Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Zukunft der Wirtschaft vorhersagen, Inflation und Arbeitslosigkeit mit beispielloser Präzision steuern. Die Phillips-Kurve, ein Konzept, das einst als Schlüssel zur Lösung dieser makroökonomischen Rätsel gefeiert wurde, steht im Zentrum dieser intrigenreichen Analyse. Diese tiefgründige Untersuchung enthüllt die faszinierende Geschichte der Phillips-Kurve, von ihren bescheidenen Anfängen als empirische Beobachtung bis hin zu ihrer komplexen Entwicklung und den vielfältigen Interpretationen durch Wirtschaftswissenschaftler wie A.W. Phillips, Samuelson, Solow, Friedman und Phelps. Entdecken Sie, wie die ursprüngliche Phillips-Kurve, die einen vermeintlich stabilen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnänderungen aufzeigte, die wirtschaftspolitische Debatte revolutionierte. Verfolgen Sie die Transformation zur modifizierten Phillips-Kurve, die Inflation in den Fokus rückte und politischen Entscheidungsträgern eine vermeintliche "Speisekarte" für wirtschaftspolitische Maßnahmen präsentierte. Doch die Ernüchterung folgte bald mit dem Aufkommen der Stagflation, die die vermeintliche Stabilität des Inflations-Arbeitslosigkeits-Zusammenhangs in Frage stellte. Tauchen Sie ein in die Kritik von Friedman und Phelps, die die Bedeutung von Inflationserwartungen betonten und die langfristige Gültigkeit der Phillips-Kurve in Zweifel zogen. Erforschen Sie die Konzepte der Geldillusion, adaptiven und rationalen Erwartungen sowie den kurzfristigen Trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. Schließlich wird die moderne Form der Phillips-Kurve vorgestellt, die Angebotsschocks und die zyklische Arbeitslosigkeit berücksichtigt. Diese umfassende Analyse bietet einen detaillierten Einblick in die Stärken und Schwächen der Phillips-Kurve als wirtschaftspolitisches Instrument und regt zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen makroökonomischer Steuerung an. Eine unverzichtbare Lektüre für Studierende der Volkswirtschaftslehre, politische Entscheidungsträger und alle, die sich für die komplexen Zusammenhänge der modernen Wirtschaft interessieren. Die Geschichte der Phillips-Kurve ist eine Geschichte von Hoffnung, Enttäuschung und der ständigen Suche nach einem besseren Verständnis der Wirtschaft.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Die ursprüngliche Phillips-Kurve
3. Die modifizierte Phillips-Kurve
3.1 Die Bedeutung der Phillips-Kurve für die Politik
3.2 Die modifizierte Phillips-Kurve in den sechziger Jahren
3.3 Das Problem der Stagflation
4. Die Kritik von FRIEDMAN und PHELPS
4.1 Die „Geldillusion“ und exogene Erwartungen
4.2 Exogene vs. adaptive Erwartungen
5. Der kurzfristige trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit
6. Erwartungsbildung in makroökonomischen Modellen
6.1 Die Autoregressive Erwartung
6.2 Die Rationale Erwartung
6.3 Rationale Erwartungen und der kurzfristige trade-off
7. Die moderne Form der Phillips-Kurve
7.1 Die zyklische Arbeitslosigkeit
7.2 Der Angebotsschock
8. Abschließende Bemerkungen
1. Einführung
Die Phillips-Kurve entspringt einer empirischen Arbeit von ARTHUR W. PHILLIPS aus dem Jahre 19581. Diese Arbeit beschäftigte sich mit dem empirischen Zu- sammenhang zwischen der Unterbeschäftigung und der Änderungsrate der Nomi- nallöhne in Großbritannien für den Zeitraum von 1861 bis 1957. Auf diesen Zu- sammenhang wurde bereits in viel früheren Schriften hingewiesen, aber PHILLIPS gab dieser Diskussion den entscheidenden Impuls2. Obwohl die Tatsache, dass Löhne bei niedriger Arbeitslosigkeit schneller steigen und vice versa keine Aufse- hen erregende Entdeckung zu sein scheint, fand der Aufsatz von PHILLIPS eine bemerkenswerte Resonanz. K. W. ROTHSCHILD sieht den Hauptgrund für diesen „durchschlagenden Erfolg“ darin, dass PHILLIPS auf einem Gebiet, auf dem die traditionellen ökonomischen Theorien bis dahin nichts auszusagen hatten, etwas solides anbot. Es mag seltsam klingen, aber die traditionelle Ökonomie hatte prak- tisch nichts über das Lohnverhalten auszusagen. Die auf der Grenzproduktivität aufbauende neoklassische Lohntheorie hielt an der Dichotomie zwischen Real- und Monetärphänomenen fest. Lohntheorie war Reallohn- und Gleichgewichts- theorie in einem. War der Reallohn bestimmt, so spiegelte der Geldlohn nur mo- netäre Einflüsse auf die Nominalwerte wider3.
Die Arbeit von PHILLIPS hatte jedoch auch aus anderen Gründen eine so außer- gewöhnliche Wirkung. Dazu zählten z.B. die intensiven Untersuchungen dieses speziellen Problems, die sich besonders durch die langfristige Betrachtung aus- zeichneten. Des Weiteren schien er eine konstante Beziehung zwischen den No- minallöhnen und der Unterbeschäftigung gefunden zu haben. Und schließlich könnte seine Analyse - die langfristige Zuverlässigkeit seiner Ergebnisse voraus- gesetzt - ein äußerst wichtiges Instrument für wirtschaftspolitische Entscheidun- gen werden.
2. Die ursprüngliche Phillips -Kurve
Betrachtet werden soll zunächst die ursprüngliche Phillips-Kurve für das vereinte Königreich. PHILLIPS setzte die durchschnittliche Arbeitslosenquote und die durchschnittliche Änderungsrate der Nominallöhne für die Jahre 1861-1957 in Beziehung miteinander. Seine Hauptergebnisse werden in folgender Abbildung zusammengefasst:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die drei wesentlichen Merkmale der Phillips-Kurve sind ihre negative Steigung, die hyperbolische Form und der Schnittpunkt mit der Abszisse bei u 6%. Wobei u die Arbeitslosenquote (unemployment) und w'/w die Änderungsrate der Löhne (wages) darstellt.
Daraus folgt, dass sich bei einer Arbeitslosenrate von ca. 6% stabile Nominallö h- ne einstellen. Die Änderungsrate w'/w ist in diesem Fall dann gleich Null. Bei steigender Arbeitslosigkeit sinkt also die Änderungsrate der Löhne, bei sinkender Arbeitslosigkeit steigt sie.
Die Änderungsrate der Löhne w'/w können wir auch als Rate der Lohninflation ù wie folgt schreiben:
ù = (W-W-1)/W-1
W sei der Lohn der laufenden Periode und W-1 der Lohn der vorhergehenden Periode. Bezeichnen wir die natürliche Arbeitslosenquote mit u*, dann können wir die ursprüngliche Phillips-Kurve als
ù = -å(u - u*)
schreiben, wobei å die Reaktion der L öhne auf die Arbeitslosigkeit misst. Übersteigt die Arbeitslosenquote die natürliche Quote, d.h., wenn u > u* gilt, dann sinken die Löhne. Umgekehrt steigen die Löhne, wenn die Arbeitslosigkeit unterhalb der natürlichen Rate lie gt.
PHILLIPS‘ Untersuchung wurde durch RICHARD G. LIPSEY analytisch verfeinert und im wesentlichen gestützt4. Die zentrale Aussage dieses berühmten und scharf- sinnigen Artikels, der sehr kurz nach PHILLIPS‘ Studie erschien, liegt in der lang- fristigen Stabilität des Zusammenhanges von Lohnänderung und Arbeitslosigkeit5.
3. Die modifizierte Phillips -Kurve
Weitere Diskussionen um die Phillips-Kurve wurden durch einen Aufsatz von PAUL A. SAMUELSON und ROBERT M. SOLOW aus dem Jahre 1960 entfacht6. SAMUELSON und SOLOW übertrugen PHILLIPS‘ Analyse auf das Gebiet der Inflationspolitik. Sie ersetzten die Änderungsrate des Geldlohnes durch die Inflationsrate, also die Änderungsrate des Preisniveaus.
Dieser Übergang von der ursprünglichen zur modifizierten Phillips-Kurve basiert auf der Annahme, dass jeder Prozentpunkt Nominallohnsteigerung, der über die mit durchschnittlich 2,5% angenommene Produktivitätssteigerung hinausgeht, von den Unternehmen in den Preisen weitergegeben wird und in entsprechenden Preisniveausteigerungen zum Ausdruck kommt. Die Vorgänge auf dem Arbeitsmarkt determinieren somit unmittelbar die Entwicklung des Preisniveaus7.
Diese zu einem Inflations-Arbeitslosenratendiagramm modifizierte Phillips-Kurve nannten SAMUELSON und SOLOW eine „Speisekarte“ (menu of choice) für wirtschaftspolitische Entscheidungen. Eine verlässliche Phillips-Gleichung würde den Politikern helfen zu erkennen, wieviel Preisstabilität man opfern muss, um eine höhere Beschäftigung zu erhalten und umgekehrt. Die Phillips-Kurve zeigte den „trade-off“ zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität.
3.1 Die Bedeutung der Phillips-Kurve für die Politik
Die Politiker und Regierungen begrüßten die Theorie der Phillips-Kurve. Endlich schien es ein brauchbares Instrument für höchst wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen zu geben. Der trade-off implizierte, dass der Staat scheinbar zwischen hoher Arbeitslosigkeit und hoher Inflation wählen könnte. Sätze wie: „Lieber ein Prozent mehr Inflation als ein Prozent mehr Arbeitslosigkeit“, waren und sind auch in heutiger Zeit keine Seltenheit. Bei einigen Politikern und Journalisten herrscht scheinbar immer noch die naive Vermutung, dass die Wahl zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit eine Art „Nullsummenspiel“ sei8.
3.2 Die modifizierte Phillips-Kurve in den sechziger Jahren
Um die damalige Begeisterung der Politiker zu verstehen, wenden wir uns jetzt einmal der Entwicklung der Inflations- und Arbeitslosenrate in den sechziger Jah- ren zu. Als Beispiel soll uns die Entwicklung in den Vereinigten Staaten dienen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Betrachtet man die Situation in den Vereinigten Staaten, dann wird recht deutlich klar, wieso die Phillips-Kurve sehr schnell zu einem Eckstein der makroökonomi- schen Politikanalyse wurde9. Der trade-off und die damit verbundene „Speisekar- te“ von der man die verschiedenen Preissteigerungs- und die ihnen entsprechen- den Arbeitslosenraten ablesen konnte, schien zu funktionieren. Wirtschaftspoliti- ker und Regierungen der meisten entwickelten industriellen Marktwirtschaften setzten von nun an die Phillips-Kurve als Instrument zur wirtschaftspolitischen Entscheidungsfindung ein. Es sollte jedoch schon bald ein empirisches Faktum auftauchen, welches den langfristig stabilen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit fragwürdig erscheinen lassen würde. Bei die sem empirischen Faktum handelte es sich um die Stagflation.
3.3 Das Problem der Stagflation
Die Skepsis an einem langfristig stabilen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit wurde durch die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung wäh- rend der siebziger Jahre in fast allen westlichen Industriestaaten bestätigt. Die zeitweise sehr hohe Inflation war nicht mit weniger Arbeitslosigkeit, sondern ins- besondere in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mit wesentlich mehr Arbeits- losigkeit verbunden10. Das gleichzeitige Auftreten von hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit stellte die Existenz der Phillips-Kurve in Frage. Allein eine Verschiebung der Phillips-Kurve konnte die Stagflation erklären. Kann sich die Phillips-Kurve jedoch jederzeit verschieben, dann verliert sie ihren Wert als wirtschaftspolitisches Entscheidungsinstrument. An genau diesen Punkten setzt die Kritik von MILTON FRIEDMAN und EDMUND S. PHELPS an.
4. Die Kritik von FRIEDMAN und PHELPS
Interessant ist, dass MILTON FRIEDMAN und EDMUND S. PHELPS bereits Ende der sechziger Jahre erhebliche Zweifel an dem in der Phillips-Kurve erfassten trade- off äußerten11. Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen den langfristig stabilen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. Sie argumentierten, dass die negativ steigende Phillips-Kurve eine Art „Geldillusion“ auf Arbeitnehmersei- te voraussetzt. Da diese „Geldillusion“ jedoch nur kurzfristig relevant sei, gebe es keinen dauerhaften trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit. FRIEDMAN und PHELPS stellten die These auf, dass die langfristige Phillips-Kurve senkrecht verlaufe12.
4.1 Die „Geldillusion“ und exogene Erwartungen
Betrachten wir zunächst das Argument, dass die negativ steigende Phillips-Kurve eine „Geldillusion“ auf Arbeitnehmerseite voraussetzt. Diese „Geldillusion“ be- deutet, dass die Arbeitnehmer ihr Angebot und ihre Lohnforderungen am erwarte- ten Preisniveau ausrichten. Sieht man dieses erwartete Preisniveau ([Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]) bzw. die erwartete Inflationsrate als exogen an (pe), dann hängt das Arbeitsangebot (Ls) vom Nominallohn (w) ab:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gleichzeitig unterstellen wir, dass die Arbeitsnachfrage (Ld) vom tatsächlichen Preisniveau (p) abhängt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Steigt nun das Preisniveau bei unverändertem Nominallohn, wird die Arbeitsnachfrage zunehmen. Das Angebot dagegen bleibt unverändert. Sind zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht alle Arbeitnehmer beschäftigt, dann hat die Geldpolitik die Möglichkeit über eine Geldmengenexpansion und die damit verbundenen steigenden Preise einen Anstieg der Beschäftigung zu bewirken.
Diese exogenen Preisniveauerwartungen der Arbeitnehmer erklären den negativen Verlauf der Phillips-Kurve. Ohne diese exogenen Erwartungen, die wir als eine spezifisch Keynesianische Hypothese ansehen müssen, ließe sich die langfristige Existenz der Phillips-Kurve kaum begründen13.
4.2 Exogene vs. adaptive Erwartungen
Genau diese Annahme exogener Erwartungen kritisierten FRIEDMAN und PHELPS. Sie bezeichneten diese Annahme für nicht besonders realistisch, da man eher da- von ausgehen müsse, dass die Arbeitnehmer mit der Zeit aus den Inflationserwar- tungen lernen. FRIEDMAN und PHELPS gingen deshalb von einer adaptiven Erwar- tungsbildung der Arbeitnehmer aus. Die adaptive Erwartungsbildung ist die be- kannteste Hypothese der Autoregressiven Erwartung. Sie beschreibt einen Lern- prozess, bei dem der Erwartungswert der Vorperiode um einen Teil des Erwar- tungsirrtums der Vorperiode korrigiert wird und der so korrigierte Wert die Er- wartung für die laufende Periode beschreibt. Übertragen auf die Theorie der Phil- lips-Kurve bedeutet das, dass die Arbeitnehmer ihre Erwartungen allmählich an die tatsächliche Inflationsrate anpassen und entsprechend höhere Lohnzuschläge zum Ausgleich des Kaufkraftverlustes fordern14. Laut Monetaristischer Theorie besteht also kein langfristiger trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, wohl aber ein kurzfristiger trade-off.
5. Der kurzfristige trade -off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit
Betrachtet werden soll nun der kurzfristige trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit sowie die Optionen, die die Phillips-Kurve einem Wirtschaftspolitiker tatsächlich gibt.
Da die Inflationserwartung der Arbeitnehmer bereits feststeht kann sie von der Wirtschaftspolitik nicht direkt gesteuert werden. Die wirtschaftspolitischen Ent- scheidungsträger können Produktion und Beschäftigung jedoch via Geld- und Fiskalpolitik beeinflussen. Eine Möglichkeit die Arbeitslosigkeit zu verringern ist die Ausdehnung der Gesamtnachfrage. Eine expansive Geldpolitik hat allerdings eine erhöhte Inflation zur Folge. Umgekehrt führt eine gedämpfte Gesamtnachfra- ge, um die Inflation zu verringern, zu einer höheren Arbeitslosigkeit15.
Die folgende Abbildung zeigt den kurzfristigen trade-off zwischen Inflation (ð) und Arbeitslosigkeit (u), der sich aus der Phillips-Kurve ergibt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Kurzfristig existiert eine negative Beziehung zwischen Inflation und Arbeitslosig- keit. Die Wirtschaftspolitik kann die Gesamtnachfrage manipulieren und so eine beliebige Kombination von Inflation und Arbeitslosigkeit wählen, die auf dieser Kurve, die auch als kurzfristige Phillips-Kurve bezeichnet wird, liegt. Eine wic h- tige Rolle bei der Lage der kurzfristigen Phillips-Kurve spielt die erwartete Infla- tionsrate (ðe). Nehmen die Inflationserwartungen zu, dann verschiebt sich die Kurve nach oben und das trade-off-Verhältnis verschlechtert sich, da die Inflati- onsrate für jedes Niveau der Arbeitslosigkeit höher ist als zuvor16. Die nachfol- gende Abbildung zeigt die Auswirkungen der erwarteten Inflationsrate auf den kurzfristigen trade-off:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit existiert nur kurzfristig, da die Wirtschaftssubjekte ihre Inflationserwartungen im Zeitverlauf anpassen. Die tatsächliche Inflationsrate kann durch die Wirtschaftspolitik nicht auf Dauer über der erwarteten Inflationsrate gehalten werden und damit die Arbeitslosigkeit un- terhalb ihres natürlichen Niveaus, so dass sich die Erwartungen letztlich an jede beliebige von der Wirtschaftspolitik gewählte Inflationsrate anpassen. Langfristig gilt wieder die klassische Dichotomie, die Arbeitslosigkeit kehrt auf ihr natürli- ches Niveau zurück, und es gibt keinen trade-off zwischen Inflation und Arbeits- losigkeit17.
6. Erwartungsbildung in makroökonomischen Modellen
In den vorangegangenen Ausführungen wurde deutlich, dass die Inflationserwar- tungen den kurzfristigen trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit ent- scheidend beeinflussen. Es stellt sich daher die Frage, wie die Wirtschaftssubjekte ihre Erwartungen eigentlich bilden. Die Bildung exogener Erwartungen, ohne die sich die langfristige Existenz der Phillips-Kurve gar nicht oder kaum begründen ließe, wurde bereits erklärt. Es existieren jedoch noch zwei weitere Erwartungs- hypothesen: Die Autoregressive Erwartung und die Rationale Erwartung.
6.1 Die Autoregressive Erwartung
Bei der Autoregressiven Erwartung werden die Erwartungen bezüglich einer be- stimmten Variablen (wie z.B. der Inflation) aus den Vergangenheitswerten dieser Variablen abgeleitet. Die bekannteste Hypothese dieser Klasse ist die adaptive Erwartungsbildung. FRIEDMAN und PHELPS gingen von einer solchen adaptiven Erwartungsbildung der Arbeitnehmer aus, da sie annahmen, dass die Arbeitgeber mit der Zeit aus den Inflationserwartungen lernen und diese korrigieren würden. Diese angenommene Erwartungsbildung der Arbeitnehmer (und die empirische Beobachtung der Stagflation) hatte zur Folge, dass das Modell der langfristigen Phillips-Kurve falsifiziert wurde.
6.2 Die Rationale Erwartung
Bei der Rationalen Erwartung wird das ökonomische Optimierungskalkül auf die Erwartungsbildung übertragen. Die Theorie rationaler Erwartungen setzt voraus, dass die einzelnen Wirtschaftssubjekte das relevante Modell der Ökonomie und dessen Struktur kennen. In der Praxis bedeutet das, dass die Wirtschaftssubjekte alle ihnen zur Verfügung stehenden Informationen optimal nutzen, um Prognosen über die Zukunft aufstellen zu können. Diese Prognosen über die Zukunft schlie- ßen auch die erwartete Inflation ein. Es bleibt daher zu klären, wie der kurzfristige trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit von den rationalen Inflationser- wartungen beeinflusst wird.
6.3 Rationale Erwartungen und der kurzfristige trade -off
Vertreter der rationalen Erwartungen behaupten, dass die verfügbaren Optionen der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger durch die kurzfristige PhillipsKurve nicht akkurat beschrieben werden18. Praktiziert die Wirtschaftspolitik eine glaubhafte Disinflationspolitik, dann werden die Wirtschaftssubjekte ihre Inflationserwartungen schnell nach unten korrigieren, da die rationale Erwartungsbildung systematische Fehler ausschließt. Eine niedrige Inflationserwartung verschiebt, wie weiter oben bereits gezeigt, den kurzfristigen trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit nach unten. Daraus folgt, dass eine niedrigere Inflationsrate ohne eine höhere Arbeitslosenrate möglich ist.
Der genau umgekehrte Effekt wird durch eine Ausweitung der Geldmenge ausge- löst. Eine der am häufigsten verwendeten rationalen Erwartungshypothesen ist der Zusammenhang zwischen der Wachstumsrate der nominellen Geldmenge und der erwarteten Inflationsrate. Entspricht die erwartete Inflationsrate der Wachstumsra- te der nominellen Geldmenge und werden die Inflationserwartungen auf rationaler Entscheidungsbasis gebildet, dann bewirkt eine Erhöhung des Geldmengenwachs- tums bereits kurzfristig den erwarteten Inflationsanstieg. Die von den Wirtschafts- subjekten gebildeten Inflationserwartungen werden somit alsbald bestätigt19.
Obwohl auch der Ansatz rationaler Erwartungen umstritten ist, stimmen fast alle Ökonomen darin überein, dass Inflationserwartungen, die Betonung liegt hier auf Erwartungen, den kurzfristigen trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit beeinflussen20. Es wird recht schnell deutlich welche zentrale Rolle die Erwartungsbildung in makroökonomischen Modellen spielt.
7. Die moderne Form der Phillips-Kurve
Nachdem die Lohnsteigerungsrate (ù) durch die Inflationsrate (ð) ersetzt und die Inflationserwartungen (ðe) der Wirtschaftssubjekte mit einbezogen wurden, soll nun die um einen Angebotsschock erweiterte moderne Phillips-Kurve betrachtet werden. Wir können die moderne Phillips-Kurve als
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
schreiben, wobei â ein Parameter ist, der die Reaktion der Inflation auf die zyklische Arbeitslosigkeit erfasst und á f ür den Angebotsschock steht. Diese Gleichung fasst die Beziehung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit zusammen. Auf eine Ableitung der Phillips-Kurve aus der Gleichung für das Gesamtangebot wird an dieser Stelle verzichtet. Statt dessen sollen die zyklische Arbeitslosigkeit â(u-u*) und der Angebotsschock á betrachtet werden.
7.1 Die zyklische Arbeitslosigkeit
Die zyklische Arbeitslosigkeit - die Abweichung der Arbeitslosigkeit von ihrem natürlichen Niveau - übt auf die Inflationsrate einen Druck nach oben oder nach unten aus. Die Inflationsrate nimmt tendenziell zu, wenn die Arbeitslosigkeit un- terhalb ihres natürlic hen Niveaus liegt. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Nachfragesoginflation (demand-pull inflation), weil die Inflation auf die hohe Gesamtnachfrage zurückzuführen ist. Umgekehrt nimmt die Inflationsrate tendenziell ab, wenn die Arbeitslosigkeit oberhalb ihres natürlichen Niveaus liegt21.
7.2 Der Angebotsschock
Die Erweiterung der Phillips-Kurve um den Angebotsschock geht auf die sie b- ziger Jahre zurück. In den siebziger Jahren verursachte die OPEC, die Organisation Erdölexportierender Staaten, ein starkes Ansteigen des Welterdölpreises und lenkte damit die Aufmerksamkeit der Wirtschaftswissenschaftler auf die Bedeutung von Angebotsschocks22.
Die Inflationsrate kann auch aufgrund eines solchen Angebotsschocks steigen oder sinken. Ein nachteiliger Angebotsschock ist durch einen positiven Wert von á gekennzeichnet und führt zu einer Zunahme der Inflationsrate. Diesen Zusam- menhang zwischen Angebotsschock und Inflation bezeichnet man als Kosten- druckinflation (cost-push inflation), da ungünstige Angebotsschocks, wie z.B. die Erhöhung der Weltmarktpreise für Erdöl in den siebziger Jahren, die Produktions- kosten in die Höhe treiben. Umgekehrt führt ein günstiger Angebotsschock (durch einen negativen Wert von á gekennzeichnet) zu einem Rückgang der Inflationsra- te23.
8. Abschließende Bemerkungen
Abschließend kann man sagen, dass die nun schon über 30 Jahre andauernde in- tensive Diskussion um die Phillips-Kurve gezeigt hat, dass sich die ursprüngliche Hoffnung auf eine verlässliche und eindeutige Beziehung in einem wichtigen Ge- biet der Ökonomie nicht erfüllt hat. Wenn die Vorstellung von einer „Speisekarte“ von der die verschiedenen Preissteigerungs- und die ihnen entsprechenden Ar- beitslosenraten abgelesen werden können auch sehr verlockend war, so musste man sic h spätestens in den siebziger Jahren von dieser Wunschvorstellung verab- schieden. Es liegt auf der Hand, dass die Theorie der Phillips-Kurve mit ihrer Idee des kurzfristigen trade-offs und der Verschiebung der Kurve ein brauchbares E- lement in der Inflations-Beschäftigungs-Debatte sein kann, aber nicht sein muss. Meiner Meinung nach ist die Phillips-Kurve als wirtschaftspolitisches Entschei- dungsinstrument völlig ungeeignet.
Literaturverzeichnis
Cassel, Dieter in Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Band 2, 3. Auflage, München 1988
Dieckheuer, Gustav Makroökonomik: Theorie und Politik, 2. Auflage, Berlin u.a.O. 1995
Dornbusch, Rüdiger Makroökonomik, Fischer, Stanley 6. Auflage, München/Wien 1995
Felderer, Bernhard Makroökonomik und neue Homburg, Stefan Makroökonomik, 6. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York 1994
Friedman, Milton „The Role of Monetary Policy“ in American Economic Review, Vol. 58, 1968
Lipsey, Richard „The Relation between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957 - A Further Analysis“ in Economica, Vol. 27, 1960
Mankiw, N. Gregory Makroökonomik, 3. Auflage, Wiesbaden 2000
Phelps, Edmund „Phillips Curve, Expectations of Inflation and Optimal Unemployment Over Time“ in Economica, Vol. 34, 1967
Phillips, Arthur „The Relation between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957“ in Economica, Vol. 25, 1958
Rothschild, K.W. „The Phillips Curve and All That“ in Scottish Journal of Political Economy (Scottish Eco- nomic Society), Vol. 18, 1971
Samuelson, Paul „Analytical Aspects of Anti- Solow, Robert Inflationpolicy“ in American Economic Re- view, Papers and Proceedings, Vol. 50, 1960
[...]
1 PHILLIPS (1958), The Relation between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957; Economica, Vol. 25, S. 283-299.
2 Vgl. FELDERER/HOMBURG (1994), Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 264.
3 Vgl. ROTHSCHILD (1971), The Phillips Curve and All That; Scottish Journal of Political Economy (Scottish Economic Society), Vol. 18, S. 245-280.
4 LIPSEY (1960), The Relation between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957 - A Further Analysis; Economica 27, S. 1-37.
5 Vgl. FELDERER/HOMBURG (1994), Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 265.
6 SAMUELSON und SOLOW (1960), Analytical Aspects of Anti-Inflation Policy; American Economic Review, Papers and Proceedings, Vol. 50, S. 177-194.
7 Vgl. CASSEL (1988), Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 1, S. 271.
8 Vgl. FELDERER/HOMBURG (1994), Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 266.
9 Vgl. DORNBUSCH/FISCHER (1995), Makroökonomik, S.259.
10 Vgl. DIECKHEUER (1995), Makroökonomik: Theorie und Politik, S. 362.
11 Vgl. FRIEDMAN (1968), The Role of Monetary Policy; American Economic Review, Vol. 58 und PHELPS (1967), Phillips Curve, Expectations of Inflation and Optimal Unemployment Over Time; Economica, Vol. 34 S. 254-281.
12 Vgl. FELDERER/HOMBURG (1994), Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 266.
13 Vgl. FELDERER/HOMBURG (1994), Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 267.
14 Vgl. FELDERER/HOMBURG (1994), Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 267.
15 Vgl. MANKIW (2000), Makroökonomik, S. 408.
16 Vgl. MANKIW (2000), Makroökonomik, S. 408.
17 Vgl. MANKIW (2000), Makroökonomik, S. 408, 409.
18 Vgl. MANKIW (2000), Makroökonomik, S. 411.
19 Vgl. DIECKHEUER (1995), Makroökonomik: Theorie und Politik, S. 373, 374.
20 Vgl. MANKIW (2000), Makroökonomik, S. 412.
21 Vgl. MANKIW (2000), Makroökonomik, S. 406.
22 Vgl. MANKIW (2000), Makroökonomik, S. 404.
Häufig gestellte Fragen
Was ist die ursprüngliche Phillips-Kurve?
Die Phillips-Kurve ist eine empirische Arbeit von Arthur W. Phillips aus dem Jahr 1958, die den Zusammenhang zwischen Unterbeschäftigung und der Änderungsrate der Nominallöhne in Großbritannien für den Zeitraum von 1861 bis 1957 untersucht. Die ursprüngliche Phillips-Kurve zeigt eine negative Beziehung zwischen der Arbeitslosenquote und der Änderungsrate der Löhne.
Wie wurde die Phillips-Kurve modifiziert?
Paul A. Samuelson und Robert M. Solow modifizierten die Phillips-Kurve im Jahr 1960, indem sie die Änderungsrate des Geldlohnes durch die Inflationsrate ersetzten. Diese modifizierte Kurve wurde als "Speisekarte" für wirtschaftspolitische Entscheidungen betrachtet, die den "Trade-off" zwischen Vollbeschäftigung und Preisstabilität aufzeigt.
Was ist der "Trade-off" zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit?
Der "Trade-off" zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit impliziert, dass ein Staat scheinbar zwischen hoher Arbeitslosigkeit und hoher Inflation wählen kann. Die Phillips-Kurve zeigte, wie viel Preisstabilität geopfert werden muss, um eine höhere Beschäftigung zu erreichen und umgekehrt.
Was ist Stagflation und wie beeinflusst sie die Phillips-Kurve?
Stagflation ist das gleichzeitige Auftreten von hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. Sie stellte die Existenz der Phillips-Kurve in Frage, da sie nicht durch einen stabilen Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit erklärt werden konnte. Die Stagflation führte zur Kritik an der langfristigen Stabilität der Phillips-Kurve.
Wie kritisierten Milton Friedman und Edmund S. Phelps die Phillips-Kurve?
Milton Friedman und Edmund S. Phelps kritisierten, dass die negativ steigende Phillips-Kurve eine "Geldillusion" auf Arbeitnehmerseite voraussetzt. Sie argumentierten, dass es keinen dauerhaften "Trade-off" zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit gibt und die langfristige Phillips-Kurve senkrecht verläuft.
Was ist die Rolle von Inflationserwartungen in der Phillips-Kurve?
Inflationserwartungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Lage der kurzfristigen Phillips-Kurve. Wenn die Inflationserwartungen steigen, verschiebt sich die Kurve nach oben, und das "Trade-off"-Verhältnis verschlechtert sich.
Welche Arten von Erwartungsbildung gibt es in makroökonomischen Modellen?
Es gibt verschiedene Arten von Erwartungsbildung, darunter exogene Erwartungen, autoregressive Erwartungen (wie die adaptive Erwartungsbildung) und rationale Erwartungen. Diese Erwartungsbildung beeinflusst den kurzfristigen Trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit.
Was ist die moderne Form der Phillips-Kurve?
Die moderne Form der Phillips-Kurve berücksichtigt die zyklische Arbeitslosigkeit (die Abweichung der Arbeitslosigkeit von ihrem natürlichen Niveau) und den Angebotsschock. Ein Angebotsschock kann die Inflationsrate beeinflussen und zu Kosten-druckinflation führen.
Was ist die zyklische Arbeitslosigkeit?
Die zyklische Arbeitslosigkeit - die Abweichung der Arbeitslosigkeit von ihrem natürlichen Niveau - übt auf die Inflationsrate einen Druck nach oben oder nach unten aus. Die Inflationsrate nimmt tendenziell zu, wenn die Arbeitslosigkeit unterhalb ihres natürlichen Niveaus liegt.
Was ist ein Angebotsschock und wie beeinflusst er die Inflation?
Ein Angebotsschock ist ein unerwartetes Ereignis, das das Angebot einer Ware oder Dienstleistung plötzlich verändert. Ein nachteiliger Angebotsschock ist durch einen positiven Wert von á gekennzeichnet und führt zu einer Zunahme der Inflationsrate. Diesen Zusammenhang zwischen Angebotsschock und Inflation bezeichnet man als Kostendruckinflation (cost-push inflation), da ungünstige Angebotsschocks, wie z.B. die Erhöhung der Weltmarktpreise für Erdöl in den siebziger Jahren, die Produktionskosten in die Höhe treiben.
- Quote paper
- Markus Kotzur (Author), 2001, Die Theorie der Phillips-Kurve, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105116