I) Einleitung
In seiner Rede zur Bildungspolitik am 5. November 1997 im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin forderte der damalige Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog zu einer breiten und nationalen Debatte über die Zukunft unseres Bildungssystems auf. Bildung müsse zum „Megathema“ werden, wenn wir uns in der voranschreitenden Wissensgesellschaft dieses Jahrtausends behaupten wollten. Man fühlte sich schnell an den Sputnikschock der USA Anfang der 60er Jahre erinnert, wenn Herzog uns vor Augen hielt, daß die besten Köpfe der Welt nicht mehr nach Deutschland kommen würden und Eltern ihre Kinder lieber in den USA für teures Geld studieren lassen, anstatt sie zu unseren Universitäten zu schicken. Dieser Verlust an Internationalität sei Warnung und Anlaß genug, um eine Bildungsdiskussion anzuregen.
Bereits Mitte der 60er hatte es mit der empirischen Erziehungswissenschaft in Deutschland eine realistische Wende pädagogischer Forschung gegeben. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik hatte mit ihrer Methode des Verstehens und der Auslegung der Erziehungswirklichkeit und ihrer Ideen keine weiterführenden Beiträge erbringen können. Grundmoment der Bildungsplanung war damals die Erkenntnis, daß viele Leute einfach falsche Sachen lernen würden. Allgemeine Fertigkeiten sollten nun erlernt und spezifisch angewandt werden.
Seit dem Erscheinen der von der Bildungskommission 1995 vorgelegten Denkschrift „Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft“ dient diese Schrift als öffentliche
Diskussionsgrundlage über die Entwicklung der Schule. Der Institution Schule kommt nach Meinung der Kommission nicht nur die Aufgabe zu, „Haus des Lernens“ zu sein, sondern es gilt, ihr weitaus mehr Erziehungsaufgaben zuzuweisen. Die Erwachsenen beklagen neben einer Zunahme von Gewalt auch den Verlust von Wert- und Orientierungsmustern. Man fordert von den Schulen die Bewältigung der Erziehungsaufgaben. Somit wachsen die Ansprüche an die pädagogische Arbeit der Fächer.
Auch die Frage nach Erziehung und Bildung im und durch den Sport ist immer noch von großer Aktualität. In der Sportpädagogik ist mit der Frage nach dem Sinn und der Legitimation des Sportunterrichts seit Ende der 80er Jahre eine „Rückkehr“ zum Bildungsdenken festzustellen. Die vorliegende Arbeit möchte anhand des neuen Lehrplans analysieren, wie das Fach Sport den oben erwähnten Aufgaben entgegentritt und welche bildenden und erzieherischen Wirkungen dem Sport und besonders dem Sportunterricht am Gymnasium zugeschrieben werden. Das Sportverständnis und der erziehende Sportunterricht in den neuen Richtlinien Sport in NRW, sowie die Bildungspotentiale des Schulsports sollen hier näher beleuchtet werden. Anhand von ausgewählten Erziehungsschwerpunkten soll überprüft werden, welche Ansprüche hinsichtlich der beiden Grundkategorien Erziehung und Bildung in dem neuen Lehrplan Sport in der Sekundarstufe II von NRW festzumachen sind. Abschließend wird diskutiert, was der Sportunterricht in der Sekundarstufe II leisten soll und kann.
II) Die Richtlinien im Fach Sport
Die im Jahre 1981 erlassenen Richtlinien und Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe hatten erstmals fachliche Standards für neue Fächer formuliert und somit versucht, eine Vergleichbarkeit der Abituranforderungen zu sichern. Eine Diskussion der Kultusministerkonferenz seit 1994 im Dialog mit der Hochschulrektorenkonferenz, den Schulen und der Öffentlichkeit, die sich immer mehr für die Pädagogik interessierte, führte zu einer Überarbeitung und Weiterentwicklung von Leitlinien. Somit bieten die neuen Richlinien und Lehrpläne, die am 1. August 1999 ab der Jahrgangsstufe 11 in Kraft traten, eine Basis für sowohl Sicherung als auch Entwicklung der Qualität der Arbeit der Schule. Die Richtlinien und Lehrpläne Sport Sekundarstufe II für Gymnasium/Gesamtschule in NRW sind in folgende drei Teilbereiche untergliedert: Richtlinien, Rahmenvorgaben für den Schulsport und Lehrplan Sport. In den Richtlinien geht es um die Vorgaben, die für alle Fächer gleich gelten, hier sind die Aufgaben und Ziele der gymnasialen Oberstufe und die Prinzipien des Lehrens und Lernens abgedruckt. Sie stehen vor jedem Fach in gleichem Wortlaut so abgedruckt. Das Fach Sport unterscheidet sich im Anschluß von den anderen, da es hier in einem gesonderten Teil die eben erwähnten Rahmenvorgaben gibt. Pädagogische Grundlegungen und Inhaltsbereiche werden für den Schulsport unter die Lupe genommen. Der „Rest der Gesellschaft“, wie Sportverbände, Kirchen und Lehrerverbände wurden für die Rahmenvorgaben befragt und an deren Gestaltung mitbeteiligt. Die ebengenannten Institutionen konnten sich über das vorläufig Vorgelegte äußern, ihnen stand ein großes Mitspracherecht zu. In dem abschließenden Lehrplanteil geht es um den Unterricht, um die Aufgaben und Ziele des jeweiligen Faches.
Die neuen Richtlinien verdeutlichen, daß dem Unterrichtfach Sport, wie jedem anderen Schulfach auch, ein verpflichtender Erziehungs- und Unterrichtsauftrag zu Grunde liegt. Der erziehende Sportunterricht wird dabei in dem Teilbereich „Richtlinien“ unter Punkt 1: „Aufgaben und Ziele der gymnasialen Oberstufe“ und im Teilbereich „Rahmenvorgaben für den Schulsport“ unter Punkt 3: „Grundsätze des pädagogischen Handelns im Schulsport“ schwerpunktmäßig behandelt.
Anzumerken sei abschließend noch, daß die Lehrpläne für die Sekundarstufe I erst im August 2001 fertiggestellt sein werden.
III) Grundlegende Begriffe und Inhalte: Erziehung und Bildung im und durch den Sport
W. Jank und H. Meyer verstehen unter Allgemeinbildung die „Fähigkeit eines Menschen, kritisch, sachkompetent, selbstbewußt und solidarisch zu denken und zu handeln“ (vgl. 1997, S. 139) und nehmen damit Bezug auf W. Klafkis vier unverzichtbaren, gemeinsamen Charakteristika der klassischen Bildungstheorien (vgl. 1986, S. 458-465). Für Klafki ist der Prozeß der Bildung gleichbedeutend mit der Aneignung der Welt. Bildung zielt somit auf die Befähigung zur vernünftigen Selbstbestimmung, sie wird im Rahmen der historisch- gesellschaftlich- kulturellen Gegebenheiten erworben, jeder kann sie für sich selbst erwerben und ihr Prozeß erfolgt in der Gemeinschaft. Die Bildungskommission NRW versteht dementsprechend Bildung als individuellen Lernprozeß, der von der Gesellschaft geprägt wird, und den Anspruch auf Selbstbestimmung und die Entwicklung eigener Lebens- Sinnbestimmungen - auch für alle Mitmenschen - zu verwirklichen befähigen soll. Auch soll jeder Mitverantwortung für die Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse übernehmen. Fest steht, daß der Bildungsbegriff sich im Vergleich zu früher stark geändert hat; es gilt nicht mehr nur der als „gebildet“, der10 Klassiker oder 20 Autoren der Literaturgeschichte kennt und zwei Sprachen spricht. E. Meinberg (vgl. 1996, S. 60-64) zeigt in Anlehnung an Pestalozzi, inwiefern die Sportpädagogik einen sinnvollen Beitrag leisten kann. Nach ihm ist die Entwicklung der physischen Kraft ebenso wichtig wie die der gesellschaftlichen und sittlichen,; es geht hier also prioritär um die Ausgewogenheit aller Kräfte (Bewegungsbildung = Menschenbildung ). Spricht man im Zusammenhang von Bildung über eigene Aneignung und eigenen Transfer auf neue Situationen, so kann der Sport hierfür einen großen Beitrag leisten, denn in ihm geht es unter anderem um Handlungsfähigkeit, Selbstständigkeit und Selbstverantwortung. Mündigkeit ist das Ergebnis der Aneignung und des Transfers von Bekanntem auf neue Situationen.
Allgemeine Erziehungsziele in der Literatur sind Emanzipation, Kommunikationsfähigkeit (Empathie, Kritik- und Argumentationsfähigkeit) und Handlungsfähigkeit. Diese Aspekte der Mündigkeit werden in der Schule vermittelt durch Wissen. Zweifelsohne gehört Erziehung zum pädagogischen Auftrag, wenn sich dieser an der Menschenbildung orientiert, die Unterricht, Erziehung und Wissen umfaßt. Das Pädagogik- Lexikon beschreibt, daß „die Notwendigkeit und Möglichkeit von Erziehung (...) ihre Begründung im Subjektsein des Menschen findet: als Zweck seiner selbst im Auftrag der Selbstbestimmung“ (1999, Seite 144). Es bleibt die Frage, ob die Werte und Normen in der Gesellschaft auch im Schulsport relevant sein müssen, und ob die Aufgabe von Erziehung die Vermittlung vom Menschenbild ist. Es drängt sich hier ebenfalls die Transferfrage auf: Ist der, der beim Basketball fair spielt, auch in der Gesellschaft so? Was bleibt also vom Sport im Schulsport? Nun, festzustellen ist zunächst einmal, daß so etwas wie Sozialerziehung im Sport besser gelingen kann als z.B. in der Mathematik; im Sport spielen auch die Komponenten Emotionalität und Freude am Bewegen eine große Rolle.
Bildung und Erziehung gehören unmittelbar zusammen. Erziehung, die in einem gewissen Maße zeitlich limitiert ist, soll Bildung als dynamischen, unabschließbaren und überdauernden Prozeß provozieren. Bildung setzt demgemäß später ein als Erziehung, da Bildung bereits Wissen und einen gewissen Reifestatus voraussetzt.
Es soll an dieser Stelle noch zwischen funktionaler und intentionaler Erziehung unterschieden werden. Während erstere als indirektes Einwirken durch das eigene Tun (Animation zur Nachahmung; die Medien gelten als heimliche Erzieher) oder Sozialisation beschrieben werden kann, setzt letztere Zweck und Absicht des Erziehenden (Gehorsam oder Bestimmung z.B. von Freizeitverhalten) voraus. Eine Integration von Unterricht (Inhalte und Sachverhalte) und Erziehung (Bezug zum Schüler) hat immer einen Einfluß auf das Verhalten des Schülers.
IV) Das Sportverständnis heute und in den Richtlinien
Das Wort Sport gelangte aus dem Englischen in die deutsche Sprache und es ist eine Ableitung vom englischen „disport“ (lat. deportare = fortbringen, ablenken). Es bedeutet im Englischen eigentlich „Zerstreuung, Vergnügen, Spiel“. Durch die in den Richtlinien gängige Formulierung „Bewegung, Spiel und Sport“ wird die pädagogisch wünschenswerte inhaltliche Weite des Aufgabengebietes des Schulsports unterstrichen.
Das Begriffsverständnis von Sport verändert, erweitert und differenziert sich ständig durch das Geschehen und die zunehmende Vielfalt des Sporttreibens. Die Bedeutung des Begriffs unterliegt einem stetigen Wechsel; auch in der Literatur gibt es vielfältige Interpretationen des Sportbegiffs. Sport ist in den Richtlinien in einem weiten Sinne zu verstehen. Er wird als der Teil unserer Kultur verstanden, „in dem die körperbetonte, spielerisch- sportliche Bewegung in unterschiedlichen Formen und Zugangsweisen Gestalt angenommen hat“ (Ministerium für SWWF des Landes NRW, Seite XXIX). Der Schulsport umfaßt schulrelevante Ausschnitte aus dem Feld der sportlichen Möglichkeiten, er soll einen Überblick für die Gesamtheit von Sport in unserer Gesellschaft schaffen. Das Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW hat festgelegt, was im Sport pädagogisch wünschenswert ist; so ist das Boxen zum Beispiel für NRW im Schulsport nicht vorgesehen.
In 10 Inhaltsbereichen (in den alten Richlinien hießen sie noch Sportarten) findet sich ein Spektrum vielfältiger Bewegungshandlungen, die Kenntnisse und Einsichten einschließen, deren Erwerb das Lernen im Schulsport begleiten:
(Abbildung aus MSWWF 1999,
Seite XXXVII)
Die Inhaltsbereiche strukturieren sich in Unterrichtsvorhaben (von 6-8 Stunden), die Themen werden obligatorisch gemacht, nicht aber die Stunden. Hier wurde zum einen Bewährtes aus dem traditionellen Inhaltskanon des Schulsports aufgegriffen, neu geordnet und pädagogisch neu gewichtet, und zum anderen fanden neue Inhalte Berücksichtigung.
Der Schulsport versteht sich nicht lediglich auf die Förderung von körperlichen und motorischen Entwicklungsprozessen, sondern er will Ansatzpunkt sein für ganzheitliche Erziehung. Bewegungen im Schulsport implizieren auch immer soziale Beziehungen, Kognitionen, Emotionen und Wertevorstellungen. Die Leitidee des Schulsports resultiert aus diesen Überlegungen und läßt sich in einem Doppelauftrag formulieren: Er soll zur „Entwicklungsförderung durch Bewegung, Spiel und Sport“ und zur „Erschließung der Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur“ beitragen. Dieser Doppelauftrag muß von der Sporlehrerin und dem Sportlehrer als sportpädagogische Aufgabe erkannt und im Schulsport umgesetzt werden. Wenn der Schulsport die Erziehungs- und Bildungspotentiale des Doppelauftrages nutzt und realisiert, so werden die Schüler in bezug auf Bewegung, Körperlichkeit und Sport zunehmend sensibler, urteilsfähiger, kompetenter und gestaltungfähiger.
Beide Seiten des Doppelauftrages sind von gleicher Wichtigkeit und werden in einem erziehenden Sportunterricht zugleich angesprochen.
V.) Der erziehende Sportunterricht
„Und ich gestehe gleich hier, keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unterricht, sowie ich ... keinen Unterricht anerkenne, der nicht erzieht“ (Herbart, zitiert nach Ramsegger 1991, S. 9)
Der Begriff des „erziehenden Unterrichts“ geht aus der Lehre von Johann Friedrich HERBART (1776-1841) hervor und wurde Anfang der 90er Jahre vor allem von Jörg RAMSEGER (geb. 1950) „wiederbelebt“. Der Schwerpunkt des „erziehenden Unterrichts“ liegt auf der Subjekt- Orientierung und zielt auf eine allgemeine Menschenbildung. Der Schüler soll zur Selbstbestimmung und zu moralischem Handeln in seiner Lebenswirklichkeit befähigt werden. Folglich wird Erziehung nicht als repressive Einflußnahme, sondern als vertrauensvolles Beratungsverhältnis verstanden. Im erziehenden Unterricht geht es damit über eine bloße Aneignung von Können und Wissen hinaus. Es gilt, Interesse für eine Sache zu wecken, Unterrichtsgegenstände mit den Schülern auszuwählen und so durch Erkenntnis und durch Teilnahme die Selbsterziehung der Schüler zu fördern. Das Individuum baut selbstständig Welterkenntnis und Urteilskompetenz auf. Besonders gut kann dies in offenen Lernsituationen gelingen.
Die Schule ist zwar ein Zwang, der aber Freiräume beim Schüler schaffen kann. Sie soll dem Schüler neue Selbstbestimmungs- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, so daß der Schüler zur Eigenständigkeit gebracht werden kann. Der erziehende Unterricht (durch SCHERLER und FUNKE auf den Sport übertragen) ist eine „sorgfältig geplante und durchkonstruierte Veranstaltung, ein rationaler Prozeß der Einflußnahme auf den Lernenden, wenn auch kein Prozeß der Willenssteuerung“ (Ramseger, 1991, S. 25).
Das wichtigste Ziel des erziehenden Sportunterrichts ist nach Ramseger das sittliche Handeln eines Individuums unter dem Gesetz der Anerkennung aller anderen Individuen. Die Moralität soll dem vorhandenen Willen zum Durchbruch verhelfen. Es existieren zwei Bedingungen für Moralität: Auf der einen Seite müssen pädagogische Normen und Werte vorhanden sein und gelten, auf der anderen Seite muß der Heranwachsende die Moralität und Sittlichkeit aber auch selber wollen, aus eigener Einsicht, nicht nur um des Vorteils willen. Er muß sich gemäß der Einsicht verhalten, darf nicht bei seinem Willen verharren, sondern muß Konsequenz zeigen.
Die Ausbildung für ein einsichtiges Handeln ist ein zentraler Aspekt des erziehenden Unterrichts, denn der einseitig Gebildete kann nicht alle Aspekte und Beweggründe seines eigenen Handelns überprüfen, und somit nicht moralisch handeln. Der erziehende Unterricht zielt auf Handlungskompetenz in der Gesellschaft und auf eine Vielseitigkeit. Er will die Ausbildung einseitiger Neigungen und Begabungen vermeiden und die Aneignung der Wirklichkeit ermöglichen.
Der erziehende Unterricht gibt Anreize zum Austausch über Bewegungs- und Sporterfahrungen und gibt Anleitungen, die den Horizont der Schüler erweitern. Die Schüler werden im Sportunterricht Werterfahrungen machen, die auch mal Ambivalenzen und Dilemmata aufkommen lassen, sei es zwischen Erfolgsorientierung und Fairness oder zwischen gesellschaftlich erwünschten und persönlich bedeutsamen Leistungserwartungen. Somit sind sie zur Selbstbestimmung ihres Handelns aus Einsicht heraus aufgefordert, zwischen solchen Spannungsgefügen bewußt zu unterscheiden. Der erziehende Sportunterricht ist also ein pädagogisch Orientierter und hat natürlich auch das „körperlich bilden“ zur Aufgabe, denn das ist im Schulordnungsgesetz festgeschrieben. Ein Prinzip des Lehrens und Lernens des erziehenden Sportunterrichts, nämlich das der Reflexion besagt, daß im Unterricht neben einer Anleitung zum Sich- Bewegen auch eine Anleitung zum Nachdenken darüber stattfinden sollte. Diese Reflexion bildet den Ausgangspunkt für eine selbstständige Urteilsbildung, damit die Schüler auch die positiven Potentiale sportlicher Aktivität für sich entdecken können. Weitere zentrale Anliegen des Sportunterrichts sind also die Wahrnehmung und die Reflexion des Sports. Es sind infolgedessen weniger die Unterrichtsinhalte, welche die Bildungspotentiale des erziehenden Sportunterrichts ausmachen, als die Erfahrungen, welche die Schüler durch die Auseinandersetzung mit Bewegung, Spiel und Sport erwerben.
Eckart Balz stellte in seinen Beiträgen folgende sechs Merkmale, die von einem erziehenden Unterricht angesprochen werden müssen, heraus, und veranschaulichte sie bereits 1990 für einen erziehenden Sportunterricht. So hatte ein erziehender Sportunterricht über motorische Handlungen hinaus auch kognitive und soziale Bezüge sowie Emotionen zu berücksichtigen und sei demnach ganzheitlich angelegt. Er sollte fächerübergreifende Themen aufgreifen und diese mit anderen Fächern in Form von Projekten thematisieren oder im regulären Unterricht bearbeiten. Weiterhin sollte er den Schülern die Möglichkeit der Mitbestimmung bei der Planung und Durchführung der Sportstunden geben. Lehrer müssen den Sport freudig und engagiert vertreten und selbst auch Fehler eingestehen. Wie bereits erwähnt zielt der erziehende Sportunterricht auf die Entwicklung selbstständigen Lernens und Handelns der Schüler und fördert so deren Initiative und Kreativität. Er bezieht sich auf das gesamte Schulleben; in den außerunterrichtlichen Sportangeboten können die Schüler zusätzliche Erfahrungen machen, die sich im Unterricht oft nicht realisieren lassen. In seinem Konzept erfolgt die Betonung der pädagogischen Aufgaben des Schulsports bzw. Sportunterrichts immer über bewegungsbezogene Handlungssituationen, die neben der Einführung in den Sport auch eine kritische Distanz zu ihm ermöglichen sollen.
VI.) Bildungspotentiale des Schulsports
In der bildungstheoretischen Didaktik der 50er und 60er Jahre war die Leibeserziehung ein grundlegender Bildungsbereich. Die Leibeserziehung war die erzieherische Einwirkung auf den Leib, in dem Bestreben, der allseitigen Bildung zu dienen. Der pädagogische Auftrag der Leibeserziehung waren Ganzheit, Entwicklung („der Mensch ist auf Werden und Mehr- Werden angelegt“) und Soziabilität, die Bildungsinhalte waren die Leibesübungen mit den Strukturprinzipien „Bewegung mit der Disposition des Gestaltens“, „Spiel mit der Disposition des Spielens“ und „Wetteifer mit der Disposition des Leistens“. Durch die Disposition sollte Bildung erzielt werden, unabhängig von den Inhalten.
In den 70er Jahren lösten die curriculumstheoretischen Ansätze die bildungstheoretische Didaktik ab. Nicht Bildung und Erziehung standen nun im Mittelpunkt, sondern das konkrete und nachprüfbare Können, das in Schule und im Sportunterricht zu erlernen sei. Die Schüler sollen im Sportunterricht Schlüsselqualifikationen erwerben, die sie in ihrem Leben (Vorbereitung des jungen Menschen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und deren Weiterentwicklung) und für die Handlungsfähigkeit im Sport brauchen. Die Lernziele werden konkret in den Lehrplänen genannt. Diese Curriculum- Theorie wird nicht nur auf den Sport bezogen: aus der Analyse der Lebenssituationen ergeben sich Kriterien, die zu ihrer Lösung benötigt werden und daraus folgen dann die Inhalte. In den 70er und 80er Jahren wurden Leistung und Wettkampf zugunsten des „sozialen Lernens“ zurückgestellt. Edgar Beckers, Pädagogik- Professor in Bochum sah in dem alten Lehrplan eine „Vertreibung des Leibes aus dem Sport“, da er eine Manipulation und Instrumentalisierung des Leibes für die Leistung befürchtete. Ein solches Denken der Leistungsoptimierung sei auch in die Schule geraten. Im heutigen Lehrplan NRW versucht man, den Körper zurückzugewinnen. Der Sport wird für den Unterricht aufbereitet und zielt auf die aktuelle Lebenswelt und deren Bewältigung. Es gibt keine Lernzieltaxonomie mehr mit Grobziel en, Teilziel en und Feinziel en.
Nach dem bisher Geschilderten kann man den Begriff Bildung kurz skizzieren, mit dem was jemand erreicht, um Lebenssituationen zu bewältigen. Der dynamische und unabschließbare Prozeß der Bildung geht einher mit einer Erweiterung der Perspektiven; die Welt ändert sich ständig, also muß sich auch jedes Individuum selbst weiterentwickeln. Bildung zielt nach MEINBERG auf Totalität und Ganzheit der Kräfteentwicklung (nicht nur physischer Natur, sondern es geht um Wissen, Können, Leiblichkeit, Werthaltungen etc.) ab. Unter Bildungspotentiale des Schulsports werden die Bildungsleistungsfähigkeiten des Schulsports verstanden .
Bildungspotentiale sind Teile der Allgemeinbildung, der moderne Bildungsbegriff sieht eine Einheit von verschiedenen Grundfähigkeiten, wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität (etwas für die Gemeinschaft tun). E. Beckers und E. Meinberg benennen explizit verschieden Bildungspotentiale des Schulsports. So eröffnet das Spiel die Möglichkeit zur Exploration von Verhaltensweisen und zum Erproben anderer Sichtweisen. Diese Tätigkeit verlangt Sensibilisierung bzw. Ablenkung der Wahrnehmung. Der Sport kann durch Förderung von Wahrnehmung und Erfahrung einen hevorragenden Beitrag zum Bildungsprozeß als Erweiterung der Perspektiven leisten, wenn das zentrale Element (die Bewegung) stärker betont wird. Über die Bewegungs- und Körpererfahrung wird es möglich, sich selbst ebenso wie seine Beziehung zur Umwelt in Ordnung zu bringen. Sport ist weiterhin die Quelle gesunder Lebensführung und für das Wohlbefinden, wenn er nicht als Mittel zum Zweck mißbraucht wird. Der Leistung sbegriff wird in der Literatur auch als mögliches Bildungspotential erachtet, da sich hier das Bestreben äußert, außergewöhnliche Herausforderungen anzunehmen. Der Sportler lernt auf dem Weg zum Leistungsziel seinen Körper zu beherrschen, seine Fähigkeiten einzuschätzen und seine Leistung in Konkurrenz zu anderen verbessern.
VII.) Was soll und kann der Sportunterricht in der Sekundarstufe II leisten?
Laut Richtlinien besteht der Auftrag der gymnasialen Oberstufe darin, den Bildungsprozeß der Schülerinnen und Schüler in personeller, sozialer und fachlicher Richtung zu fördern. Der Sportunterricht muß also in der Lage sein, Hilfen zur Entfaltung der Persönlichkeit in sozialer Verantwortlichkeit zu geben. Er muß ebenso zu einer wissenschaftspropädeutischen Ausbildung (mit den Wesensmerkmalen wie „Selbstständiges Lernen und Arbeiten“, „Reflexions- und Urteilsfähigkeit“, „gutes fachliches Grundwissen“ und der „grundlegenden Einstellung und Verhaltensweise für wissenschaftliches Arbeiten“) führen, die an der der Unterstufe ansetzt und auf dieser aufbaut. Ein Sportunterricht sollte die Heranwachsenden dazu befähigen, für ihr Lernen selbst verantwortlich zu sein, anspruchsvolle Lernaufgaben zu bewältigen, ihre Kompetenzen zu erweitern und mit ihren eigenen Fähigkeiten produktiv umzugehen.
Der Sportunterricht leistet durchaus einen unverwechselbaren Beitrag zur Vermittlung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen in Bezug auf die außerschulische Lebenswelt, da er dafür sorgen kann, daß Kinder sich Einstellungen und Haltung aneignen, die für eine handlungsfähige Teilnahme am sozialen und politischen Gestaltungsprozeß notwendig sind. Dies gelingt ihm dadurch, daß er einen über den Körper und „die Bewegung erfahrbaren Zugang zu individuellen und gesellschaftlich relevanten Problemen und Aufgaben bietet“ (MSWWF 1999, S. XLIV). Im Rahmen der Schulprogrammentwicklung kommt Sportlehrerinnen und -lehrern die Aufgabe zu, Bewegung, Spiel und Sport in den Lebensraum Schule zu verankern, um sie als profilbildende Elemente zu etablieren. Die Bewegungsfreudige Schule (mit Beiträgen zum außerunterrichtlichen oder fächerübergreifenden Schulsport) kann Schülern die Möglichkeit eröffnen, Bewegung als entspannendes Element und selbstverständlichen Bestandteil des Lernens zu erleben.
In den Rahmenvorgaben finden sich sechs pädagogische Perspektiven, von denen jede erkennen läßt, inwieweit sportliche Aktivität pädagogisch wertvoll sein kann. Weiterhin bieten sie zugleich eine Antwort darauf, wie sich im Schulsport die Entwicklung Heranwachsender in einer Weise fördern läßt, wie kein anderes Fach dazu in der Lage wäre. So hat die Sportpädagogik auf neuere Entwicklungen in der modernen Gesellschaft reagiert und mit der Wagniserziehung („etwas wagen und verantworten“) den Trend hin zu „Risikosportarten“ oder „Erlebnissportarten“ (wie z.B. Drachenfliegen, Tauchen, Mountainbiken oder Sportklettern) aufgenommen. Die Neugier und Exploration können einen Leistungsanreiz geben und evtl. die Grenzen weiter verschieben. Die Akzeptanz von Gefahr und Unsicherheit wird als Herausforderung interpretiert, der Umgang mit dem Wagnis muß also gelernt werden. Wagnissituationen ergeben sich im Schulsport situativ und können über Aufgabenstellungen angebahnt werden.
Der Sportunterricht sollte aber auch das Ziel zur Werteerziehung haben. Er bietet sich hierzu an, da er mit seinen vielfältigen sozialen Interaktionsformen zahlreiche alltagsnahe Anknüpfungspunkte für ethische Reflexion bietet. Im Sportunterricht findet jeder Schüler direkten sozialen Umgang mit anderen und bekommt so durch Sprache, Gestik oder Mimik von anderen ein sofortiges Feed- Back auf sein eigenes Verhalten.
Abschließend bleibt festzustellen, daß es dem Fach Sport konkret mit dem Erziehungsziel der Wertevermittlung (Fair Play, soziale Verantwortung, Hilfsbereitschaft, Miteinander, Gesundheit, Fitneß, Koedukation, Leistung, Moral und Toleranz) gelingen kann, Mittel zu außer- und überfachlichen Zwecken zu sein und daß somit klar wird, daß auch das Fach Sport nicht um seiner selbst Willen eingerichtet worden ist.
VIII.) Literatur
1.) Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft. Neuwied/Kriftel/Berlin 1995
2.) Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW (Hrsg.): Sekundarstufe II, Gymnasium/Gesamtschule. Richtlinien und Lehrpläne Sport. Frechen 1999.
3.) Meinberg, E.: Hauptprobleme der Sportpädagogik. Darmstadt 1991 (2. Auflg.)
4.) Klafki, W.: Die Bedeutung der klassischen Bildungstheorien für ein zeitgemäßes Konzept allgemeiner Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 32. Jahrgang, 4/1986, Seiten 455-476
5.) Jank, W. / Meyer, H.: Didaktische Modelle, Berlin 1997 (4. Auflage)
6.) Ramseger, J.: Was heißt „durch Unterricht erziehen“?. Erziehender Unterricht und Schulreform. Weinheim, Basel 1991
7.) Schierz, M.: Sportunterricht und sein (möglicher) Beitrag zur Allgemeinbildung. In: Pädagogik (1997) 5, Seiten 44-48
8.) Reinhold, G./ Pollak, G./ Heim, H. (Hrsg.): Pädagogik- Lexikon. München/Wien 1999
9.) Balz, E. / Neumann, P.: Erziehender Sportunterricht. In: Günzel, W. / Laging, R. (Hrsg.): Neues Taschenbuch des Sportunterrichts Bd. 1. Hohengeren 1999, Seiten 162-192
10.) Beckers, E.: Über das Bildungspotential des Sportunterrichts. In: E. Balz (Hrsg.): Wie pädagogisch soll der Schulsport sein?, Schondorf 1997, S. 15-29.
- Quote paper
- Mario Böckmann (Author), 2000, Bildungs- und Erziehungsziele im Sportunterricht am Gymnasium unter der Berücksichtigung des neuen Lehrplans im Sport für die Sekundarstufe II in NRW, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105954
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