Inhalt
1. Einleitung
2. Kurze Einführung in den Neo-Realismus
3. Der lange Weg nach Maastricht
4. Das Zustandekommen der EWU aus neo-realistischer Sicht
5. Fazit und Ausblick
1. Einleitung
Im Jahr 1991 unterzeichnen die Staaten der Europäischen Gemeinschaft den Vertrag von Maastricht und ebnen damit den Weg für die Europäische Währungsunion. Die schwerwiegendste Konsequenz dieses Abkommens ist die Einführung einer neuen, gemeinsamen Währung, dem Euro. Die alten Währungen der Nationalstaaten werden dadurch überflüssig.
Tatsächlich wird der Euro in elf Staaten der Europäischen Union ab kommendem Januar das einzige Zahlungsmittel sein; schon heute kann man seine Geschäfte im bargeldlosen Zahlungsverkehr in Euro abwickeln.
Dem interessierten Beobachter der internationalen Politik stellt sich eine Frage: Weshalb kam es zum Vertrag von Maastricht und somit zur EWU? Joseph M. Grieco, ein Vertreter der neo-realistischen Schule, versuchte diese Frage Mitte der 90er Jahre mit seiner „voice opportunities thesis“ zu beantworten. Im wesentlichen heißt es in der These, dass die kleineren, aber doch noch einflussreichen Teilnehmerstaaten, sich durch die Unterzeichnung des Vertrags eine größere Stimme innerhalb der Gemeinschaft verschaffen wollen.
Vorliegende Hausarbeit wird sich mit den Aufsätzen von Grieco, welche die Frage nach dem Zustandekommen der EWU aus der Sicht des Neo-Realismus erklären wollen, kritisch auseinandersetzen. Dazu werden die Argumente Griecos dargestellt und anschließend mit der empirischen Realität verglichen.
Zuvor soll jedoch eine zusammenfassende Darstellung der wesentlichen Ansätze des Neo-Realismus und der Ereignisse, welche zum Maastrichter Vertrag führten, dem Leser erste grundlegende Informationen zum Gegenstand dieser Arbeit vermitteln.
Im Fazit werden die gewonnen Ergebnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf die Erklärungsansätze anderer Denkschulen gegeben.
2. Kurze Einführung in den Neo-Realismus
Ende der 70er Jahre bildete sich auf dem Fundament des klassischen Realismus eine neue Denkschule, der Neo-Realismus, dessen bekannteste Vertreter Joseph M. Grieco, Robert Gilpin und vor allem Kenneth N. Waltz sind (vgl. Gu 2000, S. 47).
Die Akteure in der internationalen Politik sind aus der Sicht des Neo-Realismus die einzelnen, souveränen Staaten; die Analyseebene ist somit die Strukturebene. Das zugrunde liegende Akteursprinzip ist der homo oeconomicus; er denkt rational, ist gut informiert und strebt nach Nutzenmaximierung (vgl. Gu 2000, S. 49).
Ausgegangen wird von einem pessimistischen Weltbild, was sich im Misstrauen und ständigem Konflikt der Staaten untereinander äußert. Die Staaten finden sich in einer anarchischen Struktur wieder, in der es keine übergeordnete Instanz mit Sanktionsgewalt gibt. Aus diesen Grund sind die Staaten auf sich selbst angewiesen, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten (vgl. Gu 2000, S. 48).
Um dies zu erreichen, können Staaten entweder im Alleingang Stärke hinzugewinnen oder Allianzen eingehen. Dabei werden sich schwächere Staaten zusammenschließen, um der Beherrschung durch einen Hegemon zu entgehen (vgl. Waltz 1979, S. 126). Als Konsequenz entsteht eine „balance of power“, welche von den Staaten so nicht beabsichtigt ist, aber welche als Ergebnis der einzelnen Handlungen der Staaten zwangsläufig entsteht (vgl. Jackson/Sorensen 1999, S. 86).
Jedoch werden Kooperationen untereinander nur mit äußerster Vorsicht eingegangen. Dies liegt vor allem daran, dass augrund des Selbsthilfeprinzips Staaten tunlichst vermeiden, sich von anderen Staaten abhängig zu machen, auch wenn sie selbst Kostenvorteile erzielen könnten (vgl. Gu 2000, S. 49). Sie streben nämlich nicht nach absoluten, sondern relativen Gewinnen. Staaten tun dies, weil sie vermeiden wollen, dass der Partner bei einer Kooperation mehr profitiert als sie selbst. Waltz bringt es auf den Punkt:
„When faced with the possibility of cooperating for mutual gain, states that feel insecure must ask how the gain will be divided. They are compelled to ask not ‘Will both of us gain?’ but ‘Who will gain more?’”(Waltz 1979, S. 105).
Die Staaten, so heißt es weiter im Neo-Realismus, unterscheiden sich nicht in ihren Funktionen, sondern nur in ihren „capabilities“: „The differences are of capability, not of function“ (Waltz 1979, S. 96). Dies bedeutet, dass sich Staaten zwar beispielsweise in ihrer Regierungsform, ihrem Reichtum und der vorherrschenden Weltanschauung unterscheiden, aber nicht in ihren eigentlichen Aufgaben, allen voran der Sicherung des eigenen Überlebens (vgl. Gu 2000, S. 52).
Der Neo-Realismus geht von einer strukturellen Sichtweise der internationalen Politik aus, welche dem Handeln der Staaten Beschränkungen auferlegt. Die Strukturzwänge beeinflussen somit die internationale Politik: „Waltz’s argument is at base a determinist theory in which structure dictates policy“ (Jackson/Sorensen 1999, S. 87).
Zusammenfassend lässt sich über den Neo-Realismus sagen, dass diese Denkschule die großen Zusammenhänge in der internationalen Politik, ihrem Untersuchungsgegenstand, erklären will.
3. Der lange Weg nach Maastricht
In den Anfangsjahren der EWG hatte der amerikanische Dollar die Funktion einer Leitwährung; als der Dollar Ende der 60er Jahre in eine Vertrauenskrise geriet - der Kurs fiel ab 1969 rapide ab - fühlte sich die Gemeinschaft gezwungen zu handeln. Es entstand die Idee einer gemeinsamen Währung (vgl. Hillenbrand 1999, S. 499).
Ende 1969 beschloss man auf der Haager Konferenz den schrittweisen Aufbau einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Zur Erlangung dieses Ziels wurden zwei alternative Strategien innerhalb der EG diskutiert; eine Gruppe von Ländern, an deren Spitze Frankreich, wollten möglichst frühzeitig feste Währungsparitäten zwischen den Ländern der Gemeinschaft und eine gemeinsame Währung durchsetzen. Für Deutschland und einige andere Starkwährungsländer war jedoch die Geldwert- und Preisstabilität zunächst wichtiger als die rasche Einführung einer gemeinsamen Währung. Dies sollte erst geschehen, wenn die Haushalts- und Konjunkturdaten der Teilnehmerländer abgeglichen waren (vgl. Hillenbrand 1999, S.499f).
Im Oktober 1970 einigte man sich mit dem Werner-Plan auf einen Kompromiss. Vorgesehen war ein Drei-Stufen-Plan, wobei in der dritten Stufe eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, eine Zentralbank und feste Wechselkurse unter allen EG-Währungen geplant war. Als Konsequenz davon führte man im August 1971 die sogenannten Währungsschlange ein:
Wechselkursschwankungen zwischen EG-Währungen durften maximal 2,25% betragen; bei größeren Schwankungen sollte es Stützkäufe der anderen Länder geben, um die Stabilität zu gewährleisten (vgl. Hillenbrand 1999, S. 500).
Aber der Werner-Plan scheiterte aufgrund einer allgemeinen Wirtschaftskrise. Schwachwährungsländer versuchten, die Arbeitslosigkeit mit der Steigerung der Inflation zu bekämpfen, Starkwährungsländern war aber eine stabile Währung wichtiger. Viele Teilnehmerstaaten der Währungsschlange hielten sich folglich nicht mehr an das getroffene Einkommen (vgl. Hillenbrand 1999, S. 501).
Es dauerte einige Jahre, bis sich die europäischen Staaten bezüglich einer Währungsunion wieder zusammen setzten. Im Dezember 1978, nach der zweiten Ölkrise, errichtete man das EWS (Europäisches Währungssystem).
Im Prinzip ist das EWS eine erweiterte Form der eben genannten Währungsschlange. Die wichtigste Neuerung war die Einführung der Korbwährung ECU, welche aus den Bestandteilen der einzelnen EG- Währungen zusammengesetzt wurde, abhängig von der Wirtschaftskraft des Landes.
Der ECU diente als Bezugsgröße für die Festlegung der Wechselkurse untereinander. Dadurch entstand ein Netz von bilateralen Wechselkursen. Von Anfang an war der ECU nicht als ein Festkurssystem, sondern als ein System anpassungsfähiger Wechselkurse konzipiert. In regelmäßigen Abständen wurde der ECU korrigiert; dies geschah in der Zeit von 1979 bis 1987 insgesamt elf Mal, in den darauffolgenden Jahren musste der Kurs nicht mehr korrigiert werden. So gesehen kann das EWS als Erfolg gewertet werden (vgl. Krätschler/Renner 2000, S. 26).
Im Juni 1988 kam es zur Einsetzung eines Expertenausschusses, welcher die weitere Verwirklichung der Währungsunion erarbeiten sollte. Das Ergebnis folgte 1989 in Form des Delors Berichts, welcher - ähnlich wie der zuvor gescheiterte Werner-Plan - ein dreistufiges Vorgehen beabsichtigt: Zum einen sollen alle Mitglieder der Gemeinschaft dem EWS beitreten, als zweites ist die Gründung einer Zentralbank vorgesehen, und letztlich sollen die Wechselkurse zwischen den Teilnehmerländern endgültig festgelegt und die Kompetenzen der Währungspolitik an die Gemeinschaft abgetreten werden. Schon im Juni 1989 beschloss man im Madrid, dass die erste Stufe der Währungsunion zum 1.7.1990 beginnen soll; wenige Monate später legte man den Beginn der zweiten Stufe auf den 1.1.1994 fest (vgl. Hillenbrand 1999, S. 504).
Schließlich kam es zum Maastrichter Vertrag und damit zur Ausgestaltung der dritten und letzten Stufe der Währungsunion; man kann den Vertrag daher auch als Kernstück der EWU bezeichnen.
Die dritte Stufe und damit die unwiderrufliche Fixierung der Wechselkurse wird auf den 1.1.1999 festgelegt. Allerdings ist der Eintritt in die dritte Stufe an Konvergenzkriterien gebunden. Ein hoher Grad an Preisstabilität muss gewährleistet sein (die Inflationsrate darf den Durchschnittswert der stabilsten Länder nicht mehr als um 1,5% übertreffen), die jährliche Neuverschuldung darf nicht 3% des Bruttoinlandsprodukts beziehungsweise 60% des gesamten Bruttoinlandsprodukts überschreiten, und das Zinsniveau darf den Durchschnittswert der stabilsten Währungen nicht mehr als zwei Prozent übersteigen. Darüber hinaus müssen diese drei eben genannten Kriterien auf Dauer erreicht werden (vgl. Krätschler/Renner 2000, S. 27).
Die wichtigste Institution der europäischen Währungsunion ist die Europäische Zentralbank. Ihr Ziel ist die Erhaltung der Stabilität der europäischen Währung; zu diesem Zweck ist sie von nationalen Regierungen unabhängig.
Abschließend sei noch auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 hingewiesen, in dem man sich auf Sanktionen bei Nichteinhaltung der Konvergenzkriterien einigte.
Jedes Jahr muss jede Regierung der Kommission in Brüssel ein Programm der Haushalts- und Wirtschaftspolitik vorlegen. Nach einer Prüfung können Korrekturen vorgeschlagen werden, an die sich die nationale Regierung halten soll. Werden trotzdem die kritischen Werte des Maastrichter Vertrags überschritten, kommt es zu empfindlichen Geldbußen (vgl. Krätschler/Renner 2000, S. 27).
Schließlich fällt am 2. Mai 1998 im Europäischen Parlament die Entscheidung über die Teilnahme an der Währungsunion. Sie wird mit elf Staaten durchgezogen: Deutschland, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Spanien, Finnland, Irland, Österreich und Portugal (vgl. Hillenbrand 1999, S. 514).
4. Das Zustandekommen der EWU aus neo-realistischer Sicht
In diesem Abschnitt soll anhand der von Joseph M. Grieco formulierten „voice opportunities“-Hypothese erläutert werden, weshalb sich die europäischen Staaten für die Errichtung der EWU entschlossen haben.
Die These sagt aus, dass Staaten mit ähnlichen Interessen prinzipiell Verhandlungen aufnehmen können, um Regeln für eine Zusammenarbeit zu vereinbaren. Die schwächeren Partner werden danach streben, dass diese Regeln für sie genügend Möglichkeiten (‚opportunities’) lassen, um ihre Interessen zu artikulieren (‚to voice’), damit sie nicht von ihren stärkeren Partnern dominiert werden (vgl. Grieco 1996, S. 286f).
Laut Grieco ist seine „voice opportunities thesis“ ein neo-realistischer Ansatz: Die Staaten sind die eigentlichen Akteure in der Weltpolitik, sie finden sich in einem anarchischen System wieder und sind deshalb auf sich selbst angewiesen. Somit sind sie zunächst auf ihre eigene Sicherheit und Unabhängigkeit von anderen aus. Außerdem sind Staaten rationale Akteure (vgl. Grieco 1995, S. 34).
Im Folgenden soll Griecos These an der empirischen Realität überprüft werden. Ausgangspunkt ist die Unzufriedenheit vieler EG-Staaten mit dem Europäischen Währungssystem Ende der 80er Jahre. Vor allem Frankreich und Italien sehen innerhalb der EWS eine Dominanz Deutschlands. Die Bundesbank bestimmte letztendlich die Geldpolitik in ganz Europa (vgl. Grieco 1996, S. 290).
Ein Beleg für die Dominanz Deutschlands ist, dass Schwachwährungsländer sich zwangsläufig an der Mark als der stabilsten Währung innerhalb des EWS orientieren mussten, wenn sie die Wechselkurse stabil halten wollten (vgl. Hillenbrand 1999, S. 503).
Um das Problem der asymmetrischen Machtverteilung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu beheben, strebten Frankreich und Italien eine Veränderung der „Regeln“ an, welche ihnen mehr Möglichkeiten der Artikulation - die besagten “voice opportunities“ - zusichern sollten. Logische Folgerung ist eine Änderung der bisherigen EWS in eine neue Institution, der Europäischen Währungsunion (vgl. Grieco 1995, S. 36).
Konkret bedeutet dies, dass der Verwaltungsapparat der EZB unter anderem aus den Vorsitzenden der Nationalbanken der Teilnehmerstaaten zusammengesetzt wird und dass die Entscheidungen mit der Stimme der Mehrheit gefällt werden. Diese Maßnahmen sollten die „voice opportunities“ der Mitglieder sowohl in wirtschaftlichen wie auch in monetären Belangen sichern (vgl. Grieco 1995, S. 36).
Tatsächlich finden sich die eben genannten Regelungen im Vertragstext von Maastricht wieder. Doch zu berücksichtigen ist, dass die Satzung der EZB sich stark am Vorbild der deutschen Bundesbank orientiert. Zwar ist sie stärker dezentral aufgebaut, aber im Grunde wurde das Modell der Bundesbank weitgehend verlustfrei auf die supranationale Ebene übertragen. Außerdem fiel die Entscheidung für den Sitz der Zentralbank auf Frankfurt (vgl. Viebig 1999, S. 438f).
Man kann daher zurecht behaupten, dass die Deutschen ihre Interessen durchgesetzt haben, und somit die größeren „voice opportunities“ für Italien und Frankreich angezweifelt werden können. Vor allem in der französischen Öffentlichkeit befürchtete man nach Maastricht eine „Germanisierung“ der europäischen Währungsordnung (vgl. Viebig 1999, S. 440).
Außerdem war es bei den Verhandlungen ebenso deutsches wie auch französisches und italienisches Interesse, die EWU irreversibel zu machen (vgl. Dyson/Featherstone 1999, S. 202 und S. 512). Dies lässt sich mit dem Neo- Realismus nicht vereinbaren: Kooperation ist zwar prinzipiell möglich, doch wird sie nicht eingegangen, wenn ein Staat befürchten muss, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem anderen Staat zu geraten. Folglich würden Staaten aus Angst ausgenutzt zu werden keine Institutionen bilden, aus denen es kein zurück mehr gibt.
Auch das Verhalten Großbritanniens kann laut Grieco mit der „voice opportunities“-These begründet werden. Großbritannien ist eines der wenigen Länder, welches bei der EWU nicht teilnimmt (vgl. Hillenbrand 1999, S. 514). Nach Grieco liegt dies an zwei schwerwiegenden Gründen. Zum einen teilten die Franzosen und die Italiener nicht die Ansichten der Briten bezüglich ihren Vorstellungen zur Ausgestaltung der EWU. Diese waren nämlich Verfechter von stark markt-orientierten Ideen, nämlich von konkurrierenden Währungen und einem harten ECU (vgl. Dyson/Featherstone 1999, S. 613). Dies läuft natürlich den Vorstellungen Frankreichs und Italiens zuwider, weil somit die Deutsche Mark ihre Vormachtstellung nicht einbüßen würde (vgl. Grieco 1995, S. 37).
Zum anderen waren die Briten Ende der 80er Jahre der deutschen Geldpolitik nicht abgeneigt, weil sie an einem Absenken der Inflation im eigenen Land interessiert waren. Die Glaubwürdigkeit der Bundesbank hielten sie wohl für größer als die einer neu geschaffenen Zentralbank; mit anderen Worten: eine Zentralisierung war für die Briten zu dieser Zeit unattraktiv (vgl. Grieco 1996, S. 301).
Aus der Sicht des Neo-Realismus ist diese Einschätzung auch gewagt, denn man könnte die Orientierung an der deutschen Bundesbank als „bandwagoning“ bezeichnen. Zumindest wäre es aus neo-realistischer Sicht naheliegender, wenn die Briten die Italiener und Franzosen in ihren Anliegen unterstützt hätten, um ein Kräftegleichgewicht in der EU herzustellen, denn „balancing, not bandwagoning, is the behavior induced by the system“ (Waltz 1979, S.126).
Das Scheitern Großbritanniens lässt sich zudem einfacher darin begründen, dass die Prinzipien, auf denen die von den Briten vorgeschlagenen Alternativen beruhen, bereits im Delors Bericht abgelehnt wurden. Die Forderungen kamen somit viel zu spät, nämlich zu einem Zeitpunkt, als man sich bereits auf eine gemeinsame Währung geeinigt hatte (vgl. Dyson/Featherstone 1999, S. 613).
Bleibt noch die Frage zu klären, weshalb sich Deutschland auf den Maastrichter Vertrag eingelassen hat. Angeblich haben die Deutschen innerhalb Europas damit wohl sehr an Einfluss verloren, und das ließe sich aus der Sicht des NeoRealismus nur schwer erklären.
Wie schon bereits erwähnt, ist die Europäische Zentralbank nach dem Vorbild der Bundesbank entstanden. Doch festzuhalten ist, dass der EZB die einzelnen Nationalbanken vorausgegangen waren, welche von der Bundesbank dominiert wurden (vgl. Hillenbrand 1999, S. 503). Gehen wir von rationalen Akteuren aus, dann haben die Deutschen unzweifelhaft aus dem Motiv gehandelt, dadurch einen Gewinn zu erzielen. Doch der Neo-Realismus geht nicht von absoluten, sondern von relativen Gewinnen aus (vgl. Waltz 1979, S. 105). Angesichts der Tatsache, dass die Deutschen vor der EWU finanzpolitisch bereits die Richtung vorgegeben haben - und zwar auch ohne eine Zentralbank mit „lästigem“ internationalen Direktorium - bedeutet dies einen relativen Verlust!
Das Argument Griecos, dass den Deutschen der Verhandlungserfolg bezüglich dem institutionellem Aufbau der EZB genügte und deshalb wohlwissend an Einfluss verloren (vgl. Grieco 1995, S. 38), ist damit aus neo-realistischer Sicht nicht haltbar.
Eine durchaus neo-realistische Erklärung kann lauten, dass Deutschland möglicherweise auf einen Teil seiner Macht innerhalb Europas verzichtet, um gegenüber nicht-europäischen Ländern wie etwa Japan um so mehr zu profitieren (vgl. Grieco 1995, S. 38). Das deutsche Verhalten ist demnach ein „balancing“; gemeinsam mit den europäischen Partnern soll gegenüber anderen Wirtschaftsmächten ein relativer Gewinn erzielt werden. Zweifelhaft ist dabei nur, ob es Deutschland wert ist aufgrund dieser Tatsache auf seine exklusive Macht innerhalb Europas zu verzichten.
4. Fazit und Ausblick
Selbst Grieco gibt zu, dass das Zustandekommen der EWU für die neorealistische Theorie große Probleme darstellt. Er sieht im besonderen vier große Probleme (vgl. Grieco 1995, S. 28ff.)
Aus Sicht des Neo-Realismus messen die Staaten der Institution EWU wenig Bedeutung zu; dass dies offensichtlich nicht der Fall ist belegt die gemeinsame Währung, welche die eigenen nationalstaatlichen Währungen ersetzt. Vor allem die Deutschen hat dieser Schritt Überwindung gekostet.
Außerdem fällt es schwer, bei der EU von einem anarchischen System zu sprechen. Zwar gibt es keine zentrale Regierung in der Union, aber die Staaten streben nach immer größerer Zusammenarbeit und Interdependenz. Dies belegt natürlich im besonderen auch die EWU.
Eine weitere Annahme des Neo-Realismus ist die sich einstellende „balance of power“. Das Argument Griecos, dass Deutschlands wirtschaftliche Macht innerhalb der Gemeinschaft durch die EWU geschmälert wird, ist zumindest sehr diskussionswürdig. Ebenso könnte man das Gegenteil behaupten, denn schließlich profitiert Deutschland aufgrund seiner Auslandsgeschäfte am meisten von der gemeinsamen Währung.
Schließlich können andere Denkschulen plausiblere und „weniger umständliche“ Erklärungen geben. Aus Sicht des rationalistischen Institutionalismus reichen absolute Gewinne - im Unterschied zum Neo- Realismus - aus, um die Sicherheit zu erhalten und das eigene Überleben zu sichern. Die großen Interdependenzen zwischen den Staaten schwächen die Gefahr einer gegenseitigen Ausnutzung ab - am meisten würde Deutschland sich selbst schaden, wenn es die Beziehungen zu Frankreich abbrechen würde. Um eine Ausnutzung zu verhindern, schaffen Staaten Institutionen, um die Kooperationen mit vereinbarten Regeln und Sanktionen zu fördern. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist die EWU.
Der soziologische Liberalismus geht davon aus, dass die innergesellschaftlichen Normen die Außenpolitik bestimmen. Sind die Normen verschiedener Staaten ähnlich, dann ist die Wahrscheinlichkeit für eine Kooperation groß, da es eine gemeinsame Verständigungsbasis gibt. Da alle europäischen Staaten die freiheitlich-rechtstaatlichen Grundsätze verfolgen, ist diese gemeinsame Basis vorhanden und eine Kooperation somit sehr wahrscheinlich. Tatsächlich ist auch dafür die EWU ein gutes Beispiel.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Neo-Realismus teilweise nur unbefriedigende Antworten auf die Frage des Zustandekommens der EWU geben kann. Selbst die führenden Vertreter dieser Denkschule räumen dies angesichts der Tatsache, dass andere Denkschulen sicht schlichtweg besser eignen, ein. Doch auch wenn sich der Neo-Realismus nicht in erster Linie für die Erklärung des zugrunde liegenden Problems eignet, so kann er den Untersuchungsgegenstand nochmals aus einer anderen Sichtweise durchleuchten und auf noch offene Fragen hinweisen.
Literatur
Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) 2000: Informationen zur politischen Bildung, Nr. 213/2000, überarbeitete Neuauflage, München: Franzis’ print & media GmbH
Dyson, Kenneth/Featherstone, Kevin 1999: The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union, New York: Oxford University Press
Grieco, Joseph M. 1995: The Maastricht Treaty, Economic and Monetary Union and the neo-realist research programme, in: Review of International Studies 21: 1, S. 21-40
Grieco, Joseph M. 1996: State Interests And Institutional Rule Trajectories: A Neorealist Interpretation Of The Maastricht Treaty And European Economic And Monetary Union, in: Frankel, Benjamin (Hg.): Realism: Restatements And Renewal, S. 261-305
Gu, Xuewu 2000: Theorien der internationalen Beziehungen: Einführung, München/Wien: Oldenbourg Verlag
Hillenbrand, Olaf 1999: Europa als Wirtschafts- und Währungsunion, in: Weidenfeld, Werner (Hg.): Europa-Handbuch, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, S. 498-521
Jackson, Robert/Sorensen, Georg 1999: Introduction to International Relations, New York: Oxford University Press
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.) 1996: Europa 2000. Die Europäische Union der fünfzehn Staaten, Köln: Omnia Verlag
Viebig, Jan 1999: Der Vertrag von Maastricht. Die Positionen Deutschlands und
Frankreichs zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag
Waltz, Kenneth N. 1979: Theory of International Politics, New York u.a.: McGraw-Hill
- Quote paper
- Olgierd Cypra (Author), 2001, Das Zustandekommen der Europäischen Währungsunion aus Sicht des Neo-Realismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/104930
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