Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Wahnsinn und Gesellschaft
2.1 Zwei Werke von Foucault
2.2 Was wollte Foucault?
2.3 Bezug zur Psychoanalyse
2.4 Exkurs I: Das Unbehagen der Verhaltensforscher an ihrer Profession
2.5 Exkurs II: Die wechselnden Gesichter des Unbehagens an der Kultur
3 Zusammenfassung
4 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit:
- Sollte der Blick auf die Geisteskrankheiten aus dem selben Winkel heraus er- folgen wie auf die organischen Erkrankungen, oder hat die Pathologie der Gei- steskrankheiten ihre eigenen Dimensionen?
- Gab es immer schon wahnsinnige Menschen oder ist der Wahnsinn eine Erfin- dung der Neuzeit, oder anders ausgedrückt: Ist der Wahnsinn - zumindest seit den viel zitierten Alten Griechen - eine historische Universale oder ist er etwas Gemachtes?
Diesen Fragen - durch die ein Blick von außen auf die menschliche Seele initiiert wird - ist der französische Philosoph1 und Psychopathologe Michel Foucault in zwei seiner frühen Werke nachgegangen: Psychologie und Geisteskrankheit 2 schrieb er 1954 - zu diesem Zeitpunkt war er Ende Zwanzig und hatte bereits eine psychiatrische Behandlung nach einer schweren Persönlichkeitskrise, die in einem Selbstmordversuch gipfelte, hinter sich; Wahnsinn und Gesellschaft 3 kam 1960 heraus.4
In der vorliegenden Arbeit werden wesentliche Ergebnisse dieser beiden Bücher dargestellt, es wird ein Schlaglicht auf die - mögliche - Intention von Foucault geworfen sowie ein Bezug zur Psychoanalyse hergestellt. Schließlich folgt - nach zwei Exkursen zur Methodenkritik an verhaltenswissenschaftlichen Untersuchungen und zur historischen Betrachtung des Phänomens der psychosomatischen Erkrankungen - eine Synthese der wichtigsten dargestellten Gedanken.
2 Wahnsinn und Gesellschaft
2.1 Zwei Werke von Foucault
In Psychologie und Geisteskrankheit zeigt Foucault, dass eine Einheitspathologie, die sowohl organische als auch geistige Erkrankungen aus einem Blickwinkel heraus untersuchen kann, in das Reich der Mythen gehört - wenn auch die Einheit von Körper und Seele unter die Wirklichkeit fällt (1968, S. 21). Er zeigt, dass eine Geisteskrankheit - ob es sich nun um eine auf einen Persönlichkeitssektor begrenzte Neurose oder um eine die Gesamtpersönlichkeit betreffende Psychose handelt - nicht in der gleichen Weise verifizierbar ist wie z.B. ein zu niedriger Blutdruck oder ein Tumor (1968, S. 21 ff).
Das Vorhandensein einer Geisteskrankheit folgt vielmehr gesellschaftlicher Kon- vention, d.h. das, was in einer bestimmten Epoche in einer bestimmten Gesell- schaft als Geisteskrankheit gilt, kann in einer anderen Epoche bzw. einer anderen Gesellschaft durchaus eine ganz andere Bedeutung haben (1968, S. 99 ff). Statt ei- ner Krankheit kann dann z.B. - eher wertfrei - eine persönliche Eigenheit erkannt werden, oder sogar die Eintrittskarte zu höheren mysthischen Weihen, z.B. als Schamane (Foucault 1998, S. 641).
Foucault schlägt deshalb vor, die Geisteskrankheiten statt an Hand organischer Ka- tegorien besser innerhalb der nachfolgend genannten drei Dimensionen zu lokali- sieren und zu untersuchen, da die bisherigen Begriffe der Psychologie seiner Anhätte Psychologie und Geisteskrankheit in diesem Theoriebildungsprozess lediglich propädeutischen Charakter.
sicht nach nicht ausreichen, das Ganze des Wahnsinns, sein Wesen und seine Na-
tur, zu erfassen - die Psychologie habe sich ja historisch erst nach der Pathologisierung des Wahnsinns entwickelt, die Psychologen betrachten den Wahnsinn demnach allein unter dem Aspekt Geisteskrankheit, wie die Psychologie sie heute sieht, also unvollständig (1968, S. 116).
a) Allgemeine Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit
Die Psychologie des 19. Jh. beschrieb die Geisteskrankheiten als etwas Nega- tives, z.B. durch die Nennung von eingeschränkten Fähigkeiten bei bestimmten Erkrankungen, die Aufzählung vergessener Erinnerungen bei Amnesien oder die detaillierte Aufstellung von unmöglich gewordenen Synthesen bei Persön- lichkeitsspaltungen. Foucault machte jedoch darauf aufmerksam, dass eine Geisteskrankheit nicht nur partielle Leere schafft, sondern dass diese Hohl- räume durch Ersatztätigkeiten positiv gefüllt werden, wobei die verschwunde- nen Funktionen üblicherweise komplex, instabil und willensabhängig sind, die neuen Ersatzfunktionen im Vergleich hierzu jedoch eher einfach, dafür aber stabiler und unabhängiger vom Willen (1968, S. 32 f).
Dabei folgt der Grad dieser strukturellen Persönlichkeitsänderung einer be- stimmten Logik: Je stärker die Krankheit im Menschen wirkt, desto weiter scheint er sich von seinen im Zeitverlauf als soziales Wesen erworbenen Ver- haltensmustern zurück zu entwickeln in Richtung eines kindlichen oder gar ar- chaischen Verhaltens (1968, S. 42). Wichtig ist nun, diese Regression nicht als Rückentwicklung zum Kind oder zum Wilden zu interpretieren, sondern allein als beschreibenden Aspekt einer kranken Persönlichkeit, die segmentäre Ver- haltensweisen zeigt, die denen von Personen einer jüngeren Altersstufe oder einer anderen, archaischen Kultur analog sind (1968, S. 46).
b) Individuelle psychologische Geschichte
Neben einer evolutionistischen hat die menschliche Psyche jedoch auch noch eine individuelle geschichtliche Dimension, die z.B. Sigmund Freud mit der Darstellung seiner psychoanalytischen Fallstudien aufzeigte (1968, S. 52). Bei dieser Dimension zur Charakterisierung von Geisteskrankheiten kommt es dar-auf an, die individuellen psychischen Metamorphosen, Symbolismen, Verkeh rungen der Gefühle ins Gegenteil, Übertragungen von Schuldgefühlen etc. als individuelle Fluchten zu begreifen, wobei Gefühle und Verhaltensweisen aus der Vergangenheit von den Kranken herauf beschworen werden, um an die Stelle der jetzigen - im Vergleich schwerer erträglichen - Situation zu treten (1968, S. 54 ff).
Es sind jeweils individuell empfundene Konflikte, die zu psychischen Spannungen führen. Diese Spannungen können pathologisch werden, wen sie den Menschen überfordern und ihn dann - so zu sagen als Kompromiss - zu Gefühlslagen und Verhaltensweisen aus seiner individuellen Vergangenheit, z.B. seiner Kindheit, führen (1968, S. 64 ff).
c) Veränderung der Wahrnehmung
Die Aufspannung der dritten Dimension einer angemessenen Pathologie der Geisteskrankheiten betrifft nach Foucault den Versuch, die Existenz einer Gei- steskrankheit - mit der Angst des Individuums als deren Zentrum - mittels Intuition von innen heraus zu begreifen: „Im Begreifen des kranken Bewußt- seins und im Wiederherstellen seines pathologischen Universums liegen die beiden Aufgaben einer Phänomenologie der Geisteskrankheit.“ (1968, S. 74 ff). Foucault nennt als zu untersuchende Ausprägungen einer aus dem Gleich- gewicht geratenen Wahrnehmung des Geisteskranken: Störungen in den wahrgenommenen Zeitformen, in der empfundenen räunlichen Struktur der Welt, in der erlebten gesellschaftlichen und kulturellen Mitwelt sowie in der Erfahrung des eigenen Körpers (1968, S. 80 ff).
Es ist notwendig zu erkennen, dass dieses individuelle Universum auf der Basis einer gestörten Wahrnehmung seine eigene Existenz hat, was mit Heraklits Worten über den Schlaf deutlicher wird, wonach die Wachenden eine einzige und gemeinsame Welt haben, von den Schlafenden aber sich ein jeder seiner eigenen Welt zuwendet (1968, S. 89).
So weit das Foucault’sche Koordinatensystem der Geisteskrankheiten. Doch damit nicht genug: Im genannten Buch - es handelt sich eigentlich eher um ein schmales
Bändchen5 - entwirft Foucault im zweiten Teil mit der Überschrift Wahnsinn und
Kultur bereits die Grundzüge seines sechs Jahre später erscheinenden umfangrei- cheren Werkes Wahnsinn und Gesellschaft, wo es um die Frage geht, wann und wie der Wahnsinn in unserer Wahrnehmung das wurde, was er uns heute ist.
In Wahnsinn und Gesellschaft versucht Foucault - im Zeitverlauf rückwärts bli- ckend - an den „Punkt Null“ zu gelangen, vor dem noch keine Abgrenzung von Vernunft und Wahnsinn durch die Entstehung der modernen wissenschaftlichen Rationalität existierte (1993, S. 7). Das erste dramatische Ereignis dieser Abgren- zung, die so genannte „Große Gefangenschaft“, lokalisierte er für Frankreich zeit- lich in der Mitte des 17. Jh., als die Wahnsinnigen - gemeinsam mit anderem „ar- beitsscheuen Gesindel“ - in die h ô piteaux g é n é neraux eingekerkert wurden (1993, S. 71 ff).
Bis zu diesem Zeitpunkt wurden laut Foucault zwar der Wahnsinn und die Wahnsinnigen an den Rand der Gesellschaft gedrängt, waren jedoch in der Gesell- schaft, in der sie sich bewegten, weit verbreitet. Nach diesem Zeitpunkt sei der Wahnsinnige nicht länger als eschatologische Gestalt an den Grenzen der Welt be- trachtet worden, womit der Dialog mit der Unvernunft abgebrochen und der Wahnsinn als das radikal Andere in Bezug zu einer aufgeklärten Vernunft verstan- den wurde.
Ende des 18. Jh. begann man dann, die Wahnsinnigen von ihren physischen Fes- seln zu befreien, was Foucault jedoch nicht als Geburtsstunde einer humanisti- schen Psychiatrie interpretiert, sondern als eindeutigen Beleg dafür, dass der allge- genwärtige Moralsadismus den Wahnsinn inzwischen an eine unsichtbare Kette gelegt hatte. Seitdem gelang es nur noch sehr wenigen Grenzüberschreitern - unter ihnen de Sade, van Gogh und Nietzsche - den Kontakt mit der transzendenten Wahrheit des Wahnsinns in episodischen und oftmals gewalttätigen Ausbrüchen wieder aufzunehmen.
Foucault nimmt damit an, dass der Wahnsinn, wie wir ihn heute sehen, als histori- sche Universale nicht existiert, d.h. es gab nicht schon immer Wahnsinnige im Sinne von geisteskranke Menschen. Diese Auffassung hat sich erst im Zeitverlauf als gesellschaftliche Meinung entwickelt, und mit ihr die unterschiedlichen Wahr- nehmungsformen des Wahnsinns - bis hin zum Gegenstand der medizinischen Be- forschung und Behandlung, der Pathologisierung. Der gesellschaftliche Dialog mit dem Wahnsinn ist einem Monolog ü ber den Wahnsinn gewichen.6
Demnach ist der Wahnsinn eine Illusion, die sich im gesellschaftlichen Bewusst- sein allmählich zur Gewissheit verdichtet hat. Diese Gewissheit wird mittlerweile als Wahrheit aufgefasst, wobei sie keine universelle Wahrheit ist, sondern eine von den jeweiligen Machthabern im Zeitverlauf hergestellte. Foucault versucht nun, mit den Mitteln der Wahrheit - im Sinne einer von der Wissenschaftlerzunft als handwerklich sauber eingestuften historischen Rekonstruktion7 - zu zeigen, dass die vermeintlich universelle Wahrheit der Existenz des Wahnsinns eine historisch gewachsene ist.8 Er zeigt, dass mittlerweile die Gesellschaft, Natur- und Sozial-wissenschaftler sowie Ärzte die Definitionsmacht über den Wahnsinn besitzen ihr ausgestreckter Finger zeigt: Das sind die Wahnsinnigen, praktischerweise gleich eingeteilt in pathologische Klassen à la Linné.9 Ausgehend von der Frage, woher die Psychiatrie die Legitimation bezieht, wenn sie gewisse Menschen als geisteskrank deklariert und in der Ausübung ihrer Freiheiten einschränkt, hat Fou- cault festgestellt, dass diese, lange bevor sie sich um eine wissenschaftliche Be- gründung bemüht hat, eine sozial-politische Strategie gewesen ist (Marti 1988, S. 165).10
Die Originalität von Foucaults Analyse liegt in seiner sozialkritischen Erkenntnis- perspektive, nach der existierende Pathologien, Abweichungen und Abnormalitä- ten nicht einfach im Rahmen einer marxistisch geprägten Analyse auf gesellschaft- liche Ursachen zurück geführt werden, sondern die Erfahrung und Bewertung be- stimmter Phänomene als pathologisch, abweichend oder abnormal selbst als eine sozial erzeugte Erfahrung erklärt wird (Kögler 1994, S. 13). Das Erscheinen von Wahnsinn und Gesellschaft brachte die zeitgenössische ärztliche Macht in Frank- reich ins Wanken, weil sie das wissenschaftstheoretisch auf schwachen Pfeilern ruhende Gebäude der Psychopathologie erschütterte. So waren die Texte Foucaults z.B. in den Jahren 1968 - 1975 Basistexte zur Stützung von Kundgebungen der Antipsychiatrie (Canguilhem 1991, S. 64).11 Für das gesamte spätere Werk von begrenzter Formen der Rationalität.“ (1995, S. 195 f).
Foucault scheint Wahnsinn und Gesellschaft die Richtung zu weisen: Er schreibt an gegen die Gefahren der abendländischen Vernunft, die bereits frühzeitig das maßvoll gestaltende Apollinische von seinem Anderen, dem rauschhaft-lustvoll sich vereinigenden Dionysischen abtrennen wollte - das große Thema in Nietzsches Werk Die Geburt der Trag ö die (Fink-Eitel 1997, S. 31 f).
Ob Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft nun aber eine „seriöse“ historische Ar- beit ist oder eher ein Buch, das „eigentlich nicht von Geisteskrankheit handelt, sondern vielmehr von der philosophischen Wertschätzung, die dem Leben, den Äußerungen und Werken von Künstlern und Denkern beigemessen wird, die ge- meinhin als ‚verrückt‘ betrachtet werden“ (Miller 1995, S. 150), ist wohl nicht un- umstritten. So bemerkt Miller: „Je mehr sich jedoch professionelle Historiker mit dem Archivmaterial [das Foucault für Wahnsinn und Gesellschaft benutzte, Ch. W.] befaßten, desto größere Zweifel meldeten sie an der Zuverlässigkeit von Fou- caults Ergebnissen an.“ (1995, S. 152).12 Man darf aber nicht vergessen, dass Wahnsinn und Gesellschaft wohl auch deshalb ein verändertes Denken des Wahn- sinns in vielen Köpfen auslöste, weil Foucault in diesem Buch wortgewaltig gera- de nicht auf eine gehörige Portion Romantizismus verzichtet, „der einen Gutteil der Schönheit von Wahnsinn und Gesellschaft ausmacht“ (Deleuze 1987, S. 24).
2.2 Was wollte Foucault?
So wie - laut Ludwig Marcuse - Sigmund Freud zwar der Schöpfer einer neuen medizinischen Disziplin und der erste Theoretiker einer neuen Seelenkunde war, dessen größere Wirkung allerdings von der Destruktion des Baufälligen ausgegan- gen sei,13 so scheint Michel Foucaults Wirkung auch eher im Schleifen lieb ge- von der Subjektivität im alten Griechenland und dann im Christentum. Doch das ist nur die eine Hälfte von dem, was er sich vorgenommen hat. Denn aus Sorge um die Strenge, aus dem Willen heraus, nicht alles zu vermischen, aus Vertrauen in den Leser formuliert er die andere Hälfte nicht. Er formuliert sie allein und explizit in den zeitgleich zu jedem der großen Bücher geführten Gesprächen: Wie steht es heute um den Wahnsinn, um das Gefängnis, um die Sexualität?“ (1991b, S. 161). Eine umfangreiche Liste von - meist ins Deutsche übersetzten - Gesprächen mit Foucault findet sich z.B. bei Kammler (1986, S. 255 - 264).
wonnener Denkgebäude zu liegen als im Neubau eines - zumindest für eine be- grenzte Zeit stabilen - Theoriegebäudes oder in der Aufstellung expliziter normativer Vorgaben: Er stellt fest, ohne eine neue Richtung anzuzeigen.14
Foucaults normative Beliebigkeit wurde verschiedentlich kritisiert, u.a. mit dem Argument, er lehne es zwar ab, Normen vorzugeben, sage aber nicht, warum man den Widerstend der Unterwerfung vorziehen und die jetzigen Machtverhältnisse bekämpfen solle - die u.a. den Wahnsinn pathologisiert haben. Foucault rechtfertigt diesen Mangel an normativen Vorgaben damit, dass er niemand vorschreiben wolle, was als die Wahrheit zu gelten habe (Jäger 2000, S. 50). Eine analoge Struktur findet sich auch im von Gerd Achenbach beschriebenen Selbstverständnis der philosophischen Praxis wieder: Alles in Frage stellen, aber konsequent auf jegliches Heilungskonzept verzichten (Macho 1985, S. 31).15
Möglicherweise hat sich Foucault von der Ansicht Friedrich Nietzsches beeinflus- sen lassen, wonach die Moral - auch diese ein normatives System - dem Psycho- logen die Erkenntnis verwehrt, dass die dunklen Triebe notwendiger Teil eines Lebens im Gleichgewicht sind (Nietzsche 1980, Jenseits von Gut und Böse, Erstes Hauptstück: von den Vorurteilen der Philosophen, 23.).16 Oder anders gewendet:
Schuch (2001), S. 10).
Je mehr Normen jemand vorgibt, desto weniger kann er sich dem Wahnsinn als
Untersuchungsgegenstand nähern und dessen Wert erkennen.
Respektiert man den Mangel an positiven Normen in Foucaults Werk als bewusste Zurückhaltung,17 dann könnte man den normativen Grundzug in seinem Werk darin erkennen, das Andere - z.B. den Wahnsinn - unangetastet zu lassen, d.h. diesen nicht durch gesellschaftliche Vereinnahmung zu reparieren, sondern zu respektieren. Nur so kann das Subjekt mittels immer wieder neuer Überschreitung seiner eigenen Grenzen - hin zum Anderen, dem man ebenfalls Subjektcharakter zugesteht - sich an diesem Anderen reiben, um sich immer wieder neu zu transformieren, um sich als Kunstwerk selbst zu erschaffen.
Dieser Gedankengang erinnert an die von Julia Kristeva beschriebene fortschrei- tende Individualisierung des Subjekts, das sich selbst erschafft in der Abarbeitung zwischen sich selbst, der mütterlichen Allmacht und dem Phallus, getrieben von der Spannung, die naturhafte und gesellschaftliche Wirkungen im Unterbewusst- sein des Subjekts erzeugen (Suchsland 1992, S. 85 ff). Im Gegensatz zu Kristeva benutzt Foucault jedoch das einfachere Modell: Fasst man Kristevas mütterliche Allmacht und Phallus zusammen und nennt dies Wahnsinn, und verschweigt dar- über hinaus die Triebfeder der Reibung des Subjekts am Anderen, gelangt man zu Foucaults Subjekt,18 das sich am Anderen reibt, um sich durch ständige Transfor- mation als Kunstwerk selbst zu erschaffen - eine durchaus dynamische Struktur im Sinne von Kristevas Projekt.
Sich selbst als Kunstwerk zu erschaffen ist aber nicht nur reine Ästhetik, sondern
ein sich wehren gegen den Druck des herrschenden Allgemeinen,19 das - wie The- odor Adorno in seiner Schrift Erziehung nach Auschwitz meint - die Tendenz hat, das Besondere und Einzelne samt seiner Widerstandskraft zu zertrümmern - eine Widerstandskraft, die die Menschen dazu befähigt, sich dem entgegenzustemmen, was zu irgendeiner Zeit zur Untat lockt.20
Oder, um einen weiteren Gedanken von Nietzsche aufzugreifen: Durch die gesellschaftliche Vereinnahmung der Seelenqualen berauben wir uns der Erkenntnis, dass diese Qualen gerade deshalb wertvoll sind, weil sie den Gequälten hellsichtig machen, ihm Aufklärung geben über den Wahn seines Lebens, ihn stolz machen, um nicht am Leiden zu zerbrechen und ihm die Chance geben, in der Genesung gegenüber dem Leben milde zu werden - „Musik zu hören, nicht ohne zu weinen“ (Nietzsche 1980, Morgenröthe, Zweites Buch, 114.).
2.3 Bezug zur Psychoanalyse
Der amerikanische Psychoanalytiker Joel Whitebook schätzt Foucaults konstruierten Gegensatz „Normierung vs. Überschreitung“ als unproduktiv ein und führt hierauf einige der auffallenden Lücken in dessen Theorie zurück: Foucault habe seine eigenen, persönlichen Erfahrungen mit dem Wahnsinn nicht zu überschreiten, sondern lediglich zu idealisieren vermocht (1998, S. 509).
Whitebook führt als dritte Alternative - neben Normierung und Überschreitung - die Psychoanalyse als Übung im Dialog mit der Unvernunft und als methodisch begrenzte Praxis ins Feld. Der Psychoanalytiker agiert nach dieser Ansicht an der Schnittstelle zwischen Normierung und Überschreitung, er kommuniziert im besten Falle von einem Standpunkt innerhalb einer - dem Bereich der Normierung zugehörigen - Methodik mittels seiner Empathie mit dem Wahnsinnigen, der sich im Zustand der Überschreitung befindet (1998, S. 517). Erinnert das nicht an Gandalf, Tolkiens Wanderer zwischen den Welten?
Was will nun die Psychoanalyse? Geht man auf Freud zurück, so ist der Mensch dauerhaft gefangen zwischen seinen Trieben und den Anforderungen der Zivilisation. Da vollständige Triebbefriedigung und Zivilisation einander ausschließen, muss der Mensch seine Triebe unterdrücken, um Kultur zu produzieren - was ihm ein Unbehagen an dieser von ihm geschaffenen Kultur verschafft. Freuds Programm zur Kurierung dieses Unbehagens ist die am Primat der Realität ausgerichtete Erlösung mittels psychoanalytischer Erkenntnis zur Herstellung der Liebesund Arbeitsfähigkeit (Schuch 2001, S. 12).
Das Thema „Unbehagen an der selbst produzierten Kultur“ führt zu den nachfolgenden zwei Exkursen.
2.4 Exkurs I: Das Unbehagen der Verhaltensforscher an ihrer Profession
Laut dem französischen Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux versuchen die Verhaltensforscher bei der Verwendung von - naturwissenschaftlich geprägten - psychometrischen Methoden, den Beobachter und seine Auswirkung auf das zu untersuchende Objekt als störende Einflussgröße zu betrachten. Dies erzeugt ange- sichts der seelischen Vielfalt der Menschen nur grobkörnige Ergebnisse und stellt lediglich eine fiktive Objektivität dar: Das, was am Organismus lebendig ist und das, was am Menschen menschlich ist, bleibt zum größten Teil unberücksichtigt (Devereux 1988, S. 17 f).
Psychologische Phänomene werden in naturwissenschaftlicher Art und Weise vermessen, ohne Erforschung von deren gesellschaftlicher Relevanz allein auf das Individuum bezogen und in einem weiteren Schritt schließlich dem Bereich der Biologie zugewiesen. Dadurch wird die Psychologie auf eine vornehmlich mit quantitativen Methoden hantierende Naturwissenschaft reduziert, die vor der Aufgabe kapituliert, den Menschen als Subjekt mit einem vielfältigen Seelenleben zu sehen.
Die Betrachtung des Beobachters als Störenfried in der verhaltenswissenschaftli- chen Untersuchung verdrängt aber die Tatsache, dass auf beiden Seiten der Unter- suchung Menschen beteiligt sind, mit all ihren persönlichen Erfahrungen, Vorur- teilen und gesellschaftlichen Prägungen: Menschen handeln in dem Bewusstsein vom Bewusstsein eines anderen - dem Wissen, daß man weiss (Devereux 1988, S. 45). Die Verdrängung dieser Tatsache liegt möglicherweise daran, dass wir uns selbst und unseren Reizwert nicht kennen und auch nicht kennen lernen wollen (Devereux 1988, S. 49).
Wie im Mikrokosmos nach Werner Heisenbergs Erkenntnis das untersuchende Werkzeug stets auf das zu untersuchende Objekt einwirkt, wodurch eine gewisse Unschärfe der Untersuchungsergebnisse prinzipiell unvermeidbar ist, so wirkt bei verhaltenswissenschaftlichen Untersuchungen nun einmal der Mensch auf den Menschen ein, und umgekehrt - oder, um mit Niels Bohr zu sprechen, dessen Worte für die Physik formuliert waren, aber auch im hier betrachteten Zusammen- hang ganz wunderbar passen: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir auf der Bühne des Lebens sowohl Schauspieler als auch Zuschauer sind. Nichts anderes berück- sichtigt auch das Freud‘sche Konzept der Gegenübertragung, das Devereux neben der Heisenberg‘schen Unschärferelation als Referenzmodell für seine Sichtweise heranzieht.
Devereux schlägt in seinem 1967 erschienenen Werk Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften 2 1 nun vor, weniger quantitative und statt dessen eher qualitative Untersuchungen in den Verhaltenswissenschaften durchzuführen, wo- bei die Subjektivität des Beobachters nicht ausgeblendet, sondern ganz im Gegen- teil als Königsweg zur Beschreibung einer authentischen Objektivität betrachtet werden sollte (Devereux 1988, S. 18). Die Wechselwirkungen zwischen dem Be- obachter und dem zu untersuchenden Objekt werden damit ein wesentlicher Be- standteil der qualitativen Untersuchung.
Wenn z.B. zwei Verhaltensforscher bei der Untersuchung desselben Gegenstandes zu verschiedenen Untersuchungsergebnissen kommen, dann ist das nicht lediglich Zähne knirschend hinzunehmen, sondern als ganz natürliches und zu erwartendes Ergebnis zu betrachten, das in die qualitative Analyse als wesentlicher Bestandteil einzubeziehen ist, indem der jeweilige persönliche und kulturelle Hintergrund der beiden Forscher explizit zum untersuchten Gegenstand in Beziehung gesetzt wer- den (Devereux 1988, S. 66).
Devereux fordert die Verhaltenswissenschaftler und damit auch die Psychologen, Psychiater und Psychoanalytiker zu nichts anderem auf, als sich dem Unbehagen an der von ihnen geschaffenen Kultur - ihrer eigenen Profession - zu stellen, um nicht den Freud‘schen Gesamtzusammenhang aus dem Blick zu verlieren: Letzt- endlich die Kurierung des Unbehagens an der Kultur, wie es der Mensch ganz all- gemein empfindet.
2.5 Exkurs II: Die wechselnden Gesichter des Unbehagens an der Kultur
Der kanadische Historiker Edward Shorter zeigte in seinem 1992 erschienenen Buch Moderne Leiden, 2 2 dass es pyschosomatische Krankheiten als körperliche Ausdrucksformen seelischer Konfliktlagen schon immer gegeben hat. In weltweiten Schüben werden bestimmte Bevölkerungskreise von psychosomatischen Krankheiten heimgesucht, die - nicht zuletzt wegen des medizinischen Fortschritts, der diese Leiden als psychosomatisch „entlarvt“ und somit in Misskredit bringt - nach einigen Jahrzehnten wieder verschwinden.
Die psyschosomatischen Krankheiten folgen dabei einem gewissen Rhytmus: In einer Phase festgezurrter gesellschaftlicher Normen z.B. sind Lähmungen und Hysterien häufiger anzutreffen (Shorter 1994, S. 179 ff), während die psychosoma- tische Antwort auf die Überforderung durch die - dem modernen Zeitgeist ge- schuldete - Selbstverwirklichung nun Erschöpfung, Schmerzen und Allergien sind (S. 491 ff).
Eine große Rolle spielen dabei die Medien, die diverse Symptome beschreiben, die der vereinsamte moderne Mensch an sich erkennen kann, um sich dann selbst eine Erkrankung zu diagnostizieren - in Ermangelung eines aufmerksamen Lebens- partners, der z.B. den Erschöpften darauf aufmerksam macht, dass dessen Sym- ptome wohl auf einige zu lange Nächte vor dem Fernseher zurück zu führen sind.
Verstärkt wird dieser Effekt durch eine zunehmende Tendenz der leiblichen Nabelschau, verbunden mit einem Autoritätsverlust der Mediziner, was zu eigenen Diagnosen geradezu herausfordert (Shorter 1994, S. 522 ff). Oder, um mit Michel Montaigne zu sprechen: Mancher hat den Stein bereits im Geiste, bevor er ihm in den Nieren sitzt (1998, S. 244).
Shorters Thema ist damit ebenfalls das Unbehagen der Menschen an ihrer Kultur, diesmal aber unter Berücksichtigung der Verzerrungen, die eine Kultur erzeugt, wenn ein individueller seelischer Konflikt sich in dieser Kultur spiegelt und auf das Individuum - im Gewand der Somatisierung - zurückstrahlt.
3 Zusammenfassung
Der aktuelle Forschungsstand geht davon aus, dass körperliche Prozesse, das neu- ronale und immunologischsche System, Gefühle, Erkenntnisse und Willensregun- gen so untrennbar miteinander verwoben sind, dass es keinen Sinn macht, Körper und Seele im Sinne eines überholten cartesianischen Denkens voneinander zu trennen, um dann die Seele isoliert psychologisch zu untersuchen und therapeu- tisch zu behandeln.23
Modern Era (dt. Übersetzung 1994).
Vielleicht ist auch die Seele - und darin vergleichbar mit dem Wahnsinn aus der
Sicht Foucaults - nur eine Illusion, die sich im Zeitverlauf zunächst zur Gewissheit und dann zur gesellschaftlich anerkannten Wahrheit verdichtet hat: allein dadurch, dass sich die Gesellschaft - wie im Falle jeder Wahrheit - auf deren Existenz ge- einigt hat.24 Vielleicht ist die Beschäftigung mit diesen beiden Illusionen - Seele und Wahnsinn - so anstrengend, dass die Verhaltensforscher vor lauter Unbehagen ihre eigentliche Profession vergessen, und die Menschen ihre Seelenqualen und damit ihre Seele, wobei der Körper dafür sorgt, dass das Seelenleiden lediglich aus dem Bewusstsein verschwindet, nicht aber aus dem Menschen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Leiden der Seele aus individueller Sicht nicht ganz real empfunden wären, wenn sie uns denn bewusst werden:25 Man kann sie ja bezeichnen, ihnen also ein Zeichen zuweisen und damit einen Sinngehalt, der sich vom Sinngehalt aller anderen Zeichen absetzt, also auch der empfundenen organi- schen Krankheiten. In diesem Sinne sind die Seelenleiden genau so real wie die organischen Leiden, ob Seele und Wahnsinn nun Illusionen sind oder nicht.
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[...]
1 Eine Berufsbezeichnung, die Foucault für sich mit dem Hinweis ablehnte, die Philosophie als au- tonome Tätigkeit gäbe es nicht mehr, sie sei heute nur noch ein Professorenberuf, werde von die- sen nur noch gelehrt statt betrieben (1998, S. 650). Ewald meinte jedoch aus Foucaults letzten
Vorlesungen im Jahr 1984, bei denen er bereits von seiner tödlichen Krankheit gezeichnet war, eine andere Entwicklung heraus zu hören: „In Wirklichkeit tat Foucault nichts anderes, als sich zu beschreiben, so wie er hatte sein wollen, wie er gewesen war und wie er sein wollte. Er mach- te vor uns seine Autobiographie deutlich. Da endlich, kurz vor dem Ende seines Lebens, erkannte er sich mit einer großen Beruhigung als Philosoph wieder. Als ob seine Identität als Philosoph für ihn schließlich akzeptierbar und begehrenswert geworden wäre. Als ob er schließlich gewußt hät- te, wer er sei.“ (1992, S. 206). Dass man eine Profession für sich ablehnen und dennoch produk- tiv und erfolgreich in dieser tätig sein kann, zeigt ja bekanntlich das Beispiel von Jean-Paul Sart- re, der sich nach „Die Wörter“ ausdrücklich als Nicht-mehr-Literat bezeichnete und dennoch in die Verlegenheit kam, den Literaturnobelpreis ablehnen zu müssen.
2 Titel der Originalausgabe: Maladie mentale et personnalit é (dt. Übersetzung 1968).
3 Titel der Originalausgabe: Folie et d é raison. Histoire de la folie à l ’â ge classique (dt. Überset- zung 1969).
4 Kammler unterscheidet drei Phasen des Foucault’schen Theoriebildungsprozesses, wobei er die erste Phase auf 1961 - 1967 datiert und diese als „Phase materialer Analysen zur diskursiven Konfiguration der Genesis der Humanwissenschaften“ charakterisiert (1986, S. 17); demnach
5 Was wohl weniger daran liegt, dass Foucault nicht mehr mitzuteilen gahabt hätte, sondern eher an der Tatsache, dass das Buch als zwölfter Band der Reihe Initiation philosophique erschien, deren Regeln einen Band auf höchstens hundertvierzig Seiten begrenzten (Eribon 1993, S. 116). Fou- cault selbst hat sich Anfang der 1970er Jahre im Zuge seiner wachsenden Kritik am Psychologismus von Psychologie und Geisteskrankheit distanziert, er untersagte sogar jede Neuauflage dieses Buches (Seitter 1974, S. 141).
6 Dass Foucault die Beschäftigung mit der Pathologisierung des Wahnsinns als bedeutsam für die Untersuchung der eine Gesellschaft konstituierenden Strukturen ansah, erschließt sich auch aus einem Interview mit Caruso: „Jede Gesellschaft etabliert eine Reihe von Oppositionssystemen -
zwischen Gut und Böse, Erlaubt und Verboten, Kriminell und Nichtkriminell usw. Alle diese Gegensätze, die für jede Gesellschaft konstitutiv sind, reduzieren sich heute in Europa auf den einfachen Gegensatz zwischen dem Normalen und dem Pathologischen. Dieser Gegensatz ist nicht nur einfacher als die anderen; er bietet auch den Vorteil, glauben zu machen, es gebe eine Technik, mit der sich das Pathologische auf das Normale zurückführen lasse. [...] Diese Redukti- on aller Gegensätze auf den Code des Gegensatzes zwischen Normal und Pathologisch läuft über das Gegensatzpaar Wahnsinn - Vernunft, das in unserer Kultur, wenn auch kaum sichtbar, sehr wirksam ist.“ (1974, S. 10).
7 Unter Beachtung seines historischen Prinzips: „Jede historische Formation sagt alles, was sie sa- gen kann, und sieht alles, was sie sehen kann.“, z.B. (über) den Wahnsinn im 17. Jh.: Unter wel- chem Licht kann er gesehen und in welchen Aussagen kann er gesagt werden? (Deleuze 1991a, S. 163). Zum Thema handwerklich saubere historische Rekonstruktion bemerkt Taureck recht treffend: „Auch Foucault deckt etwas auf, was verborgen war, zum Beispiel die Internierung der psychisch Gestörten [...]. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um etwas grundsätzlich, sondern nur um etwas relativ Verborgenes. Es kann entdeckt werden, indem man statt philosophischer Texte bisher nicht ausgewertete historische Dokumente nutzt.“ (1997, S. 138).
8 Waldenfels weist darauf hin, dass Foucault sich in seiner Beschäftigung mit dem Wahnsinn nicht nur mit der Geschichtlichkeit desselben befasste, sondern im Spiegel dieser Tätigkeit natürlich auch mit der „Geschichtlichkeit der Vernunft selbst, die in der Aussonderung eines Widerparts der Unvernunft ihrerseits spezifisch beschränkte Gestalten annimmt. Insofern gibt es keine Ge- schichte der Vernunft und des Wahnsinns, sondern vielmehr eine Geschichte wechselnder und
9 Dreyfus und Rabinow weisen jedoch darauf hin, dass Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft Gewicht und Funktion des - insbesondere ärztlichen - Wissens im Vergleich zu seinen späteren Arbeiten eher herunterspielt: Während das ärztliche Wissen in Wahnsinn und Gesellschaft den Wahnsinn nur einkreisen und nicht kennen könne, wodurch der Wahnsinn lediglich bezähmt werde, spiele das Wissen als wesentlicher Bestandteil moderner Herrschaft in Foucaults späteren Werken eine wesentlich gewichtigere Rolle (1987, S. 34).
10 Eine vergleichbare Reihenfolge hat dazu beigetragen, die von den Nationalsozialisten propagier- te Überlegenheit der arischen Rasse in den Köpfen vieler Deutscher als unumstößliche Wahrheit festzusetzen: Die sozial-politische Strategie einer zunächst kleinen, dann aber sehr einflussrei-
chen Gruppe wurde von diversen Humanwissenschaftlern aus Überzeugung oder Willfährigkeit in eine wissenschaftliche Wahrheit transformiert, auf die sich diese Gruppe stützen konnte: Seht, die Wissenschaft hat festgestellt, dass unsere Rasse die überlegene ist!
11 Deleuze merkt jedoch an, dass sich Foucaults Wirken nicht allein aus seinen Büchern ergab, sondern auch - und, was den aktuellen Status der von ihm untersuchten Gegenstände betrifft: ge- rade - aus den mit ihm über diese Bücher geführten Gesprächen: „In der Mehrzahl seiner Bücher
legt er - mit historisch äußerst neuartigen Mitteln - ein exaktes Archiv an: vom Hôpital général im 17. Jahrhundert, von der Klinik im 18. Jahrhundert, über das Gefängnis im 19. Jahrhundert,
12 Als Beleg (im Sinne einer „übersichtlichen Zusammenfassung der Kritik aus Gelehrtenkreisen“) nennt Miller (1995, S. 620): Merquior, J. G. (1985): Foucault, London, S. 26 - 34.
13 Ludwig Marcuse (1972): Sigmund Freud. Sein Bild vom Menschen, Zürich, S. 56 (zitiert nach
14 Sehr klar stellt Dumm - natürlich nur aus seiner Sicht - die von Foucault in dessen Spätwerk gezeigte Haltung zur Vorgabe von Normen heraus, indem er die Ansicht von Georges Canguil- hem, der Foucault ja bereits seit dessen wissenschaftlicher Anfangszeit kennt, hierzu wiedergibt
und diese aus seiner Sicht präzisiert: „For him [Canguilhem, Ch. W.], Foucault responds to the radically desituating forces of normalization by elaborating an ethics. This simple declaration is very sensible, although we must also understand that for Foucault the ethical response does not carry whith it the clarity of a code. Indeed, in the face of normalization, he suggests that we need to think for our selves, evading the demand for solutions. He does not ask how we might behave responsibly because that question has been superseded by normalizing discourse. ‚Behavior‘ it- self should be understood for what it is, a reaction to the creation of a norm. He is instead con- cerned to ask how we might develop a care for the self that would enable one to become gene- rous in our responses to others.“ (1996, S. 137).
15 Im Zusammenhang mit der Lebensberatung in der Philosophischen Praxis vertritt Neubauer die Ansicht, Foucaults Vorstellungen von gelungener Subjektivität fänden sich als normativer Grundzug in seinem gesamten Werk und seien in der Sekundärliteratur bislang lediglich in noch
nicht ausreichender Weise positiv bestimmt worden (2000, S. 185); er formuliere zwar nicht explizit eine Philosophie der Freiheit, dies jedoch nur, um die Freiheit der Philosophie nicht zu gefährden (2000, S. 181).
16 Marti vertritt die Ansicht, Foucault habe versucht, Nietzsches Forschungsmethode, wie sie in Zur Genealogie der Moral erprobt wurde, auf weitere von ihm untersuchte Problemstellungen anzuwenden (1988, S. 69).
17 Eine Zurückhaltung, die Foucault wohl auch der ethischen Wahl von anderen gegenüber zeigte: Was er angriff, war nicht deren Wahl, sondern die Rationalisierungen, d.h. die mehr oder weniger schlüssigen Begründungen, die die anderen ihrer Wahl hinzu fügten (Veyne 1991, S. 214).
18 Die Behandlung des Problemtypus individuelles Verhalten (neben den beiden anderen von Fou- cault bereits frühzeitig behandelten Problemtypen Wahrheit und Macht) erfolgte erst in Foucaults späteren Werken, d.h. noch nicht in Wahnsinn und Gesellschaft, weshalb er sich in einem wenige Wochen vor seinem Tod gegebenen Interview von diesem Werk distanzierte: „Diese drei Erfahrungsbereiche können nur in ihrem Verhältnis zueinander verstanden werden, man kann das eine ohne das andere nicht verstehen. An den vorangegangenen Büchern [u. a. Wahnsinn und Gesell schaft, Ch. W.] stört mich, daß ich die beiden ersten Erfahrungen berücksichtigt habe, ohne die dritte [ individuelles Verhalten, Ch. W.] zu beachten.“ (1990, S. 134).
19 Es soll hier nicht behauptet werden, dass Foucault bewusst Normen aufstellen wollte, z.B. „sei ein Individuum“, zumal in seinem Werk eher der Standpunkt „wir sind gezwungen, ein Indivi- duum zu sein“ aufscheint. Es geht hier viel mehr um eine persönliche Interpretation des Autors mit dem Ziel einer aktuellen Nachjustierung seines eigenen, individuellen, sich ständig in Bewe- gung befindlichen Wertesystems nach einer ersten Beschäftigung mit Foucaults Frühwerk. Dass die Konstituierung von Existenzweisen oder Lebensstilen bei Foucault über die Ästhetk hinaus weist, stellt auch Deleuze fest, wenn er darauf aufmerksam macht, dass diese Konstituierung den Bereich der Ethik berührt, d.h. einer Gesamtheit von der freien Wahl überlassenen Regeln - die Ethik ist dabei nicht zu verwechseln mit der Moral, die sich als eine Gesamtheit zwingender Re- geln eines speziellen Typs darstellt, nämlich der Beurteilung von Handlungen und Absichten nach den transzendenten Werten gut und b ö se (1991a, S. 166). Zum Ziel von Foucaults Ethik bemerkt von Bülow: „Michel lehnte die Aufstellung einer ‚Wertetafel‘ ab, und zwar im Namen der Freiheit des Subjekts, dessen ‚Sorge um sich‘ die Ethik garantieren sollte.“ (1991, S. 130).
20 Theodor W. Adorno (1995): Erziehung nach Auschwitz, in: Gesammelte Schriften Bd. 10, 2. Aufl., Frankfurt a. M., S. 677 (zitiert nach Jäger (2000), S. 57).
21 Titel der Originalausgabe: From Anxiety to Method in the Behavioral Sciences (dt. Übersetzung 1984).
22 Titel der Originalausgabe: From Paralysis to Fatique. A History of Psychosomatic Illness in the
23 Vgl. A. Damasio (1995): Descartes‘ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Mün- chen und ders. (1999): The Feeling of what Happens. Body and Emotion in the Making of Cons- ciousness, New York (zitiert nach Schuch (2001), S. 23) und ganz aktuell Hackenbroch (2001): Die Anfang der 1990er Jahre entdeckten sog. Spiegelzellen, spezielle Hirnzellen, die dafür zu- ständig zu sein scheinen, die Absichten anderer Menschen zu erraten, begannen „bald die Phanta- sie von Forschern unterschiedlichster Fachrichtungen - Psychologen, Philolosophen, Sprachwis- senschaftler - zu beflügeln“ (S. 252); „Neuere Forschungen schreiben den Wunderzellen im Frontalhirn immer neue Aufgaben zu. So vermuten einige Experten bereits, dass sie auch mitver- antwortlich sind für die Fähigkeit zu Mitgefühl, sozialer Kompetenz und Kommunikation“ (S.255)
24 Julia Kristeva vertritt die Ansicht, dass der Mensch auch ohne eine real existierende Seele leben kann, dass dies sogar symptomatisch sei für den modernen Menschen, der es eilig habe zu ge- winnen und zu verteilen, zu genießen und zu sterben, weshalb er weder die nötige Zeit noch den nötigen Raum habe, sich eine Seele zu bilden (1994, S. 13 f). Fragt man jedoch diese Menschen, ob sie eine Seele haben, werden sie dies wohl sehr wahrscheinlich bejahen: Es ist schließlich gesellschaftlicher Konsens, dass der Mensch eine Seele hat.
25 Also auch, wenn die Seele - ob nun real existent oder eingebildet - noch nicht erloschen ist, ein Thema, das Ödön von Horvath bereits um 1930 in satirischer Weise in einem Hörspiel aufgriff, das der Autor auf der Heimfahrt vom Seminar am 09.12.2001 zufällig im Radio hörte: In einer
fiktiven Diskussion im Münchener Löwenbräukeller („Volkes Stimme“) erregt sich ein Regie- rungsrat über das schlechte Benehmen der zeitgenössischen Jugend, worauf eine Studienrätin bemerkt: „Die Jugend von heute hat keine Seele mehr. Geben wir ihr eine neue Seele: Hauchen wir ihr unsere ein!“ (Hörspielnachweis: Ödön von Horvath: Der Tag eines jungen Mannes von 1930, um 1930, Erstsendung einer Produktion des SDR/BR unter der Regie von Otto Düben am
27.05.1973, Neuausstrahlung durch das Deutschlandradio am 09.12.2001.).
- Quote paper
- Christian Weyerstall (Author), 2002, Wahnsinn und Gesellschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105992
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