Inhalt
1. Einleitung
2. Historische Einordnung
3. Radikaler Konstruktivismus: Wirklichkeit als Konstrukt
3.1 Leben als selbstorganisierender Prozess
3.2 Wahrnehmung ist Konstruktion
4. Konsequenzen für die Didaktik
4.1 Lernen als Konstruktion
4.2 Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung
5. Schlussbemerkung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Wir werden [...] eine Sicht vortragen, die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der ‚Welt da draußen‘ versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst.“1
Seit Mitte der 90er Jahre spricht man von einem Paradigmenwechsel in der Fremdsprachendidaktik. Da ich seit vielen Jahren als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache tätig bin, weiß ich , dass die entscheidenden Impulse zu diesem Paradigmenwechsel aus dem ‚Radikalen Konstruktivismus‘ kommen. Der Radikale Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie, die sich auf Ergebnisse der Neurophysiologie stützt. Aus dem Umstand, dass sich Wahrnehmung nicht in den Sinnesorganen, sondern in spezifischen sensorischen Hirnregionen vollzieht, folgern konstruktivistische Neurophysiologen und Kognitionstheoretiker, dass die Wahrnehmungsinhalte erst durch das Gehirn geschaffen werden. Das bedeutet, dass jede unserer Wahrnehmungen durch Interpretation neuronaler Prozesse entsteht und damit unsere Wirklichkeit kein Abbild, sondern ein Konstrukt ist. Dies bedeutet wiederum, dass auch Wissen nicht durch Abbildung von Lernstoff entsteht, sondern subjektive Konstruktion des Gehirns ist. Vor diesem Hintergrund, darf sich Unterricht nicht mehr als Medium der Stoffvermittlung sehen, sondern sollte die Lerner und Lernerinnen und ihre individuellen Lernprozesse ins Zentrum rücken.
In dieser Arbeit werde ich ausgehend von einer historischen Einordnung die Grundgedanken des Konstruktivismus aufzeigen. Dabei werde ich mich, um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, weitgehend auf den Radikalen Konstruktivismus beschränken. In einem weiteren Schritt werde ich die Konsequenzen und Auswirkungen dieser Ideen auf das Lernen, die Rolle des Lehrers / der Lehrerin und die Unterrichtsgestaltung darlegen.
2. Historische Einordnung
Der Konstruktivismus ist eine Gegenbewegung zum Wissensverständis in der Tradition des Empirismus. Während hier Erkenntnis auf Sinneserfahrung beruht und die Aufgabe des Wissens die Repräsentation dieser Realität ist, glauben die Konstruktivisten, dass es keine objektiv existierende Außenwelt gibt und „das Subjekt (als lebendes System) alleiniger Urheber des Wissens“2ist .
Der Konstruktivismus wird nicht als einheitliche Theorie verstanden, sondern als „äußerst dynamischer interdisziplinärer Diskussionszusammenhang“3, der zunehmend belegt, was Giambattista Vico und Immanuel Kant schon im 18. Jahrhundert wussten, dass wir es nämlich nie mit der Wirklichkeit direkt zu tun haben, „sondern stets mit unseren Erfahrungswirklichkeiten.“4Dieses Axiom verbindet die unterschiedlichen konstruktivistischen Konzeptionen der letzten 50 Jahre und ist der gemeinsame Nenner der Forschungen in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen.5Die Phänomene ,Kognition‘ und ‚Realität‘ werden dabei in einen neuen Zusammenhang gebracht, ihr Verhältnis von den Füßen auf den Kopf gedreht und durch den Begriff der Konstruktion miteinander verbunden. Die Realität liegt nicht mehr allgemein, a priori, objektiv vor, sie wird kognitiv konstruiert, ist subjektiv oder intersubjektiv und definiert so einen neuen Empiriebegriff. Die ethischen Konsequenzen liegen auf der Hand. Verantwortung kann nicht mehr an eine absolute Wahrheit oder Instanz übertragen werden, denn die existiert nicht mehr. Verbindlichkeit ergibt sich durch die Art und Weise unseres Umgangs mit anderen, „wenn wir erkennen, in welchem Umfang wir mit unseren eigenen Konstruktionen auf die Unterstützung und Hilfe der anderen angewiesen sind“6, um verstanden und akzeptiert zu werden.
In den 70er Jahren begründeten Paul Lorenzen und Wilhelm Kamlah an der Universität Erlangen den methodischen Konstruktivismus, dessen Grundgedanken sie 1967 in dem Buch „Logische Propädeutik“ veröffentlichten.
Unabhängig davon entstand in den 80er Jahren der Radikale Konstruktivismus, ausgehend von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, die die biologische und neurophysiologische Begründung für den Konstruktivismus lieferten. Ernst von Glaserfeld beschrieb die wissenschaftstheoretische Variante. Darüber hinaus hat der Konstruktivismus Eingang in die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen gefunden u.a. in die Sozialwissenschaften, die Literaturwissenschaft, Psychologie, Mathematik und die Erziehungswissenschaften.
3. Radikaler Konstruktivismus: Wirklichkeit als Konstrukt
Mit dem Begriff ‚Radikaler Konstruktivismus‘ bezeichnet man eine Theorie, die Wahrnehmung und Erkenntnis für eine Konstruktion des Gehirns bzw. des Bewusstseins hält. Darüber hinaus ist es, wie ich bereits erläutert habe, schwierig, den Radikalen Konstruktivismus auf eine einheitliche Theorie festzulegen, denn er bezieht sich in seinen Argumentationen auf so verschiedenartige Gebiete wie Neurophysiologie, Entwicklungspsychologie, Biologie, Ethologie und Kybernetik.
Da die neurophysiologische Kognitionstheorie des Chilenen Humberto R. Maturana eine zentrale Grundlage für die Thesen der verschiedenen Varianten des Radikalen Konstruktivismus bildet, soll sie im Folgenden dargestellt werden.
3.1 Leben als selbstorganisierender Prozess
Seit Beginn der sechziger Jahre beschäftigt sich Maturana mit dem Problem, welchen Strukturen Prozesse folgen, die in einem lebendigen Organismus ablaufen. Dabei konzentriert er sich besonders auf die Frage, welche physiologischen Prozesse sich beim Erkenntnisvorgang im Gehirn vollziehen. Neurophysiologische Untersuchungen ergaben, dass nicht die Sinnesorgane Informationen aus der Umwelt aufnehmen und diese dann über das Nervensystem an das Gehirn weitergegeben werden, sondern dass die Nervenzellen nur die Reizstärke in Form von Impulsfrequenzen, nicht jedoch deren Ursachen codieren.7Erst im Gehirn selbst wird der Erregungszustand der Neuronen verarbeitet und so findet erst dort der eigentliche Erkenntnisvorgang statt. Am Beispiel des Sehvorgangs macht Marurana das deutlich8: Die Netzhaut gibt ihre Informationen in Form von elektrischer Ladung an den Corpus geniculatum laterale, der die wichtigste Verbindung zwischen der Netzhaut und dem zentralen Nervensystem darstellt. Dieser Kern erhält allerdings nicht nur diese Reize, sondern in ihm laufen viele andere Nervenfasern aus unterschiedlichen Körperregionen zusammen, die auch ihre Informationen in Form elektrischer Ladungen weitergeben. Er erfährt also nichts über die Qualität, sondern lediglich über die Quantität der eingehenden Reize.
Untersuchungen zeigen zudem, dass Nervenimpulse im neuronalen Netz nicht linear weitergeleitet werden, sondern den gesamten Zustand des Nervensystems verändern bzw. selbst von dem gerade herrschenden Zustand beeinflusst werden.9Das Gehirn interpretiert den komplexen Veränderungszustand des Nervensystems und konstruiert so seine Wirklichkeit.
3.2. Wahrnehmung ist Konstruktion
Der Neurophysiologe Roth führt diese Gedanken von Maturana und Varela weiter, indem er erklärt, dass die Wahrnehmung der Außen- und Innenwelt immer erzeugenden Charakter habe:
„Das materielle reale Gehirn, als Teil des autopoietischen Organismus, schafft sich durch Selbstbeschreibung und Selbstexplikation eine eigene Welt, nämlich die der Wirklichkeit, in der wir leben und deren Teil wir - als Zustand der Selbstbeschreibung unseres kognitiven Systems - selbst sind. Wir haben es hier also durchaus mit einem ontologischen Sprung zu tun, nämlich dem Sprung von der materiellen Realität, die uns kognitiv unzugänglich ist, zur kognitiven Wirklichkeit, die für uns die einzig existierende Welt ist.“10
Mit dieser These bezieht sich Roth auf den bereits dargelegten Aspekt, dass Neuronen nur die Intensität eines Reizes, nicht aber seinen Auslöser übermitteln können und Wahrnehmung sich demnach nicht in den Sinneszellen, sondern im Gehirn vollzieht. Aber obwohl Wahrnehmung nicht auf dem Prinzip der Wirklichkeitsabbildung, sondern der Wirklichkeitskonstruktion basiert, verläuft sie nicht völlig subjektiv und willkürlich. Aufgrund seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung und ontogenetisch früh verlaufender Lernprozesse gelingt es dem Gehirn die Erregungszustände den jeweiligen Sinnesorganen zuzuordnen.11
Um ein eindeutiges Bild über die Erregungsursache herzustellen, untersucht das Gehirn die Impulse, die von den verschiedenen Sinnesorganen vermittelt werden, hinsichtlich ihrer Übereinstimmung. Diskrepanzen werden beseitigt, indem die Informationen verschieden gewichtet werden und einer die Präferenz zugesprochen wird. Neben der beschriebenen „‘parallelen‘ Konsistenzprüfung“12gibt es eine „konsekutive“13. Hierbei werden sensorische Erregungszustände mit Hilfe des Gedächtnisses mit früheren verglichen und auf ihre damalige Interpretation hin befragt.
„[...] auf jedes Neuron, das primäre Sensorik verarbeitet, kommen rund hunderttausend Neurone, die diese ‚Information‘ weiterverarbeiten, mit früherer Erfahrung vergleichen und zur Konstruktion kognitiver Wirklichkeit benutzen. Wir können also ohne Übertreibung sagen, daß das Gedächtnis unser wichtigstes Sinnesorgan ist.“14
Ein anschauliches Beispiel dafür, dass wir unsere Wirklichkeit selbst konstruieren, bietet die folgende, von W. E. Hill 1905 veröffentlichte Vexierzeichnung, da sie zwei Sichtweisen herausfordert.
Je nach Vexierschwerpunkt gewichtet der Betrachter die Information des Bildes anders und kommt zu einer anderen Interpretation: Liegt der Vexierpunkt im linken mittleren Bildbereich, ‚sieht‘ der Betrachter eine junge Frau, liegt der Vexierpunkt rechts davon, im Bereich der vertikalen Bildachse, ‚sieht‘ er eine alte Frau.
Wenn dasselbe Bild unterschiedliche Wahrnehmungen zulässt, stellt sich die Frage, wo sich das Bild befindet und Kegan antwortet:
„Das Bild befindet sich [...] eigentlich nicht auf dem Papier - auf dem Papier befindet sich nur eine Anordnung von hellen und dunklen Formen, von Linien und leeren Räumen; das Bild entsteht in dem metaphysischen ‚Raum zwischen‘ dem Papier und einem bedeutungsbildenden Organismus [...].“15
Wie wir gesehen haben, sind zwei Gedächtnisfolien zur Konstruktion der Wirklichkeiten dieses Bildes vonnöten: Die Erinnerung an die Konstruktion ‚junge Frau im Art Déco‘ und ‚alte Frau / Hexe‘. Diese Gedächtnisinhalte werden allerdings kultur- und bildungsabhängig erworben. Für einen Menschen aus einem anderen Kultur- und Bildungskreis bliebe deswegen Hills Bild unkonstruierbar, „nur eine Anordnung von hellen und dunklen Formen, von Linien und hellen Räumen.“
Weil Wahrnehmung nicht determiniert ist, vergleicht der Neurophysiologe Varela unser Leben mit „einer scheinbar endlosen Metamorphose von Interpretationen, die einander ablösen.“16Wobei es „[...] keine Trennung von Wahrnehmung und Interpretation gibt. Der Akt des Wahrnehmens ist der Akt der Interpretation“17oder mit Maturana und Varela gesprochen: „Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar“.18Autopoietische Systeme funktionieren autonom und unabhängig von den Input - Output - Beziehungen zu ihrer Umwelt. Der autonome Prozess der Kognition ist selbstreferentiell, selbsterzeugend und selbsterhaltend und schafft sich selbst die Informationen, die er dann verarbeitet.
4. Konsequenzen für die Pädagogik
Unter dem Gesichtspunkt, dass unser Gehirn im Sinne eines operational und informational geschlossenen Systems funktioniert, lässt sich - wie bereits beschrieben - die Gehirntätigkeit nicht als Input-Output-Modell darstellen. Dies hat zur Konsequenz, dass man von der Vorstellung Abschied nehmen muss, Wissenstransfer liefe linear ab und Lernstoff ließe sich wie durch einen Trichter in den Kopf des Lerners einfüllen. Aus konstruktivistischer Sicht muss vielmehr der Lerner und seine individuelle Wissenskonstruktion in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt werden, sowie Wissenserwerb und Wissensanwendung miteinander verbunden werden.
4.1 Lernen als Konstruktion
Im Sinne des Konstruktivismus sind Lernende geschlossene Systeme, die Informationen aus ihrer Umwelt entsprechend ihrer individuellen Struktur aufnehmen und verarbeiten.
Das bedeutet, dass Lernen ein subjektiver Vorgang ist, bei dem jeder Lernende seinen eigenen Lernweg gehen muss. Jeder Lerner wird in seinem eigenen Tempo nicht nur mengenmäßig, sondern auch inhaltlich Unterschiedliches aufnehmen. Deshalb ist es wichtig, dem Prozess, durch den der Lernende zum Ergebnis gelangt, den Vorrang zu geben und nicht dem Ergebnis selbst.
„Wissenserwerb kann betrachtet werden als ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, situativer und sozialer Prozeß.
- Die aktive Beteiligung des Lernenden wird durch seine Motivation und sein Interesse am Prozeß oder an dem Gegenstand des Wissenserwerbs charakterisiert.
- Der Wissenserwerb wird dabei bis zu einem gewissen Grad vom Lernenden selbst gesteuert und kontrolliert.
- Jeder Wissenserwerbsprozeß ist konstruktiv, da die verschiedenen Formen des Wissens nur dann erworben und genutzt werden können, wenn sie in bestehende Wissensstrukturen eingebaut und vor dem Hintergrund individueller Erfahrungen des Einzelnen interpretiert werden.
- Der Erwerb des Wissens ist situativ, weil er an einen spezifischen Kontext gebunden ist, der sich aus den kontextuellen Bezügen des Wissens ergibt.
- Aus der Eingebundenheit des Einzelnen in eine Gemeinschaft resultiert auch Wissen, das aus sozialen Aushandlungsprozessen erwachsen ist.“19
Wenn Unterricht den Lernprozess positiv beeinflussen soll, so muss er sich an diesen Prozessmerkmalen orientieren. Wie das geschehen kann, möchte ich im Folgenden zeigen.
4.2. Konsequenzen für die Unterrichtsgestaltung
„Unterricht [...] muß als Arrangement von Lernmöglichkeiten begriffen werden: Unterrricht kann Lernen wahrscheinlicher machen. Aber er kann Lernen nicht technologisch kontrollieren.“20
Zunächst steht und fällt die Didaktik aus konstruktivistischer Sicht mit dem Lernklima. Im Gegensatz zu einer Didaktik, die von der Idee der Wissensvermittlung ausgeht, darf sich der Pädagoge nicht als Lehrender, sondern als Lernberater ansehen, der die Lerner auf ihrem Weg der Wissensaneignung begleitet. Dies setzt ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen dem Lehrenden und den Lernern voraus und verlangt die Förderung der eigenständigen Wissensaneignung. Für den Lehrenden ergibt sich hieraus, dass er den Kontakt zwischen den Lernern fördern soll, da nur über die Umwelt die eigenen Konstruktionen bestätigt werden können. Daher sollten kooperative Formen des Lernens wie Gruppen- und Partnerarbeit gegenüber dem lehrerzentrierten Frontalunterricht im Vordergrund stehen.
Da Lernprozesse im Rekurs auf vorhandene Wissensbestände , die eigene Lebensgeschichte, den sozialen Kontext, Interessen, Lernmotive und bewährte Deutungsmuster stattfinden, sollten die Lerner mit ihren Erlebniswelten bewusst in das Unterrichtsgeschehen miteinbezogen werden. Eine solche Einbeziehung des Lerners kann durch lernerorientierte Inhalte und Themen erfolgen. Im Vordergrund sollten auf jeden Fall handlungs - bzw. lernerorientierte Arbeitsformen stehen, die der Kreativität der Lerner Raum lassen. Hierzu ist der Einsatz von Materialien notwendig, die den Lernern Freiräume zum handelnden Umgang und zur eigenständigen Auseinandersetzung mit dem Stoff bieten, wie dies z.B. bei der Projektarbeit der Fall ist. Autonomie fördernd sind auch all die Arbeitsformen, die die Lerner anregen, die Erarbeitung des Lernstoffs selbst zu steuern und selbst zu kontrollieren, was sich z.B. mit Hilfe von Wochenplänen und Lernstationen organisieren lässt.
Statt auf ‚Lernen im Gleichschritt‘ zu bestehen, sollte Raum für Differenzierung und Individualisierung gegeben sein. Zudem sollten im Unterricht die verschiedenen Lernertypen und Lernstile Berücksichtigung finden.21
Da Lernstoff letztlich nicht vermittelt werden kann, muss der Lehrer eine ‚neue‘ Rolle übernehmen: „Er soll zu einem Organisator von Lernprozessen werden, zu einer Lehrerpersönlichkeit [...] die den Lernenden die Möglichkeit eröffnet, selbst die Lernprozesse mitzubestimmen.“22Einen wichtigen Schritt hierzu stellt die Aktivierung eigener Wirklichkeitskonstruktionen dar. Denn Lernen ist als selbstreferentieller Prozess zu begreifen, da Wissenszuwachs nie im luftleeren Raum entsteht, sondern immer auf bereits vorhandenem Wissen basiert. Lernarrangements, die Wissensbestände und vorhandene Lernerfahrungen produktiv nutzen, sind daher als besonders lernförderlich anzusehen. Dies geschieht am besten durch das Verfahren des ‚entdeckenden Lernens‘. Dabei setzen sich die Schüler aktiv mit dem Wissensstoff auseinander, sie müssen Fragen stellen, experimentieren, Hypothesen bilden, selbst Regularitäten finden.
„Problemlösungen werden somit nicht vorgegeben, sondern die SchülerInnen erfahren, daß Lernen ein aktiver Prozeß der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt ist. Sie erfahren auch, daß es durchaus nicht immer nur eine ‚richtige‘ Lösung gibt, sondern verschiedene Wege zu gleichen Ergebnissen führen können, aber auch gleiche oder ähnliche Lösungswege durchaus nicht im selben Ereignis enden müssen.“23
5. Schlussbemerkung
In einer Arbeit über den Konstruktivismus darf die Kritik an diesem Erkenntnismodell natürlich nicht fehlen. Ein Problem des Konstruktivismus liegt sicher darin, dass seine Grundlage besonders bei Maturana naturwissenschaftlicher Art und damit empirisch ist. Der Konstruktivismus als Gegenbewegung zum Empirismus hebt seine eigene Grundlage auf, indem er die Empirie durch das subjektive Konstrukt ersetzt. Der Widerspruch dieser gegensätzlichen Paradigmen, Empirie und Konstruktion, die zugleich in Anspruch genommen werden, kann nicht gelöst werden. Einen weiteren Kritikpunkt sehen König und Zedler:
„Ein zweites Problem besteht in der Vermengung unterschiedlicher Theorieebenen in der Diskussion um den Radikalen Konstruktivismus. Der Konstruktivismus [...] ist zunächst eine Metatheorie. Auf dieser Ebene werden somit keine Aussagen über die pädagogische Praxis, sondern Aussagen über verschiedene Wissenschaftskonzepte gemacht. Aussagen über und Anweisungen für das praktische Handeln lassen sich daraus nicht einfach deduzieren.“24
Sicher könnte man noch mehr Unstimmigkeiten und aufführen, ich denke jedoch, dass man nicht erwarten kann, dass ein so junges Paradigma wie der Konstruktivismus alle Probleme, denen es sich gegenüber sieht, bereits gelöst hat.
Für mich liegt die Bedeutung des konstruktivistischen Denkens darin, „daß diese Anschauung unweigerlich dazu führt, den denkenden Menschen und ihn allein für sein Denken, Wissen, und somit auch für sein Tun, verantwortlich zu machen.“25
Dass eine solche Lehre, „die andeutet, daß wir die Welt, in der wir zu leben meinen, uns selbst zu verdanken haben“26ungemütlich ist, ist klar, doch glaube ich, dass die Umsetzung der konstruktivistischen Forderungen im Schulalltag ein möglicher Weg zur Bewältigung der Probleme unserer Gesellschaft sein könnte.
Literaturverzeichnis
Bimmel, Peter / Rampillon Ute: Lernerautonomie und Lernstrategien. Fernstudieneinheit 23. München 2000
Brügelmann, Hans. Rose 1 ist Rose 2 ist Rose 3 ist ... Offene Bedeutungen durch geschlossene Gehirne. In: Reinhard Voß (Hg.): Die Schule neu erfinden. Systemisch-konstruktivistische Annäherung an Schule und Pädagogik. Neuwied 1999 (3.durchges. Auflage), S. 179 - 184 Foerster, Heinz von: Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus . München 1981 (13. Auflage), S. 39 - 60
Funk, Hermann / Koenig, Michael: Grammatik lehren und lernen. Fernstudieneinheit 1. München 1991
Glasersfeld, Ernst von: Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In. Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus . München 1981 (13. Auflage), S. 16 - 38
Gudjons, Herbert: Pädagogisches Grundwissen. Überblick - Kompendium - Studienbuch. Bad Heilbrunn 1999 (6. Auflage)
Kegan, Robert: Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. München 1986
König, Eckard / Zedler, Peter: Theorien der Erziehungswissenschaft. Einführung in Grundlagen, Methoden und praktische Konsequenzen. Weinheim 1998
Kösel, Edmund / Scherer, Helios: Konstruktionen über Wissenserwerb und Lernwege bei Lernenden. In: Reinhard Voß (Hg.): Die Schule neu erfinden. Systemisch-konstruktivistische Annäherung an Schule und Pädagogik. Neuwied 1999 (3.durchges. Auflage), S. 105 - 128
Maturana, Humberto R. / Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens. Bern und München 1987
Roth, Gerhard: Erkenntnis und Realität: Das reale Gehirn und seine
Wirklichkeit. In : Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a. M. 2000 (8. Auflage), S. 229 - 255 Roth, Gerhard: Autopoiese und Kognition: Die Theorie H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung. In : Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a. M. 2000 (8. Auflage), S. 256 - 286
Schmidt, Siegfried J.: Der Radikale Konstruktivismus: Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a. M. 2000 (8. Auflage), S. 11 - 88
Varela, Francisco. Der kreative Zirkel. In: Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. München 2001 (13. Auflage), S. 294 - 309
Werning, Rolf: Kinder mit Lernbeeinträchtigungen. Systemisch-
konstruktivistische Perspektiven für (sonder-)pädagogisches Handeln. In: Reinhard Voß (Hg.): Die Schule neu erfinden. Systemisch - konstruktivistische Annäherung an Schule und Pädagogik. Neuwied 1999 (3.durchges. Auflage), S. 250 - 261
[...]
1 Maturana / Varela, S. 7
2Gudjons, S. 47
3Schmidt, S.7
4ebd.
5 Vgl. Rusch, S. 381
6 Schmidt, S. 38
7vgl. Foerster, S. 43
8 vgl. Maturana / Varela, S. 177
9vgl. Maturana / Varela., S. 178
10 Roth, S. 275
11vgl. Roth, S. 242f.
12ebd.
13ebd., S. 243
14 ebd., S. 280
15Kegan, S. 31
16Varela, S. 308
17Glasersfeld und Richards, zit. nach Schmidt, S. 18
18 Maturana / Varela, S. 56
19Kösel, S. 105f.
20 Brügelmann, S. 179
21Vgl. Bimmel/Rampillon, S. 78f.
22 Funk/Koenig, S. 114
23 Werning, S.254
24König / Zedler, S. 232
25Glasersfeld, S. 16f.
26 ebd., S. 17
- Quote paper
- Waltraud Boes (Author), 2001, Konstruktivismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106662
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