Die Geschichte der Filmtheorie ist eng verknüpft mit gesellschaftlichen und politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts; Film als demokratische Kunst und als die Kunstform eben jenes besagten 20. Jahrhunderts hat die Überlegungen über sich auch immer gleich zu gesellschaftstheoretischen Ansätzen werden lassen.
Nicht zuletzt stehen die Ansätze der Filmtheorie zu manchen Zeiten in engem Austausch und in Wechselwirkung mit den anderen Kunsttheorien, so wie Ejchenbaum es für den Gegenstand dieser Theorie vorausgesehen hat: ,,...so scheint die Charakterisierung des zeitgenössischen Films als synkretistische Kunst gerechtfertigt. Tatsächlich hat der Film auf diese oder jene Art das ganze System der alten, isolierten Künste getroffen und zeigt - sich von ihnen abstoßend - gleichzeitig einen entscheidenden Einfluß auf ihre weitere Evolution."
All diese verschiedenen Einflüsse und Strömungen machen es schwer, von einer Filmtheorie zu sprechen, die sich kontinuierlich fortentwickelt hat; denn schon allein die Fragen, in welche Richtung und aus welchem Antrieb sie sich entwickelt hat oder woran sie sich gemessen haben könnte, führen zu den unterschiedlichsten möglichen Antworten.
Das 20.Jahrhundert als Jahrhundert der Kriege und ,,der unfreiwilligen Reisen" hat auch die Theorie seiner populärsten Kunstform - falls man Film so bezeichnen mag - getroffen und in die unterschiedlichsten Richtungen geschickt. Nicht daß ihr das nicht bekommen wäre, aber in diesem Zusammenhang bietet sich für eine vergleichende Untersuchung verschiedener Theorie-Ansätze vielleicht eine Vorgehensweise besonders an.
Wegen der disparaten Ansätze der zur Untersuchung stehenden Theorien, die in ihren Beziehungen zu den Theorien anderer Gedankenfelder wie Literatur, Psychoanalyse, Gesellschaftskritik etc. nicht weniger komplex sind als im Verhältnis zueinander, ist die Suche nach einer Konstante sinnvoll. Angelehnt an einen Aufsatz Hans J. Wulffs ,,Raum und Handlung", erscheint der Begriff des Raums als Konstante in der Theoriebildung aller drei untersuchten Ansätze geeignet.
Die Frage danach, wie Film Raum konstruiert - und wie Filmtherorie und ihre Vertreter diese Konstruktion werten und auswerten - ermöglicht es dem Leser, ein Fenster in die jeweiligen Gedankenhäuser zu öffnen und somit einen kleinen Einblick in die unterschiedlichen theoretische Ansätze zu gewinnen.
Raum-Film-Theorie. Zur Bedeutung des Raumes in den filmtheoretischen Ansätzen von Formalismus, Strukturalismus und Neoformalismus
1. Einleitung
Die Geschichte der Filmtheorie ist eng verknüpft mit gesellschaftlichen und politischen Strömungen des 20. Jahrhunderts; Film als demokratische Kunst und alsdieKunstform eben jenes besagten 20. Jahrhunderts hat die Überlegungen über sich auch immer gleich zu gesellschaftstheoretischen Ansätzen werden lassen. Ebenso hat das Jahrhundert diese Überlegungen geführt, gelenkt und provoziert; je nach politischem oder gesellschaftlichem Stand der Dinge sind bestimmte Überlegungen naheliegend oder unmöglich, drängend und brandaktuell oder am Thema vorbei.
Nicht zuletzt stehen die Ansätze der Filmtheorie zu manchen Zeiten in engem Austausch und in Wechselwirkung mit den anderen Kunsttheorien, so wie Ejchenbaum es für den Gegenstand dieser Theorie vorausgesehen hat: „...so scheint die Charakterisierung des zeitgenössischen Films als synkretistische Kunst gerechtfertigt. Tatsächlich hat der Film auf diese oder jene Art das ganze System der alten, isolierten Künste getroffen und zeigt - sich von ihnen abstoßend - gleichzeitig einen entscheidenden Einfluß auf ihre weitere Evolution.“1
All diese verschiedenen Einflüsse und Strömungen machen es schwer, von einer Filmtheorie zu sprechen, die sich kontinuierlich fortentwickelt hat; denn schon allein die Fragen, in welche Richtung und aus welchem Antrieb sie sich entwickelt hat oder woran sie sich gemessen haben könnte, führen zu den unterschiedlichsten Möglichkeiten der Antwort. Das 20.Jahrhundert als Jahrhundert der Kriege und „der unfreiwilligen Reisen“2 hat auch die Theorie seiner populärsten Kunstform - falls man Film so bezeichnen mag - getroffen und in die unterschiedlichsten Richtungen geschickt. Nicht daß ihr das nicht bekommen wäre, aber in diesem Zusammenhang bietet sich für eine vergleichende Untersuchung verschiedener Theorie-Ansätze vielleicht eine Vorgehensweise besonders an:
Wegen der disparaten Ansätze der im folgenden zur Untersuchung stehenden Theorien, die in ihren Beziehungen zu den Theorien anderer Gedankenfelder wie Literatur, Psychoanalyse, Gesellschaftskritik etc. nicht weniger komplex sind als im Verhältnis zueinander, ist die Suche nach einer Konstante sinnvoll. Aus- gehend von einem Aufsatz eines deutschen Vertreters des neoformalistischen Ansatzes, Hans J. Wulffs „Raum und Handlung“3, erscheint der Begriff des Raums als Konstante in der Theoriebildung aller drei untersuchten Ansätze geeignet.
Für einen einleitenden Überblick über die drei Ansätze wurde (bei der Zusamenfassung der Thesen von Formalismus und Strukturalismus) auf Terry Eagletons „Einführung in die Literaturtheorie“ zurückgegriffen. Die Darstellungen der Methodik sind größtenteils von ihm übernommen oder durch seine Beschreibung angeregt.
Die Behandlung des Filmraums soll in Texten unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung und mit unterschiedlichem Entstehungsdatum beobachtet werden. Ausgewählt wurden dafür „Probleme der Filmstilistik“ von Boris Ejchenbaum als Vertreter des russischen Formalismus, „Zur Ästhetik des Films“ von Jan Mukarovský als Text am Übergang von Formalismus zu Strukturalismus, „Woran erkennt man den Strukturalismus?“ von Gilles Deleuze und „Raum und Handlung“ von Hans J. Wulff als Vertreter des Neoformalismus mit Rückbezügen auf Kristin Thompsons „Neoformalistische Filmanalyse“.4 Deleuzes Artikel in den Kanon der Texte über die Raumkonstruktion im Film einzubringen, mag zunächst befremdlich erscheinen, hat aber bei näherem Vergleich von Begrifflichkeiten und Argumentationstsruktur seine Berechtigung, Deleuze nimmt Setzungen vor, oder besser: er konstatiert den Gebrauch von Begriffen und Überlegungen, die auch für die Überlegungen in den anderen erwähnten Texten von Bedeutung sind. Hier werden im Prinzip die Begrifflichkeiten geklärt, die als Werkzeuge auch in den Überlegungen von Ejchenbaum, Mukarovský und Wulff verwendet werden.
Dabei liegt es in diesem Fall nahe, eine eine bestimmte Argumentationsstruktur und Art der Hypothesenbildung zu betonen, die sich wie ein roter Faden durch alle Texte zieht. Ihre Entwicklung und Gewichtung innerhalb der einzelnen Texte wird hierbei untersucht und so stehen letztlich auch die Texte miteinander im Vergleich. Anhand dieser Voraussetzungen sollte es möglich sein, die Verschiedenheit der Theorien, aber eben auch ihre wechselseitige Abhängigkeit und Beeinflussung, ebenso wie ihre jeweils ganz spezifische Ausrichtung zu zeigen.
2. Formalismus, Strukturalismus und Neoformalismus - drei Ansätze der Filmtheorie
Am Anfang steht - historisch gesehen - der Formalismus, dessen Reichweite von vornherein und mit seiner Gründung schon „interdisziplinär“ angelegt ist, zumal er vom Russischen Futurismus beeinflußt ist und Beziehungen zur Russischen Montageschule unterhält. Der Futurismus, als Avantgarde-Strömung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts populär, beschäftigt sich in Russland besonders mit der Gegenwartsliteratur. Der Bruch mit den literarischen Konventionen wird in einer Neuschaffung von Sprache angestrebt, die Verfaßtheit und die Machart von Literatur steht im Vordergrund. Die Konzentration des theoretischen Interesses auf dieFormeines Kunstwerks bezieht der Formalismus aus der starken Betonung der formalen Aspekte in der futuristischen Literatur.
So stellt der Formalismus - zumindest in seiner literaturtheoretishen Ausprägung
- „im Grunde die Anwendung der Linguistik auf das Literaturstudium dar“5, d.h. die formalen Untersuchungsmethoden der Linguistik werden auf die Literatur - später auch auf den Film - angewandt. Damit ist verständlich, warum der Inhalt in dieser Systematik eine untergeordnete, oder besser: eingeordnete Rolle spielt: Die linguistische Theorie geht zunächst davon aus, daß die „natürliche“ Sprache, also das grammatische Alltagssystem ( Saussures langue und Beilenhoffs „Primärsystem“6) willkürlich gesetzt ist. Damit verliert der Inhalt seine Position als Mitteilung, die es durch Interpretation zu extrahieren gilt. D ies geschieht in der Annahme, es handele sich bei Kunst um ein autonomes System, das nicht Werkzeug des Mitteilungsbedürfnisses der Künstler ist. Der Formalismus ist „weit davon entfernt, die Form als Ausdruck des Inhalts zu verstehen“7. Der Inhalt wird zur lediglichen „>Motivation< für die Form, Anlaß oder Gelegenheit für eine bestimmte Art von formaler Übung“8. Damit reiht er sich in die Ansammlung vonVerfahrenein, aus denen ein Kunstwerk besteht.
Zunächst bezogen auf die Literaturtheorie bezeichnet der Begriff des Verfahrens sämtliche formalen literarischen Elemente, darunter aber eben auch den Inhalt. Die Anwendung dieser Verfahren bewirkt eine „Verformung“ des „Primärsystems“9 Sprache zum literarischen Werk. Die potentielle Verformung, die den Verfahren innewohnt, ist die „Verfremdung“10. Mit der Verfremdung gelingt dem Werk ein Hinweis auf bestimmte „automatisierte“11 Abläufe des zugrundeliegenden Systems (hier z.B. des Systems Alltagssprache).
Die Differenz zwischen dem System und seiner Verfremdung markiert laut Beilenhoff die Opposition von Nicht-Kunst und Kunst in Sklovskijs „Kunst als Verfahren“12; gleichzeitig stellt sie den Vorgang der „Ent-Automatisierung“ dar, die die Kunst leistet: „ ...überall (treffen wir) auf dasselbe Merkmal des Künstlerischen: daß es absichtlich für eine vom Automatismus befreite Wahrnehmung geschaffen ist...“13.
Hier spielen aber nicht nur die Differenzen zwischen dem primären System (z.B. Sprache) und der durch die Anwendung von Verfahren erzeugten Verfremdung eine Rolle, sondern auch die Differenzen der aufeinanderfolgenden Werkeuntereinander. An dieser Stelle kommt der Begriff derKanonbildung zum Tragen: Die wiederholte Anwendung von Verfahren hat eine Kanonisierung derselben zur Folge, so daß eine Verfremdung erst wieder durch eine abweichende Nutzung eines Verfahrens entstehen kann. Die Ergebnisse der Verfremdung gehen also nach einer bestimmten Zeit in den Kanon ein.
Das besondere Interesse des Formalismus am Film bezieht sich auf den Film als relativ neuartige Kunstform. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgt eine Neu- Konstituierung von Formensprache und Schulen und an deren Beispiel ist der Ablauf einer Kanonbildung gut nachvollziehbar. Die Verfremdung ist beim Film auf die „Innere Rede“ des Zuschauers bezogen, also auf die Filmwahrnehmung des Zuschauers und damit nicht auf die (ent-automatisierte) Wahrnehmung der Realität.
Ebenso wie der Formalismus ist der Strukturalismus zunächst auf die Literaturtheorie konzentriert und nicht ursprünglich eine Filmtheorie, aber genauso hat er auch über die Literaturtheorie hinaus verweisende Aspekte. Die personelle Verbindung zum Formalismus schafft der Prager Linguistenkreis um Jan Mukarovský und Roman Jakobson. Zum eigentlichen „Kern“ des europäischen Strukturalismus gehören Linguisten wie Jakobson, der Soziologe Claude Lévi-Strauss, der Psychoanalytiker Jacque Lacan, die Philosophen Michel Foucault und Louis Althusser und der Literaturkritiker Roland Bathes, wie es Gilles Deleuze im ersten Absatz seines Artikels „Woran erkennt man den Strukturalismus?“14 beschreibt. Deleuze erwähnt auch „die extreme Vielfalt von Bereichen, die sie erforschen“15 und spricht damit schon ein generelles Problem an, das beim Versuch einer kurzen Beschreibung der strukturalistischen Methoden auftreten muß: Eine Beschränkung auf die methodische Vorgehensweise kann nicht stattfinden. Deswegen soll nun nur allgemein versucht werden, Ausschnitte strukturalistischer Theoriebildung zu beschreiben.
Der Strukturalismus beschäftigt sich mit der Untersuchung der allgemeinen Gesetze, denen Strukturen folgen. Die individuellen Einheiten eines Systems, einer Struktur gewinnen ihre Bedeutung nur aus ihren Relationen zueinander. Ähnlich wie im Formalismus ist nicht der Inhalt als Zielsetzung der Analyse relevant, es findet eine Konzentration auf die Form statt. Die Relationen der einzelnen Elemente bestimmen die Struktur. Damit wird der Inhalt der Elemente einer Struktur im Prinzip austauschbar, so lange die Relationen erhalten bleiben. Das bedingt eine analysierende, nicht wertende Methode, da der „kulturelle[...] Wert“16 des Objekts nicht relevant ist, wenn man den Inhalt nicht so stark wertet. Dabei ist die Form selbst zum Inhalt geworden; das Vorgehen ist also selbst- referentiell, Thema sind die eigenen internen Relationen. Verbindungen zum Formalismus sind in der Bedeutung der Differenzen zwischen den einzelnen Teilen eines Systems und im eher geringen Status des Inhalts eines Werks zu finden.
Das methodische Vorgehen des Strukturalismus, das Aufweisen gewisser „Tiefenstrukturen“17 jenseits der Oberfläche eines Textes, bewirkt die Verformung des Textes in einen „völig andersartigen Gegenstand“18. (In diesem Zusammenhang kann der BegriffTextim Sinne vonTextur, also als Anordnung oder Gefüge nicht zwingend literarischer Natur gesehen werden. Damit ist auch Film eine Art von Text.)
Der literarische Strukturalismus der 60er Jahre überträgt de Saussures linguistisches Modell auf die Literatur und im weitesten Sinne auf „Objekte und Tätigkeiten außerhalb der eigentlichen Sprache“19. Signifiant(Zeichen) und signifié(Bezeichnetes) stehen im Austausch miteinander, ohne daß ein Mittler dazwischen geschoben wäre. Es wird nicht mehr von einer Mitteilung vom Sender an den Empfänger gesprochen, sondern das Zeichen und das Subjekt werden beide als Teil der Struktur gesehen. Die Struktur bedingt das Subjekt.
Damit ist der Strukturalismus als Grundlage für eine psychoanalytisch ausgerichtete und für eine feministische Filmtheorie geeignet, da sich die These von der Strukturbestimmtheit des Subjekts mit einer Untersuchung von Machtverhältnissen in bestimmten Strukturen und deren Bedingungen verbinden läßt. Diese Richtungen der Filmtheorie werden im Folgenden allerdings nicht weiter berücksichtigt, da keiner der ausgewählten Texte explizit darauf Bezug nimmt. (Lediglich Kristin Thompson verwendet die Vorgehensweise psychoanalytischer Filmtheorie als Negativfolie und wirft ihr vor, den Film nicht angemessen zu behandeln, sondern lediglich als Bestätigung für die eigenen Theoriebildung zu benutzen.20)
Der Neoformalismus ist als einzige der drei hier erwähnten filmtheoretischen Ausrichtungen nicht literaturtheoretisch beeinflußt, jedenfalls nicht originär in seiner Entstehungsphase als solches konzipiert und auch nicht ausschließlich mit solchen Ansätzen besetzt. Sein grundlegender Gedanke sieht einen ganz auf den Film bezogenen Ansatz vor und macht sich in der Ablehnung der Methoden, die dem Film nur „übergestülpt“21 werden, stark.
Die Forderung nach einem konkreten Bezug zum Film und nicht zum Kino an sich als gesellschaftliche Größe o.ä. bedingt eine stärkere Konzentration auf die Filmanalyse. Dabei sind aus den anderen Theorien Terminologie und Hypothesen entlehnt, wenn sie sich für das konkrete Vorhaben eignen oder von der Analyse vielleicht sogar zwingend benötigt werden. Ziel ist jeweils, ein dem einzelnen Film angemessenes Vorgehen zu finden, das nicht darin besteht, eine schon existierende Theorie durch exemplarische Abarbeitung an einem Gegenstand zu bestätigen.
Wie im Formalismus taucht auch im Neoformalismus der Begriff desVerfahrensauf. Auch hier bezeichnet er in Anlehnung an Sklovskij und Ejchenbaum „jedes einzelne Element oder jede Struktur, die im Kunstwerk eine Rolle spielt.[...] Für den Neoformalisten sind alle diese Verfahren des Mediums und der formalen Organisation hinsichtlich ihres Verfremdungspotetials und ihrer Möglichkeiten, ein filmisches System aufzubauen, gleichwertig“22.
Eine Differenz zum Formalismus zeigt sich jedoch in der Bewertung der Kanonisierung und der Evolution der Verfahren: Die Kanonisierung des (Gegenwarts-)Films, bzw. seine Evolution durch Verfremdung im aktuellen Prozeß steht nicht so sehr im Vordergrund wie eine „Stilgeschichtsschreibung“, die solchen Prozessen in der Vergangenheit nachspürt. Dabei wird als Folie oder Hintergrund und auch als Gegenstand der Untersuchung häufig das klassische Hollywood-Kino gewählt. Für Thompson erscheint ein solches Vorgehen deswegen plausibel, weil ein großer Teil der (für den neoformalistischen Ansatz so wichtigen) Zuschauer-Sehgewohnheiten „durch die Rezeption klassischer Hollywood-Filme normiert“23 ist. Die Wahrnehmung der Zuschauer spielt für den Neoformalismus nicht zuletzt deswegen eine Rolle, weil er „Kunst als eine Art mentales Training“24 begreift, das die abgestumpfte Alltagswahrnehmung mit Hilfe derVerfremdunganregt.
Ein weiterer übernommener Begriff ist der derDominante, ursprünglich ein Begriff aus der Prager Schule, die am Übergang vom Formalismus zum Strukturalismus steht. Im neoformalistischen Ansatz ist die Dominante „das wesentliche formale Prinzip, unter welchem ein Werk oder eine Gruppe von Werken Verfahren zu einem Ganzen ordnet.“25 Weitere Prämissen der neoformalistischen Analyse sind die Einordnung derBedeutungals Verfahren, nicht als Ergebnis der Interpretation, dieFunktionals Zweck der Verfahren mit der dazugehörigenMotivationund die Annahme, daß der Zuschauer während des FilmsHypothesenüber die nachfolgenden Verfahren aufstellt. All diese Begriffe sind noch weiter differenziert und in Kategorien unterteilt, so daß man vom Neoformalismus in dieser Hinsicht als von einer differenzierten und erweiterten Form des Formalsimus sprechen kann, der eine spezifische Ausrichtung auf die Untersuchung jeweils eines speziellen Films hat.
3. Bedeutung und Verwendung des Begriffs „Raum“
Beim Versuch, eine Vergleichbarkeit der drei Ansätze herzustellen, wird man allerdings von vornherein auf die Schwierigkeit stoßen, daß zwar der Gegenstand der Beschäftigung der gleiche ist, aber schon die Art der Zuwendung und die Sicht darauf divergiert. Für zusätzliche Konfusion sorgt in diesem Fall eine scheinbare Äquivalenz der Begriffe, mit denen die Ansätze operieren, und das Sahnehäubchen liefert nach Lektüre von Kristin Thompsons Artikel „Neoformalistische Filmanalyse“ die Feststellung, daß man es nicht einmal mit drei „Methoden“ zu tun hat, da sich Thompson ganz explizit gegeneineMethodik verwehrt, und den Neoformalismus als Ansatz mit vielen Methoden verstanden wissen will.
Solcherart gestärkt beginnt die Suche nach einem Weg, letztendlich doch einen Vergleich zu ermöglichen. Denn die Rückbezüge und Ähnlichkeiten sind doch auffällig und eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Vordenker aus anderen Richtungen so wie eine personelle Verbindung der Methoden, besser: Ansätze ist schließlich auch gegeben.
Wenn auch nicht in umfassendem Maße, so doch als konstante Meßlatte der jeweiligen Ausrichtung eines Ansatzes bietet sich an dieser Stelle eben die Konzentration auf die Verwendung eines bestimmten, z.T. konstitutiven Begriffs an. Dabei kommte es der Untersuchung zugute, wenn ein solcher Begriff genügend Spielraum für ganz unterschiedliche Konnotation und Ausrichtung in den verschiedenen Ansätzen ermöglicht. Der Begriff „Raum“ scheint diese Kriterien zu erfüllen, zudem hat er noch den Vorteil, nicht nur in den jeweils untersuchten Theorien an prominenter Stelle zu stehen, sondern ebenfalls ein wichtiger Parameter des Gegenstandes - Film - selbst zu sein.
3.1 Formalismus: Raumkonstruktion im ganzen Satz
Raum wird im Formalismus als ein grammatikalischer Bestandteil einer Poetik des Films behandelt. In seinem Aufsatz „Probleme der Filmstilistik“ unterscheidet Boris Ejchenbaum Theater und Film zunächst unter dem Gesichtspunkt der Mobilität. Bezogen auf das Theater problematisiert er die „Distanz zwischen immobiler Bühne und Zuschauer“26. Er fordert die „Aufhebung des Theaterraums als eines bestimmten Handlungsortes“27, da mit dem Film der „Defekt“28 der Immobilität, der dem Theater immer anlastete, aufgehoben sei und sich hier die Arbeit mit dem Raum besser verwirklichen lasse. Im Film (das bedeutet in diesem Fall: beim Film-Sehen) gibt es nach Ejchenbaum im Prinzip keine Distanz zwischen Schauspieler und Zuschauer, nur „Maßstäbe, Aufnahmedistanzen“29, ständig wechselnde Spielorte und Perspektiven. „Die Leinwand ist ein imaginärer Punkt und ihre Immobilität ist ebenfalls nur eine imaginäre.“30 Das heißt, die konkrete Existenz eines Raumes im Theater wird im Film durch das abstrakte Gebilde verschiedener imaginärer Räume ersetzt.
Ejchenbaum kommentiert Timosenkos Überlegungen zu grundlegenden Montageverfahren, er nimmt eine sehr genaue Begriffsunterscheidung der von Timosenko verwendeten Termini vor und kommt zu der Definition der Montage als „das Verfahren der Nutzung“31 der „durch die Filmkamera und die Leinwand gegebene[n] Möglichkeit[en]“32, zu denen auch der „Wechsel des Ortes“33 gehört.
Hier findet eine theoretische Auswertung praktischer Anwendungen statt, eine theoretische Begleitung der Erscheinungen der Praxis, die durch den Austausch mit den Filmemachern der Russischen Montageschule angeregt sein kann. Die Entstehungsvoraussetzungen für das neuartige Gebilde werden im Sinne eines grammatischen Regelwerks beschrieben.
Zur Problematisierung des Filmsatzes zieht Ejchenbaum in diesem Zusammenhang erneut die Raumkonstruktion zur Theoriebildung heran. Er macht drei grundlegende Bewegungen im Film aus: „am Zuschauervorbei, auf den Zuschauerhinund vom Zuschauerwegin die Tiefe.“34 (Vergleichbar sind hierzu einige Bemerkungen von H.J. Wulff zu Locus-Einstellung und Kamera-im- Raum, die später eingehend untersucht werden.) Die Totale wird als Umstandsbestimmung(also Adverb) von Ort und Zeit gesehen. Die Raumkonstruktion wird zu so etwas wie einem Musterbeispiel des „Film-Satzes“, an ihr lassen sich sämtliche grammatischen Versatzstücke nachweisen.
Auch das Zusammenspiel von Zeit und Raum wird wesentlicher Bestandteil jenes Regulariums. Ejchenbaum betont diese Bedeutung mit einem Zitat von Bela Balázs, der im Zusammenhang mit Film „die Begriffsfusion >Zeitraum<“35 anführt. Erneut wird anhand eines Vergleichs von Film und Theater verdeutlicht, was im Film an andersartigen Möglichkeiten zur Verfügung steht: Im Gegensatz zum Theater, in dem der Schauspieler lediglich auf dem begrenzten Raum der Bühne agiert und, sobald er diese verläßt, sich in einem für den Zuschauer nicht existenten Raum befindet, ist der Filmschauspieler von grenzenlosem Raum umgeben. Der Zuschauer „denkt räumlich, der Raum existiert für ihn über die handelnden Personen hinaus“36. Damit gewinnt Raum syntaktische und stilistische Bedeutung im Film. Hierbei ist das Prinzip räumlich-zeitlicher Kontinuität essentiell für die Filmsprache, die wiederum erst in der Interaktion mit dem Zuschauer zur Entfaltung kommt (,eine Überlegung, die größere Beachtung in der neoformalistischen Theoriebildung findet). Die Montage bildet Film-Sätze, „einzelne[...] räumlich-zeitliche[...] Momente“37, und die daraus entstehenden Relationen tragen die Bedeutung.
Hier könnte sich allerdings die Frage nach der Autonomie des Kunstwerks stellen, wenn die Bedeutung in einer Relation entsteht, die direkt dem Eingriff des „Monteurs“, also des Regisseurs oder Cutters, unterliegt.
Den Gedanken der Raumbildung als grammatische Konstruktion in einer Filmsprache führt auch Mukarovský in seinem Aufsatz „Zur Ästhetik des Films“ näher aus. Ähnlich wie Ejchenbaum vergleicht er zunächst den Theaterraum mit dem Filmraum: Der dreidimensionale Raum des Theaters wird im Film zu einem illusionistischen Raum, die Bewegung der dreidimensionalen Menschen wird im Film auf eine zweidimensionale Fläche projiziert, so daß, während der Schauspieler sich im Theater von den unbelebten Raumteilen abhebt, die Bilder von Filmschauspielern (in Teilen oder ganz) ein Teil des Gesamtbildes sind. Im weiteren Verlauf untersucht Mukarovský das Verhältnis vom Filmraum zum Bildraum. Er stellt fest, daß der illusionistische Bildraum die Grundlage des Filmraums darstellt. Durch Lenkung des Zuschauerblicks aus dem Bild hinaus und eine Änderung der Blickachse in die Vertikale nach tief unten entsteht im Film der illusionistische Bildraum mit Mitteln des malerischen Illusionismus.
Weitere Möglichkeiten der Raumkonstruktion im Film bietet die „Technik der Einstellung“38. Eine Einstellungsverknüpfung bedeutet eine „räumliche Verschiebung“39 für den Zuschauer, die Raumwahrnehmung wird durch Mukarovskýs These Teil einer Interaktion zwischen Zuschauer und filmischem Verfahren, Mukarovský nennt es „Darbieten des Raumes >von innen heraus<“40. Eine besondere Raumdarstellung entsteht mit der Großaufnahme. Hier spielt der außerbildliche Raum eine entscheidende Rolle,denn nur in der Kombination einer Großaufnahme mit einem intensiven „Bewußtsein vom außerbildlichen Raum“41 entsteht ein Bezug zur Räumlichkeit des Films. Durch ein „Bewußtsein der >Bildhaftigkeit<“42 leistet der Zuschauer zudem eine Relativierung der Größenverhältnisse. Mit dem Tonfilm ist es schließlich möglich, in einer Spannung zwischen den beiden Ebenen ein „Bewußtsein des Raumes >zwischen< Bild und Ton“43 zu schaffen.
Mukarovský zieht hier die Literatur zum Vergleich heran: Ähnlich wie Ejchenbaum stellt er der Raumkonstruktion mit verschiedenen Einstellungen die Sinnkonstruktion aus verschiedenen Wörtern eines Satzes gegenüber. Er macht jedoch einen entscheidenden Schritt weiter in Richtung des Strukturalismus und führt mit der Bedeutung derRelationender einzelnen Einstellungen zueinander den „spezifischen Filmraum“44 als „Raum-Bedeutung“45 ein. Eine besondere Betonung der Bedeutungsmöglichkeiten erfährt der Filmraum durch die Großaufnahme. Im Moment der Großaufnahme ist der Raum noch lediglich geahnt, also noch nicht festgelegt. Auch hier ist die Raum-Bedeutung somit wieder abhängig von der Aktivität des Zuschauers. (Das Hintergrund-Bewußtsein einer Raum-Einheitlichkeit, das er beim Zuschauer voraussetzt, läßt sich in Thompsons Kategorie deskulturell bedingten Vorwissenseinordnen.)
Im Vergleich zu Ejchenbaum läßt sich festhalten, daß Mukarovský zu ähnlichen linguistisch orientierten Modellen kommt, in der Beschreibung der Verfahren jedoch detailierter vorgeht und so - um bei dieser Metaphorik zu bleiben - über die Beschreibung des Satz-Modells hinaus eine Verfeinerung grammatischer Strukturen vornimmt.
Darunter befindet sich auch ein Vergleich zwischen Filmraum und Handlung, der mit veränderten Vorzeichen aber ähnlichem Bestreben in H.J. Wulffs „Raum und Handlung“ ebenfalls auftaucht. Mukarovský kommt an dieser Stelle zu folgenden Feststellungen: Sowohl Filmraum als auch Handlung sind als Bedeutungsträger wirksam. Sie werden beide „sukzessiv verwirklicht[..]“46 und sind dabei abhängig von der Abfolge ihrer Teile. Diese Annahme kann aufgrund ihrer Relationsbezogenheit schon strukturalistisch gewertet werden. Filmraum und Handlung verlaufen als „zwei sukzessive Bedeutungsreihen“47 „gleichzeitig - keineswegs jedoch parallel“48. Die Handlung ist grundlegend, der Raum differenzierend; dabei ist aber die gängige Hierachie, daß die Handlung den Raum bestimmt, nicht notwendig.
3.2 Strukturalismus: Topologie - Orte ohne Inhalt
Die hier verwendete strukturalistische Terminologie schlägt eine Brücke zu Gilles Deleuzes Aufsatz „Woran erkennt man den Strukturalismus?“. Hier findet man keine filmtheoretischen Analysen, sondern vielmehr eine sehr präzise Analyse der strukturalistischen Grundgedanken, ihrer Entstehung und ihres Gebrauchs und darunter Überlegungen zur Bedeutung des Ortes im Strukturalismus:
Die strukturalistische „Definition“ des Ortes in einer Struktur kennzeichnet ihn nicht als einen Platz in einer realen Ausdehnung und nicht als Ort im imaginären Bereich. Laut Deleuze befinden sich Plätze und Orte in einem eigentlich strukturellen, d.h. topologischen Raum. Sie sind erst allmählich als Nachbarschaftsordnung im ordinalen Sinn herausgebildet. Deleuze beschreibt weiterhin die Bedeutung des Ortes als vorrangig vor den realen Dingen, die ihn eingenommen haben, und deren Rollen. Die Orte sind im Strukturalismus wichtiger als das, was sie ausfüllt.
Diese Überlegungen gipfeln schließlich in einer Definition der „Struktur als Ordnung der Dinge unter wechselnden Verhältnissen“49. Damit scheint der Ort konstitutiv für den Strukturalismus zu sein. Die Problematik des „An-seinem- Platz-Fehlens“ und die Relationen, die Verschiebung zum angenommenem Platz sind charakteristisch für das „Symbolische“ im Strukturalismus und auch in den Theoriebauten der schon erwähnten Autoren zu finden.
3.3 Neoformalismus: Ein Raum für den Zuschauer
In „Raum und Handlung“ greift Wulff beispielsweise in seiner Topologie des Filmraums auf die strukturale Ordnung zurück, aber füllt sie mit konkretem Bezug auf einen bestimmten Film. Gleichzeitig weist schon der Untertitel des Artikels auf einen liguistisch ausgerichteten Ansatz hin: „Analyse textueller Funtionen des Raums“.
Wulff gilt als einer der deutschen Vertreter des Neoformalismus. Umso überraschender ist es dann, in seiner Einleitung eine Kritik an der Theorie der Evolution filmischer Verfahren durch die Verfremdung zu lesen, in diesem Fall bezogen auf die Raumbildung. Es ist allerdings anzunehmen, daß sich diese Kritik gegen eine „Abklassifizierung“ früher gebräuchlicher Verfahren richtet. Solche frühen Verfahren der Raumbildung und des Umgangs mit Raum untersucht Wulff exemplarisch an Griffiths A WOMAN SCORNED.
Er geht dabei unter verschiedenen Gesichtspunkten vor: Neben dem Herausarbeiten von charakteristischen Gestaltungsprinzipien und ihrer Verwendung stellt er eine Topologie der Orte auf, vergleicht die syntaktische Organisation von Raum und Handlung und versucht zuletzt den Räumen jeweils eine tiefensemantische Bedeutung zuzuweisen, wobei er Bedeutungsserien bildet und ihre Konnotation untersucht. Die praktischen Vorgehensweisen des Filmemachens werden anhand eines speziellen Beispielfilms seziert, dabei gewinnt Wulff Anschauungsmaterial zur Unterstützung seiner Thesen.
Er attestiert eine Trennung von Handlungsraum und Kameraraum in der Locus- Einstellung. DieseTrennungist bezogen auf den Vorgang der Produktion des Films und erlebbar in der Wahrnehmung durch den Zuschauer. Wulff stellt fest, „daß GriffithRaum als Funktion von Handlung syntaktisiert“50 und greift damit Mukarovskýs These der Hierarchie von Raum und Handlung auf. Als weiteres Verfahren, das Auswirkung auf die Raum-Konstruktion hat, erkennt er den „Heransprung“ innerhalb der Locus-Einstellung. Er bewirkt laut Wulff eine Insertion innerhalb des Raum-Kontinuums. (Auch hier ist wieder ein Bezug zu Mukarovský auszumachen.) Wulff sucht nachMotivationenfür dieses Verfahren und findet sie in der Narration. (Bezogen auf Thompsons Kategorisierung könnte man die Motivation also kompositionell nennen.)
Im Vergleich zu einem weiteren Verfahren, der subjektiven Einstellung, ergibt sich eine erweiterte Poetik des Films, die hier spezifisch für den benannten Film und nicht generell gemeint ist. Die Raum-Schemata funktionieren dabei als (grammatisches) Regelwerk der filmischen Präsentation.
Wulff wendet die Kognitions-Modelle der Neoformalisten51 auf die Raum- Komponente in A WOMAN SCORNED an. (Problematisch ist, daß Wulffs Thesen über die Subjektivierung im Rahmen dieser Modelle durchaus berechtigt Anwendung finden können, aber nicht auf den als Untersuchungsgegenstand gewählten Film zutreffen. Die Unterscheidung zwischen markierter und unmarkierter Subjektivierung ist hier nicht möglich, da keine markierten Subjektivierungen vorhanden sind. Insofern ist auch die eventuelle Zuordnung zu Locus-SchemaundKamera-im-Raumnicht möglich. Deutlich wird jedoch die Bemühung um eine Katalogisierung gängiger Verfahren.) Zur Subjektivierung-im- Raum stellt Wulff ein Modell der Hypothesenbildung des Zuschauers hinsichtlich der Raum-Orientierung auf. Er unterscheidet in Anlehnung an die Linguistik zwischen „deiktischer und intrinsischer Orientierung“52; dabei stellt die deiktische Orientierung den Regelfall dar, entsteht aber aus einer Reihe von Verrechnungen intrinsicher Orientierung. Die „>Berechnungen<, die zur Ableitung der >Subjektivität< einer Einstellung führen“53 schaffen einen „inneren szenischen Raum“54. Im Locus-Schema ist dieser Raum im Ganzen präsentiert. Thompsons Annahme der Interaktion zwischen Film und Zuschauer findet hier Eingang: Der Zuschauer bildet im Verlauf des Films fortwährend Hypothesen über die Raum- eigenschaften (wie Lage, Größe und relative Lage der Räume zueinander) die durch einzelneHinweise (cues)entweder bestätigt oder ad absurdum geführt werden.
Als besondere Art voncuesstellt Wulff die Verfahren der Handlung heraus:
Die Zuschauer bilden Hypothesen über die Beschaffenheit des Raums, die von Teilen der Handlung angeregt werden. Das dazu nötige Vorwissen ist einerseits kulturell bedingt, andererseits durch das vorher im Film Gezeigte entstanden. (Wulff nennt dies „Hintergrundbewußtsein der Szene“55.)
Handlung und Raum sind dabei laut Wulff auf drei verschiedene Arten verknüpft: Die Handlung bewirkt Bewegung, die eins der „spatialen Bindemittel zwischen den Einstellungen“ darstellt.
Die präsentierten Orte im Film sind narrationslogisch miteinander verbunden, d.h. das Wissen der Zuschauer um die Einbindung bestimmter Örtlichkeiten in bestimmte Handlungsabläufe trägt zur Hypothesenbildung und schließlich zur Raumkonstruktion bei.
Die zwei von Wulff herausgestellten Schemata der Raumpräsentation könnten ideologisch motiviert unterteilt sein: in Raum der Verbrecher und Raum der Familie.
Auf der Basis der von Thompson aufgestellten Thesen zur Raumwahrnehmung und zur Hypothesen-Bildung der Zuschauer während des Film-Sehens56 stellt Wulff ein solches Kognitions-Modell für A WOMAN SCORNED auf. Er bedient sich dabei formalistischer Methoden und schlußfolgert, das die von ihm untersuchte Art der Raumdarstellung als eine Art von Stilbildung im frühen amerikanischen Kino gesehen werden kann.
4. Zusammenfassung und Schluß
Der vorliegende Vergleich der Ansätze des Formalismus, Strukturalismus und des Neoformalismus erweckt den Anschein, als seien die Differenzen zwischen den dreien nicht so gravierend wie zunächst vermutet. Zumindest in Bezug auf die Untersuchung des Raums ist eine durchgängige Linie erkennbar.
Dies hängt jedoch hauptsächlich mit der engen methodischen Bindung des Neoformalismus an den Formalismus zusammen. Da viele Begriffe und deren Gebrauch übernommen sind und in einem erweiterten System der Analyse eingesetzt werden können, scheinen die Ansätze sich zunächst sehr zu ähneln. Auch die Systematik des Vergleichs mit linguistischen Methoden scheint vorerst auch im Neoformalismus gegeben. Die Ausrichtung könnte hier jedoch eine andere sein.
Wulff konzentriert sich auf die Ausformung eines Stils der Raumdarstellung als Teil einer bestimmten historischen Konvention des amerikanischen Kinos. Hier setzt er allerdings bestimmte Annahmen über Zuschaueraktivitäten, die heute nicht mehr generell für die Raum-Perzeption gelten können. Hiermit soll nicht behauptet werden, Wulff hätte seine Thesen anhand eines Gegenwartsfilms aufstellen und erproben müssen. Dieses Vorhaben wäre unvereinbar mit der von Wulff beabsichtigten Untersuchung der Konventionsbildung im frühen Film. Aber gerade diese Fragestellung macht die Unterscheidung von formalistischem und neoformalistischem Ansatz aus.
Der Neoformalismus versucht nah am Gegenstand seiner Untersuchung - dem Film - verschiedenste Facetten dieses Gegenstandes herauszuarbeiten. Dabei ist ein Rückgriff auf das Archiv des Kinos immer wieder notwendig, um historische Prozesse und ihren Niederschlag im gegenwärtigen Film zu erforschen. Das Interesse des Formalismus gilt jedoch gerade diesen Prozessen, ihrer Prozeßhaftigkeit im Entstehen neuer Kunstwerke und dem Entstehen eines völlig neuen künstlerischen Zweiges. Dem Zuschauer kommt damit die Rolle eines Teils im Prozess zu, während im Neoformalismus der Zuschauer als Nutzer sowohl des Kunstwerks ( zur Ent-Automatisierung seiner eigenen Alltags- wahrnehmung), als auch des neoformalistischen Angebots zur weiteren Ausbildung seiner eigenen Fähigkeiten und seines Wissenshintergrunds auftritt.
Im Rahmen dieser Untersuchung konnte dem strukturalistischen Ansatz und besonders seiner Nutzung durch die psychoanalytische und die feministische Filmtheorie nicht genug Rechnung getragen werden. Gerade die Konstruktion des Subjekts durch die Struktur als essentielle Annahme mußte aufgrund der Beschränkung der Text-Grundlage ausgelassen werden. So lassen sich natürlich nun auch keine Schlußfolgerungen über die strukturalistisch ausgerichtete Filmtheorie im allgemeinen ziehen. Bezogen auf den im Vorangegangenen untersuchten Gegenstand läßt sich jedoch anführen, das die strukturalistische Systematik nicht nur in Verbindung mit dem Formalismus steht, sondern sich wegen ihrer analytischen Qualitäten auch hervorragend als Werkzeug neoformalistischer Arbeit eignet.
In der Beschränkung auf die Raum-Untersuchung konnte so zumindest ein Einblick in die verschiedenen Ausprägungen filmtheoretischer Überlegungen dieses Jahrhunderts und ihrer wechselseitigen Beziehungen versucht werden.
Literaturverzeichnis
Beilenhoff, Wolfgang (Hg.): Poetik des Films. München: Wilhelm Fink Verlag, 1974.
Berger, John: Was ist Film? In: Lettre International, Nr. 61, Heft 12, Frühjahr 1991.
Bordwell, David: „Kognition und Verstehen. Sehen und Vergessen in MILDRED PIERCE.“ In: montage AV, Heft 1/1/1992.
Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus? Berlin: Merve, 1992.
Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. 4. Auflage. Stuttgart: Metzler, 1997.
Ejchenbaum, Boris: Probleme der Filmstilistik. In: Beilenhoff (Hg.), 1974. Mukarovský, Jan: Zur Ästhetik des Films. In: Beilenhoff (Hg.), 1974.
Sklovskij, V. In: Beilenhoff, Wolfgang: Filmtheorie und Praxis der russischen Formalisten. In: ders. (Hg.), 1974.
Thompson, Kristin: „Neoformalistische Filmanalyse. Ein Ansatz, viele Methoden.“ In: montage AV, Heft 4/1/1995.
Wulff, Hans J.: „Raum und Handlung. Zur Analyse textueller Funktionen des Raums am Beispiel von Griffiths A WOMAN SCORNED.“ In: montage AV, Heft 1/1/1992.
[...]
1 Ejchenbaum in: Beilenhoff (Hg.), 1974, S.24
2 Berger, 1991
3 Wulff, 1992
4 vgl. Literaturverzeichnis für bibliographische Daten zu den einzelnen Texten
5 Eagleton, 1997, S.3
6 Beilenhoff (Hg.), 1974, S.140 f.
7 Eagleton, 1997, S.3
8 ebd.
9 Beilenhoff (Hg.), 1974, S.140 f.
10 Eagleton, 1997, S.4
11 ebd.
12 Beilenhoff, 1974, S.139
13 Sklovskij in: Beilenhoff (Hg.), 1974, S.140
14 Deleuze, 1992, S.7
15 ebd., S.7 f.
16 Eagleton, 1997, S.74
17 ebd.
18 ebd.
19 ebd., S 75
20 vgl. Thompson, 1995, S. 25, 46 f.
21 ebd., S.24
22 ebd., S.35
23 ebd., S.43
24 ebd., S.29
25 ebd., S.60
26 Ejchenbaum in: Beilenhoff (Hg.), 1974, S.23
27 ebd.
28 ebd.
29 ebd., S.24
30 ebd.
31 ebd.
32 ebd.
33 ebd.
34 ebd., S.30
35 ebd., S.33
36 ebd.
37 ebd.
38 Mukarovský in: Beilenhoff (Hg.), 1974, S.122
39 ebd.
40 ebd.
41 ebd., s.123
42 ebd.
43 ebd., S.124
44 ebd.
45 ebd.
46 ebd., S.128
47 ebd., S.129
48 ebd.
49 ebd., S.45
50 Wulff, 1992, S.96
51 z.B. Bordwell, 1992
52 Wulff, 1992, S.99
53 ebd., S.100
54 ebd., S.100 f.
55 ebd., S.102
56 vgl. Thompson, 1995, S.48 und S. 50
- Arbeit zitieren
- M.A. Sibylle Meder Kindler (Autor:in), 2000, Raum-Film-Theorie - Zur Bedeutung des Raumes in den filmtheoretischen Ansätzen von Formalismus, Strukturalismus und Neoformalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/106468
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