religionsersatz meint eine Form gesellschaftlichen Handelns, deren Funktion eine religiöse Zielsetzung hat, wo aber bestimmte Merkmale die eine Form religiösen Handelns ausmachen, fehlen. So kann zum Beispiel einem Bundesligaspiel der religiöse Charakter genommen wer- den, indem keine Fankleidung getragen wird und kein Ritual wie zum Beispiel die „La-Ola- Welle“ vollzogen wird.
Der Begriff Ersatzreligion geht davon aus, dass ein bestimmtes Individuum nicht unbedingt weiß, dass sein Handeln religiöser Natur ist. Es ist auch nicht geklärt, ob der mit diesem Be- griff besetzte gesellschaftliche Bereich nur unzureichender Ersatz für die ausreichende Sinnstiftung „ordentlicher“ Religion (wer weiß, ob es so etwas gibt!?) ist oder ob er tatsächlichen religiösen Charakter besitzt. Auch hier ist das Fußballstadion meines Erachtens ein gutes Beispiel, da man hier von Verein zu Verein und auch von Spiel zu Spiel aber natürlich auch grundsätzlich streiten kann, ob es Religion oder Nicht-Religion ist, oder anders ausgedrückt: man kann unterscheiden zwischen und streiten über die richtige Anwendung der Begriffe Religion, Ersatzreligion und Religionsersatz.
4.3 Neue Kirchlichkeit?
Ein weiterer Kritikpunkt an Luckmanns Theorie ist, dass er außer acht läßt, dass moderne innovative Konstruktionen von Plausibilitätsstrukturen auch Eingang finden in traditionelle Systeme von Kirchlichkeit13. Er sieht in dem Säkularisierungsprozess, mit dem er die Ent- wicklung von unsichtbarer Religion meint, ausschließlich die Verlagerung von sichtbarer Kirchenreligiosität zur häretischen Religiosität der modernen pluralistischen Gesellschaft. Für die Tatsächlichkeit dieser Entwicklung spricht die zunehmende Marginalisierung und Verdrängung von traditionell christlich orientierten Menschen an den Rand der Gesellschaft.
Allerdings zeigt eine qualitative Studie eines bayreuther Religionssoziologen12, dass sich auch innerhalb der kirchlichen Gemeindestrukturen bei aktiven Kirchenmitgliedern in den Glaubensvor- und einstellungen eine Wandlung vollzieht, die keine Vernachlässigung des kirchlichen, beziehungsweise christlichen Engagements mit einschließt. Dabei sind sehr dif- ferenzierte Formen von Einstellungen zu „ihrer“ Kirche zu erkennen: manche zeigen starkes Engagement in ihrer Gemeinde, lehnen ihre Amtskirche aber aufgrund ihrer konservativen Handlungsweisen ab. Andere befürworten sehr eine Kirchenzugehörigkeit, gehen aber nie zum Gottesdienst oder sonstigen kirchlichen Veranstaltungen. Wieder andere erproben neben ihrem „Christsein“ auch andere religiöse, zum Beispiel esoterische Glaubenswege, um ihr Bedürfnis nach Transzendenz zu befriedigen. In dieser Richtung gibt es noch einige weitere Beispiele.
Bei einer solchen Vielfalt von Einstellungen zum christlichen Glauben, liegt es nah von einer Pluralisierung und Säkularisierung im Sinne Luckmanns auch innerhalb von kirchlichen und christlichen Strukturen auszugehen. Vielleicht hat Luckmann nicht beachtet, dass auch die Kirchen mit ihren Gemeinden Teil der Gesellschaft bleiben, auch wenn sie früher, zur Zeit der Krise der Religionssoziologie, isoliert sehen wollten. Das soll nicht heißen, dass die Verant- wortlichen der Kirchen wissen, wie es um die Glaubenssituation ihrer Mitglieder steht. Im Gegenteil:viele professionelle Kirchenangehörige stecken scheinbar wie ein großer Vogel den Kopf in den Sand und eine gewisse Anzahl Religionssoziologen hilft ihnen sogar dabei.
5. Fazit: Blicke in die Zukunft
5.1 von kirchlichen Strukturen
Da ich der Ansicht bin, dass die westlichen pluralistischen Gesellschaften trotz der vielen neu- en und einigen alten religiösen Strömungen immer noch stark christlich geprägt ist, glaube ich nicht, wie Luckmann auch, an eine Auflösung des christlichen Glaubens und eine totale Ent- kirchlichung. Meiner Meinung nach wird sich die Verschiebung, Verlagerung und Verände- rung von Plausibilitätsstrukturen immer weiter fortsetzen, sowohl innerhalb wie außerhalb tradierten Formen religiösen Lebens. Stärker wird diese Entwicklung aber immer da sein, wo keine institutionelle Kontrollfunktion gegeben ist, die durch bestimmte Experten gestützt wird. Das Ausmaß und die Intensität von Veränderungen der Plausibilitätsstrukturen wird wohl das Ergebnis sein aller möglichen ausdenkbaren gesamtgesellschaftlichen Faktoren, da daraus eine jede und die Weltansicht gemacht ist. So, wie sich Plausibilitätsstrukturen bisher im historischen Verlauf immer verändert haben, so, nämlich ungleichmäßig und immer weiter weg zum Beispiel von der christlichen Plausibilitätsstruktur des Mittelalters werden sie sich weiter verändern.
5.2 von neuen Formen religiösen Lebens
Sie dienen der Unterstützung der Hauptreligionen in modernen Gesellschaften oder sie verleiten das Individuum zur Abkehr von seiner „Stammreligion“
Konsum zum Beispiel als Form von Religiosität fördert zwar möglicherweise das Wirtschafts- wachstum und ist so auf der einen Seite gut für das wirtschaftliche Wohl aller. Auf der ande- ren Seite fördert er Eigensinn, Eigennutz, Habgier und Egoismus des einzelnen. Neue esoterische Bewegungen sowie entdeckte zum Beispiel fernöstliche Glaubensrichtungen bauen das Plausibilitätsgerüst der christlichen Welt aus und machen es stabiler. Neue religi- ons(ähnliche) Bewegungen sind häufig nur Trends und austauschbar. Beispiele: Wellness, Modesportarten.
Ich glaube eine besonders wichtige Frage zum Ausblick auf die Entwicklung neuer, bezieh- ungsweise junger oder neu entdeckter religiöser Formen ist, inwieweit Ereignisse wie das Hochwasser der Elbe diesen Sommer oder der elfte September des letzten Jahres einen Ein- fluss auf diese hat und ob eine Zurückverlagerung stattfindet von modernen Formen religiösen Lebens hin zu traditionell anmutender Christlichkeit oder sogar Kirchlichkeit.
[...]
1 Das Buch in deutscher Sprache: Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991
2 vgl. ebenda, S.78ff
3 vgl.ebenda, S.82
4 Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main 1984
5 vgl. Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991, S. 50-62
6 vgl. Berger, Peter L., Et. al.: Das Unbehagen in der Modernität. Frankfurt am Main 1975, S. 86-91
7 vgl. Berger, Peter L.: Der Zwang zur Häresie. Frankfurt am Main 1980, S. 63-65
8 vgl. Berger, Peter L., Et. Al.: Das Unbehagen in der Modernität. Frankfurt am Main 1975, S.81f
9 vgl. Berger, Peter L.: Der Zwang zur Häresie. Frankfurt am Main 1980, S. 32-37
10 vgl. Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion. Frankfurt am Main 1991, S. 62-77
11 vgl.:Wydmusch, Solange:Religiöser Pluralismus. Zeichen der Moderne? http://www.diagonal- verlag.de/ftp/2001-wydmusch.pdf
13 vgl.:Eikenbusch,Jürgen: Unsichtbares Christentum? Hamburg 2001, S. 48-77
12 vgl.:Bochinger, Christoph: Das Unsichtbare in der sichtbaren Religion. http://www.uni- bayreuth.de/departments/irg/
- Quote paper
- Carsten Krug (Author), 2002, Religion in modernen pluralistischen Gesellschaften, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107300
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