Interpretation zu Brentanos Der Spinnerin Nachtlied
Julia Kühnert
Aufgabenstellung: Interpretieren und analysieren Sie „Der Spinnerin Nachtlied“ von Clemens Brentano!
In Clemens Brentanos (1778-1842) Gedicht „Der Spinnerin Nachtlied“, das er 1802 verfasste, klagt eine Frau beim Spinnen in der Nacht über den Verlust ihres ehemaligen Geliebten vor langer Zeit, wobei ihre schon seit langem anhaltende Trauer verdeutlicht wird. Welche stilistischen Mittel nutzt Brentano zur Verdeutlichung der Trauer des lyrischen Ich über den Verlust? Welcher literarischen Epoche entstammt das Gedicht?
Das lyrische Ich erzählt von einer verlorenen Liebe, und zwar wie das lyrische Ich und der Geliebte zusammen waren (V.4), er dann jedoch aus ihrem Leben verschwand (V.12). Weiterhin wird beschrieben, dass sie ganz allein beim Spinnen ist und nicht weinen kann, obwohl sie weinen möchte (V.24). Dabei wird aber nicht nur in der Erinnerungen geschwelgt, sondern das lyrische Ich erzählt auch von seiner Gegenwart, z.B. wie sie in der Nacht spinnt.
Das Gedicht besteht aus sechs Strophen zu je vier Versen. Als Reimform wurde ein umarmender Reim, also abba, in jeder Strophe verwendet. Der erste und letzte Vers einer Strophe enden mit einer weiblichen Kadenz. Darüber hinaus bestehen die genannten Verse aus je sieben Silben. Männliche Kadenzen sind jeweils im zweiten und dritten Vers einer Strophe, diese Verse bestehen jedoch nur aus jeweils sechs Silben. Das Metrum des Gedichts ist ein drei-hebiger Jambus mit alternierendem Takt. All die genannten strukturellen Eigenschaften des Gedichtes sind regelmäßig, d.h. es gibt keine Wechsel z.B. im Metrum oder in der Kadenz. „Der Spinnerin Nachtlied“ wirkt allgemein rhythmisch und gleichmäßig, diese Wirkung wird durch die Struktur und v.a. durch den Jambus hervorgerufen. Der Jambus unterstützt mit seiner Kontinuierlichkeit und seinem Rhythmus das Spinnen des lyrischen Ich, wobei das Spinnen auch rhythmisch und durchgehend ist. Mit anderen Worten unterstützen die strukturellen Eigenschaften den Inhalt des Gedichtes.
Auffallend ist der häufige und übermäßige Gebrauch von Verben in dem Gedicht, v.a. Verben wie „singen“ (V.1,5,10,18,24). „Singen“ ist in jeder Strophe, mit Ausnahme der vierten, vorzufinden. Dies zeigt die Bedeutung des Wortes und wie wichtig das Singen für das lyrische Ich ist. Doch nicht allein das lyrische Ich singt, vielmehr die Nachtigall tut es (V.10,18) auch, welches eine Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und der Nachtigall darstellt.
Ein anderes von Brentano verwendetes stilistisches Mittel ist eine Art Elision. Elisionen sind in Vers 5 „spring’ “ und Vers 19 „denk’ “ zu finden. Durch die Verwendung der Elisionen erreicht Brentano den Sprachrhythmus und den Jambus im Gedicht zu erhalten. Ohne die Apostrophierung der beiden genannten Wörter würden nicht nur der Jambus sondern auch der (Sprach-)Rhythmus unterbrochen werden. Die Elisionen sind also strukturerhaltend, Brentano scheint also einen großen Wert auf die Struktur seines Gedichtes zu legen.
Zudem verwendet Brentano auch einen Euphismus in dem Gedicht. Und zwar spricht das lyrische Ich davon, dass ihr Liebster von ihr „gefahren“ (V.12 u.17) sei. Die Spinnerin beschönigt den Verlust ihres Geliebten, indem sie nicht von Wörtern wie verstorben oder gestorben spricht, sondern stattdessen „gefahren“ verwendet. Dies impliziert die Traurigkeit auf der einen Seite und die Tatsache, dass sie den Verlust noch nicht überwunden hat auf der anderen Seite.
Weiterhin sind Alliterationen, z.B. „ S ingt s tets...“ (V.18), und Anapher, z.B. in den Versen acht und dreizehn, existent. Jedoch scheinen diese nur zufällig und ohne größere Bedeutung zu sein. Ausnahme ist jedoch die vollständige Wiederholung des Verses: „Gott wolle uns vereinen“ (V. 16, 21). Die Wiederholung des Verses zeigt sowohl die Bedeutsamkeit Gottes, welche in der Romantik wieder zunimmt, und die Trauer der Spinnerin über den Verlust ihres Geliebten, denn selbst Gott wolle dem Bündnis zustimmen. Zudem unterstützt es den Effekt der Trauer über den anscheinend ungerechten, überraschenden Verlust. Eine weitere Ausnahme ist die dreifache Erwähnung des Ausdrucks „klar und rein“ in den Versen 7 und 15, welche zwei wichtige Effekt mit sich bringt: Zum einem wird die eigene „Reinheit“ des lyrischen Ich, also ihre hohe Moral, sei es nun verbunden mit ihrer Arbeit (V.7) oder direkt (V.15) besonders betont. Zum anderem stellt Brentano eine Verbindung zwischen dem Herzen, dem Wesen der Spinnerin und ihrer Arbeit, dem Spinnen, her. Ihr Faden ist letztendlich genauso rein wie ihr Herz, beides steht indirekt in Verbindung. Man kann daraus schließen, dass sich das lyrische Ich seit dem Verlust des Geliebten intensiver mit der Arbeit beschäftigt hat, um sich von der Realität abzulenken. Dies wird dadurch unterstützt, dass der Tätigkeit des Spinnens keine lästige, negative Bedeutung gegeben wird. Es hilft der Spinnerin sogar, sich an den Verstorbenen zu erinnern. Das Spinnen scheint das lyrische Ich nur insofern zu belasten, als dass es diese Tätigkeit „so allein“ (V. 6 und 21) ausführen muss.
Brentano verwendet Symbole wie Mond und Nachtigall bzw. den Schall der Nachtigall. Der Schall der Nachtigall nimmt dabei in dem Gedicht zwei Rollen ein: In der ersten Strophe, durch das Adjektiv „süß“ ergänzt, symbolisiert er die glückliche Liebe, die zwischen dem lyrischen Ich, der Spinnerin, und ihrem Geliebten geherrscht hat. In diesem Zusammenhang verdeutlicht der Gesang der Nachtigall die Romantik der Naturverbundenheit in einer Beziehung. In der dritten und fünften Strophe allerdings erinnert die Nachtigall die Spinnerin direkt an den Verlust ihres Mannes und verursacht dadurch eher Schmerz als das Empfinden von Einsamkeit. Die Gefühle der Spinnerin wechseln also im Gedicht.
Sehr auffällig sind die Parallelismen von der Nachtigall und ihrem Schall in der ersten, dritten und fünften Strophe, jeweils im zweiten und dritten Vers. Durch diese Wiederholung wird das Symbol der Nachtigall verstärkt.
Die gleiche Aufgabe übernimmt das Symbol des Mondes, der scheint, währenddessen die Frau webt. Der Mond scheint nachts, wenn die meisten Menschen schlafen und ist daher auch ein Symbol des Alleinseins und der Melancholie, so wie das lyrische Ich es erfährt. Dennoch sind der Mond und die Nachtigall für die Spinnerin nicht vollständig negativ behaftet, immerhin erinnern sie sie an ihre große Liebe.
Die Tätigkeit des Spinnens hilft der Spinnerin nicht über den Verlust ihres Mannes hinwegzukommen. Die Arbeit ist eintönig und wird meist allein im Stillen verrichtet, wobei keine sozialen Kontakte geknüpft werden und es somit schwer ist, sich von den immer gleichen Gedanken zu lösen und sich abzulenken. Wörter wie „allein“(V.22), „weinen“ (V.5 u. 24) und der Mond als Symbol geben dem Gedicht eine melancholische, trostlose Wirkung.
Brentano wechselt in seinem Gedicht häufig die Zeitformen: In der ersten Strophe erzählt das lyrische Ich von der Vergangenheit, wechselt dann in die Gegenwart und schildert seine aktuelle Tätigkeit. Dann erfolgt ein erneuter Wechsel in das Präteritum, in dem von der schönen Vergangenheit erzählt wird, anschließend in der vierten Strophe wieder zum Präsens. In der fünften und sechsten Strophe wechseln Präteritum und Präsens unregelmäßig. Der direkte Sprung von verherrlichter Vergangenheit in die trostlose Gegenwart und zurück verstärkt diesen Gegensatz und v.a. die Trauer der Spinnerin, beides bekommt eine Verbindung. Immerhin handelt fast die Hälfte des Gedichts von der Vergangenheit, das lyrische Ich scheint also sehr oft in dieser Zeit zu verweilen.
Das Gedicht ist in der literarischen Epoche der Romantik (19. Jahrhundert) entstanden. Es weist folgende Charakteristika der Epoche auf:
Typisch für diese Epoche ist die Verbundenheit mit der Natur, was durch die Symbole des Mondes, dem Gesang der Nachtigall und die Gefühlsbetontheit im Gedicht verdeutlicht wird: Die Frau „sing[t]und möchte weinen“ (V.24), kann es aber nicht mehr, da schon viel Zeit seit dem Tode vergangen ist und sie seither zu viel getrauert hat. Romantiker suchen also die wahren Erlebnisse in der Natur.
Auch hatte man in der Epoche der Romantik eine Vorliebe für die Nacht. Auch dieses Element ist im Gedicht enthalten, denn das lyrische Ich spinnt in der Nacht.
Weiterhin kehrte man sich von der Wirklichkeit und Gegenwart ab und beschäftigte sich mit der Geschichte und der Vergangenheit. Auch die Spinnerin kehrt sich teilweise von der Gegenwart ab und verharrt lieber in der Vergangenheit.
Im 19. Jahrhundert gab es auch die Idee von einer einheitlichen Christenheit und somit kam auch wieder Gedanke von schlichter und strenger Frömmigkeit auf. Brentano verarbeitet dies, indem er zwei Verse über den Segen Gottes zur Vermählung des Liebespaares hinzufügte. Das lyrische Ich scheint somit fromm zu sein und an Gott zu glauben, was in der Epoche der Aufklärung nicht selbstverständlich war und erst wieder in der Epoche der Romantik auftauchte.
„Der Spinnerin Nachtlied“ ist also ein romantisches Gedicht. Es ist gekennzeichnet von regelmäßig auftretenden strukturellen Eigenschaften. Stilistische Mittel zur Verdeutlichung der Trauer des lyrischen Ich sind vor allem die Verwendung von Symbolen wie Mond und Nachtigall, aber auch die Nacht an sich und das Alleinsein. Auch der Euphismus und der Wechsel der Zeitformen zeigen die Melancholie der Spinnerin.
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- Julia Kühnert (Author), 2001, Brentano, Clemens von - Der Spinnerin Nachtlied - Analyse und Interpretation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105135
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