I. Vorbemerkungen
1. Die Armutsbewegung im 12. Jahrhundert
Entstanden die ersten Bettelorden Anfang des 13. Jhs., kam es bereits im 12. Jh. erstmals wieder zu einer bedeutenden kirchlichen Gegenbewegung, die sich vor allem gegen den Reichtum und die weltliche Macht in der Papstkirche richtete. Die Verweltlichung der Kleriker, die Unordnung ihrer Sitten und ihre Herrscherlust sorgten in zunehmendem Maße für Unmut und scharfe Kritik unter der Bevölkerung. Statt dessen rückten das arme Leben Jesu und seiner Apostel und der Verzicht auf alle weltliche Macht und Besitz in den Vordergrund und wurden zum kritischen Maßstab gegenüber einer verweltlichten Kirche.
Es formte sich eine Kette von Aufstandsbewegungen, die sich zum größten Teil noch grundsätzlicher gegen die kirchlichen Hierarchien wandten - mit immensen Erfolg. Zu nennen sind hier insbesondere zwei Gruppierungen, die Katharer und die Waldenser.
Die Katharer (= die Reinen; davon aber auch das Wort „Ketzer“) verbreiteten ein dualistischgnostisches Gedankengut, geprägt noch von der Antike. In ihrer Forderung nach einer reinen Kirche und in ihrer Abwendung von der sündhaften Welt lehnten sie die Ehe, die kirchlichen Sakramente, Bilder, Heiligen und Reliquien ab. Sie praktizierten eine strenge Askese.
In ihre Nachfolge traten die Waldenser, eine Sekte, die auf den Kaufmann Valdes zurückgeht. Um ihn sammelten sich in den Jahren zwischen 1173/76 und 1180 ein stetig wachsender Verein von Männern und Frauen, die, gestützt auf die Aussendungsrede Jesu an seine Jünger (Mt 10), umher- zogen und Buße predigten, wobei sie dem Armutsideal Jesu Christi und seiner Apostel nachzufol- gen versuchten.
Diese beiden größten Gruppierungen wurden von der Kirche aufs Schärfste verurteilt und verfolgt.
2. Die Entstehung der Bettelorden am Anfang des 13. Jahrhunderts
Besonders Papst Innozenz III. (1198-1216) erkannte die Gefährlichkeit der Sekten, die den Gedan- ken vermittelten, daß nur eine Abwendung von der Kirche Heilsgewißheit erzeuge. Aber der Papst begriff auch den geistlichen Ernst, der hinter der Armutsbewegung stand, und begegnete ihr nicht ganz ohne Verständnis. Zwar war er der Mitverantwortliche für grausame Verfolgungen, doch schlug er auch einen friedlicheren und insgesamt wirkungsvolleren Weg ein und bemühte sich, dem neuen Armutsideal auch in der Kirche offiziell Raum zu geben. So förderte er innerkirchliche Ge- meinschaften, die gewisse Grundgedanken mit den Sekten teilten, auf daß sich sogenannte Bettelor- den formieren und gründen konnten, die aber im Gegensatz zu den Katharern und Waldensern in die Kirche integriert waren. Die meiste Bedeutung gewann die Unterstützung jener beiden Kongre- gationen, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu großen, das ganze Abendland erobernden Mönchsorden entwickeln sollten: der spätere Dominikaner-Orden, die der Bischof Diego von Osma und dessen Stifts-Subprior Dominikus (ca. 1170-1221) gründeten, und die „ Minderen Br ü der “ des Franziskus von Assisi (1181/82-1226).
Im Zusammenhang mit den aufstrebenden Städten war durch die Bettelorden in der Geschichte des Mönchtums eine neue Situation entstanden: Nicht mehr an die Klausur gebunden und ohne stabili- tas loci, zogen die Mönche umher und widmeten sich besonders der Seelsorge und Predigt unter der städtischen Bevölkerung. Sie folgten dem armen Leben Jesu und seiner Apostel in völliger Besitz- losigkeit nach und erbettelten sich Almosen für ihren täglichen Bedarf an Nahrung und auch Klei- dung.
II. Franziskus von Assisi und seine Ideale
Franz von Assisi war und ist einer der großen Heiligen der christlichen Kirche. Schon seine Zeitgenossen haben ihn für etwas Übernatürliches gehalten und ihm die höchsten Ehrennamen gegeben, ihm gar heilsgeschichtliche Funktion und unmittelbare Nähe zu Christus zugeschrieben. Er erschien vielen wie ein anderer Christus, der Welt zum Heil gegeben.
Tatsächlich wurde Francesco 1181/82 in der italienischen Region Umbrien in der Stadt Assisi als Sohn eines reichen Kaufmannes, Pietro Bernadone, und seiner Frau Pika, einer Adligen aus Süd- frankreich, geboren. Er erfuhr alle Annehmlichkeiten einer wohlhabenden Familie, und seine Eltern ließen es nicht an Geld oder vornehmer Kleidung fehlen, so daß Francesco als verwöhnter Sohn seinen Reichtum zur Schau stellen und seine Umwelt beeindrucken konnte. Er führte ein sorgloses, ja festliches Leben.
Kann man den Legenden, die sich zweifelsohne nachträglich um eine solche Persönlichkeit ranken, Glauben schenken, so erlebte er im Alter von 25 Jahren die alles entscheidende Bekehrung. Gott selbst habe im Traum zu ihm gesprochen und ihn zur Umkehr bewegt. Von dort an änderte sich sein Leben, doch erst eine erneute Audition der Stimme Christi, die ihm befahl, seine Kirche wieder aufzubauen (die kleine Kirche Sankt Damian in Assisi), brachte die völlige Wandlung. Franziskus war bereit, alles zu verlassen, sich vom Vaterhaus zu trennen und alle Verbindungen mit der Ver- gangenheit abzubrechen. In Lumpen gekleidet, führte er sein Leben in Armut weiter. Seine Familie und Freunde hatten nur Spott und ein mitleidiges Lächeln für ihn übrig. Der ehemals so beliebte und gefeierte Mann wurde nun verachtet. Er zog bettelnd durch die Orte seiner Umgebung und kümmerte sich um die Armen und Aussätzigen.
Franziskus sah sich wiederum in seiner neuen Lebensart bestätigt, als er während einer Messe - vermutlich am 24. Februar 1209 - die Worte Jesu hörte: Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch. Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Reisetasche, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert. Wenn ihr aber in eine Stadt oder ein Dorf geht, da erkundigt euch, ob jemand darin ist, der es wert ist; und bei dem bleibt, bis ihr weiterzieht. Wenn ihr aber in ein Haus geht, so grüßt es (Mt 10,7-12). Diese Aussendungsworte Jesu an seine Jünger nahm Franziskus als eine wirkliche Offenbarung Gottes auf, die sein bisheriges Leben bestätigte, ihn aber auch auf einen neuen Weg weiterführte. Er über- nahm das apostolische Predigtamt und begann, auf Straßen und Plätzen und bei den Bauern auf dem Feld Bußpredigten zu halten. Er übte eine große Faszination und Anziehungskraft auf die Menschen aus, und es dauerte nicht lange, bis sich die ersten Anhänger um ihn scharten und seine Lebensfüh- rung teilten.
Da die Zahl seiner Mitbrüder spontan wuchs, spürte Franziskus die Notwendigkeit, sich nach Rom zu wenden, um dort eine offizielle Bestätigung für seine Gemeinschaft vom Papst zu erhalten. Denn die Gefahr war groß, wie die Katharer und Waldenser als Ketzer gebrandmarkt und verfolgt zu werden. Franziskus trug sein Anliegen vor Papst Innozenz III., und nach mehreren Verhandlungen und Skepsis willigte der Papst ein und genehmigte den Brüdern, einstweilen ihre arme Lebensweise und Predigt fortzusetzen. Es war noch keine amtliche Bestätigung, nur eine formelle Erlaubnis. Fer- ner wurde die Wahl eines Oberen verlangt, der für die Gemeinschaft Rom gegenüber die Verant- wortung trug. Dieses Amt hatte Franziskus bis kurz vor seinem Tod inne. Seine Anhänger erhielten zudem die Tonsur und wurden in den Klerikerstand erhoben. Der Grundstein für einen festen Orden war gelegt. Auch Frauen fanden ihren Weg zu Franziskus und hingen seiner Lebensweise an, an ihrer Spitze Klara von Assisi (1193/94-1253), welche später den Schwesterorden der Klarissen gründen sollte.
Doch die zunehmende Organisierung und straffere Führung seiner Brüder machten Franziskus zu schaffen. Es mußte eine endgültige Regel festgesetzt werden, und Franziskus erkannte, wie seine Ideale der Armut, Demut und Barmherzigkeit mehr und mehr geschwächt und Kompromisse ge- macht wurden. Zudem litt er unter schwerer Krankheit und erblindete in seinen letzten Lebensjah- ren fast völlig. Auch im Leiden wollte Franziskus Christus ähnlich werden und sehnte sich sogar nach noch mehr Leid und Schmerz, um auch wahrhaft vollkommen in der Nachfolge Christi zu werden.
Franziskus von Assisi starb an einem Samstag, dem 3. Oktober 1226, im Alter von 44 Jahren. Be- reits zwei Jahre später, am 16. Juli 1228, wurde er von Papst Gregor IX. (1227-1241) heilig gespro- chen.
III. Die Entstehung der Regel
1. Einführung
Es ist zu beachten, daß die regula bullata der Franziskaner keine feste, starre Regel ist, die zu einer detaillierten kasuistischen Anwendung kommen sollte. Sie ist immer „Regel und Leben“ und prin- zipiell durch das Leben des Franziskus und seine Person selbst zu interpretieren. Von ihm ging schließlich alles aus, der neue Lebensweg der Armut und Brüderlichkeit, so daß man stets ihn als Leit- und Orientierungspunkt vor Augen hatte. Er ist für die erste Zeit die Regel seiner jungen Ge- meinschaft gewesen („ forma minorum “), seine Art schuf Tradition. Erst die rasche Zunahme von Anhängern um Franziskus machte die Festlegung einer gemeinsamen Basis, was Taten und Lehre anbelangte, notwendig.
2. Die Ideale der Frühe
Franziskus fühlte sich bei seinem Aufbruch einzig von Gott verpflichtet und abhängig. Er wußte sich daher seiner Gemeinschaft gegenüber nur dazu verleitet, ihr allein das zum Gesetz zu geben, was Gott ihm geoffenbart hatte. Eine Anlehnung an ältere Mönchsregeln, die sich bewährt hatten, oder gar die Übernahme einer solchen Regel kamen für ihn daher nicht in Frage. Das franziskani- sche Leben war etwas so eigenständig von Gott Geoffenbartes, daß es einen völligen Bruch mit dem vorhergehenden mittelalterlichen Mönchtum darstellte. Eine ganz andere Art des Ordenslebens setzte mit Franziskus ein, so daß das damalige kirchliche Recht keine Möglichkeit hatte, mit seinen herkömmlichen Bestimmungen die neuen Wirklichkeiten des Minderbrüder-Ordens zu umfassen. Die frühen Ideale des noch nicht festgegründeten Ordens war das Leben in v ö lliger Besitzlosigkeit und Armut. Dazu gehörte das „ Unter-den-Minderen-Weilen “, das Mindersein gegenüber allen ande- ren Menschen und Kreaturen und eine Solidarität mit den Armen, Schwachen und Aussätzigen. Die Ü bung selbstvergessener Liebe tritt ebenso als Ideal franziskanischen Lebens auf wie auch die Ar- beit, um mit seinen eigenen Händen das Almosenbetteln vor Gott und den Menschen zu rechtferti- gen.
Doch es ist ein Unterschied, ob drei oder vier Brüder unterwegs waren oder ein ganzes Konvent mit Dutzenden von Mönchen gemeinsam zu existieren versuchte. In einer kleinen Gruppe konnte sich z.B. noch jeder ohne Rückhalt an Vorräten usw. durch den täglichen Bettel im Umkreis ernähren, konnte man spontan die Armut leben. Etwas schwieriger wurde es dort, wo es um die geplante, ge- sicherte Armut eines Konvents ging. Dies sei nur als ein Beispiel von mehreren Problemen und Un- stimmigkeiten in einer wachsenden Gemeinschaft mit sich ausbildenden, festeren Strukturen ge- nannt.
3. Erste Schritte zu einer Ordensregel hin
Franziskus sah besonders drei Stellen des Evangeliums als seine persönliche Lebensregel an, die auch von seinen Gefährten übernommen wurde:
a) Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach! (Mt 19,21)
b) Ihr sollt nichts mit auf den Weg nehmen, weder Stab noch Tasche noch Brot noch Geld; es soll auch einer nicht zwei Hemden haben. (Lk 9,3)
c) Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. (Mt 16,24)
Diese drei Stellen sind jedem Minderbruder besonders heilig. Die allgemein anerkannte Lebensre- gel bestand ursprünglich also nur aus Evangelientexten und war nicht schriftlich festgelegt. Sie be- durfte nun aber für die größer werdende Gemeinschaft eine genauere Formulierung und eine weite- re Ausgestaltung. Auch Franziskus hielt sein Anliegen einer schriftlichen Regel fest und unterbrei- tete es 1210 dem Papst. Dieser allererste Versuch einer festen Regel ist uns heute nicht mehr über- liefert.
4. Die nicht bestätigte Regel von 1221 - die regula non bullata
Die Fassung der großen Regel stellt mit ihren 24 Kapiteln wahrscheinlich die nach und nach erwei- terte Regelfassung des Jahres 1210 dar. Sie ist nicht eigentlich ein Produkt schriftstellerischer Tä- tigkeit, sondern vielmehr der Niederschlag der praktischen Lebenserfahrung, wie sie sich Franzis- kus in der ersten und intensivsten Periode des Ordens bot. Sie ist ein Spiegelbild der Zeit, in der sich der Orden durchaus noch nicht allzu gefestigt hatte. Man mußte stärker an den Orden und an seine Formung denken, das Leben des Einzelnen konnte nicht mehr gelebt werden, ohne daß immer auch Rücksicht auf die Form des Ordens genommen wurde. Um 1219 trat eine Gruppe von Män- nern dem Orden bei (in den Schriften oft als Ministri oder die Gelehrten bezeichnet), die der Or- densgemeinschaft eine festere Gesetzesform zu geben und vor allem die Zuständigkeit der entstan- denen Ordensämter klarer abzugrenzen wünschten. Sie waren auch der Meinung, man könne von den alten Orden lernen und sich an deren Regeln orientieren. Das war aber etwas, das Franziskus gerade ablehnte, sah er sich doch von Gott zu einem neuen Weg berufen. Könne es denn über das Evangelium hinaus noch etwas Notwendiges für die Gemeinschaft geben? Letzten Endes standen hier zwei völlig verschiedene Lebensauffassungen über religiöse Verbände gegenüber. Die Gruppe der Minister fand im herrschenden kirchlichen Recht keinen Vorgang, in dem man den jungen Or- den der Minderbrüder, so wie Franziskus ihn wollte, hätte einbetten können. Es mußten Kompro- misse erfolgen.
Die nicht bestätigte Regel erfuhr in der Zeit von 1220 bis 1221 eine letzte Überarbeitung. Es war Franziskus darum zu tun, daß seine Regel nur die Lehre des Evangeliums praktisch ins Leben ein- führe. Sein Mitarbeiter Bruder Cäsar von Speyer unternahm es, Stellen der Bibel in den Regeltext einzuweben.
5. Die endgültige Regel von 1223 - die regula bullata
Es ist bezeichnend für die Regel von 1221, daß niemand sie vom Papst endgültig bestätigen ließ. Das mag auch damit zusammenhängen, daß diese Regel durchaus nicht den Vorstellungen ent- sprach, die sich die Männer der Lebenspraxis, die Minister und die Gruppe der gebildeten Brüder sowie auch Vertreter der päpstlichen Kurie, von einer Ordensregel machten. Sie war in ihren 24 Kapiteln kein klares Gebilde, es wurden kaum klar umgrenzte Vorschriften sichtbar. Franziskus gab dem Drängen der Brüder schließlich nach und begann im Winter 1222/23 mit dem Entwurf für ei- nen neuen Regeltext. Allerdings hat er die Schlußredaktion für diese Regel kaum allein vorgenom- men, er hatte wenigstens einen im kirchlichen Recht Bewanderten zur Seite. Schon der Stil der end- gültigen Regel verrät eine durchgreifende Überarbeitung durch fremde Hand. Statt der schlichten, oft sogar schwerfälligen und sich leicht wiederholenden Redeweise, wie man sie bei Franziskus oft finden, tritt hier durchweg eine überraschende Glätte und Ausgewogenheit des Ausdrucks auf. An manchen Stellen ist ein komplizierter Juristenstil vorherrschend, der eher der kirchlichen Amtsspra- che entgegenkam.
Am 29. November 1223 wurde diese Regel in ihrer endgültigen Fassung von Papst Honorius III. (1216-1227) durch die Bulle „Solet annuere“ offiziell bestätigt (daher regula bullata) und damit auch in ihrer Textgestalt endgültig festgelegt. Änderungen waren nun nicht mehr durch Absprachen und Abstimmungen im Orden möglich, sondern konnten nur noch vom Papst selbst vorgenommen werden.
Die Regel besteht aus 12 Kapiteln, die wie folgt angeordnet sind:
1.) Lebensweise der Minderen Brüder
2.) Aufnahme neuer Mitbrüder
3.) Vom Beten, Fasten und Reisen
4.) Verbot der Geldannahme
5.) Von der Art zu arbeiten
6.) Eigentumsverbot, Betteln und von kranken Brüdern
7.) Buße
8.) Wahl des Generalministers und vom Pfingstkapitel
9.) Von den Predigern
10.) Von der Ermahnung und Zurechtweisung der Brüder
11.) Verbot des verdächtigen Umgangs mit Frauen
12.) Missionstätigkeit bei „Ungläubigen“
Es ist zu bedenken, daß auch die bullierte Regel kein Gesetzeswerk ist, sondern vielmehr ein geistliches Dokument, ja eine Mahnrede des Franziskus an seine Brüder, damit sie dem Leben nach dem Evangelium, das sie fest versprochen haben, treu blieben.
Auch der Grad der einzelnen Verpflichtungen ist unterschiedlich. Jene Partien, die der Pflege der franziskanischen Geistigkeit dienen sollen, sind sämtlich als Ermahnungen, nicht als gesetzlich ver- pflichtende Statuten gekennzeichnet, so z.B. Formulierungen wie „Ich ermahne und warne sie ...“ (Kap.1;9;10), „Ich rate aber meinen Brüdern ...“ (Kap.3), „Eindringlich ermahne ich diese Brüder“ usw. Daraus ergibt sich, daß dem einzelnen Bruder ein breiter Raum seelischer Eigenständigkeit geblieben ist und eine starke Sicherung von Möglichkeiten einer freien persönlichen Entscheidung gegeben war. Im Vergleich mit anderen Ordensregeln ist dies durchaus erstaunlich zu nennen. Streng als Gebot verpflichten dagegen alle Statuten, die mit Worten wie „Ich befehle streng ...“ oder „Sie sollen streng verpflichtet sein ...“ eingeleitet werden. Dies gilt dem Geldverbot (Kap. 4), vom Gehorsam gegen den Generalminister (Kap.8), vom Gehorsam gegen die Minister allgemein (Kap.10), vom Verbot des verdächtigen Umgangs mit Frauen (Kap.11), von der Verpflichtung der Oberen, einen Kardinalprotektor zu erbitten (Kap.12) und letztendlich von der Verpflichtung auf die Gesamtregel als Inhalt der Gelübde (Kap.12). Man kann also zwischen Mahnungen und Geboten unterscheiden.
Franziskus versuchte immer wieder mit verzweifeltem Ernst, seine Genossen zu beschwören, an der ersten Liebe, wenigstens an der uneingeschränkten, kompromißlosen Armut festzuhalten, doch die juristischen Formen und die Ordnung des Ordens erhielten immer mehr die Oberhand. Franziskus zog sich schließlich in die Einsamkeit zurück und überließ Vorstand des Ordens seinem Mitbruder Petrus Canthanii.
Nach Franziskus‘ Tod bekamen die Kirchenpolitiker die Bewegung endgültig in die Hand, obwohl noch Jahrzehnte lang in dem Orden den alten Idealen die Treue gehalten wurde, bis sich zuletzt doch die laxere und kompromißbereite Richtung durchsetzte. Noch einige Male wurde die bullierte Regel von den Päpsten entschärft, erklärt und gemildert, doch bis heute hat die regula bullata ihre Bedeutung und Gültigkeit in den franziskanischen Klöstern behauptet.
LITERATUR:
- Clasen S.: Franz von Assisi, in: Manns, P. (Hg.): Die Heiligen in ihrer Zeit, Bd. 2, 3. Aufl., Mainz 1967, S. 85-88
- Die deutschen Franziskaner (Hgg.): Werkbuch zur Regel des heiligen Franziskus, Werl/Westf.
- Hardick, L. / Grau, E. (Hgg.): Die Schriften des heiligen Franziskus von Assisi, Franziskanische Quellenschriften, Bd.1, 6. völlig neu bearbeitete Aufl., Werl/Westf. 1980
- K ö pf, U.: Franz von Assisi, in: Greschat, M. (Hg.): Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 3. Mit- telalter I, Stuttgart u.a. 1983, S. 282-302
- Moeller, B.: Geschichte des Christentums in Grundzügen, 3. verbesserte Aufl., Göttingen 1983
- Schuchert, A.: Kirchengeschichte, Bd. 2. Vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart, Bonn 1956
- Sommer, W. / Klahr, D.: Kirchengeschichtliches Repetitorium, 2. durchgesehen und verbesserte Aufl., Göttingen 1997
- Quote paper
- Sabine Reinberg (Author), 2002, Die regula bullata des Franziskaner-Ordens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106845
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