Robert Schulz Deutsch - Interpretation Parabel Dgk13 Blickfeld Deutsch S. 337
Franz Kafka - Auf der Galerie (1916/17)
,,da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, [...] in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen." (Kafka, AdG)
Unsere Welt, unsere Umwelt.
Eine wahre Scheinwelt. Ein vermutlich paradoxes Wortspiel. Vieles in ihr scheint auf der einen Seite zu sein, ist auf der anderen gänzlich verkehrt. Vom Guten ins Schlechte, vom Fairen, Gerechten ins Ungerechte, ins Boshafte, ins Unverständliche. Ist der einzelne Mensch im Stande und gewillt, die Masken, den Schein zu durchdringen, das Wahre hinter all dem Glanz zu erblicken, würde er sicher auch weinen - auf seine Art.
Nähert man sich ,,Auf der Galerie", einer kurzen Parabel von Franz Kafka, die jener in den Jahren 1916/17 verfasste, dann treten schnell Gefühle der Irritation, des Alleingelassenseins mit sich, seinen Gedanken um den Text und dessen Gehalt sowie Gefühle der Ratlosigkeit auf.
Man liest ,,Auf der Galerie" das erste Mal. Es wird eine beginnende, knappe Darstellung einer freudlosen Zirkusvorführung deutlich, die gleichfalls von einer zweiten, etwas längeren Darstellung derselben Vorstellung gefolgt wird, in der dem Leser jedoch eine weitaus schönere, herzlichere Stimmung im Zirkuszelt - voller Gefühle, voller Begeisterung und voller Emotionen - beschrieben wird. Trostlosigkeit zuerst, ein Besucher möchte aufspringen und das Geschehen beenden. Dann Wärme, Glanz, Vertrautheit. Und dennoch weint derselbe Besucher, ,,ohne es zu wissen." Abrupt scheint der Leser losgelassen, eine führende, leitende Hand gibt es nicht.
Schnell kommen dem Leser Zweifel über Reinheit der wahren, zweiten, schönen Vorstellung, Welt. Schnell verdeutlichen sich dem Aufmerksamen zwei Bilder, die sich gegenseitig zu beeinflussen, zu bedingen und zu durchdringen scheinen. Kafka zwingt zur Auseinandersetzung...
,,Auf der Galerie" ist formal wie inhaltlich gänzlich zweigeteilt. Zu Beginn malt Kafka ein Bild einer kühlen, grauen, erbarmungslosen Zirkusvorstellung. Irgendeine Kunstreiterin reitet monatelang auf Drill und Zwang durch ihren Direktor im weiten Kreis durch die Manege. Monatelang erfüllt sie die ihr auferlegte Aufgabe der winkenden, sich reizend bewegenden Artistin, welcher das stumme, immer wiederkehrende Klatschen des Publikums antwortet. Immer wieder von Neuem, nie aufhörend. In einer solchen Situation würde dann vielleicht ein Galeriebesucher aufspringen, hinabeilen und die Szene durch ein ,,Halt!" beenden. Dies ist jedoch nicht so.
Im zweiten Abschnitt beschreibt Kafka die Spiegelwelt des ersten Teils. In ihr tritt derselbe Zirkusdirektor als ein um dieselbe Reiterin, einer Dame von liebenswertester Schönheit, höchst besorgter, fürsorglicher und verständnisvoller Gefährte auf, der sie in den Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens zu setzen scheint. Ihr größte Zuneigung und Achtung entgegenbringend zeigt er sich rücksichtsvoll und würdigt ihre Leistungen. In wahrem Glück nimmt sie den Dank und die Anerkennung des Publikums an. Den Abschlußbildet wiederum die Rahmenfigur desselben Galeriebesuchers, der ruhig, gleichfalls träumend trotz dessen beginnt, leise zu weinen.
,,Auf der Galerie". Ein literarisches Werk, ein Text von 291 Wörtern. Eine Text, der lediglich aus 2, annähernd ähnlich langen Sätzen besteht, aus 2 Sätzen, die formal die zwei tragenden Abschnitte bilden, die eindrucksvoll und überzeugend zur Erschaffung der zwei von Kafka gemalten Bilder im inneren, geistigen Auge des Lesers beitragen. Es sind die zwei Sätze, welche grundsätzlich in paralleler Konstruktion jeder für sich lediglich in hypotaktischer Art aus einem der Länge nach dominierenden Nebensatz sowie einem durch Gedankenstrich abgetrennten kurzen Hauptsatz bestehen.
Jeweils einem Nebensatz, der die Welt des Zirkus sowie das Geschehen in der Manege beschreibt sowie dem folgenden Hauptsatz, welcher in prägnant kurzer und klarer Form die Reaktion des Galeriebesuchers fokusiert. Allein ein Absatz trennt die Bilder, ein Absatz unterteilt den ersteren vom zweiten Satz.
,,Seine Sprache ist kristallklar, [...] an der Oberfläche merkt man [...] kein anderes Bestreben, als richtig, deutlich [...] zu sein.", schreibt Max Brod über Kafkas Werk. Kristallklar und abgrenzbar werden, der Form folgend, beide Bilder dem Leser präsentiert.
Deutlich erscheint in der Gesamtheit deren Komposition. Hinter dieser Klarheit, dieser einfachen, fassbaren Struktur bergen beide Bilder eine Fülle von ,,Träume[n], Visionen von unermeßlicher Tiefe" (Max Brod):
Der erste Abschnitt umfasst die Zeilen 1 bis 10. Ihn nochmals formal überblickend fällt die nahezu ausschließliche Anwendung von Konjunktiven auf. Wenn die Reiterin ,,getrieben würde"(Z. 3), wenn sich das ganze, nicht aussetzende Spiel ,,fortsetzte" (Z. 6), ,,vielleicht eilte" (Z. 8) in dieser Lage der eine Besucher hinab, ,,stürzte" (Z. 9) in die Mange und ,,rief" (Z. 9) das ,,Halt". Kurz: Wenn die beschriebene Situation so wäre, dann würde der Galeriebesucher vielleicht eingreifen. Der erste lange Nebensatz, als solcher ein Konditionalsatz, gibt - diesem folgend - eine Bedingung vor, bei deren Erfüllung vielleicht jene Reaktion des Besuchers zu erwarten wäre.
Die beschriebene Situation scheint schnell ziemlich irreal, die vielen Konjunktive sowie die grundsätzlich nicht zu erwartende traurige, negative und unwirkliche Stimmung in der Manege, die den Leser betroffen und es ihm schwer macht, an die Realität dieses Bildes zu glauben, sind von großer Bedeutung:
,,Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin..." (Z. 1). So beginnt die Schilderung. Es ist eine gefühllose, kalte Schilderung aus ferner Sicht einer zunächst unbekannten dritten Person. Längst hinfällig ist ihre Entlassung? Sie wird dem Leser weder näher vorgestellt, noch steht sie als eigentliche Artistin im Mittelpunkt. Es ist nur irgendeine Reiterin. Eine Reiterin, die nicht nur als krank beschrieben wird, sondern zur Steigerung ihrer schlechten Verfassung als ,,hinfällig", ja bereits ,,lungensüchtig". Sie scheint ausgelaugt. Gleichfalls ist ihr Pferd, auf dem sie Runde um Runde durch die Manege dreht, als bereits schwankend beschrieben. Steht ihr demnach auch eine ungewissen, schwankende Zukunft bevor. Pferd und Reiterin scheinen seit langer Zeit verbunden, seit langer Zeit immer reitend, Runde um Runde. Es sind nicht Reiterin und Pferd, welche die Vorstellung machen, begeistert und aktiv daran arbeiten, sondern es ist der ,,erbarmungslose[] Chef" (Z. 3), der Direktor. Nicht sie scheint die Zügel in der Hand zu halten, sondern er. Der Eindruck wird erweckt, dass der Kunstreiterin ihr Direktor seit langem nicht mehr als verständnisvoller Zirkusdirektor gegenüberstand, sondern vielmehr als fordernder, ihr weit übergeordneter Arbeitgeber, welcher Reiterin und Pferd ,,peitschenschwingend" und ,,monatelang ohne Unterbrechung im Kreise" treibt.
Der Kreis an sich verdeutlicht auf einfachste Weise die herrschende Monotonie, die Hyperbel der gänzlich fehlenden Unterbrechung trägt zur Illustration bei. Dem Leser wird bewußt, welch schweres Leben die Reiterin hat. Wie eine Maschine dreht die Reiterin ihre Kreise, kreative Figuren scheinen verboten, im Programm durch den Direktor nicht bestimmt. In starkem Kontrast dazu fügt Kafka das auf den Rängen sitzende, endlos klatschende, ,,unermüdliche[] Publikum" (Z. 2) hinzu. Durch nichts, durch keine Monotonie, durch keine Vorführung größter Einfallslosigkeit scheint es des Klatschens müde zu werden. Immer wieder beginnt das ,,anschwellende Beifallsklatschen der Hände". Immer wieder ruft der Direktor zur neuen Runde auf, bestimmt so Ablauf der Vorstellung und Leben der Reiterin. Der allgemein dunkle Klang der auftretenden Vokale, häufig ,,u" und ,,o", unterstreicht das farb- und freudlose Geschehen in der Manege. Als ,,auf dem Pferde schwirrend" beschreibt Kafka die Reiterin, nicht als galoppierend beziehungsweise als freudig reitend, nicht als das Pferd führend. Deutlich zeigt sich die Unwichtigkeit jener Reiterin darin, dass sich ihr vermeintlich künstlerisches Tun lediglich in 7 Worten äußert: ,,Küsse werfend, in der Taille sich wiegend" (Z. 4). Zusammenfassend scheint ihr eigentliches Tun so nebensächlich, dass für dessen Beschreibung eine kommentarlose, unverbundene 3-fache Aufzählung genügen muß(Z.4). Lieblos scheinen die Fakten aneinandergereiht.
Unter ,,nichtaussetzendem Brausen des Orchesters und der Ventilatoren" (Z. 6) scheint dieses Geschehen immerfort in die ,,graue Zukunft" zu gehen.
Um die Stimmung des gesamten Treibens weiter zu beschreiben und zu illustrieren, verwendet Kafka statt ,,ständiges Brausen" den längeren sowie komplizierteren Begriff ,,nichtaussetzende[s] Brausen", weshalb durch dessen Länge die Monotonie des lieblosen Orchesterspiels unterstrichen wird. Gleichfalls kennzeichnet der Klang des doppelten Diphtongs ,,au" die niedere Qualität der musikalischen Untermalung, sofern diese als solche zu bezeichnen ist. Die Musik wirkt einfallslos. Warum sollte das Orchester variieren, wenn gleich der Direktor von der Reiterin stets weite, gefühllose Reiterei verlangt. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs zieht Kafka den Vergleich mit den sich unentwegt drehenden, rauschenden Ventilatoren heran. Insgesamt zeichnet der Autor ein trauriges, ,,graues" (Z. 6) und eintöniges Bild einer unwirklichen Zirkusvorstellung. Alle Beteiligten scheinen einer düsteren, leblosen Zukunft entgegenzugehen. Nur das Beifallsklatschen des sonst stummen, emotionslosen Publikums hält das Spiel am Laufen. Wiederum konstruiert Kafka parallel zum Vorhergehenden einen Vergleich mit ,,Dampfhämmern" (Z. 7), welche kraftvoll, starr und kalt ihre Arbeit verrichten. Unwirklich erscheint die Vorstellung.
Sollte diesen Mißstand ein jemand erkennen, die Unwirklichkeit des gesamten Geschehens begreifen, dann würde dieser vielleicht aufschreien: ,,Halt". Kafka beendet an dieser Stelle die Beschreibung der gefühllosen, kalten Welt durch eventuell eben diesen Galeriebesucher, dieser erzählenden, unbeteiligten, dritten Person.
Nach einer Pause, die durch einen Gedankenstrich repräsentiert wird, greift der Betrachter selbst in die Handlung ein, ungewöhnlich für einen Galeriebesucher, der ein Bild, eine Vorstellung, lediglich auf sich einwirken lassen soll - aber nicht aktiv eingreifen kann. In größter Eile scheint er dabei vorzugehen: ,,die lange Treppe die Ränge hinab..." (Z. 8) Von weit oben, wo er lange beobachtete, stupide alles auf sich selbst wirken ließ, ,,stürzt" er hinab. Hinab ins Zentrum des Geschehens. (vgl. Z8/9) Demnach mußdieser Besucher die Falschheit erkannt haben. Er durchbricht den Kreislauf aller Kälte, Gefühllosigkeit und Unmenschlichkeit. Er ist in der Lage, das Unmögliche zu erreichen. ,,Wenn" (Z. 1) es so wäre.
,,Da es aber nicht so ist;" (Z. 11) Der Leser wird in seiner Vorahnung bestätigt. Zu irreal schien das Geschehen. Es wirkte, während er aufmerksam las, ständig als Fiktion. Der üblichen Vorstellung über die Freude am Zirkus entsprach die erste Darstellung gar nicht. Nach relativ schnellem Durchlesen überkommt dem Leser ein Gefühl der Bestätigung. ,,Da es aber nicht so ist;". Der oft unkommentiert rasante Handlungsablauf erschuf beim Leser ein Gefühl der Hektik, Zeile 11 läßt ihn aufatmen.
Nahtlos geht Kafka in die Beschreibung des zweiten Bildes eben derselben Vorstellung über. Der Leser findet eben wiederum die Kunstreiterin, den Direktor sowie den Galeriebesucher als Rahmenfigur vor.
Während dieser Leser gerade das erste Bild, die erste Vorstellung in all ihrer Dunkelheit, Kälte und Unwirklichkeit skizzen- und schemenhaft erleben mußte beziehungsweise durfte, mußer nun ohne Pause gleichfalls neue Eindrücke aufnehmen. Es sind Eindrücke und Ansichten einer gänzlich anderen Vorstellung, die sodann stark von dem eben Erlebten beeinflusst werden und so in neuem Licht stehen:
Durch den Reichtum an Form und Sprache läßt sich auch im zweiten Abschnitt das Wesen eines Bildes nicht ablegen. Als nicht irgendeine (vgl. Z. 1) ,,schöne Dame" tritt die Kunstreiterin auf. Nicht krank ist sie, vielmehr scheint sie voller Energie und Tatendrang. Kafka verleiht dieser Tatsache große Bedeutung, indem er sie hereinfliegen läßt. Metaphorisch verdeutlicht er so, wie lebhaft, wie echt die Reiterin in dieser Darstellung ist. Sie fliegt geradezu in die Manege, steht im Mittelpunkt aller folgenden Ereignisse. Als Dame von weißer und roter Farbigkeit wird sie demnach bereits einfühlsam, detailliert und emotional skizziert. Weißer und roter Farbe kommt in diesem Zusammenhang eine besondere, symbolhafte Bedeutung zu. Im europäischen Kulturland symbolisiert das Weißdie Unschuld, die Reinheit oder auch die Unverdorbenheit. Rot gilt als die Farbe der Könige sowie als Ausdruck des Edlen, des Erwählten. Man erblickt demnach eine gänzlich andere Reiterin voller Freude und starkem, mitreißendem Ausdruck. (vgl. Z. 11)
Im nächsten Teil ist die Liebe zum Detail unverkennbar. Die Reiterin ist der Stolz eines jeden Beteiligten in der Manege. Das Geschehen hat einen Anfang: Ihr werden durch die ,,stolzen Livrierten" (Z. 12) die Vorhänge geöffnet. Personen und Requisiten, die einen wahren Zirkus ausmachen, werden so beschrieben. Kafka verleiht dem Bild so Lebendigkeit und Farbe. ,,Hingebungsvoll" sucht der ,,Direktor" ihre Augen. ,,Vorsorglich" hebt er sie auf ihr Pferd, als wäre ,,sie seine über alles geliebte Enkelin". (vgl. Z. 12-14) Eben nicht nur irgendeine Angestellte, die ihre Rolle erfüllen muß. Die Alliteration ,,sie sein..." unterstricht die enge, gute Beziehung zwischen beiden, die nun als Paar auftreten. Die positiven Worte und der helle Klang aller Vokale durch Häufung von ,,e" und ,,i" (vgl. Z. 11) bewirken ein freundliches, helles und gleichsam warmes Bild des Zirkus.
Das Verhältnis zwischen der Reiterin und dem Zirkusdirektor hat sich stark verändert. Der Direktor will auf keinen Fall, dass ihr, seiner Kunstreiterin, irgend etwas auf dieser ,,gefährliche[n] Fahrt" passiert. Kafka mißt diesem neuen Verhältnis große Bedeutung bei: Nicht mehr ein ,,peitschenschwingender Chef" tritt auf, sondern es ist ein Gefährte, der das Zeichen zum Beginn gibt. Der es geben muß. Der sich selbst überwinden muß. (vgl. 15/16) Die eindrucksvolle Vorstellung beginnt. Das Geschehen hat einen Anfang. Das zweite Bild scheint demnach, nicht nur einen Ausschnitt aus einer endlosen, grauen Vorstellung darzustellen. Es illustriert etwas ganz Besonderes.
Es ist ein rücksichtsvoller Direktor, welcher voller Angst ,,mit offenem Munde einherläuft", der selbst aufgebracht warnt und die ,,reifenhaltenden Reitknechte" (Z. 18) - Kafka illustriert anschaulich durch Verwendung einer Alliteration - wütend zur Achtsamkeit ermahnt. Zur Verdeutlichung dieser ganz persönlichen Angst dient ferner der dunkle Klang dieser Zeilen. Hervorgerufen wird dieser durch die Häufigkeit von Vokalen wie ,,u", ,,o" und ,,a".
Es ist ein Direktor, der ,,ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann". (Z. 17) Wiederum trägt eine Alliteration zur nachfühlbaren Darstellung bei.
Er scheint nicht ein übermächtiger, fordernder, kühler Chef zu sein. Vielmehr scheint er als der vertraute, stolze Gefährte - unmittelbar an ihrer Seite. In ,,Tierhaltung" (Z. 13) tritt er ihr gegenüber, erweist ihr stets Ehre und Liebe.
Das Orchester gibt sodann der Reiterin durch eine kurze Pause Möglichkeit zur Konzentration vor ihrem finalen Absprung. Es passt sich demnach wirklich an das nun abwechslungsreiche und höchst interessante Angebot in der Manege an. Die Vorstellung findet ihr Ende. Es ist ein Ende, bei dem alle Angst vom Direktor abzufallen scheint: Er hebt die ,,Kleine" vom Pferd, küßt sie freundschaftlich.
Nur einmal fordert er: größten Dank vom Publikum für ihre Leistung, für die Leistung seiner Kunstreiterin. Sie steht demnach von Beginn bis zum Ende im Mittelpunkt des Geschehens. Es scheint ihre Vorstellung zu sein. (vgl. Z. 21-23) In voller Zufriedenheit mit sich und der Atmosphäre im Zelt scheint sie selbst allen zu danken - ,,mit ausgebreiteten Armen" (Z. 23) und genießt ihr Glück ,,mit zurückgelehntem Köpfchen".
Deutlich tritt das neue Verhältnis hervor: es scheint ein Verhältnis von Jung und Alt, von Vater und der Tochter - und nicht von Chef und irgendeiner Angestellten.
Der gesamte zweite Abschnitt befasst sich eindrucksvoll mit der Gefühlswelt von Reiterin und ihrem Direktor, mit der einladenden Stimmung während der Vorstellung, mit dem Glanz der Präsentation.
Schließlich fügt sich wiederum - durch einen Gedankenstrich markiert - die Konsequenz für den Galeristen an. Deutlich wird hierbei die angestrebte Parallelität von ,,Auf der Galerie". Der erste Abschnitt endet indirekt mit ,,Da es aber nicht so ist", obgleich dieses Ende selbst verschoben und zum Anfang der zweiten Beschreibung wird.
Wiederum verschiebt Kafka auch das Ende des zweiten Teils: ,,da dies so ist" tritt erst nach dem Gedankenstrich auf, gehört inhaltlich wie grammatikalisch jedoch zum Nebensatz und somit in den Teil, der der Trennung vorangeht. ,,da dies so ist" bewirkt im Hinblick auf die Dominanz des Indikativs als Modus im zweiten Teil die scheinbare Wirklichkeit jener Zirkusvorstellung. Sie wird nicht als unwahr, irreal und fern skizziert sondern vielmehr als ein real, wirklich beobachtetes Erlebnis. Es ist das tatsächliche Bild, was der Galeriebesucher beobachtet. Kein Leid geschieht, keine Kunstreiterin mußer als Held und Retter erlösen.
Der Leser mag nach Präsentation der zweiten Vorstellung den Galeriebesucher als einen begeisterten Besucher erwarten. Vielleicht mag es diesem Besucher sogar egal sein, was er beobachtete. Keinesfalls würde man diesen jedoch so vermuten, wie er durch Kafka beschrieben wird: Ruhig ,,legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung, [...] in einem schweren Traum versinkend [...] und weint [...] ohne es zu wissen." (Z. 25/26)
So wenig man dieses Verhalten zunächst vermuten würde, so greifbar wird es, wenn man den detailreichen kleinen Raum von ,,Auf der Galerie" verlässt und den Text nochmals als Ganzes wirken läßt. Dann erscheint die zweite, herzliche Zirkusvorstellung schnell entgegen aller anfänglichen Empfindungen als unwahr. Nach dem grauen, unwirklichen, leidvollen ersten Bild erscheint gleichsam das zweite zu heil, zu schön, zu vollkommen.
Das erste Bild läßt das zweite nicht los. Zweifel an der von Kafka zunächst suggerierten Echtheit des zweiten Bildes treten auf. Es scheint zu perfekt, zu erlesen. Nur Licht, kein Schatten. Auch das erstere erscheint in neuem Ausdruck. ,,Da es aber nicht so ist..." (Z. 11) Der Leser fragt, ob es wirklich so unmöglich, so fern ist. Wenn es in der Tat so wäre, wenn es hinter dem zweiten Bild stünde, durch dieses durchschiene, wenn es eben dieser Galerist sei, der die Wahrheit erkenne, der hinter allem Schein des Schönen die wahren Züge erkenne, dann würde dieser sicher verstummen und beginnen zu weinen, ohne es zu wissen. Er würde still weinen, weil er alleingelassen ist mit seiner Erkenntnis über das Sein, das Wahre, was unmöglich scheint, was ,,aber" angeblich ,,nicht so ist". (Z. 11) Gewißist es nicht so offensichtlich. Der einzelne, aufmerksame Besucher vermag das Spiel jedoch zu durchschauen und die unmenschlichen, kühlen, grauen und lieblosen Vorgänge in der Manege zu erkennen. Er könnte in solchem Fall jedoch nicht aufspringen und das Geschehen beenden, denn nur er scheint gewillt, beide Bilder voreinander zu halten und im Ganzen wirken zu lassen. Es macht ihn traurig, die graue Wahrheit erkennen und erleben zu müssen. In völliger Alleingelassenheit.
Eindrucksvoll präsentiert Kafka durch die Parabel ,,Auf der Galerie" das Ausgeliefertsein des Einzelnen vor der Unwirklichkeit der real zu scheinenden Welt. Das Gleichnis des Galeriebesuchers, der beide Facetten der Welt erkennen mußund erlebt, wie eng miteinander verflochten und untrennbar beide Seiten sind, läßt sich vom reinen Zirkusgeschehen loslösen.
Es zeigt auf der einen Seite, als wie geordnet, als wie schön und gesund Vorstellungen, Unternehmen, Produktionsstätten, gewißauch die Politik, dem Zuschauer, dem Besucher, dem Arbeitsuchenden, dem Wähler präsentiert und vorgeführt werden. Der Interessierte wird eingeladen, all die schönen Seiten kennenzulernen, zu erfahren. Auf der anderen Seite kritisiert er die Oberflächlichkeit, die die moderne Gesellschaft oft an den Tag legt. Es ist eine Gesellschaft, die nicht erkennt, wie es hinter Kulissen und politischen Bühnen aussieht. Es ist eine Gesellschaft, die vermutete Mißstände als unwirklich und nicht möglich abtut. Es sind Menschen, die sich gewißGedanken machen, was sie tun würden, wäre es kalt, herzlos und unmenschlich. Dann würden sie - wie vielleicht die übrigen - dies erkennen und aufschreien. ,,Aber zum Glück ist es nicht so!", werden sie sich sagen. Es sind Menschen, welche ohne nachzudenken und, ohne kritisch zu hinterfragen, alles hinnehmen, Beifall klatschen. Kafka mahnt: Wo Licht ist, ist auch Schatten, wo Glanz, da auch Staub. Kafka weißaber auch um die Schwierigkeiten und inneren Konflikte, in die ein jeder wie der Galeriebesucher geraten kann, dem es gelingt, sich durch den Schein nicht blenden zu lassen und die oft trübe, graue, einfache Wahrheit erkennen und erleben muß, die er gleichsam anfangs verdrängt hat. Der dann unbewußt weinen muß, weil er sich vielleicht durch seine Gabe, seine Aufmerksamkeit und seine kritische Haltung die gelungene, teure Vorstellung - seine glanzvolle Welt - selbst zerstörte und ihr endgültig ihren Reiz, ihre Schönheit, ihre Echtheit nahm.
Ich persönlich halte diese Parabel Kafkas für außerordentlich ausdrucksstark, interessant und vielfältig schillernd. Aufgrund der Übersichtlichkeit der Struktur auf der einen Seite aber des teils komplizierten Satzbaus auf der anderen fällt es nicht leicht, den Sinn zu finden, den Inhalt zu ordnen. Besonders beeindruckend wirkt hierbei Kafkas Fähigkeit, trotz einfachster Sprache und weniger stilistischer Figuren ein Höchstmaßan Stimmung innerhalb der Darstellung zu erreichen. Bereits in Klassenstufe 11 habe ich mich schon einmal mit diesem Text beschäftigt.
Zur Grundidee des Schein-und-Sein-Problems, die mir insgesamt vertretbar erscheint, bin ich damals nicht durchgedrungen. Dies hat für mich einen Grund mehr dargestellt, mich ein zweites Mal mit ,,Auf der Galerie" zu beschäftigen. Auch diesmal bleiben jedoch Fragen offen, vielfach entzieht sich die Parabel der klaren Deutung und der Lösung, die alle Probleme und Feinheiten berücksichtigen sowie sämtliche schwierige Stellen klären kann.
Sekündärliteratur:
http://www.germanistik.uni-halle.de/d_hsa2.html
http://www.deslit.de/kafka/galerie.htm
- Quote paper
- Robert Schulz (Author), 2001, Kafka Franz - Auf der Galerie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105131
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