Prof. Dr. Peter Henkenborg
1. Einleitung
In dieser Arbeit widme ich neben den Erkenntnissen Henkenborgs zur Didaktik des Politikunterrichts (Ziele, Inhalte, kategoriale Bildung, Lernziele) seinen Ausführungen zur Anerkennungstheorie von Honneth und den Überlegungen betreffend neuer Herausforderungen für den Politikunterricht durch eine veränderte Form des Aufwachsens in der Bundesrepublik.
Diese Schwerpunktsetzung erscheint mir richtig, da der Anerkennungstheorie eine umfassende, über den Politikunterricht hinausgehende Bedeutung zukommt und die intensive Auseinandersetzung mit den Lebensumständen der Heranwachsenden unvermeidbar ist, will der Politikunterricht sein Ziel nicht aus den Augen verlieren.
2. Biographie, Forschungsschwerpunkte und Publikationen Henkenborgs
Henkenborg wirkte von 1986-1999 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Studienrat im Hochschuldienst am Institut für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Während dieser Zeit übernahm er Vertretungsprofessuren an der Gesamthochschule Kassel (April 1995-Februar 1997), an der Universität Gießen (Sommersemester 1997) und an der TU Dresden (WS 1997/98-SS 1998). Hier lehrt er seit dem Wintersemester 1999/2000 als Professor für Didaktik der politischen Bildung/Gemeinschaftskunde.
Seine Universitätslaufbahn wird ergänzt durch eine langjährige Erfahrung in der Schule, in der politischen Erwachsenenbildung und in der Lehrerfortbildung.
Ein Forschungsschwerpunkt Henkenborgs besteht darin, die Politische Bildung als „Kultur der Anerkennung“ normativ zu begründen und empirisch zu rekonstruieren. Weiterhin widmet er sich der empirischen Analyse von politischen Lehr- und Lernprozessen in Schule und Unterricht sowie Untersuchungen zur Wirksamkeit politischer Lernprozesse. In enger Verknüpfung dazu gilt sein Interesse der Erforschung neuer schüleraktiver Lehr- bzw. Lernmethoden und dem Umgang mit massenmedialen Informationsangeboten in der politischen Bildung.
Bisher hat Henkenborg zahlreiche Aufsätze in anerkannten Zeitschriften, Lexika und Handbüchern der politischen Bildung publiziert. Zudem fungierte er als Mitherausgeber einiger Werke und veröffentlichte 1992 seine Dissertation „Die Unvermeidlichkeit der Moral“.1
3. Demokratie- Lernen als Leitziel politischer Bildung
Die politische Bildung diente in Deutschland lange Zeit als Instrument der Herrschaftssicherung bzw. des Machtausbaus der Staatsführungen.2
Ihre Zielsetzung änderte sich nach 1945. Sie sollte als Schul- bzw. Unterrichtsprinzip sowie als Unterrichtsfach einen Beitrag zur Festigung des demokratischen Bewusstseins in der Bevölkerung leisten.
Seit Beginn der Bundesrepublik hat die politische Bildung eine wichtige Funktion in der Entwicklung von Demokratie übernommen. Nach dem Ende des Nationalsozialismus sollte sie als ein notwendiges Fundament der Demokratie deren Einbürgerung durch eine Erziehung zur Mündigkeit unterstützen. Der Politikunterricht wollte „Demokratie-Lernen“ (Fischer) ermöglichen und zu vernünftiger Selbstbestimmung, zur Freiheit des Denkens und Handelns, zur Reflexivität und Kritikfähigkeit, zu politischem Engagement und Verantwortung befähigen. Kinder und Jugendliche sollten [...] insbesondere lernen, den Prinzipien der westlichen Demokratie zuzustimmen, die Demokratie wirklich als ihre eigene Sache und sich selbst als Subjekte des politischen Prozesses zu begreifen.3
Eine wesentliche Errungenschaft der Demokratie ist für den Politikunterricht von großer Bedeutung: Die Achtung der Meinungsfreiheit und der damit häufig verbundene Dissens. Demokratie-Lernen heißt nicht zuletzt, konstruktiv mit unterschiedlichen Ansichten und Interessen umgehen zu können.
Demokratie-Lernen kann im Politikunterricht nur dann stattfinden, wenn Lehrer und Schüler versuchen, sich im Klassenzimmer mit politischen Handlungskonflikten oder Auffassungsunterschieden argumentativ auseinanderzusetzen. Lernen zu argumentieren bedeutet, im Sinne verständigungsorientierten Handelns als ein Ziel politischer Bildung, Kommunikationsregeln zu lernen und zu befolgen.4
Die Begriffe Mündigkeit, Autonomie und Identität als Bestandteile der Ausbildung demokratischer Überzeugungen, so Henkenborg, „erfordern immer auch Formen moralischer Integrität- z.B. Prinzipien und Regeln der Achtung, Gerechtigkeit, Fürsorge oder Solidarität- und expressiver Gemeinschaft- z.B. gemeinsame Konzeptionen des guten Lebens; Übereinstimmungen in Wertvorstellungen, Vorstellungen des Guten und Wünschenswerten, gemeinsame Sinndeutungen.“5 Die Dissertation Henkenborgs6, auf die in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden kann, verdeutlicht die wichtige Rolle der Moral- und Werteerziehung der Jugend.
4. Der Politikunterricht
4.1. Die Unterrichtsthemen
Henkenborg äußert sich weder in seiner Dissertation, noch in seinen zahlreichen Aufsätzen umfangreich zur Auswahl der Unterrichtsinhalte. Die vorhandene Literatur erlaubt jedoch die Aussage, dass sich die SchülerInnen im Politikunterricht mit den Schlüsselproblemen der Gegenwart und absehbaren Zukunft befassen sollen.7 Als Schlüsselprobleme von allgemeinem Interesse betrachtet er unter anderen die Globalisierung, soziale Ungleichheit und die Folgen technologischer Entwicklungen.8 Die weitgehende Übereinstimmung in der Didaktik der politischen Bildung hinsichtlich der wichtigen Schlüsselprobleme lässt den Schluss zu, Henkenborg widme sich auch aus diesem Grund in größerem Ausmaß weniger erforschten Gebieten.
4.2. Fachdidaktische Kategorien als Instrument der Unterrichtsplanung
Die Idee, fachdidaktische Kategorien für den Politikunterricht zu nutzen, ist nicht neu. Henkenborg stellt einen Vergleich der bisher mit dem Gegenstand befassten Personen mit der abschließenden Erkenntnis an, dass die Anzahl der übereinstimmenden Kategorien gering ausfällt.9
Die Funktion der kategorialen Bildung besteht laut Henkenborg darin, politische Themen in unterschiedliche Bereiche zu gliedern und unter verschiedenen Aspekten und Fragestellungen zu untersuchen. Dadurch gewährleisten sie die Übersichtlichkeit und Vereinfachung komplexer Sachverhalte.10
Dennoch seien Kategorien nicht als das einzige Element eines guten Unterrichts zu verstehen. Henkenborg warnt davor, sie als Instrument der Unterrichtsgestaltung zu überschätzen.
Natürlich sind Kategorien nicht der Unterricht selbst. Sie müssen mit Zielen, Lernwegen, Methoden und Medien verbunden werden. [...] Ebensowenig darf ein kategorial angelegter Politikunterricht dazu führen, dass der eigentliche Sinn des Politikunterrichts verdrängt und dominiert wird: die kommunikative Auseinandersetzung mit den Deutungen und Bedeutungen, die Schüler und Schülerinnen in der Auseinandersetzung mit Politik im Unterricht produzieren.11
Die Anordnung des Kategoriensystems von Henkenborg ist geprägt durch die Einflüsse Bernhard Sutors und Walter Gagels sowie der Geschichtsdidaktiker Ulrich Mayer und Hans-Jürgen Pandel.12
Henkenborg unterteilt die Kategorien in fünf Dimensionen: Bezogenheit von Politik auf die eigene Person (Schülerorientierung), Situationsanalyse, Lösungsoptionen, Konsequenzen der jeweiligen Lösungen und Urteilsbildung bzw. Entscheidungsfindung.
Die einzelnen Kategorien werden mit entsprechenden Schlüsselfragen verbunden.13
Der Aufbau seines Modells erfolgt nach eigenen Angaben in Form eines Lernweges, dessen Ziel die auf systematisch gewonnenen Erkenntnissen beruhende Urteilsbildung ist. Weiterhin sei der Lernweg dazu geeignet, der Lehrperson als Grundlage der Unterrichtsplanung zu dienen sowie das Exemplarische und Verallgemeinerbare von Politik zu verdeutlichen.14
4.3. Das Lernzielraster
Nach Henkenborg sollen SchülerInnen im Politikunterricht die Kompetenzen erwerben, die zur Entwicklung von Mündigkeit und damit zur Werteerziehung beitragen. Die optimale Umsetzung dieses Ziels sieht er in der Anwendung des von ihm strukturierten Lernzielrasters gegeben.
Das Lernzielraster unterteilt er in den Erwerb von Schlüsselqualifikationen (vertikale Achse) und die traditionellen Lernzielbereiche der kognitiven, pragmatischen und affektiven Dimension, die nochmals nach Anbahnung, Entfaltung und Gewohnheit unterschieden werden.15
4.3.1. Die Schlüsselqualifikationen
„Wie können Menschen in der Gesellschaft lernen, zusammen zu leben“ (Grammes, 1991, S. 18).16
Die Lösung dieser Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen, erfordert laut Henkenborg diverse Fähigkeiten, die im Politikunterricht vermittelt werden sollen. Dazu zählt er die Kompetenz der Selbst- und Fremdwahrnehmung (Umgang mit gebrochener Identität), die technologische Kompetenz (Gesellschaftliche Wirkungen begreifen) und die kommunikative Kompetenz (Umgang mit pluralistischen Weltverständnissen), die ökologische Kompetenz (pfleglicher Umgang mit der Natur), die historische Kompetenz (Erinnerungsfähigkeit), die Gerechtigkeitskompetenz (Wahrnehmungsfähigkeit für Recht und Unrecht) und die Politikkompetenz (Fähigkeit zur politischen Teilhabe).17
4.3.2. Die kognitive Lernzieldimension
Auf den Erwerb von Wissen (Anbahnungsphase) und Erkenntnissen (Entfaltungsphase) folgt nach Henkenborg in der Gestaltungsphase die Urteilsbildung, die unter drei Aspekten geschehe.
In den Prozess der Urteilsfindung habe die Frage einzufließen, ob die angestrebten Entscheidungen das Kriterium der Zweckrationalit ä t erfüllen und an Effizienz orientiert seien. Dementsprechend müssen Urteile beispielsweise durchsetzungsfähig oder rentabel sein. Unter moralischen Gesichtspunkten, so Henkenborg, haben Urteile immer auch das Wohl der Beteiligten und die Prinzipien der Achtung zu berücksichtigen. Dazu zählt er u.a. die Wahrung der seelischen und körperlichen Unverletzbarkeit. Schließlich werde die Urteilsbildung durch die „selbstbestimmte Konzeption des guten Lebens“ und die individuellen Werthaltungen einer jeden Person bestimmt (pr ä ferenzielle Urteile).18
4.3.3. Die pragmatische Lernzieldimension
Unter dem Begriff „Kommunikatives Lernen“ fasst Henkenborg die Aufgabe des Politikunterrichts zusammen, die professionelle Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen durch Interaktion, Begegnung und Dialog zu schulen. Es gehe um die Ermöglichung von Miteinander trotz und im Dissens (Anbahnung: Meinung äußern; Entfaltung: Gespräche führen; Gestaltung: Diskussion). Als Voraussetzung des kommunikativen Lernens bezeichnet er die Methodenkompetenz. Hier sollen die SchülerInnen Fähigkeiten entwickeln (hören, beschreiben, sammeln, nachschlagen usw.), die anschließend in der Entfaltungsphase die Vermittlung von Fähigkeiten erleichtern (anordnen, vergleichen, unterscheiden usw.).19
4.3.4. Die affektive Lernzieldimension
Die SchülerInnen sollen u.a. zu Einstellungen, Überzeugungen und Identifikationen gelangen sowie Werthaltungen und politische Tugenden ausprägen. Dazu gehört der „gewaltfrei-kommunikative Umgang mit Dissens, Konflikten und Ambivalenzen“, da ohne diese Fähigkeiten eine moderne Demokratie nicht denkbar sei. Allerdings müssen die Kinder und Jugendlichen ihre individuellen Werthaltungen frei und ohne den Druck außenstehender Personen entwickeln können.20
5. Die Anerkennungstheorie: Grundlage der Erziehung zum demokratischen Bürger und Bestandteil der Schulkultur
Die Erziehung zum demokratischen Bürger im Politikunterricht bedarf einer Voraussetzung, die als Grundlage des Reifungsprozesses der SchülerInnen zu Mündigkeit, Autonomie und Identität zu verstehen ist:
Folgt man der Anerkennungstheorie von Honneth kann man nämlich sagen: Erfahrung sozialer Anerkennung kann in Schule und Unterricht- wie in der Gesellschaft überhaupt- als die entscheidende Bedingung für die Entwicklung von Identität, Autonomie und Mündigkeit gelten. Die Chance einer positiven Selbstbeziehung ist dann an die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung gebunden.21
Diese Aussage beinhaltet bereits die Forderung, die Wichtigkeit der Anerkennungstheorie zu erkennen, auf die Institution Schule in ihrer Gesamtheit zu übertragen und unter ihrer Berücksichtigung eine Verbesserung der Schulkultur zu erreichen.
Schulkultur hätte dann den Erwerb sozialer Anerkennung, d.h. die wechselseitige Erwartung, als moralische Personen und für ihre Leistungen Anerkennung zu finden durch die Entfaltung von drei Anerkennungstypen zu garantieren.22
Nach Honneth unterscheidet Henkenborg drei Formen sozialer Anerkennung: emotionale Wertschätzung, rechtliche Anerkennung und soziale Wertschätzung. Schule habe die Pflicht, der einzelnen Person durch die soziale Wertschätzung zu vermitteln, aufgrund ihrer Leistungen und Ansichten ein wichtiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Weiterhin müsse sie erreichen, dass sich die Heranwachsenden als gleichberechtigte Träger von Rechten verstehen (rechtliche Anerkennung) und durch emotionale Zuwendung das eigene Selbstbewusstsein bzw. das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu steigern in der Lage sind.23
Verschiedene Schüler- bzw. Lehreraussagen dienen Henkenborg zur Veranschaulichung der Anerkennungsformen.24
Emotionale Wertschätzung:
Lehrer: „Wenn die Lehrer das tun, wenn sie die Kinder lieben und akzeptieren, dann haben sie wahrscheinlich auch mehr Erfolg. Ich kenne Beispiele, wo Kollegen sagen, ich mag Kinder nicht, und da hört man als Rückkoppelung, ich mag die Frau auch nicht. Die Kinder spüren das, und der Erfolg, der Lernerfolg, fehlt dann auch irgendwann.“
Rechtliche Anerkennung:
Schülerin: „Der hat jede Meinung akzeptiert, sich damit befaßt, auch kritisiert, aber jeder Schüler konnte sich sicher sein, wenn er das Gegenteil von seiner Auffassung sagte,daß er davon keinen Nachteil hatte. [...] Das war für mich ganz bedeutend, bis dahin habe ich das Fach überhaupt nicht gemocht, weil ich bis dahin nur Lehrer hatte, wo ich meine Meinung nicht sagen konnte, oder die, wie gesagt, zu lasch waren.“
Soziale Wertschätzung:
Schüler: „Es kommt auf die Person an, da gibt es wirklich Leute, die sagen, ich find` das gut, was Du machst, ich bin zwar nicht Deiner Meinung, aber ich anerkenne und toleriere das auch. Und ich glaube, wenn ich mit solchen Menschen zusammenarbeite, dann bin ich auch ein Stück weit glücklich.“
Obwohl Henkenborg nicht gesondert darauf eingeht und keinen Zusammenhang herstellt, kann aus dem Gesamteindruck geschlossen werden, dass mangelnde Anerkennung Ausgrenzungserlebnisse und Versagenserfahrungen zumindest begünstigt, wenn nicht auslöst. Die Angaben über die Lebensläufe einiger Jugendlicher, die sich zum angegebenen Zeitpunkt in einem Berufsschulzentrum in Hessen in besonderen Ausbildungsgängen befinden, stützen diese Ansicht.
Christian hat eine Sonderschulgeschichte hinter sich und arbeitet als ungelernter Arbeiter in der gleichen Firma wie sein Vater. [...] Michael hat nach seinem Hauptschulabschluß keine Lehrstelle gefunden und durchwandert jetzt die verschiedenen Auffangmaßnahmen. [...] Markus hat eine absteigende Schulkarriere vom Gymnasium auf die Realschule hinter sich. Derzeit arbeitet er als Praktikant im Krankenhaus. Seinen ursprünglichen Berufswunsch des Krankenpflegers scheint er aber aufzugeben, eine Alternative scheint noch nicht in Sicht.25
Das abschließende Resümee eines Lehrers enthält zwei Problembereiche, die nach Honneth und Henkenborg durchaus als Folge fehlender Anerkennung interpretiert werden können.
In einem Paper hat er die komplexe Problemsituation der Jugendlichen festgehalten: in der Schule gescheitert, in der Familie gest ö rte Beziehungen, Alkohol und aggressives Verhalten in der Freizeit und schließlich als Summe aus alledem, dem Arbeitsmarkt nicht gewachsen.26
Die Kompensation der eigenen Minderwertigkeitsgefühle findet bei diesen Schülern ihren Ausdruck häufig in einem „Kampf um Anerkennung“, der einen Unterricht unter Normalitätsbedingungen nicht zulässt.
Eine andere Lehrerin erzählt von Schülern, die alles, was im Unterricht passiert, niedermachen müssen und die Unterschiede, z.B. beim Lesen, nicht als Unterschiede in ihren Stärken darstellen können, sondern als Unterschiede der Schwächen demonstrieren müssen: „Es gibt jemanden der ist noch schlechter als ich“. Die selbst erlittenen Versagenserlebnisse sollen andere wiederholen, um dann selbst „in einer starken Rolle zu sein“.27
6. Der Politikunterricht und die heutige Jugendgeneration
Henkenborg unterstellt der heutigen Jugend eine Entfremdung von den traditionellen Elementen der Politik, den Parteien und der Demokratie als Staatsphilosophie. Auf der anderen Seite beklagt er die wachsende Apathie, die Steigerung der Gewaltbereitschaft und die Aufgeschlossenheit der Heranwachsenden gegenüber rechtsradikalen Gruppierungen.28
Da es ein zentrales Anliegen der politischen Bildung in Schule und Unterricht ist, diesen Tendenzen Einhalt zu gebieten und das politische und demokratische Bewusstsein der SchülerInnen zu stärken, stellt sich die Frage, welche Gründe dieses Bestreben gefährden.
Henkenborg sieht die politische Bildung Erwartungen gegenüber, denen sie nicht gerecht werden kann:
Schule und Unterricht sollen angesichts von Rechtsradikalismus und Gewaltbereitschaft mehr Wert auf die Erziehungsfunktionen von Schule und Unterricht (Leggewie 1995), auf Auseinandersetzung mit Werten und Normen und auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen legen (Hafeneger 1997). Schließlich sollen sie helfen, sie sozialen und kulturellen Modernisierungsrisiken im Leben von Kindern und Jugendlichen zu kompensieren, etwa die Erosion von Familien oder die Risiken und Gefahren, die entstehen, wenn Jugendlichen der Einstieg in eine durch Beruf, Einkommen, Lebensqualität oder gesellschaftliche Rollen gesicherte „Normalbiographie“ nicht gelingt (Hentig 1993). Der Erwartungsexplosion stehen allerdings wachsende Zweifel gegenüber, ob der traditionelle Politikunterricht die auf ihn zukommenden Aufgaben überhaupt noch erfüllen kann.29
Die Bestandsaufnahme Henkenborgs deutet auf eine veränderte Form des Aufwachsens hin, die es von den Jugendlichen zu bewältigen gilt. Die Individualisierung, so Henkenborg, führe zu einer Vielzahl an Chancen, aber auch Risiken hinsichtlich der Lebensgestaltung.
Die Chancen sind offenkundig: ein „Wachstum von Optionen“, eine gewachsene biographische Offenheit, „eine Pluralisierung von Lebensstilen“, eine Erweiterung von Lebenschancen, und Autonomiemöglichkeiten, eine „Öffnung des sozialen Raums“ (Vester u.a. , S. 1993). Ebenso offenkundig wie die Chancen sind die Gefahren und Risiken: [...] Individualisierung hinterläßt bei Kindern nicht lediglich eine „Leere im Kopf“, sondern verursacht ebenso ein großes Maß an seelischem Schmerz : Ohnmacht, Einsamkeit, Orientierungslosigkeit, Kränkungen, Angst, Wut, Haß.30
In einem unmittelbaren Zusammenhang mit den vielfältigen Möglichkeiten, die durch die Individualisierung gegeben seien, entstehe bei den Heranwachsenden eine Identitätssorge31, die sich durch veränderte Interessen und Ansprüche an den Politikunterricht äußere.
Henkenborg mutmaßt, es existiere eine Diskrepanz zwischen den Inhalten traditioneller politischer Bildung und den Bedürfnissen der SchülerInnen, deren Politikverständnis „von expressiven Werten der Selbstverwirklichung bestimmt“ werde.
Sie beziehen das Politische verstärkt auf Fragen der neuartigen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungszwänge, die in „privaten“ Lebensbereichen und entlang existentieller Lebensfragen aufbrechen.32
Die Auflösung dieser Differenz erweist sich als komplexe Herausforderung für die politische Bildung.
Wenn Jugendliche gegenüber den Inhalten der traditionellen Politik auf Distanz gehen, droht ein an ihnen orientierter Politikunterricht den Anschluß an die jugendlichen Deutungsmuster zu verlieren.33
In der Konsequenz hieße das, die „Rohstoffe des Politischen“ der Jugendlichen zu vernachlässigen. Dieser Begriff bezeichnet „Gefühle, Interessen, Bedürfnisse, Erinnerungen, Leiden, Freuden, Hoffnungen, Enttäuschungen etc. [...] Wer als Lehrer nicht selbst neugierig auf Game-Boy, Techno-Musik, Graffities, Lindenstraße oder die Autos seiner Kids und auf die darin versteckten Bedeutungen ist, wird mit seinen Schülern und Schülerinnen kaum „Rosenknospen“ pflücken können.“34
Umgekehrt droht, wo sich der Unterricht auf die lebensweltlichen Deutungsmuster des Politischen einlässt, die Gefahr eines unpolitischen Politikunterrichts, wenn der Unterricht die Brücken zwischen individuellen Lebensthemen (z.B. Liebe und Gesundheit) und gesellschaftlichen Schlüsselproblemen (z.B. Individualisierung und Ökologie) [...] nicht herstellen kann.35
7. Würdigung
Die übergeordnete Zielsetzung der politischen Bildung, die Festigung des demokratischen Bewusstseins unter Berücksichtigung der Werteerziehung, ist in Deutschland in großen Teilen der Bevölkerung anerkannt. Es ist berechtigt und notwendig, fortwährend zu überprüfen, ob dieses Ziel mit den in der Vergangenheit erfolgreich verwendeten Methoden und Inhalten erreicht werden kann.
Tatsächlich weist viel darauf hin, dass bei der Jugend ein mangelndes Interesse an politischen Themen und der Demokratie als Staatsordnung zu verzeichnen ist. Die zentrale Behauptung Henkenborgs, die veränderte Form des Aufwachsens und die Individualisierung lasse eine Distanz der Jugendlichen zur traditionellen Politik entstehen, möchte ich in dieser Deutlichkeit weder bestätigen, noch dementieren. Aus eigener Erfahrung habe ich den Eindruck, dass Jugendliche das Gefühl vermissen, durch politisches Engagement Veränderungen herbeiführen zu können.
Besonders gelungen erscheint mir die Herausstellung der Anerkennungstheorie von Honneth als tragendes Element der Schulkultur und der politischen Bildung.
Jede Lehrperson sollte sich ins Gedächtnis rufen, dass die bewusste Anerkennung ihrer Leistungen und Persönlichkeit die Entwicklung der SchülerInnen ausschließlich positiv gestalten kann. Allerdings ist die Institution Schule nicht in der Lage, diese Verpflichtung ohne Unterstützung zu bewältigen. Es ist ein Fehler, die Erziehung immer mehr aus dem Verantwortungsbereich der Eltern lösen zu wollen. Vielmehr zählt es in großen Teilen zum Aufgabengebiet der Eltern, den Heranwachsenden die Aufmerksamkeit im Sinne von Honneth und Henkenborg zukommen zu lassen.
Henkenborgs Begeisterung in Bezug auf die Nutzung der kategorialen Bildung im Politikunterricht kann ich aufgrund der Erkenntnisse über ihre seltene Anwendung nicht teilen.36 Diese Erkenntnisse lassen lediglich zwei Erklärungsansätze zu: Im Sinn der in der Öffentlichkeit beliebten Diskussion um die angeblich fehlende Qualität des Lehrpersonals ließen die Ergebnisse auf die mangelnde Kenntnis der theoretischen Grundlagen des Politikunterrichts schließen. Da ich nicht dieser Auffassung bin und davon ausgehe, dass die kategoriale Bildung dem Großteil der Fachlehrer bekannt ist, müssen die Gründe für die geringe Nutzung in der Theorie selbst liegen.
8. Literaturverzeichnis
Henkenborg, Peter
Politische Bildung als Kultur der Anerkennung: Skizzen zu einer kritischen Politikdidaktik. In: kursiv - Journal für politische Bildung 2/2000.
Werte und kategoriale Schlüsselfragen im politischen Unterricht. In: Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.): Werte in der politischen Bildung. Schwalbach 2000.
Gesellschaftstheorien und Kategorien der Politikdidaktik: Zu den Grundlagen einer fachspezifischen Kommunikation in der politischen Bildung. In: Politische Bildung 2/1997
Die Selbsterneuerung der Schule als Herausforderung: Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. In: Politische Bildung 2/1997
Die Sozialität der Schule neu gestalten. Über die Mühen der Erziehung und die Rekonstruktion des Lernens. In: Psychosozial 2/1994
Politische Bildung durch Demokratie-Lernen im Schulalltag. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. Schwalbach 1997
Politische Bildung im „Club der toten Dichter“. In: Henkenborg, Peter/Sander, Wolfgang (Hrsg.): Wider die Langeweile. Neue Lernformen im Politikunterricht. Schwalbach 1993
Wie kann die politische Bildung neu denken? Ambivalenzen gestalten. In: Gegenwartskunde 2/1995
Kuhn, Hans-Werner (Hrsg.):
Politische Bildung in Deutschland: Entwicklung- Stand- Perspektiven. Opladen 1993
Wei ß eno, Georg:
Lexikon der politischen Bildung. Didaktik und Schule (Band 1). Schwalbach 1999
Internet:
www.tu-dresden.de/phfipo/didpb/mainpages/henkenborg.htm (12. September 2002)
[...]
1 Internet: www.tu-dresden.de/phfipo/didpb/mainpages/henkenborg.htm
2 vgl.: Kuhn, Hans-Werner (Hrsg.). Politische Bildung in Deutschland. Entwicklung- Stand- Perspektiven. S. 13ff. und S. 81ff.
3 Henkenborg, Peter: Politische Bildung durch Demokratie- Lernen im Schulalltag. S. 241 Anmerkung: Diese Zielsetzung hat bis in die Gegenwart keine Änderung erfahren. vgl. dazu Henkenborg, Peter: Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. S. 32
4 Henkenborg, Peter: Die Selbsterneuerung der Schule als Herausforderung. S. 78
5 Henkenborg, Peter: Werte und kategoriale Schlüsselfragen im Politikunterricht. S. 263
6 Henkenborg, Peter: Die Unvermeidlichkeit der Moral
7 vgl.: Henkenborg, Peter: Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. S. 32
8 vgl.: Henkenborg, Peter: Werte und kategoriale Schlüsselfragen im Politikunterricht. S. 270
9 vgl.: Henkenborg, Peter: Gesellschaftstheorien und Kategorien der Politikdidaktik. S. 97ff.
10 vgl.: ebenda, S. 119
11 vgl.: ebenda, S. 119
12 vgl.: ebenda, S. 101
13 vgl.: Henkenborg, Peter: Werte und kategoriale Schlüsselfragen im Politikunterricht. S. 266 u. S. 281f.
14 vgl.: Henkenborg, Peter: Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. S. 34
15 vgl.: Henkenborg, Peter: Werte und kategoriale Schlüsselfragen im Politikunterricht. S. 273
16 ebenda, S. 272
17 vgl.: ebenda, S. 274
18 vgl.: ebenda, S. 274ff.
19 vgl.: ebenda, S. 274 u. S. 277
20 vgl.: ebenda, S. 277
21 Henkenborg, Peter: Politische Bildung als Kultur der Anerkennung. S. 33
22 Henkenborg, Peter: Wie kann die politische Bildung neu denken? Ambivalenzen gestalten. S. 175
23 vgl. Henkenborg, Peter: Die Selbsterneuerung der Schule als Herausforderung. S. 68f.
24 ebenda, S. 75f.
25 Henkenborg, Peter: Soziale Frage und Politikunterricht- Eine Schulreportage über alltägliche Anerkennungskämpfe. S. 24f.
26 ebenda, S. 25 u. Anmerkung: Schulversagen u. gest ö rte Familienbeziehungen stehen meiner Meinung nach in enger Verbindung zu fehlender Anerkennung.
27 ebenda, S. 25
28 vgl.: Henkenborg, Peter: Die Selbsterneuerung der Schule als Herausforderung. S. 62 vgl. Henkenborg, Peter: Wie kann die politische Bildung neu denken? Ambivalenzen gestalten. In: Gegenwartskunde 2/1995. S. 168
29 Henkenborg, Peter: Die Selbsterneuerung der Schule als Herausforderung. S. 61
30 Henkenborg, Peter: Die Sozialität der Schule neu gestalten. Über die Mühen der Erziehung und die Rekonstruktion des Lernens. S. 53
31 ebenda
32 Henkenborg, Peter: Die Erneuerung der Schule als Herausforderung. S. 64
33 ebenda
34 Henkenborg, Peter: Politische Bildung im „Club der toten Dichter“. S. 60
35 Henkenborg, Peter: Die Selbsterneuerung der Schule als Herausforderung. S. 64
36 Weißeno, Georg: Lexikon der politischen Bildung. S. 120ff.
- Arbeit zitieren
- Thomas Suer (Autor:in), 2002, Prof. Dr. Peter Henkenborg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/107257
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